Sexuelle Übergriffe unter Kindern – Entstehungsbedingungen und Handlungsoptionen Fachtag „Über Grenzen hinweg“ Dr. Marc Allroggen Mainz, 14. Juni 2016 1. Einleitung und Definitionen 2. Ursachen sexuell übergriffigen Verhaltens 3. Diagnostik und Therapie 4. Implikationen und Handlungsoptionen Dr. Marc Allroggen 1. Typologie von Gewalt (WHO, 2003) 1. Definitionen: Sexuelle Gewalt “Any sexual act, attempt to obtain a sexual act, unwanted sexual comments or advances, or acts to traffic, or otherwise directed against a person's sexuality using coercion, by any person regardless of their relationship to the victim, in any setting.” (World Health Organization, 2011) Jede Form von ungewolltem sexuellen Kontakt, der durch gewalttätige oder nicht-gewalttätige Mittel erreicht wird. (Krahé & Scheinberger-Olwig, 2002). Sexuelle Gewalt beinhaltet sowohl relativ milde Übergriffe (z.B. Küssen oder Berühren), aber auch schwere sexuelle Übergriffe (z.B. Vergewaltigung oder Zwang zu sexuellen Handlungen). Die Mittel, die eingesetzt werden, um einen ungewollten sexuellen Kontakt zu erreichen, können verbalen Druck, Bedrohungen, Ausnutzen von Widerstandsunfähigkeit aber auch körperliche Gewalt umfassen. Dr. Marc Allroggen 1. Zum Begriff der Freiwilligkeit (aus: Mosser, 2012) Wissentliche Zustimmung (informed consent) als Voraussetzung für Freiwilligkeit Verstehen des Vorschlags Wissen über gesellschaftliche Standards im Zusammenhang mit dem, was vorgeschlagen wird Einschätzung bezüglich möglicher Konsequenzen und Alternativen Annahme, dass Zustimmung und Ablehnung in gleicher Weise respektiert werden Willentliche Entscheidung Ausreichende kognitive Kompetenz Dr. Marc Allroggen 1. Klassifikationen kindlichen sexuellen Verhaltens Kriterium: Ausmaß der Notwendigkeit einer erwachsenen Intervention 1) normales sexuelles Spiel (1) entwicklungsgemäßes („normales“) sexuelles Verhalten (z. B. Doktorspiele) 4) sexuell misshandelndes Verhalten (2) Notwendigkeit einer erwachsenen Reaktion auf das Verhalten (z. B. sexualisierte Sprache) (3) Notwendigkeit der Korrektur des kindlichen Verhaltens (z. B. Berühren der Genitalien) (4) Notwendigkeit der regelhaften Interventionen (z. B. deutlich sexuell übergriffiges Verhalten) 2) sexuell reaktives Verhalten 3) ausgedehntes wechselseitiges sexuelles Verhalten Berücksichtigung von Intensität des Verhaltens, Motivation, Affekt, Reaktion auf Entdeckung, Planung des Verhaltens, Ausmaß von Zwang/Gewalt, Beziehung zwischen den Beteiligten, Altersunterschied, mögliche ätiologische Faktoren, Intervention (Johnson & Feldmeth, 1993) (Ryan, 2000) Dr. Marc Allroggen 1. Leitfragen zur Einschätzung sexueller Verhaltensprobleme (Pithers et al., 1993) (1) Wird die Art des präsentierten sexuellen Verhaltens normalerweise in dieser bestimmten Altersstufe erwartet? (2) Besteht zwischen den beteiligten Kindern ein Ungleichgewicht i. S. eines Machtgefälles? (3) Geschehen die sexuellen Handlungen wechselseitig oder sind sie von einem Kind erzwungen? (4) Inwieweit ist ein Element der Geheimhaltung gegeben? (5) Inwieweit erscheint das Verhalten zwanghaft oder obsessiv? Dr. Marc Allroggen 1. Empirische Befunde zur Kategorisierung Hall et al. (1998) (100 sexuell misshandelte Kinder, 3 - 7 Jahre): (1) Kinder, die entwicklungsgemäßes sexuelles Verhalten zeigen (2) Kinder, die problematisches sexuelles Verhalten zeigen, das ausschließlich selbstbezogen ist (3) Kinder mit problematischem interpersonellem sexuellem Verhalten Pithers et al. (1998) (127 Kinder, 