1/4 Festspielhaus der Tiroler Festspiele Erl Mühlgraben 56 6343 Erl, Österreich Klare Kanten, klarer Klang Konzerthaus für die Tiroler Festspiele in Erl von Delugan Meissl Associated Architects von Hannes Mayer SAMMLUNG archithese ARCHITEKTIN Delugan Meissl Associated Architects Im Jahr 1613 unterbrachen bayrische Wallfahrer nach Altötting ihre Schiffsreise auf dem Inn, um Osterspielen in Erl beizuwohnen. Ihre Niederschrift dokumentierte erstmals die heute als Passionsspiele Erl bekannte Grossaufführung in dem kleinen Ort unweit von Kufstein, unmittelbar an der Grenze zu Bayern und gerahmt von Kaiser- und Wendelsteingebirge. BAUHERRIN Mehr als dreihundert Jahre später, im Jahr 1959, stellte der Tiroler Architekt Robert Schuller den Neubau für das Passionsspielhaus fertig, der nötig geworden war, nachdem die hölzerne Spieltenne von 1911 im Jahr 1933 Feuer gefangen hatte. Das neue Haus oberhalb des Dorfes am Waldesrand knüpfte an die Tradition der insbesondere von Lois Welzenbacher geprägten alpinen Moderne der Zwischenkriegsjahre an. Es zeigt sich von aussen als weiss verputzter Körper, welcher das massige Volumen seines Konzersaals hinter dem eleganten Schwung seiner talwärts orientierten Bühne verschwinden lässt und gleichzeitig mit dem wie ein Flügel in die Höhe weisenden Dachverlauf als ein weithin sichtbares Zeichen, dass sich dennoch in die Natur einbettet. Schuller griff damit auf die Projekte der Tessiner Architektur vor, insbesondere Mario Botta verfolgte für seine Kirchenbauten ähnliche Strategien, wobei die expressiven Linien in ruhende Primärformen übergingen. FUNKTION Festspielhaus Erl STATIK FCP ÖRTLICHE BAUAUFSICHT MHM architects Theater und Konzert WETTBEWERB 2007 PLANUNGSBEGINN 2008 AUSFÜHRUNG 2010 - 2012 MITARBEIT PLANUNG Sebastian Brunke, Jörg Rasmussen, Eva Schrade, Torsten Sauer, Simon Takasaki, Anja Vogl WEITERE KONSULENTiNNEN Suggeriert das Festspielhaus in Erl mit seinem weissen Schwung Raffinesse und Feinheit, so überrascht der für 1500 Personen ausgelegte Saal mit seiner spröden Kargheit und seiner roh belassenen Natur. Auf den massiven, die Struktur ihrer Holzschalung tragenden Betonwänden ruht ein offenes, nicht isoliertes hölzernes Raumtragwerk und verweist damit auf den Vorgängerbau der Spieltenne. Die flach sich zum Bühnenraum senkende Holzbestuhlung sowie der graue Nadelfilz vervollständigen das Bild einer alpinen Architektur; Geruch und Haptik erinnern an alte Skihütten. Nur zum Aufwärmen taugt das Gebäude kaum. Unisoliert und unbeheizt friert im Winter das Gebäude durch und kann nur im Sommer zu den Passionsspielen bespielt werden. Dieser «natürlichen Spezialbehandlung» wird jedoch auch die exzellente Akustik des Hauses zugeschrieben. In diesem Mythos Bayreuth nicht unähnlich, eignet sich Erl für den herben und massiven Klang von Wagner, Beethoven oder Bruckner auf ausgezeichnete Weise. Es mag diese Eigenschaft gewesen sein, die den gleichermassen kunst- wie geschäftstüchtigen Dirigenten, Intendanten und Akademieleiter Gustav Kuhn mit seiner Idee der Tiroler Festspiele im Jahr 1997 erstmals nach Erl hat kommen lassen. Denn http://www.nextroom.at/building.php?id=35616&sid=37381, 20.08.2017 Haustechnik: Zentraplan GmbH, Wiener Neustadt Akustik: Quiring Consultants, Aldrans Lichtplanung: Haighlight, Innsbruck Bühnenplanung: e.f.f.e.c.t.s. technisches Büro GmbH, Klosterneuburg Bauphysik: Dr. Pfeifer GmbH, Graz Geotechnik: PGI GmbH, Kufstein Brandschutz: Norbert Rabl ZT GmbH, Graz Aufgrund der Bildrechte kann es zu Unterschieden zwischen der HTML- und der Printversion kommen. 