FMH-Quiz 61

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FMH - Quiz
Vol. 26 Nr. 2 2015
FMH-Quiz 61
Fallbeschreibung
Alain ist ein 23-monatiges, bisher gesundes
Kind. Seit 36 Stunden weist er sehr starke
Bauchschmerzen auf, welche plötzlich aufgetreten waren. Seither weint er sehr häufig und
hat einen flüssigen Stuhlgang gehabt. Diese
Schmerzen verschwinden nach ein paar Minuten und Alain spielt wieder wie vorher. Er ist
afebril und sein Verhalten ist unauffällig.
Tagsüber schien alles in Ordnung gewesen zu
sein, aber heute Abend sind die Schmerzen
erneut aufgetreten, wurden immer häufiger
und Alain begann zu erbrechen ohne Stuhl zu
entleeren. Seine Eltern bringen ihn dann auf
die Notfallstation.
Frage 1
Was sind die 3 klinischen Probleme, die Alain
aufweist?
Frage 2
Sie haben die Diagnose einer akuten Invagination gestellt. Nennen Sie mindestens 2 klinische Ursachen, die beim Säugling oder beim
älteren Kind für eine Invagination verantwortlich sein können.
Frage 3
Was ist die Untersuchung der ersten Wahl, um
Ihre Diagnose zu bestätigen?
Frage 4
Beschreiben Sie Ihr weiteres Procedere.
Bei der klinischen Untersuchung sind Körpergewicht und Körperlänge in den Perzentilen.
Alain ist afebril, leicht blass aber er lächelt.
HF 90/Min.; Rekapillarisationszeit < 3 Sek.
Der Bauch ist weich, Sie hören keine Darmgeräusche. Die rektale Untersuchung zeigt eine
Blutbeimengung im Stuhl. Die übrigen Befunde sind normal.
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Antwort 1
•Intermittierende, anfallsweise
Bauchschmerzen
•Störungen der Darmpassage
(Erbrechen und Durchfall)
•Blutabgang anal
Antwort 2
•Idiopathische Form
•Meckel-Divertikel
•Purpura Schönlein-Henoch
•Peyer Plaques/Lymphadenitis
mesenterialis
•Darmpolypen
•Dünndarmtumoren:
Angiome, Sarkome, Lymphome
Antwort 3
•Ultraschall: Im Querschnitt Zielscheibenoder Kokardenzeichen, beim längsgetroffenen Dickdarm sog. Pseudokidneyzeichen. In
der Doppler-Untersuchung kann eine arter­
ielle und venöse Hyperämie sichtbar sein,
•Einlauf mit wasserlöslichem Kontrastmittel
oder Luft, falls wie in vorliegendem Fall
keine Kontraindikationen vorliegen = weiches Abdomen, keine Okklusionszeichen,
keine wesentliche Darmblutung, guter Allgemeinzustand
Antwort 4
•Hospitalisation; nüchtern halten
•Venöser Zugang und Hydrierung
•Therapeutischer Einlauf mit Luft- oder Kontrastmittel: Der Einlauf ermöglicht die
Sichtbarmachung der Invagination und in
den meisten Fällen deren Reposition
•Operative Therapie bei Misserfolg der Reposition durch Einlauf
Vol. 26 Nr. 2 2015
Kommentar
Philippe Liniger, Biel-Bienne
Zur Fallvignette und zu den Fragen
Die Anamnese von Alain zeigt zwei symptomatische Phasen, dazwischen ein unauffälliges Intervall. In der ersten Phase hat er neben
starken Schmerzen einmalig Diarrhoe, in der
zweiten Phase erbricht er, und die Schmerzen
treten immer häufiger auf. Diese zwei Phasen
können auf eine zuerst spontan wieder reponierte Invagination mit erneutem Auftreten
am Folgetag hindeuten. Andere anamnestische Elemente wie Lethargie, bleiches Kolorit
oder Schwitzen werden nicht erwähnt.
In der klinischen Untersuchung ist er bleich.
Sein weiches Abdomen ohne Darmgeräusche
lässt differentialdiagnostisch auch an einen
Volvulus denken, allerdings ist sein Allgemeinzustand (er lächelt) dafür eher zu gut.
Die Ursachen einer Invagination sind vielfältig, im Alter von Alain ist jedoch die idiopathische Form weitaus am häufigsten. Bei Kindern
über 5 Jahren sind pathologische Ursachen
häufiger, die in der initialen Sonografie oder
bei wiederholter Untersuchung im Verlauf
manchmal «nicht-invasiv» diagnostiziert werden können.