6 - 12 Jahre): 1) sexuell aggressive Kinder 2) asymptomatische Kinder 3) schwer traumatisierte Kinder 4) Regelbrecher 5) Sexuelle reaktive Kinder (reaktiv auf den selbst erlebten sexuellen Missbrauch) Dr. Marc Allroggen 1. Empirische Befunde zur Kategorisierung (Hall et al., 2002) (1) entwicklungsgemäßes sexuelles Verhalten (2) interpersonelles, ungeplantes sexuelles Verhalten (3) selbstbezogenes sexuelles Verhalten (4) interpersonelles, geplantes sexuelles Verhalten (ohne Zwang) (5) interpersonelles geplantes sexuelles Verhalten (unter Anwendung von Zwang) Prädiktoren für die Zuordnung umfassen (1) Charakteristika des selbst erlebten sexuellen Missbrauchs (2) Gelegenheiten zum Erlernen und Ausüben problematischen Sexualverhaltens (3) familiäre Variablen (z.B. sexuelle Einstellungen und Interaktionsstile, Angemessenheit der Eltern-Kind-Rollen, etc...) Dr. Marc Allroggen 1. Kurzes Zwischenfazit Sexuelles Verhalten unter Kindern und Jugendlichen ist problematisch wenn: a) deutlicher Altersabstand (in der Regel mehr als 5 Jahre) zwischen den Beteiligten besteht und/oder b) es zum Einsatz von Gewalt bzw. Zwang bei oder vor sexuellen Handlungen kommt (Julius & Boehme, 1997; Kapella & Cizek, 2001; Wetzels, 1997) Sexuelles Problemverhalten: Verhalten, das das Kind sexuellen Risiken aussetzt, mit Entwicklungsaufgaben oder sozialen Beziehungen interferiert oder Verhalten, das für das Kind selbst oder andere missbrauchend ist. (Chaffin et al., 2006) Dr. Marc Allroggen 1. Kurzes Zwischenfazit Zu berücksichtigende Aspekte Machtgefälle Sexuelles Verhalten unter Kinder und Jugendlichen ist problematisch wenn: Freiwilligkeit a) deutlicher Altersabstand (in der Regel mehr als 5 Jahre) zwischen den BeteiligtenHandlungsmotive/-intention besteht und/oder b) es zum Einsatz von Gewalt bzw. Zwang bei oder vor sexuellen Entwicklungsstand Handlungen kommt Frequenz der Verhaltensweisen (Julius & Boehme, 1997; Kapella & Cizek, 2001; Wetzels, 1997) Reaktion auf pädagogische/korrektive Interventionen Sexuelles Problemverhalten: Verhalten, das das Kind sexuellen Risiken aussetzt, mit (potenzieller) Schaden für die beteiligten Entwicklungsaufgaben oder sozialen Beziehungen interferiert oder Kinder/Jugendlichen Verhalten, das für das Kind selbst oder andere missbrauchend ist. (Chaffin et al., 2006) alters- und kulturspezifische Normen Art der sexuellen Handlungen Dr. Marc Allroggen 1. Offene Fragen 1) Was ist normales sexuelles Verhalten im Kindesalter? 2) Welche sexuellen Verhaltensweisen im Kindesalter gehen mit einer Entwicklungsgefährdung des Kindes einher? Dr. Marc Allroggen 1. Einleitung und Definitionen 2. Ursachen sexuell übergriffigen Verhaltens 3. Diagnostik und Therapie 4. Implikationen und Handlungsoptionen Dr. Marc Allroggen 2. Psychosexuelles Entwicklungsmodell der Psychoanalyse Orale Phase (1. Lebensjahr) Anale Phase (2.-3. Lebensjahr) Phallische (Ödipale) Phase (Vorschulalter) Dr. Marc Allroggen 2. Kindliche Sexualität subjektive Bedeutung der Dimensionen Fortpflanzung, Lustgewinn und Beziehungsgestaltung (Beier & Loewit, 2011) verändert sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Entwicklungsstufe Ausbildung der Geschlechtsidentität in der Regel bis zum Alter von drei Jahren Fähigkeit zur sexuellen Reaktionsfähigkeit besteht bereits im Säuglingsalter ( Exploration und Stimulation eigener Genitalien) ab dem Grundschulalter Abnahme von offenem sexuellen Verhalten (Internalisierung sozialer Regeln und Normen betrifft beobachtetes Verhalten) (Kellogg, 