Störung des Sozialverhaltens

Werbung
Basiswissen Kinder- und
Jugendpsychiatrie und
Entwicklungspsychopathologie
Störungen des Sozialverhaltens
3. Juli 2014
Dr. Marc Allroggen
1. Definition und Epidemiologie
2. Entstehungsbedingungen
3. Diagnostik und Therapie
Dr. Marc Allroggen
1. Definition Störungen des Sozialverhaltens
Störungen des Sozialverhaltens umfassen ein Muster dissozialen, aggressiven oder
aufsässigen Verhaltens mit Verletzungen altersentsprechender sozialer
Erwartungen, welches länger als 6 Monate besteht.
Leitsymptome:
Deutliches Maß an Ungehorsam, Streiten oder Tyrannisieren
Ungewöhnlich häufige oder schwere Wutausbrüche
Grausamkeit gegenüber anderen Menschen oder Tieren
Erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum
Delinquentes Verhalten
Schuleschwänzen, Weglaufen von zu Hause.
Zentrales Symptom:  Aggressives Verhalten
Hohe Komorbidität mit emotionalen Störungen und ADHS
Hohe Assoziation mit schlechter sozialer Integration und schulischen Leistungen
Dr. Marc Allroggen
1. Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten - BELLA Studie
(Ravens-Sieberer et al., 2007)
Dr. Marc Allroggen
1. Klassifikation der Störung des Sozialverhaltens
ICD-10
DSM-5
Hyperkinetische Störung
ADHD
Hyperkinetische SSV (F90.1)
ADHD (predominantly
hyperactive/impulsive presentation)
(314.01)
Störung des Sozialverhaltens (SSV)
Conduct disorder (CD)
…auf den familiären Rahmen beschränkt (F91.0)
...bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1)
Childhood-onset type (312.81)
…bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2)
Adolescent-onset type (312.82)
…mit oppositionellem Trotzverhalten (F91.3)
Oppositional defiant disorder (313.81)
…und der Emotionen (F92)
Intermittent explosive disorder (312.34)
Anpassungsstörung
Adjustment disorders
Mit vorwiegender SSV (F43.24)
With disturbance of conduct (309.3)
Depressive disorders
Disruptive mood dysregulation disorder
(296.99)
Dr. Marc Allroggen
Specifier: limited
prosocial
emotions
1. Entwicklungsverlauf von Störungen des Sozialverhaltens
Frühe Kindheit
Angst
Opposition.
Trotzverhalten
Adoleszenz
Depression
Störung des
Sozialverhaltens
Erwachsenenalter
Substanzmißbrauch
Antisoziale
Persönlichkeitsstörung
Hyperkinetische
Störung
nach Loeber et al. (2000)
Dr. Marc Allroggen
1. Entwicklungsverlauf von Störungen des Sozialverhaltens
(Fairchild et al. J Child Psychol Psychiatry 2013; 54(9): 924–40)
Dr. Marc Allroggen
1. Definition und Epidemiologie
2. Entstehungsbedingungen
3. Diagnostik und Therapie
Dr. Marc Allroggen
2. Risikofaktoren delinquenten und aggressiven Verhaltens
Individuelle Risikofaktoren
Biologische Faktoren: veränderte vegetative Reaktionen (z. B.
Hautleitfähigkeit, HR) (Hubbard et al., 2010), Veränderungen
Neurotransmittersysteme (z. B. 5-HT2, NA, D4DR, MAOA) (Siever,
2008), strukturelle und funktionelle Hinveränderungen (z. B. vmPFC,
ACC, OFC, Amygdala) (Shirtcliff et al. 2009)
Psychologische Faktoren: Empathiedefizite (Jolliffe und Farrington, 2004),
Selbstwert, Narzissmus (Ostrowsky, 2010), Impulsivität (White et al., 1994),
CU-Traits/Psychopathie (Loeber et al., 2009), Persönlichkeits- und
Temperamentsfaktoren (Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit;
sensation seeking, Belohnungsabhängigkeit) (Frick und Viding, 2009),
kognitive Defizite und Defizite Exekutivfunktionen
Soziale und Familiäre Risikofaktoren
Geringe elterliche Aufsicht (Loeber et al., 1993), Misshandlung (Widom, 1989),
Gewalterfahrungen, Broken home (Henry et al., 1993), Niedriger SES
(Velez et al., 1989), Peer influences ?, Geringer Bildungsstatus (Loeber et
al., 1998)
Dr. Marc Allroggen
2. Risikofaktoren Aggressives Verhalten (Scheithauer, 2008)
Dr. Marc Allroggen
2. Schutzfaktoren kindlicher Entwicklung (Scheithauer, 2008)
Dr. Marc Allroggen
2. Resilienz (Windle et al., 2011)
Prozess der Überwindung, Bewältigung und Anpassung von bzw. an
bedeutsame Stresserlebnisse. Hierbei unterstützen persönliche
Veranlagung und individuelle Ressourcen, Lebensumstände und
Umgebung das Individuum sich anzupassen und widrige
Umstände zu überwinden. Diese psychische Robustheit variiert im
Laufe des Lebens.
Dr. Marc Allroggen
2. Störung des Sozialverhaltens - CU traits
Callous-unemotional traits
(Psychopathie)
-Mangel an Schuldgefühlen
-Empathiedefizite
-emotionale Kälte
Verbunden mit einem
stabileren Bild von
aggressivem und
delinquentem Verhalten.
Ohne CU-Traits
Defizite in der
Emotionsregulation und
Impulsivität
häufiger familiäre
Risikofaktoren und
uneffektive
Erziehungsmethoden
Höhere Ängstlichkeit
Familiäre Faktoren haben
einen geringeren Einfluss
Keine Defizite in der
Moralentwicklung
Eher proaktive Aggression
Häufiger Stress in
Beziehungen zu
Gleichaltrigen
Eher reaktive Aggression
Dr. Marc Allroggen
2. Entwicklung aggressiven Verhaltens
Reaktiv-impulsive Aggression (Ostrowsky, 2010)
Momentane, spontane Aggression als Reaktion auf vermeintliche
Bedrohung oder Provokation
→ defensive Orientierung
Genetische Prädisposition führt in Zusammenhang mit frühen negativen
psychischen Erfahrungen zu einer Beeinträchtigung im serotonergen
System im Bereich des Frontalhirns