Die Sonografie ist für die Diagnose die entscheidende Untersuchung. Sie hat eine sehr
hohe Sensitivität und auch eine hohe Spezifität und ist bei begründetem Verdacht sicher
sofort und zu jeder Tageszeit indiziert.
Die Stabilisierung mit intravenöser Hydratation ist abhängig vom Allgemeinzustand; sie
kann bei einer langdauernden Anamnese und
klinischen Zeichen einer Dehydratation schon
vor der Sonografie nötig sein.
Abb. a und b: Sonografie
bei Invagination, b: Kontrastmitteleinlauf mit Darstellung des
Invaginatkopfes distal der rechten Flexur
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Die Therapie besteht in der Reposition der
Invagination mittels Einlauf mit Luft oder
wasserlöslichem Kontrastmittel. Sie wird mittels Durchleuchtung oder Sonografie kontrolliert. Falls die nicht-invasive Reposition nicht
gelingt, wird sie mittels Operation durchgeführt.
Die Invagination
Im Alltag wird der Begriff «Invagination» auf
die häufigste klinisch relevante Form bezogen, nämlich die ileokolische Invagination. Auf
die postoperative Invagination und andere
ileoileale Formen wird deshalb hier nicht eingegangen.
Bauchschmerzen und Erbrechen sind im
Kleinkindesalter häufig; trotzdem ist die
Anamnese bei Invagination oft wegweisend.
Kinder mit Invagination zeigen meist eine
ausgeprägte Klinik: plötzlich einsetzende
schmerzhafte Abdominalkoliken mit Anziehen
der Beine, in Intervallen von 15 bis 20 Minuten
auftretend, sind in bis 85 % der Patienten zu
finden. Vor allem bei Säuglingen kann aber
auch eine Lethargie oder eine Bewusstseinstrübung das einzige Symptom sein. Auffällig
ist bei fast der Hälfte der Kinder eine deutliche Blässe. Häufig kommt es auch früh zu
reflektorischem Erbrechen, das meist nur­
1–2 x auftritt. Wenn die Kinder noch stuhlen,
ist dieser meist nicht voluminös, und die typischen Elemente von Schleim und Blut können
abgesetzt werden; in der älteren Literatur
wurde dies bis in 50 % gefunden, aktuellere
Zahlen zeigen es noch in etwa 15 %. Möglicherweise spielt eine raschere Diagnose hier
eine Rolle.
Das typische Alter für eine Invagination liegt
zwischen 3 Monaten und 5 Jahren. Der Häufigkeitsgipfel wird in einem grossen Review
bei 5–7 Monaten angegeben1), schweizerische
Zahlen zeigen einen ähnlichen Altersgipfel,
allerdings bei einem medianen Alter von 1.9
Jahren2) . Eine saisonale Häufung wurde in
beiden Arbeiten nicht gefunden.
Mit etwa 80 % ist die idiopathische Form die
häufigste. Virale Infektionen scheinen bei der
idiopathischen Invagination eine wichtige
Rolle zu spielen. Viele Kinder haben kurz
vorher eine virale Infektion durchgemacht,
oder leiden aktuell noch unter einer Gastroenteritis. Allerdings sind diese Infektionen für
die Therapie nicht relevant. Invaginationen
können auch durch pathologische anatomische Strukturen bedingt sein, die wir patho-
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logische Führungspunkte nennen. Solche
Führungspunkte können Meckel-Divertikel,
Purpura Schönlein-Henoch, Lymphome, Polypen, Duplikaturen des Darmes, vaskuläre
Malformationen sowie weitere seltene Pathologien sein. Je älter das Kind, desto häufiger
finden sich pathologische Führungspunkte.
Die Invagination bildet sich dadurch, dass
vergrössertes lymphatisches Gewebe oder
ein Führungspunkt durch die Darmperistaltik
nach distal transportiert wird und sich damit
teleskopartig in den distalen Darm einstülpt.
Bei der klinischen Untersuchung soll gerade
bei kleineren Kindern eine Resistenz im
­rechten Hemiabdomen gesucht werden, die
manchmal als Vorwölbung der Abdominalwand gesehen oder aber palpiert werden
kann. Eine Rektaluntersuchung zeigt manchmal den genannten blutigen Schleim, bei
langstreckigen Invaginationen kann der «Invaginatkopf» palpierbar sein. Darmgeräusche
können spärlich oder fehlend sein.
Diagnostisch ist die Sonografie; sie hat eine
sehr hohe Sensitivität und Spezifität von nahezu 100 %. Dies auch, weil der betroffene
Kolonabschnitt an die vordere Abdominalwand gedrückt wird und somit keine störenden Darmgasüberlagerungen vorliegen.
Die Reposition der Invagination wird mit einem
Einlauf durchgeführt, ausser der Allgemeinzustand des Kindes ist sehr schlecht oder die
Anamnese ist länger als 48–72 Stunden. Die
Reposition mittels Luft ist derjenigen mit Kontrastmittel leicht überlegen3): die Erfolgsquote
liegt höher, und die Rezidivquote ist tiefer, sie
liegt bei 8,5 (Luft) ­versus 12,7 % (Kontrastmittel) 4). Bei nicht-­erfolgreicher Reposition kann
das Manöver frühestens nach 30 Minuten
einmalig wiederholt werden. Das Perforationsrisiko ist bei Berücksichtigung eines maximalen Druckes von 100 cm H2O sehr gering, unter
1 %. Kontrolliert wird der Erfolg in der Regel
mittels Durchleuchtung, an spezialisierten
Zentren kann dies auch mittels Ultraschall
geschehen. Vor einer Reposition wird ein ivZugang gelegt und nach Bedarf wird das Kind
rehydriert; eine Sedation oder Anästhesie wird
nicht routinemässig durchgeführt, allerdings
reagieren die Kinder auf den Einlauf oft mit
deutlicher Unruhe. Antibiotika werden in der
Regel keine verabreicht, ihr Nutzen ist nicht
bewiesen.
kann laparoskopisch oder offen durchgeführt
werden; die offene Operation hat den Vorteil,
dass der Darm mittels Fingerdruck reponiert
werden kann und nicht mit Instrumenten gefasst werden muss. Allerdings sind auch bei
der laparoskopischen Operation keine relevanten Darmverletzungen beschrieben; in
30 % muss aber auf die offene Operation gewechselt werden5) . Pathologische Führungspunkte werden in der Regel reseziert mit
End-zu-End-Anastomose des betroffenen
Dünndarmabschnittes. Bei ausgeprägter ischämischer Schädigung des Darmes kann auch
eine Resektion nötig sein, dies ist jedoch bei
Weitem nicht bei allen operierten Kindern mit
idiopathischer Invagination der Fall und wird,
wenn immer möglich, unter Belassen der Ileozökalklappe durchgeführt.
Das Rezidivrisiko für eine erneute Invagination
innert einigen Tagen ist mit generell etwa 10 %
recht hoch; nach operativer Versorgung ist es
tiefer als nach einem Einlauf.
Aufgrund des Rezidivrisikos werden die Kinder in der Regel bis am Folgetag beobachtet.
Der Nahrungsaufbau kann aber gemäss Klinik
rasch durchgeführt werden, ohne dass das
Rezidivrisiko steigt. Auch bei Kindern über 5
Jahren kann mittels Einlauf behandelt werden,
allerdings empfiehlt sich nach der Reposition
die sonografische Suche nach einem pathologischen Führungspunkt, und bei Rezidiven
trotz fehlendem Nachweis eines solchen
sollte die Indikation zum chirurgischen Vorgehen grosszügig gestellt werden.
Eine Invagination ist eine gravierende Erkrankung, die aber bei sorgfältiger Anamnese und
klinischer Untersuchung vermutet und mittels
Sonografie sicher diagnostiziert werden kann,
und sie kann in der Mehrzahl mit geringem
therapeutischem Aufwand behandelt werden.
In der schweizerischen Erfassung über 3 Jahre wurden erfreulicherweise keine Todesfälle
beschrieben2) .
Ca. ¼ der Repositionen sind nicht erfolg­reich2) , sie werden operativ versorgt. Dies
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Referenzen
1) Jiang J, Jiang B, Parashar U, Nguyen T, Bines J, Patel
MM Childhood intussusception: a literature review.
PLoS One. 2013 Jul 22; 8(7): e68482.
2) Buettcher M, Baer G, Bonhoeffer J, Schaad UB,
Heininger U. Three-year surveillance of intussusception in children in Switzerland. Pediatrics.
2007 Sep; 120(3): 473–80.
3) Beres AL, Baird R. An institutional analysis and
systematic review with meta-analysis of pneumatic
versus hydrostatic reduction for pediatric intussusception. Surgery. 2013 Aug; 154(2): 328–34.
4) Gray MP, Li SH, Hoffmann RG, Gorelick MH. Recurrence rates after intussusception enema reduction:
a meta-analysis. Pediatrics. 2014 Jul; 134(1): 110–9.
5) Laparoscopic treatment of intussusception in
children: a systematic review.Apelt N, Featherstone N, Giuliani S. J Pediatr Surg. 2013 Aug; 48(8):
1789–93.
Korrespondenz
Dr. Philippe Liniger
Chefarzt Kinderchirurgie
Spitalzentrum Biel
[email protected]
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