2010) im Grundschulalter stärkere gleichgeschlechtliche Orientierung zum Ende der Präadoleszenz wieder Annäherung der Geschlechter (mit Beginn körperliche Veränderungen in der Pubertät 10;8 Jahre) Dr. Marc Allroggen 2. Kindliche Sexualität (Kellogg, 2012) Dr. Marc Allroggen 2. Kindliche Sexualität (aus Goldbeck, Allroggen et al., 2016) Normales Verhalten Deutlich auffälliges Sexualverhalten Berühren der Genitalien/Masturbation Sexuelles Verhalten, das Kinder mit mehr als (heimlich oder öffentlich) vier Jahren Altersunterschied einbezieht Anschauen/Anfassen der Genitalien von Verhaltensauffälligkeiten sind häufig (täglich) zu Gleichaltrigen/neuen Geschwistern beobachten Zeigen der Genitalien unter Gleichaltrigen Viele unterschiedliche Verhaltensauffälligkeiten Zu nah kommen sind zu beobachten Versuchen, Gleichaltrige/Erwachsene nackt zu Sexuelles Verhalten, das mit körperlichem oder sehen emotionalem Schmerz einhergeht Sexuelles Verhalten, das mit körperlicher Verhaltensweisen sind selten, vorübergehend Gewalt oder Zwang einhergeht und leicht ablenkbar Anhaltendes Verhalten, Ärger des Kindes, wenn es abgelenkt wirkt Welche Verhaltensweisen sind mit langfristig ungünstiger Entwicklung assoziiert? Dr. Marc Allroggen 2. Entwicklungspsychopathologie aggressiven Verhaltens Zielgerichtete Gewalt Adoleszenz Relationales aggressives Verhalten Verdecktes aggressives Verhalten Schulalter Oppositionelles Verhalten Kleinkindalter Dr. Marc Allroggen Offen aggressives und verweigerndes Verhalten 2. Sexuelle Gewalt unter Kindern - allgemeine Gewalterfahrungen von Kindern 11-13 J., 12 Mon. (4,1 % der Kinder Opfer von Gewalt, 5,7 % sowohl Täter als auch Opfer, 13,8 % gaben an, lediglich Täter gewesen zu sein). - Mit steigendem Alter (Altersgruppe 14-17) Zunahme sowohl der Häufigkeit der reinen Opfer (4,9 %) als auch der reinen Täter (15,6 %) Konstellation Opfer/Täter bleibt im Wesentlichen unverändert (5,6 %) (Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS), Schlack und Hölling 2007). Studie über Erfahrung von sexuell übergriffigem Verhalten von Grundschülern (N=1729 Grundschüler in Hong-Kong) - 23 % der Grundschüler berichten von sexuell übergriffigem Verhalten von Mitschülern, wird in Schule als etwas Alltägliches wahrg. (Li et al., 2010) Retrospektive Befragung über sexuelle Erfahrungen in der Kindheit ~ 80 % berichten von einvernehml. sex. Erfahrungen vor dem 13. Lj., (bei 6-10 Jährigen gegenseitige Manipulation an den Genitalien 16,5 %, Einführen von Gegenständen in den Anus oder die Vagina 10,2 % oder Oralverkehr 4,7 %. Im Alter von 11 bis 12 Jahren weniger Vorkommen) ~ 13 % von sex. Missbrauchserfahrungen. (Larsson und Svedin 2002) Dr. Marc Allroggen 2. Sexuelle Gewalt unter Kindern Vergleich sexualisiertes Verhalten 6-12 jähriger Kinder - bei sexuell missbrauchten Kindern durchgängig häufigeres sexualisiertes Verhalten (Pithers und Gray 1998) - bis zum Alter von 7 Jahren, 41 % der missbrauchten Kinder zeigen sexualisiertes Verhalten (Gale et al. 1988) - missh. Kinder im Durchschnitt in 28 % der Fälle (Kendall-Tacket et al. 1993) - bei sex. aggressiven Kindern höherer Anteil an Mädchen als in Jugendlichenund Erwachsenenstichproben (Silovsky u. Niec, 2002; Tarren-Sweeney, 2008) - hohe Stabilität von sexuell problematischem Verhalten (Lèvesque et al., 2012) → Zum jetzigen Zeitpunkt kann nicht sicher angegeben werden, wie häufig Kinder von sexuell aggressivem Verhalten durch Gleichaltrige betroffen sind oder wie häufig die Prävalenz von