2. Funktionen der Psychodiagnostik

Werbung
WS 2002/03 Prof. Dr. Zulley
Verhaltenstherapie ausgewählter
psychiatrischer Erkrankungen
Diagnostik
Dr. Gürtler
Gliederung
•
•
•
•
1. Konzepte der Psychodiagnostik
2. Funktionen der Psychodiagnostik
3. Klassifikationssystem
4. Datenerhebung
• 4.1. Diagnoseorientierte Datenerhebung
• 4.2. Funktionale Verhaltensdiagnostik
• 5. Diagnostische Verfahren
• 6. Kasuistik
• 7. Literatur
1. Konzepte der Diagnostik
• Kategoriale Diagnostik
(in der Tradition medizinischer
Klassifikation; ICD-10)
1. Zuordnung eines Patienten zu
einer nosologischen Kategorie
(Symptome,Syndrom,Diagnose)
2. Diagnose bleibt zeitlich stabil
(Statusdiagnostik).
3. Das Festlegen eines Syndroms
impliziert eine spezifische
Ätiologie, Verlauf und
Prognose (Normorientierung)
• Funktionale / Problemorientierte Diagnostik
(Verhaltensdiagnostik)
1. Erfassung und Analyse von
dsyfunktionalen Verhaltensweisen
2. Erfassung und Beurteilung des
gegenwärtigen Ist-Zustandes im
Vergleich zu einem Zielzustand
3. Die Bestimmung eines Problem
zustandes verändert sich im
Verlaufe (dynamisch; Prozessdiagnostik)
Kategoriale vs. funktionale Diagnostik
(Fortsetzung)
4. hoher klinischer Informationsgehalt bezüglich Vorhandensein
oder Nichtvorhandensein einer
Diagnose und des Ausprägungs
grades der Störung
(Eigenschaftsdiagnostik)
5. Therapie beabsichtigt eine
Beseitigung von Ursachen eines
Syndroms (Heilung)
4. Versuch, Verhalten der Klienten
auf emotionaler, kognitiver,
aktionaler und physiologischer
Ebene zu erfassen (Bedingungsanalyse)
5. Strategien und Handlungsanweisungen zur Veränderung
von Auffälligkeiten
(Verbesserung des Wohlbefindens, evaluiert mittels
Selbstbeobachtungsverfahren,
Fragebögen etc.)
2. Funktionen der Psychodiagnostik
• Beschreibung Erfassung und Quantifizierung von Problemen,
Störungen, Defiziten; Quer- und/oder Längsschnitt
• Klassifikation Zuordnung in Klassifikationssysteme;
Zuordnung zu Interventionen
• Erklärung Informationssuche zur Erklärung der Entstehung von
Störungen; Erklärung der Wirksamkeit von Interventionen
• Prognose Erfolgswahrscheinlichkeit einer Therapie, Verlauf einer
Störung mit und ohne Intervention
• Evaluation Beurteilung der Effektivität einer Intervention und
der Qualität einer Behandlung
3. Klassifikationssystem
• Seit 1.1.98 im deutschen Gesundheitswesen verpflichtende Grundlage
bei der Diagnoseerstellung (in den USA: DSM-IV)
• Veränderung der Begrifflichkeit gegenüber ICD 9:
jetzt: psychische Störung = bio-psycho-soziales Modell
früher: psychiatrische Krankheit = medizinisches Modell
• rein beschreibendes operationales diagnostisches Vorgehen
(„schulenunabhängig“)
• ICD-10 Kapitel V (F) enthält 276 Einzeldiagnosen mit bis zu
fünfstelligem Kodierungsschema (Bsp.: depressive Störung F34.1)
• Nachschlagewerk: Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (Hrsg)
Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD Kapitel V
(F) - Klinisch-diagnostische Leitlinien (2000) Bern: Huber
Klassifikation psychischer Störungen nach ICD-10
Kapitel V (F)
F0 organische einschließlich
symptomatischer psychischer
Störungen
F1 psychische und
Verhaltensstörungen durch
psychotrope Substanzen
F2 Schizophrenie, schizotype und
wahnhafte Störungen
F3 Affektive Störungen
F4 Neurotische, Belastungs- und
somatoforme Störungen
F5 Verhaltensauffälligkeiten mit
körperlichen Störungen und
Faktoren
F6 Persönlichkeits- und
Verhaltensstörungen
F7Intelligenzminderung
F8 Entwicklungsstörungen
F9 Verhaltens- und emotionale
Störungen mit Beginn in der
Kindheit und Jugend
4. Datenerhebung
4.1 diagnoseorientiert
Psychodiagnostische Fragestellungen
• Prämorbides Intelligenzniveau?
• Finden sich Anhaltpunkte für eine Psychose aus dem schizophrenen
Formenkreis?
• Sind kognitive Leistungseinbußen objektivierbar? Welche kognitiven
Bereiche sind betroffen?
• Schweregrad einer depressiven Störung?