Hypersensibilität mit verstärkter Reaktion auf negative und bedrohliche
emotionale Reize

Affektiv-motorische Impulsivität mit später häufigem Bedauern der
aggressiven Reaktion
Dr. Marc Allroggen
2. Entwicklung aggressiven Verhaltens
Proaktiv-instrumentelle Aggression (Fecteau et al., 2008; Ostrowsky,
2010)
Vorausgeplante und zielstrebige Aggression zur Erfüllung von
Bedürfnissen ohne Defizite in der Impulskontrolle
→ offensive Orientierung
Hohe genetische Komponente (wenig Einfluss von Umweltfaktoren) mit
emotionaler Unempfindlichkeit
Defizite bei der Verarbeitung negativer emotionaler Informationen
(pathologische Furchtlosigkeit)

Störung des Sozialisationsprozesses

Gute Impulskontrolle und Risikowahrnehmung, aber moralisches Defizit
(Wahrnehmung von Emotionen prinzipiell nicht gestört, aber keine
Konsequenz auf die Handlung)

Delinquentes und dissoziales Verhalten
Dr. Marc Allroggen
2. Entwicklung aggressiven Verhaltens
Reaktive Aggression
Proaktive Aggression
Erhöhte Reaktivität
gegenüber emotionalen
Stimuli
Mangel an Mitleid
Beeinträchtigung des
Serotoninsystem
Aktivitätsminderung in
frontalen Hirnarealen (OFC,
vmPFC) [Impuls-,Ärger- und
Furchtkontrolle]
Aktivitätserhöhung in
Amygdala [Erkennen
negativer emotionaler Reize]
→ Erleben Umgebung als
Bedrohlicher
→ Geringere Fähigkeiten zur
Kontrolle
Dr. Marc Allroggen
Verminderte Reaktivität bei
negativen emotionalen
Reizen [aber noch z. T.
widersprüchliche
Bildgebungsbefunde]
1. Definition und Epidemiologie
2. Entstehungsbedingungen
3. Diagnostik und Therapie
Dr. Marc Allroggen
3. Diagnostik
1) Exploration des Kindes/Jugendlichen und der Eltern
-
Entwicklung der Symptomatik
Erfassung Schutz- und Risikofaktoren
Biografische Anamnese, Familienanamnese
Umgang mit Problemverhalten
2) Erfassung Komorbiditäten
 ADHS, emotionale Störungen, Suchterkrankungen
3) Indikationsgeleitete somatische Diagnostik
4) Indikationsgeleitete testpsychologische Diagnostik
Dr. Marc Allroggen
3. Störung des Sozialverhaltens – Psychotherapeutische
Interventionen (Garland, 2008)
Gemeinsame Elemente von evidenzbasierten
Behandlungsprogrammen mit nachgewiesener Wirksamkeit bei
Kindern im Alter von 4 – 13 Jahren
Therapeutische Inhalte
Positive Verstärkung
Effektives Begrenzen / Bestrafen
Eltern-Kind-Beziehung stärken
Problemlösen Fertigkeiten vermitteln
Ärgermanagement
Affektwahrnehmung
Rückfallprophylaxe
Dr. Marc Allroggen
3. Störung des Sozialverhaltens – Psychotherapeutische
Interventionen (Garland, 2008)
Methoden
Vermittlung von Grenzsetzung/Bestrafung
Psychoedukation
Hausaufgaben
Rollenspiele
Verhaltensrückmeldung
Zielvereinbarung und -überprüfung
Aspekte des Arbeitsbündnisses
Gemeinsame Zielvereinbarung
Beziehungsaufbau
Weitere Aspekte
Teilnahme von Eltern und Kindern, mindestens 12 Sitzungen,
wöchentlich mindestens 1 Stunde
Dr. Marc Allroggen
3. Therapieempfehlungen (Eyberg et al., 2008; NICE guidelines)
Junge Kinder  Elterntraining
Jugendliche  Individualtherapie (Soziales und Problemlösetraining)
-Komplexe Behandlungsprogramme [Multidimensional Treatment
Foster Care (MTFC) (Chamberlain & Smith, 2003); Multisystemic Therapy
(MST) (Henggeler & Lee, 2003)]
- Ausführliche Diagnostik bevor Behandlung
- Konsequente Behandlung
- Einbeziehen der Umwelt des Jugendlichen
- Medikamentöse Behandlung bei impulsiver Aggression und
emotionaler Dysregulation, wenn psychotherapeutische Maßnahmen
nicht ausreichend gewesen sind
Dr. Marc Allroggen
3. Wirksamkeit von Behandlungen
Jugendpsychiatrie 2008; 36,5)
Dr. Marc Allroggen
(Bachmann et al., Zeitschrift für Kinder- und