sexuell aggressivem Verhalten bei Kindern ist. Dr. Marc Allroggen 2. Häufigkeit von sexuellem Problemverhalten bei Kindern in institutioneller Erziehung (Schuhrke & Arnold, 2009) Aktenauswertung von etwa 5.000 Kindern und Jugendlichen in institutioneller Erziehung bei 13,4 % ein zumindest leicht ausgeprägtes sexuelles Symptom bei 1,7 % der Kinder und Jugendlichen prinzipiell strafbare sexuelle Übergriffe Dr. Marc Allroggen 2. Häufigkeit von Opfererfahrungen und Täterschaft bei Jugendlichen in institutioneller Erziehung (Allroggen et al., sumitted) Situation Sexuelle Belästigung Lebenszeitprävalenz Opfer (gesamt) 26 % (n=85) Übergriffe ohne Penetration 49 % (n=157) Penetration 24 % (n=78) Anteil an gesamten Übergriffen Alter (Jahre) < 14 <7 38 % 4% 43 % 7% 43 % 8% 13 % der Täter mindesten 2 Jahre jünger Situation Sexuelle Belästigung Lebenszeitprävalenz Täter (gesamt) 24 % (n=67) Übergriffe ohne Penetration 15 % (n=46) Penetration 5 % (n=14) Dr. Marc Allroggen Anteil an gesamten Übergriffen Alter (Jahre) < 14 <7 17 % 23 % 11 % 2. Sexuelle Gewalt unter Kindern Turner et al., 2011; n=2999, 6-17 Jahre, 50 % weiblich, 12-Monatsprävalenz Dr. Marc Allroggen 2. Sexuelle Gewalt unter Kindern (Finkelhor et al., 2009) Häufiger Gruppenereignisse Häufiger Mädchen als Täter beteiligt Häufiger Familienmitglieder betroffen Dr. Marc Allroggen 2. Sexuelle Gewalt unter Kinder und Jugendlichen in der Schweiz (Optimus Studie, 2012; n=6749; Alter 15- 17 Jahre, 48 % Mädchen) Dr. Marc Allroggen 2. Entstehungsbedingungen sexuell aggressiven Verhaltens -erlebter sexueller Missbrauch Prädiktor für sexuell übergriffiges Verhalten (Lightfood und Evans 2000, Wagman Borowsky et al. 1997, Spehr et al., 2010, Seto und Lalumière 2010) -aber: Bedeutung möglicherweise höher bei Jungen und bei child offenders (Wagman Borowsky et al., 1997; Seto und Lalumière, 2010), Risiko steigt bei schwerem und längerem Missbrauch (Burton et al. 2002) moderierende Faktoren: eigene Schuldvorwürfe (Hall et al., 2002), Alter des Kindes (Grabell und Knight, 2009), Funktionsniveau der Familie (Hall et al., 2002) -Misshandlung ebenfalls mit höherem Risiko verbunden (Merrick et al., 2008) - Sexueller Missbrauch assoziiert mit sexuellem Problemverhalten, Interpersonell sexuell übergriffiges Verhalten aber eher assoziiert mit Misshandlung als mit Missbrauch (Allen, 2016) - Sexuelles Problemverhalten assoziiert mit externalisierenden und internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten und Defiziten der sozialen Kompetenz (Elkovitch et al., 2009) Dr. Marc Allroggen 2. Entstehungsbedingungen sexuell aggressiven Verhaltens Sexuell aggressive Jugendliche unterscheiden sich von allgemein aggressiven Jugendlichen anhand (Seto und Lalumière, 2010): -sozialer Isolation (aber nicht soziale Inkompetenz) -atypischer sexueller Interessen -Angst, geringem Selbstwertgefühl -weniger antisozialem Verhalten (aber gleich häufig antisoziale Persönlichkeitszüge) Dr. Marc Allroggen 2. Entstehungsbedingungen sexuell aggressiven Verhaltens -Abwesenheit eines oder beider biologischen Elternteile, insbesondere des Vaters (Elsner et al., 2008; Johnson und Way, 2001; Silovsky, 2002), -wiederholte Beziehungsabbrüche zu primären Bezugspersonen und Beziehungswechsel, sexuelle oder körperliche Gewalterfahrung der Mutter (Bentovim, 1996), -geringer sozioökonomischer Status und geringere Bildung der Eltern als Risikofaktor für einen gesteigerten Kontakt mit Medien sexuellen Inhaltes und mittelbar für sexuell belästigendes