2/4 Festspielhaus der Tiroler Festspiele Erl Wagner und der Ring spielten in den weiteren Jahren, in welchen sich Erl einen internationalen Ruf als herausragender Festspielort erarbeitete, eine wichtige Rolle. Kuhn beschränkte sich jedoch in den Jahren nach der Gründung nicht allein auf die Durchführung der Festspiele, sondern erweiterte den Rahmen neben dem Aufbau eines fortbestehenden Festspielorchester mit einer Chorakademie und einer Kostümmanufaktur. Da jedoch das Passionsspielhaus eine durchgehende Nutzung nicht zuliess, befanden sich die Büros in Innsbruck, wohin die Festspiele mitunter ziehen mussten, wenn die Passionsspiele in ihrem mehrjährigen Rhythmus das alte Festspielhaus für sich beanspruchten. So erwiess es sich als Glücksfall, dass der seit 2005 amtierende Präsident der Tiroler Festspiele, der STRABAG-Vorstandsvorsitzende Hans Peter Haselsteiner, über seine Stiftung den Wunsch und Willen zeigte, ein eigenes Festspielhaus zu finanzieren. Von der Tiroler Moderne zum österreichischen Spätdekonstruktivismus 2007 wurde ein Wettbewerb mit Präqualifikation ausgeschrieben, den im selben Jahr das in Wien ansässige Büro Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) für sich entscheiden konnte. Bereits in den Wettbewerbsentwürfen der ersten Phase zeigte sich die Herausforderung in der Aufgabe, ein selbstbewusstes Haus zu entwerfen, welches dem bisherigen Bau gleichzeitig nichts in seiner Wirkung nimmt. Formal gelang dies DMAA bereits in der ersten Runde, hier war der Entwurf noch näher an das Passionsspielhaus gerückt und betonte in strahlendem Weiss die Kontinuität. Die deutliche Separierung im realisierten Entwurf führte zu einer Entspannung der konkurrenzierenden Geometrien, wobei sich die Formung des Körpers weiter präzisierte und einen doppelten Zugang des Foyers, nicht unähnlich einer Kängurutasche im Kapuzenpulli, erlaubt. Der Aufgang von der Wiesenseite, über welcher das fertiggestellte Gebäude seit Ende 2012 aufragt, bleibt zunächst hinter einer Aufkantung der geknickten Fassade verborgen; ein Kniff, den in anderer Form bereits das alte Haus verfolgt, in dem es statt über Türen durch den schwebenden Boden hindurch erschlossen wird. Der zweite Zugang öffnet sich etwas erhöht zum Passionsspielhaus, eine Geste, die zusammen mit der rückwärtigen Stützmauer, welche als Teil des neuen Volumens ausgebildet ist, dem Ursprungsbau Respekt erweist. Auch wenn DMAA mit dem Neubau wie schon bei ihrem Porsche Museum in Stuttgart jegliche Nostalgie zurückweisen, so scheinen sie doch von Schullers Bau gelernt zu haben. Denn auch der Neubau zeigt sich zum Tal hin von geringen Dimensionen – signifikant aufragend, aber nicht voluminös; der ingesamt knapp neuntausend Quadratmeter Nutzfläche beinhaltende Körper verschwindet hinter dem weithin sichtbaren Kopf. Auch im Hinblick auf die Konstruktion lehnt sich der Neubau an seinen älteren Nachbarn an. Ein nun aus Stahlträgern gebildetes und die Bühnentechnik integrierendes http://www.nextroom.at/building.php?id=35616&sid=37381, 20.08.2017 3/4 Festspielhaus der Tiroler Festspiele Erl Raumtragwerk überdeckt den grossen Saal mit seinen 730 Sitzplätzen, die Bühne und den grössten Orchestergraben Europas und lagert auf einem offenen Betonkörper auf, der die Seitenwände ausbildet. Im Gegensatz zum Schuller-Bau veredeln kiemenartige Paneele aus gebeiztem Akazienholz den Konzertsaal und suggerieren aus Sicht des Konzertbesuchers einen geschlossenen, keilförmigen Saal, während es sich tatsächlich um