Probleme bei der Datenerhebung
• Auswahl der Testverfahren / Testbatterie
• eingeschränkte Belastbarkeit der Patienten
• Interpretation der Befunde
4.2. Funktionale Verhaltens- und
Bedingungsdiagnostik
1. Angaben zur Person
2. Problemdarstellung
3. Bedingungsanalysen
4. Interaktionsgewohnheiten und Verhaltensziele
5. Therapieziele
6. Therapieplanung
7. Therapieverlauf
8. Abschluss der Therapie
Kernstück des diagnostischtherapeutischen Prozesses
Bedingungsanalysen
Subjektives Störungsmodell
(Krankheit/Behinderung,
Lebensbedingungen, Stressoren, Selbstbewertung/Persönlichkeit)
Funktionale Verhaltensanalyse (SORK-Modell)
(Stimulus; angeborene Persönlichkeitseigenschaften, Lerngeschichte;
Reaktion:emotional/physiologisch/kognitiv/aktional; aufrechterhaltende Bedingungen; Konsequenzen, überdauernde Folgen)
Kognitionsanalyse (spontane Gedanken, Vorstellungen,
Einstellungen, Bewertungen, dysfunktionale Kognitionen,
“irrationale“ Überzeugungen)
5. Diagnostische Verfahren im
Rahmen der Bedingungsanalysen
• Stimuli (z.B. Hamburger Zwangsinventar, Hamilton Angst-Skala,
Wochenpläne, Symptomtagebücher, Symptomcheckliste)
• Organismus (Selbst- und Fremdbeobachtungsbögen,
Verhaltensproben, Rollenspiele, strukturierte Interviews)
• Kognitionen (Skala dysfunktionaler Einstellungen)
• Aktivitäten /Verstärker (Aktivitätsliste, Liste angenehmer
Ereignisse)
6. Kasuistik
• 68-jähriger Mann kommt mit anhaltenden
Muskelschmerzen vor allem in den Beinen, aber
auch im Schulter- und Rückenbereich ohne
organische Ursache zur stationären Aufnahme
• Schmerzen haben vor 1 Jahr „schubartig“
angefangen, dazu gestörter Schlaf, Ruhelosigkeit, Nervosität, Einnahme höherer Dosen
schmerzberuhigender Medikamente
Psychiatrische Diagnose: mittelschwere depressive
Episode mit somatischem Syndrom (F32.11)
Psychodiagnostische Befunde:
• knapp durchschnittliche Primärintelligenz (MWT-B, WIP)
• keine diagnostisch relevanten kognitiven Leistungseinbußen (MMSE, SKT, Uhrentest)
• mittelschweres depressives Syndrom (GDS, BRMe-Skala)
• Symptombelastung: hohe Werte auf der Somatisierungs-,
Angst- und Depressionsachse der SCL-90-R)
Funktionale Verhaltens- und
Bedingungsdiagnosen
• Person/Lebensbedingungen/Lebensereignisse:
durch Umstrukturierung im Betrieb als damals 58-jähriger
Schlosser verunsichert („Entlassung?“), reagiert mit
verstärktem Alkoholkonsum („5 Bier täglich“) und muss in
die Klinik zur Entwöhnung;
danach Berentung, zunehmende Schmerzempfindungen,
Aufsuchen von Ärzten ohne bleibenden Erfolg
wenig Ablenkung, keine Hobbies, reduzierte soziale
Kontakte
Bedingungsanalysen
• S: Einsamkeit/Gefühl des Nicht-gebraucht-werdens
• O Selbstbeschreibung: eher gutmütig („kein Streit“), schnell
emotional angerührt, autoritätsgebunden, einseitig interessiert, auf
Sicherheit bedacht
dysfunktionale Kognitionen: Gefühl der Wertlosigkeit („zum alten
Eisen“)
Fremdbeobachtung: angepasst, sentimental, wenig vital, Krankheit
als Lebensinhalt
Disposition/Verhaltsproblem: solche Menschen können sich nur
schwer aus einem bestimmten Rollenverhalten lösen, sind aber tüchtig
und gefühlsbetont
• R: Schmerzen, Arzt aufsuchen, Klinikaufenthalt
• K: Zuwendung, Anerkennung
Therapieziele/-planung
• Aufbau von Änderungsmotivation
• Umgang mit der Krankheit
• Erklärung psychosomatischer Zusammenhänge
Bewältigungsstrategien
• kognitive Umstrukturierung, Beseitigung dysfunktionaler
Gedanken
• Akzeptieren negativer Gefühle, komplettieren unterbrochener Emotionsexpressionen
• Ablenkung, Entspannungsverfahren
Therapieverlauf / -abschluss
•
•
•
•
Medikation
Einzel- Gruppengespräche
andere Therapien (BT, Musiktherapie, KG)
Evaluation der Therapiefortschritte
(Stimmungsthermometer, Fragebögen)
• Evaluation des Therapieerfolges (SCL-90:
Aufnahme-Entlassung-Vergleich)
7. Literatur
• Collegium Internationale Psychiatriae Scalarum (Hrsg)
(1996) Internationale Skalen für Psychiatrie. Beltz:
Göttingen
• Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (2000) Internationale
Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10 Kapitel V (F)
Klinisch-diagnostische Leitlinien. Huber, Bern
• Krampen G (1998) Diagnostik nach der ICD-10. Report
Psychologie1: 44-63
• Margraf J (Hrsg) (2000) Lehrbuch der Verhaltenstherapie
Band 1. Springer, Berlin u.a.: 267-262
Literatur
• Plattner A, Ehrhardt T (2002) Psychotherapie bei
beginnender Alzheimer Demenz. In: Maercher A (Hrsg)
Alterspsychotherapie und klinische Gerontopsychologie,
Springer, Bern u.a.: 229-243
• Schulte D (1999) Verhaltenstherapeutische Diagnostik.
Reinecker H (Hrsg) Lehrbuch der Verhaltenstherapie. dtvg
Verlag, Tübingen: 45-85
• Stieglitz RD, Baumann U (1994) Psychodiagnostik
psychischer Störungen. Enke, Stuttgart
• Stieglitz RD (2000) Diagnostik und Klassifikation
psychischer Störungen. Hogrefe, Göttingen u.a.
• Testzentrale (Hrsg) Testkatalog 2002/03. Hogrefe,
Göttingen u.a.
Herunterladen