Verhalten sowie frühen Geschlechtverkehr und Oralsex und eine permissive Einstellung (Brown und Engle, 2009); -promiskuitives Verhalten (Young et al., 2009´; Gidycz und Warkentin, 2007); -früheres sexuell aggressives Verhalten (stärkster Prädiktor für erneutes sexuell aggressives Verhalten) -Defizite in der sozialen Kompetenz, Schulschwierigkeiten (Spehr et al., 2010), Sprachentwicklungsstörungen (Hinrichs et al. 2008), hyperkinetische Störungen, Angststörungen, affektive Störungen, Probleme der sozialen Integration (Fago, 2003) -Drogemissbrauch, Mitgliedschaft in einer Gang, erhöhtes Suizidrisiko (Wagman Borowsky et al. 1997) Dr. Marc Allroggen 2. Entstehungsbedingungen sexuell aggressiven Verhaltens – Modelle zur Entstehung (Mosser, DJI, 2012) Zusammenspiel von Verhalten, Persönlichkeitsvariablen und Umwelt (Burton et al., 1997) 1) Lerntheoretische Modelle (sexuelle Aggression als belohnend wahrgenommen; erlerntes und erprobtes Verhalten) (Burton et al., 1997; Hall et al., 2002) 2) Bindungstheoretische Modelle (Kompensation unzureichender interpersoneller Bindungen) (Burk u. Burkhardt,2003) Dr. Marc Allroggen 2. Geschwisterinzest Prävalenzen zwischen 2 % und 17 % (Klees, 2008), aber wenige, nicht repräsentative Studien häufig schwere und lang anhaltenden sexuellen Übergriffe (Carlson et al., 2006) Bedeutung familiärer, biografischer und individueller Faktoren (Klees, 2008;Tidefors et al., 2010) Ungünstige familiäre Bedingungen spielen möglicherweise eine größere Rolle bei der Entstehung von Geschwisterinzest als bei übriger sexueller Gewalt durch Kinder (Tidefors et al., 2010) häufig finden sich in Familien, in denen es zu Geschwisterinzest kommt, weitere sexuelle und aggressive Übergriffe (Smith und Israel, 1987; Carlson et al., 2006) In der Untersuchung von Klees (2008), in der eine kleine Stichprobe von 13 jugendlichen Inzesttätern befragt wurde, missbrauchten 3 Täter zusätzlich außerfamiliäre Opfer Dr. Marc Allroggen 2. Rolle der Medien Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG), 2012; n=1.881; MW Alter: 15,7 Jahre Dr. Marc Allroggen 2. Rolle der Medien Dr. Marc Allroggen 2. Rolle der Medien – mögliche Wirkmechanismen (Huesmann, 2007; Spröber, Allroggen et all., 2012) Kurzfristige Effekte: Priming: neuronale Verknüpfung zwischen Stimulus und Kognition mit daraus resultierenden „automatischen“ Verhaltensweisen Arousal: durch gesteigerte Anspannung verliert man Kontrolle über sozial akzeptables Verhalten Mimicry: Nachahmungseffekte Langzeiteffekte: Lernen durch Beobachtung: welche Verhaltensweisen sind adäquat, Desensitivierung: Gewöhnung an Bildern von Gewalt Dr. Marc Allroggen 1. Einleitung und Definitionen 2. Ursachen sexuell übergriffigen Verhaltens 3. Diagnostik und Therapie 4. Implikationen und Handlungsoptionen Dr. Marc Allroggen 3. Diagnostik Beschreibung und Erfassung des sexuellen Problemverhaltens (Kontext, Häufigkeit, Dauer) Unter Berücksichtigung von -Entwicklungsstand -psychopathologischen Auffälligkeiten -familiärer Situation -psychosozialen Kontextfaktoren -Traumatisierungen ggf. weiterführende Kinder- und Jugendpsychiatrische und – psychotherapeutische Diagnostik Cave: Suggestion Dr. Marc Allroggen 3. Diagnostik – Child Sexual Behavior Inventory (Friedrich et al., 2001) Kleidet sich wie das andere Geschlecht Spricht über sexuelle Dinge Berührt Erwachsene an den Geschlechtsteilen Möchte Bilder von nackten Personen sehen Distanzgemindert gegenüber Fremden Weiß mehr über Sex als Gleichaltrige … Dr. Marc Allroggen 