abgehängte Akustikspangen handelt. Ein Trick, der sich akustisch auszahlt, wird doch das gesamte quaderförmige Volumen inklusive der Tragwerkshöhe akustisch wirksam – insbesondere bei grossen Besetzungen verbessert dies die Akustik signifikant. Die glatten Holzoberflächen sorgen wiederum für einen äusserst klaren Klang. Bei aller Raffinesse erhält sich der Saal eine einfache Wirkung, wirkt nicht annähernd so massiv und wattiert wie die grossen Konzertsäle der Welt. Beim verhältnismässig kleinem Budget von unter vierzig Millionen Euro inklusive der Bühnentechnik fielen auch Probenräume und Umkleiden, die zentralisierten Räume für die Verwaltung und Kostümmanufaktur, welche sich u-förmig um den Saal legen, schlicht und zweckmässig aus. Auch der Körper selbst, der nach der Sprengung von über hundert Tonnen Gestein in den Hang eingestellt ist, zeigt sich hinter dem artikulierten und wohlproportionierten Kopf als funktionale, einfach geknickte Kiste, was dank eines erhaltenen Baumhains zur Rechten des Gebäudes kaum weiter auffällt und konsequenterweise auch in keinen Publikationsfotos auftaucht. Im Gegensatz zum ungezügelten Zackenwahn ihres frühen Hauses Ray 1 in Wien (2003) und dem im Feintuning seiner inneren Proportionen räumlich verunglückten Porsche Museum (2008) gelingt DMAA in Erl ein differenziertes Projekt, welches im Foyer – vergleicht man es mit OMAs Konzeptprojekt Casa da Musica in Porto – zwar noch stets formale Willkür walten lässt, das jedoch mit seinem Kopf eine virtuose Beherrschung der über die Jahre entwickelten eigenen Bürosprache demonstriert. Nur die für DMAA ungewohnt dunkle Farbgebung der Fassadenverkleidung, welche sich geschickt aus lediglich zwei Grundtypen zusammensetzt, stellt ein Rätsel bezüglich ihrer Herkunft dar. In den Pressetexten bildet diese die Grundlage für saisonale Signalwirkung: In der winterweissen Landschaft sticht das neue Gebäude als winterfeste Spielstätte aus der Landschaft, im Sommer leuchtet das Weiss des alten Schuller-Baus weit sichtbar im Inntal. Es scheint eine Empfehlung der Jury (u. a. Haselstein und Klaus Kada) an die Verfasser des weissen Siegerprojektes gewesen zu sein, die sich aus dem zweitrangierten Projekt von Riepl Riepl Architekten ableitete. Eine Empfehlung, die zeigt, wie im Fall von Erl die Zusammenarbeit aller Beteiligten an einem von grossem Idealismus getragenen (Musik-)Projekt zu einer im besten Sinne signifikanten Lösung beitrug. So lohnt es sich auch vierhundert Jahre nach den bayrischen Wallfahrern für den Reisenden durch das Inntal einen kleinen Abstecher nach Erl zu unternehmen. Die Zeichen hierfür sind gesetzt. http://www.nextroom.at/building.php?id=35616&sid=37381, 20.08.2017 4/4 Festspielhaus der Tiroler Festspiele Erl archithese, 29.04.2013 WEITERE TEXTE Festspielhaus der Tiroler Festspiele Erl, aut. architektur und tirol, 09.10.2014 Festspielhaus der Tiroler Festspiele Erl, aut. architektur und tirol, 19.12.2012 Gustav Kuhn und sein neues Festspielhaus in Tirol, Martin Frei, Neue Zürcher Zeitung, 29.12.2012 Ikonen am Berghang, Christian Kühn, Spectrum, 05.01.2013 Mozart klingt gut in Erl, Theresa Steininger, Die Presse, 29.12.2012 Festival in Erl: Gustav Kuhns zweites Opernhaus, Theresa Steininger, Die Presse, 28.12.2012 Schwarz-weißer Spielplatz der Musen, Stefan Ender, Der Standard, 29.12.2012 Bühne frei für die Herren Kuhn und Schuller, Wojciech Czaja, Der Standard, 22.12.2012 http://www.nextroom.at/building.php?id=35616&sid=37381, 20.08.2017 Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)