Klinische Kinderpsychologie Die Klinische Kinderpsychologie beschäftigt sich in ihren Grundlagen mit den Ursachen, der Entwicklung und dem Verlauf psychischer Störungen, wobei früh wirksamen Risiko- und Schutzfaktoren eine besondere Bedeutung zukommt. Im Bereich der Diagnostik nimmt die Feststellung und Bewertung von psychischen Störungen, Entwicklungsabweichungen und psychosozialen Belastungen eine zentrale Stellung ein; des Weiteren werden die psychischen Störungen und psychosozialen Folgen chronisch-körperlicher Krankheiten behandelt. Die Interventionen (Prävention, Therapie und Rehabilitation) dienen der Vorbeugung, Minderung oder Heilung psychischer Beeinträchtigungen und Störungen. Die Interventionen basieren auf empirisch abgesicherten biopsychosozialen Entwicklungsmodellen, die detailliert Risiko- und Schutzfaktoren der kindlichen Entwicklung spezifizieren und berücksichtigen. Als Interventionen werden vor allem gut dokumentierte und empirisch abgesicherte Verfahren empfohlen. Insgesamt orientiert sich die Klinische Kinderpsychologie in ihrer Themenauswahl an den vielfältigen Bedürfnissen von Kindern und deren Familien; sie ist dabei interdisziplinär ausgerichtet und berücksichtigt die Anforderungen der Nachbardisziplinen (U. a. Heil- und Sonderpädagogik, Kinderheilkunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie). Fragestellungen der Klinischen Kinderpsychologie • Welche Merkmale bilden Frühindikatoren für psychische Störungen, und wie früh kann man solche ,,Vorläufer" zuverlässig bestimmen? • Welche entwicklungs- beziehungsweise altersbedingten Verletzlichkeiten (Vulnerabilitäten) kennzeichnen die frühe Entwicklung eines Kindes, und aufgrund welcher Mechanismen treten Entwicklungsabweichungen auf? • Von welchen Bedingungen hängt die psychische Widerstandsfähigkeit eines Kindes (= psychische Robustheit, Resilienz) im Kontext der Alltags-, Krankheits- und Krisenbewältigung ab? • Welche Faktoren bestimmen das Belastungsempfinden und die Bewältigungskompetenz eines Kindes, und wie wird dies durch familiäre Prozesse moderiert? • Durch welche Merkmale sind psychisch robuste Kinder gekennzeichnet, und durch welche Mechanismen sind sie in der Lage, unter besonders widrigen Umständen dennoch psychisch ,,gesund" zu bleiben? • In welcher Form beeinflussen frühe familiäre Interaktionsmuster und Aspekte der Temperamentsentwicklung die sozial-emotionale Entwicklung eines Kindes und Jugendlichen? • In welcher Form kann ein Wechsel des sozialen Milieus die Entwicklungsprognose eines Kindes günstig beeinflussen? • Durch welche Erhebungsverfahren lassen sich Ressourcen eines Kindes und die des familiären Umfeldes erfassen, und in welcher Form kann man diese für die Planung und Durchführung von Interventionen nutzen? • Welche symptombezogenen Entwicklungsmodelle können einer entwicklungsorientierten Diagnostik und Interventionsplanung zugrunde gelegt werden? • Wie bedeutsam sind neurobiologische und genetische Befunde, um psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter zu erklären, und was resultiert daraus für die Prävention und die Behandlung? Entwicklungsorientierung Entstehung und Verlauf psychischer Störungen (Entwicklungspsychopathologie) n Diagnosestellung (entwicklungsorientiert) n Therapie des Kindes und seiner Familie (entwicklungsorientierte Intervention). n Klassifikation und Diagnostik Norm und Abweichung n Graduell: Normal => problematisch => Störung. n Statistische Seltenheit; Verletzung von sozialen Normen; persönliches Leid; Dysfunktionales