3. Intervention - Prinzipien Risk-Need-Responsivity-Modell (RNR-Modell) (Andrews und Bonta, 2006) Orientierung der Therapieintensität nach dem Risiko (risk) Fokus auf kriminogene Faktoren (need) Eignung für Patienten (responsivity) Dr. Marc Allroggen 3. Risikofaktoren für anhaltendes sex. Problemverhalten nach Intervention (Curwen et al., 2014) Dr. Marc Allroggen 3. Interventionen – Sexuelles Problemverhalten Kinder (Amand et al., 2008) Kind Eltern Psychoedukation/Information über Sexualität Vermittlung grundlegender Regeln und Informationen betreffend Sexualität Zusätzlich Unterscheidung normale/problematische sex. Verhaltensweisen Identifikation auslösender Reize/Kontexte Vermeidung entsprechender Situationen Vermeidung entsprechender Situationen Grenzen anderer erkennen, Stärkung soziale Kompetenz Wahrnehmung für Bedürfnisse/Grenzen anderer stärken Positive Verstärkung adäquaten kindlichen Verhaltens Emotionsregulation Vermittlung von Techniken; Identifikation von Emotionen Unterstützung des Kindes im Umgang mit Emotionen Kognitive Coping skills, Selbstkontrolltechniken Umgang mit negativen Gedanken, Impulsen Positive Verstärkung adäquaten kindlichen Verhaltens Traumatherapie Aufarbeitung evtl. Traumatisierungen Unterstützung bei Traumanarrativ, Regulation Beziehung Kind-Eltern stärken Sicheres Bindungsverhalten stärken Dr. Marc Allroggen 3. Interventionen – Sexuelles Problemverhalten Kinder (Amand et al., 2008) Kind Soziale Unterstützung Umgang mit sexuellen Impulsen Dr. Marc Allroggen Eltern Selbsthilfe-, Elterngruppen Möglichkeiten adäquates Handeln bei sexuellen Impulsen vermitteln, Kontrolle von problematischen sexuellen Impulsen Positive Verstärkung adäquaten kindlichen Verhaltens; Information normales kindlich sexuelles Verhalten 3. Interventionen - Familienarbeit (Worley et al., 2012) häufig problematische Familienverhältnisse - Gewalt, Vernachlässigung - Familienkohäsion, Verleugnung - Elterliche Aufsicht Familienanamnese und Exploration der Eltern Bewertung des Verhaltens Insbesondere bei innerfamiliärem Missbrauch bedeutsam Dr. Marc Allroggen 3. Interventionen - Familienarbeit (Worley et al., 2012) Fokus der Elternarbeit Entstigmatisierung Unterstützung Potentielle Behandlungsphasen: Bearbeitung der Krise nach dem disclosure Diagnostische Abklärung und Bewertung Familientherapeutische Interventionen Klärung des Übergriffes Rekonstruktion und ggf. Familienwiederzusammenführung (insbesondere bei innerfamiliärem Missbrauch) Beendigung und Nachsorge Dr. Marc Allroggen 3. Interventionen - Familienarbeit (Worley et al., 2012) Häufige Belastungsfaktoren bei den Eltern (Hackett, 2001) Gefühl des Versagthabens als Eltern, Schuldgefühle Gefühle von Verlust, Trauer, Scham und Überwältigung Gefühl des Kontrollverlustes und der Hilflosigkeit Isolation und Gefühl der Stigmatisierung Verleugnung Indizierte Therapiemaßnahmen Einzeltherapie bei eigenen Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen Familientherapie bei familiären Schwierigkeiten Psychoedukation Selbsthilfegruppen Multi-family group therapy (MFGT) Dr. Marc Allroggen 3. Interventionen – Sexuelles Problemverhalten Kinder (Amand et al., 2008) Metaanalyse 11Studien, 18 Behandlungen, Kinder 3-12 Jahre Effektstärke insgesamt 0,46 Wirkfaktoren Elternebene: Elterntraining/Verhaltensmanagement, Regeln über Sexualverhalten, Sexualaufklärung, Fertigkeiten Missbrauchsprävention Kinderebene: Selbst-Kontroll-Techniken, Vorschulalter Familiäre Ebene: Einbindung der Familie