Familie
Unterstützung der elterlichen
Erziehungskompetenz
(klare und konsistente Regeln, positive
Verstärkung, milde Konsequenzen,
Kompromissbereitschaft)
Fokus liegt auf prosozialen Verhaltensweisen
(weg von Problemzentrierung)
Einrichtung
Policy; Krisenstrategien,
klare Regelungen,
Individuum
Emotionsregulation
Impulsivität
Soziale Kompetenz
Bewältigungsmechanismen
Dr. Marc Allroggen
Gleichaltrigengruppe
Förderung Kontakte zu nicht
aggressiven Jugendlichen
Schule
Policy; Krisenstrategien,
klare Regelungen,
positives Classroom-Management,
Klassenrat
3. Behandlungsoptionen – Expertenkonsensus
(Pappadopulos et al., 2011)
Psychopharmakologische Behandlungsoptionen bei
unzureichendem Therapieerfolg von Elterntraining und
Verhaltenstherapie
-Stimulantien
-Risperidon
-Lithium
-Valproat
Dr. Marc Allroggen
3. Psychopharmakologie – Diagnosen bei AP-Verordnung
(Glaeske & Schicktanz, 2013, Barmer Arzneimittelreport)
Dr. Marc Allroggen
3. Psychopharmakotherapie (Comai et al. J Clin Psychopharmacol 2012;32)
3. Psychopharmakotherapie (Loy et al., 2012, Cochrane Systematic Review)
Dr. Marc Allroggen
3. Psychopharmakotherapie (Loy et al., 2012, Cochrane Systematic Review)
„There is some limited evidence that risperidone reduces aggression
and conduct problems in the short term in children and youths (aged 5
to 18) with disruptive behavior disorders. This evidence comes from a
small number of studies conducted in clinical sites in which there was
some risk of bias of overestimating the true intervention effect due to
methodological shortcomings. The children and adolescents in the trial
were recruited from inpatient and outpatient populations so that findings
are potentially generalisable. The size of the effect reported in these
studies is likely to be clinically meaningful.“
Dr. Marc Allroggen
3. Prävention aggressiven Verhaltens (Connor, 2006)
Präventions- und frühe Interventionsprogramme sind effektiv, wenn
– Unterstützung von Kind, Familie und Lehrer/Erzieher erfolgt
– Gezielte Interventionen regelmäßig, hochfrequent erfolgen
– Die Intervention ausreichend lang ist (mind. 2 Jahre)
– Spezifische Interventionen zur Reduktion psychosozialer
Risikofaktoren (gewalttätiges Familienklima, vernachlässigender
oder misshandelnder Erziehungsstil) erfolgen
– Eine Verbesserung der Eltern-Kind-Interaktion erfolgt
(Kommunikation, Problemlöse-Verhalten, Copingstrategien)
– Die Intervention möglichst früh erfolgt (Alter des Kindes 0-6
Jahre)
– Eine intensive Kollaboration zwischen Familie, Schule,
Jugendamt, Jugendgerichtshilfe und KJP erfolgt
Dr. Marc Allroggen
Zusammenfassung
Störungen des Sozialverhaltens stellen eine heterogenes
Störungsbild dar, das vor allem durch aggressives und dissoziales
Verhalten gekennzeichnet ist.
Bedeutsam scheint eine Unterscheidung in Patienten mit und ohne
CU-traits, während die Unterscheidung zwischen spätem und frühem
Beginn wahrscheinlich prognostisch wenig aussagekräftig ist.
Es besteht eine hohe Komorbidität mit emotionalen Störungen.
Psychotherapeutisch sind vor allem Verfahren wirksam, die einen
systemischen Ansatz verfolgen und sowohl die Familie als auch das
Umfeld mit einschließen.
Bei schweren Verläufen kann zur Verbesserung der Impulskontrolle
der Einsatz atypischer Neuroleptika sinnvoll sein.
Dr. Marc Allroggen
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie /
Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm
Steinhövelstraße 5
89075 Ulm
www.uniklinik-ulm.de/kjpp
[email protected]
Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert
Herunterladen