Verhalten. Beeinträchtigung der Lebensführung. Lebensgefährdung. n Jugendalter Konzept der Entwicklungsaufgabe Defizite • Vielfach sind die Leitlinien zur Diagnostik und Therapie psychischer Störungen für das Jugendalter noch unzureichend differenziert ausgearbeitet (vgl. DGKJP, 2007). • Im Jugendalter können Verfahren, die man bei Kindern erfolgreich einsetzt (z. B. Elterntrainings), kaum oder gar nicht angewandt werden (Petermann,2006). • Für Jugendliche existieren kaum spezifische Präventionsprogramme, wenn man vom Drogenbereich absieht. • Im Jugendalter sind Verfahren zur Rückfallprophylaxe (z. B. bei Jugenddelinquenz) nötig, die bislang kaum - zumindest nicht im deutschen Sprachraum - verbreitet sind ( vgl. Heekerens, 2006). • Für Jugendliche eignen sich vor allem gruppentherapeutische Verfahren, die bislang kaum diskutiert und erprobt werden (vgl. Free, 2007). • Bei fast allen psychischen Störungen und auch bei der Bewältigung einer körperlichen Krankheit weisen Jugendliche eine ungünstige Motivationslage auf und sind kaum bereit, aktiv an einer Behandlung mitzuwirken (vgl.Petermann & Harnid, 2007). . Klassifikation und Epidemiologie Ideale Norm n Soziale Norm n Statistische Norm n Funktionelle Norm n Klassifikationssysteme Kategorial (diskrete, klar voneinander abgrenzbare Krankheitseinheiten) ICD der WHO DSM (diagnostisches und statistisches Manual) Dimensionale Klassifikation (psychische Merkmale, die in ihrer Intensität variieren können). n Entwicklungsstörungen F8 Beginn im Kleinkindalter oder in der Kindheit n Einschränkung oder Verzögerung der Entwicklung von Funktionen, die mit der biologischen Reifung von Gehirn und ZNS verknüpft sind. n Stetiger Verlauf n Beispiel einer multiaxialen Beurteilung nach ICD-10 Achse 1 (klinisch-psychiatrisches Syndrom): • emotionale Störung mit Trennungsangst Achse 2 (umschriebene Entwicklungsstörung): • expressive Sprachstörung Achse 3 (Intelligenzniveau): • durchschnittliche Intelligenz Achse 4 (körperliche Symptomatik): • ohne Befund Achse 5 (assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände): • psychische Störung eines Elternteils elterliche Überfürsorge Achse 6 (Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung): • variable Funktionen mit sporadischen Schwierigkeiten Dimensionen psychischer Störungen nach Achenbach und Rescorla (2003) Internalisierende Auffälligkeiten: • sozialer Rückzug • körperliche Beschwerden • ängstlich depressiv Externalisierende Auffälligkeiten: • dissoziales Verhalten • aggressives Verhalten Gemischte Auffälligkeiten: • soziale Probleme • Schizoid/zwanghaft • Aufmerksamkeitsprobleme Aktuelle Kontroverse: Kategoriale oder dimensionale Klassifikation? • Bestimmung der Grenzwerte in der kategorialen Diagnostik. Ein dimensionaler Ansatz ist besonders dann angezeigt, wenn das zu beschreibende Phänomen kontinuierlich verteilt ist und keine eindeutig bestimmbaren Grenzen hat. Dies ist allerdings vermutlich bei nahezu allen klinischen Phänomenen der Fall. Das Problem, Grenzwerte bei der Anwendung diskreter Kategorien zur Erfassung kontinuierlich verteilter Merkmale zu definieren, erscheint letztendlich unlösbar. • Mangelnde Reliabilität von Diagnosen. Mit den Grenzwerten in der kategorialen Diagnostik ist das Problem der mangelnden Reliabilität von Diagnosen eng verknüpft. Während die Beurteilerübereinstimmungen (InterraterReliabilität) hinsichtlich der Diagnosekategorien zumindest für einige Störungen sehr gering ausfallen, verbessern dimensionale Ansätze die Reliabilität (z. B. Shaffer et al., 1996). Die Reliabilitätsminderungen bei kategorialen Diagnosen sind vermutlich durch Unschärfen im Bereich der Grenzwerte bedingt. • Informationsgehalt kategorialer und dimensionaler Systeme. Ein weiterer Vorteil dimensionaler Systeme liegt in ihrem höheren klinischen Informationsgehalt, weil sie nicht nur das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Diagnose feststellen, sondern weil sie auch Informationen über subklinische Ausprägungen liefern. • Anzahl und Art von Dimensionen. Ein Problem der dimensionalen Diagnostik liegt in der Tatsache, dass es bisher keinen Konsens über die für eine Klassifikation optimalen Dimensionen gibt. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich psychische Phänomene auf einem unterschiedlichem Auflösungsniveau betrachten lassen; die Anzahl der Dimensionen ist nicht in der Wirklichkeit vorgegeben, sondern hängt von dem Auflösungsniveau des Instrumentes ab, mit dem ein Phänomen betrachtet wird. Fragebogen, die ein relativ breites Spektrum an psychischen Auffälligkeiten mit einer begrenzten Zahl von Items zu erfassen suchen, bieten zwangsläufig nur ein relativ grobes dimensionales Raster. Dieses Raster kann durch Instrumente verfeinert werden, die ein spezifisches Phänomen ausführlicher erfassen. • Berücksichtigung von Verlaufsaspekten und ätiologischen Faktoren. In der dimensionalen Diagnostik werden ausschließlich Symptome berücksichtigt, während die kategoriale Diagnostik auch andere Kriterien einbeziehen kann, beispielsweise den Beginn, die Dauer oder den Verlauf der Störung, die psychosoziale Beeinträchtigungen sowie ätiologische Faktoren. Dieser Vorteil der kategorialen Diagnostik ist vor allem dann gravierend, wenn sich die diagnostische Einordnung nicht nur auf eine rein deskriptive Kategorisierung begrenzt, sondern ätiologische Faktoren einbezieht und sich damit nosologischen Einheiten nähert. Je mehr kategoriale Systeme auf einer ausschließlich symptombezogenen Beschreibung basieren, um so mehr fallen die Vorteile dimensionaler Systeme ins Gewicht. • Praktikabilität. Diagnostische Einordnungen dienen auch der Kommunikation zwischen Experten. Numerische dimensionale Beschreibungen sind jedoch weniger geläufig und weniger plastisch als kategoriale Ansätze. Durch eine Kombination dimensionaler und kategorialer Systeme ließe sich dieser Nachteil dimensionaler Systeme allerdings vermindern. In diesem Sinne kann der kategoriale Diagnostik lediglich eine Vereinfachung des dimensionalen Systems darstellen. Prävalenz Prävalenzrate: alle ermittelten Fälle innerhalb eines definierten Zeitraums. n Inzidenzrate: Anzahl NEU aufgetretener Fälle in einer Population innerhalb eines definierten Zeitraums. n Warum variieren Prävalenzraten so stark? • Psychische Störungen bei Kindern sind sehr komplex, heterogen und variieren in Abhängigkeit von ihrem Entwicklungsstand. • Vielfach ist die klinische Prävalenz einer Störung nicht klar definiert. • In vielen Studien wird nicht nur bewertet, ob die Kriterien (Symptome) einer Störung erfüllt sind, sondern ob die Alltagsbewältigung oder das psychosoziale Funktionsniveau des Kindes deutlich verringert ist. • Es bestehen unterschiedliche Möglichkeiten in den Studien, den Schweregrad einer Störung zu definieren. • Es ist entscheidend, welche Informationsquellen (Eltern-, Lehrer-, Selbst- oder Expertenurteil) man den Einschätzungen zugrunde legt; die Prävalenzraten sind geringer, wenn man fordert, dass mehrere oder alle Einschätzungen übereinstimmen müssen. • Es treten systematische Verzerrungen auf: So gelten Kinder und Jugendliche bei internalisierenden Störungen (V. a. Angst und Depression) und bei externalisierenden Störungen (z. B. ADHS und Aggression) die Eltern als die zuverlässigsten Inforrnationsquellen. • Fehleinschätzungen sind leicht möglich, da wahrscheinlich ein Großteil der Betroffenen nur knapp über der diagnostischen Schwelle liegt. • Reanalysen von epidemiologischen Studien zeigen, dass geringe Prävalenzraten resultieren, wenn man die Betroffenen - neben den diagnostischen Kriterien - auch hinsichtlich ihres globalen und/oder diagnosespezifischen psychosozialen Funktionsniveaus bewertet. Merkmale der Entwicklungspsychopathologie • Interdisziplinarität (Suche nach biologischen, psychischen und sozialen Ursachen von Verhalten), • Vergleich pathologischer und unauffälliger Entwicklungsverläufe, • Berücksichtigung von Risiko- und Schutzfaktoren im Entwicklungsverlauf und Untersuchung ihrer Wirkungsweise, • Berücksichtigung von Kontinuität und Diskontinuität im Verhalten, • Betonung des Prozesscharakters des pathologischen Geschehens und • Klärung von Vorboten einer zukünftigen Entwicklung (Prädiktion). Schutz- und Kompensationsfaktoren • Schutzfaktoren bestehen schon vor dem Auftreten von Störungen und werden durch das Auftreten von Risikofaktoren aktiv, indem sie deren Wirkung abmildern oder aufheben. • Kompensationsfaktoren tragen dazu bei, dass entstandene (psychische) Störungen besser bewältigt werden können. So sind Entspannungsübungen für Kinder mit Neurodermitis eine Möglichkeit, mit ihrer Krankheit besser umzugehen. Vulnerabilität und Resilienzen • Vulnerabilität bezeichnet eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Umweltbedingungen. • Resilienzen beschreiben die Widerstandsfähigkeit einer Person gegenüber belastenden Umständen. Sie werden durch die Interaktion mit der Umwelt von der Person aktiv erworben. Aktuelle Kontroverse: Wird die Entwicklung der Persönlichkeit durch einen genetischen Bauplan oder soziale Einflüsse bestimmt? Eine Sichtweise der Entwicklungspsychopathologie postuliert, dass die Entwicklung der Persönlichkeit sowie das Auftreten psychischer Störungen einem genetischen Bauplan folgen und durch genetische Informationen bestimmt werden. Umweltfaktoren wirken dabei nur modulierend. Dem setzt eine andere Sichtweise entgegen, dass die Entwicklung der Persönlichkeit und das Auftreten psychischer Störungen im Wesentlichen durch das individuelle Schicksal bestimmt sind. Psychische Traumen, ungünstige Erziehungseinflüsse und andere soziale Faktoren prägen die kindliche Persönlichkeit und führen im Extremfall zu psychischen Störungen. Genetische Einflussfaktoren besitzen nur einen modulierenden Effekt. Die Kontroverse entsteht aus der Betonung eines determinierenden Einflusses entweder angeborener oder umweltbezogener Faktoren. Ein integrativer Ansatz schreibt nicht einem der Aspekte eine Hauptrolle zu, sondern versucht, die jeweiligen Entwicklungseinflüsse dimensional zu erfassen: Durch genetische Faktoren wird eine grundlegende Erlebnis- und Verhaltensdisposition bestimmt, die durch die Interaktion des Individuums mit seiner Umwelt Veränderungen erfährt, sodass Persönlichkeitszüge und/oder psychische Störungen aufgrund einer Wechselwirkung von angeborenen und umweltbezogenen Faktoren zustande kommen. Diese interaktionistische Sichtweise prägt die aktuelle Diskussion zum Thema ,,Anlage-Umwelt". Sie kann die Kontroverse nicht lösen, aber macht aus einem qualitativen Gegensatz (entweder - oder) ein quantitatives Problem (wieviel von jedem?).