Zusammenfassung Wirkfaktoren: relevant bei Kindern ist Einbeziehung der Eltern, kognitiv-behaviorale Ansätze effektiver als unspezifische oder stützende Verfahren, keine höhere Wirksamkeit von Gruppenbehandlungen Dr. Marc Allroggen 3. Wirksamkeit Interventionen bei Jugendlichen (Amand et al., 2008; Chaffin et al., 2008) -Rückfallrisiko (Quenzer, 2010; König, 2011): -Einschlägige Rückfälligkeit (Sexualdelinquenz): 11 %, Allgemeine Rückfälligkeit: 49 % -Rehabilitative Interventionsmaßnahmen können generelle Rückfälligkeit um 20 % reduzieren (Lipsey u. Cullen, 2007) -Reizel u. Carbonell (2006): Metaanalyse, n=2986, 9 Studien, einschlägige Rückfallrate -nach spezifischer Behandlung: 1 – 13 % -nach unspezifischer Behandlung: 2 – 75 % -keine Behandlung: 2 – 14 % -Novara und Pirschke (2005): keine Aussage möglich, ob behandelte sexuell übergriffige Minderjährige u. Heranwachsende ein höheres oder niedrigeres Risiko für einschlägige Rückfälle haben. Dr. Marc Allroggen 1. Einleitung und Definitionen 2. Ursachen sexuell übergriffigen Verhaltens 3. Diagnostik und Therapie 4. Implikationen und Handlungsoptionen Dr. Marc Allroggen 4. Implikationen und Handlungsoptionen Sexuelles Problemverhalten von Kindern für betroffene Familien und Institutionen stellt Herausforderung auf mehreren Ebenen dar: Schutz aller Kinder und Unterstützung für Kinder mit SPV Umgang mit Vorwürfen, Schuldgefühlen Reaktion mit Augenmaß (z. B. in Bezug auf Einrichtungswechsel) Prävention von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung reduziert wahrscheinlich Risikofaktoren für die Entstehung von SPV Frühe Hilfen für gefährdete Familien Schulung von Fachkräften Dr. Marc Allroggen ECQAT (https://ecqat.elearning-kinderschutz.de/) Oktober 2016 -Kostenfreier Testkurs Anmeldung bis 17.7.16 4. Implikationen und Handlungsoptionen Bei SPV angemessene und schnelle Reaktion bzw. Klärung Erfassung der Problematik Einbeziehen der Bezugspersonen Einschalten von Fachkräften (InSoFa, Beratungsstellen) […..] Für Institutionen hilfreich Festgelegte Verfahrensweise für SPV Klare Haltung bezüglich sexualisierten Verhaltensweisen Benennung von Ansprechpartnern Dr. Marc Allroggen 4. Implikationen und Handlungsoptionen (Kellogg, 2012) Wann wurde das Verhalten erstmals bemerkt? Gibt es einen Zusammenhang zu Belastungsfaktoren? Wie häufig ist das Verhalten zu beobachten? Wo ist das Verhalten zu beobachten? Sind andere Personen beteiligt? Wie alt sind diese? Ist das Kind Gewalt ausgesetzt? Bestehen bei dem Kind psychische Auffälligkeiten? Besteht Zugang zu sexuellen Material? Wurde das Kind bezüglich eines möglichen Missbrauchs angesprochen? Dr. Marc Allroggen 4. Was ist notwendig? 1. Erfassung der Häufigkeit von SPV bei Kindern, insbesondere Vorschulkindern. Aktuell wissen wir nicht wie häufig SPB bei Kindern vorkommt (Voraussetzung: einheitliche Definition) 2. Beobachtung von Entwicklungsverläufen bei Kindern mit SPV Es liegen keine Untersuchungen vor, welche Verhaltensweisen langfristig mit einer ungünstigen Entwicklung assoziiert sind. Prospektive Untersuchungen zu Risikofaktoren fehlen. 3. Überprüfung der Wirksamkeit von Interventionen und Präventionsmaßnahmen Nur wenige Daten zu Intervention, welche Maßnahmen hilfreich sind; keine Daten zur Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen Dr. Marc Allroggen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm Steinhövelstraße 5 89075 Ulm www.uniklinik-ulm.de/kjpp [email protected] Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert