2000-20 Psychische Komorbidität und Lebensqualität von Patienten

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Schweiz Med Wochenschr 2000;130:739–48
Peer reviewed article
T. Langa, R. Hauserb, R. Schlumpfc,
R. Klaghofera, C. Buddeberga
a
b
c
Abteilung für Psychosoziale Medizin,
Psychiatrische Poliklinik,
UniversitätsSpital Zürich
Praxis für Chirurgie FMH,
Konsiliararzt für klinische Ernährung
Klinik für Viszeralchirurgie,
Departement Chirurgie,
UniversitätsSpital Zürich
Originalarbeit
Psychische Komorbidität und
Lebensqualität von Patienten
mit morbider Adipositas und
Wunsch nach Gastric banding
Summary
Psychic comorbidity and quality of life
in patients with morbid obesity applying
for gastric banding
Bariatric surgical operations are well established in the treatment of morbid obesity. In
this study, 79 consecutive applicants for laparoscopic gastric banding (60 females with a
mean BMI of 47.4 kg/m2 and 19 males with a
mean BMI of 48.9 kg/m2, mean age 39.6 years)
were examined preoperatively by structured
psychiatric interview and questionnaire.
Goal and questions: The aim of the study was
to determine physical and psychological symptoms, specific eating problems, life satisfaction
and incidence of psychiatric comorbidity, as
well as the relations between psychological and
psychosocial markers on the one hand, and
demographic and somatic parameters on the
other.
Results: Most patients displayed multiple somatic symptoms and diseases, in particular
orthopaedic problems, exertion dyspnoea, hyperlipidaemia, hypertension, diabetes mellitus
or sleep apnoea. The averages of all psychometric scales (General Symptomatic Index of
Symptom Checklist [SCL-90-R], anxiety and
depression states of the Hospital Anxiety and
Depression Scale [HADS]) were higher than
normal. General life satisfaction and satisfaction with health (FLZM) were low. Eating
behaviour in both sexes was characterised by
marked irritability, disinhibition and ravenousness. Binge eating was common, 27% reporting binges at least weekly and only 37%
no binges at all. 46% were found to suffer from
at least one psychiatric disorder, while half had
an eating disorder with frequent bingeing and
loss of control. 6.3% were diagnosed with
atypical bulimia, 15.2% had an adaptational
disorder and 10% a personality disorder. The
HADS scales did not correlate with BMI or
other somatic factors and the correlation
between the SCL-90-R and BMI was low
(r = 0.36, p = 0.01). However, patients with
psychiatric disorders had significantly higher
BMIs and higher averages on all scales except
overall life satisfaction. There was no direct
relation between psychosocial and sociodemographic variables (educational level, living
alone).
Conclusion: Morbidly obese patients desiring
laparoscopic gastric banding display many
physical and psychological symptoms with a
higher preference for psychiatric (especially
eating) disorders. Since there is no close relationship between psychosocial and somatic aspects in this group of patients, routine psychiatric evaluation appears to be of importance.
Keywords: bariatric surgery; binge eating; gastric banding; satisfaction with life; psychiatric
evaluation; psychiatric comorbidity
Korrespondenz:
Dr. med. Thomas Lang
Oberarzt
Abteilung Psychosoziale Medizin
Psychiatrische Poliklinik
UniversitätsSpital
Culmannstrasse 8
CH-8091 Zürich
739
Originalarbeit
Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20
Zusammenfassung
Bei der Behandlung der morbiden Adipositas
werden seit längerer Zeit sogenannte bariatrische Eingriffe zur Senkung des Morbiditätsrisikos angewandt. Das laparoskopisch eingebrachte, adjustierbare Magenband wurde
1995 durch Schlumpf in der Schweiz eingeführt und wird seither vielerorts verwendet.
Diese Arbeit berichtet über erste Ergebnisse
einer präoperativen konsiliarpsychiatrischen
Untersuchung zur psychischen Komorbidität,
Lebensqualität und Befindlichkeit von Patienten, die ein Magenband wünschten.
Fragestellungen: Eruiert wurden die körperlichen und psychischen Symptome, die Lebenszufriedenheit, die Art und Häufigkeit allfälliger psychischer Störungen und die Besonderheiten des Essverhaltens dieser Patienten.
Zudem interessierten die Zusammenhänge
zwischen psychischen und psychosozialen
Merkmalen einerseits und soziodemographischen und somatischen Parametern anderseits.
Methode: 79 morbid-adipöse Patienten (19
Männer, durchschnittlicher BMI 48,9 kg/m2,
60 Frauen, durchschnittlicher BMI 47,4 kg/m2;
Durchschnittsalter insgesamt 39,6 Jahre) wurden mittels konsiliarpsychiatrischem Interview
und Fragebogen präoperativ untersucht.
Resultate: Somatisch fanden sich multiple
körperliche Probleme wie orthopädische Beschwerden, Anstrengungsdyspnoe, Hyperli-
pidämie, Hypertonie oder Diabetes mellitus.
Die Mittelwerte sämtlicher psychometrischer
Skalen (SCL-90-R, HADS) waren erhöht. Die
Lebenszufriedenheit (FLZM) war wegen der
reduzierten Leistungsfähigkeit markant eingeschränkt. Bloss 32% waren frei von Heisshungerattacken, die Störbarkeit beim Essen (FEV)
war durchwegs extrem stark. Die klinischpsychiatrische Untersuchung ergab bei 36 Patienten mindestens eine psychiatrische Diagnose, zur Hälfte eine Essstörung. 15,2% aller
Patienten hatten eine Anpassungsstörung, 10%
Anzeichen für eine Persönlichkeitsstörung.
Psychische und somatische Parameter korrelierten wenig.
Schlussfolgerungen: Die Studie bestätigt einen
hohen körperlichen und psychischen Leidensdruck bei morbid Adipösen. Ein relevanter Teil
dieser Patienten weist eine oder mehrere psychische Störungen, insbesondere des Essverhaltens mit gehäuften Heisshungerattacken
auf. Aufgrund des geringen Zusammenhangs
zwischen psychischen und somatischen Befunden erscheint die konsiliarpsychiatrische Untersuchung von morbid Adipösen mit Operationswunsch sinnvoll.
Keywords: bariatrische Chirurgie; morbide
Adipositas; konsiliarpsychiatrische Untersuchung; Lebenszufriedenheit; Binge Eating;
psychische Komorbidität
Einleitung und Fragestellung
Morbide Adipositas wird definiert als Body
Mass Index (BMI) von mehr als 40 kg/m2 oder
als BMI von 35 kg/m2 und mehr in Kombination mit einer erheblichen somatischen Komorbidität. Es handelt sich um eine ernstzunehmende Erkrankung mit erhöhtem Risiko
für eine Reihe von Störungen wie atherosklerotische kardiovaskuläre Ereignisse, arterielle Hypertonie, Störungen des Lipidstoffwechsels, Diabetes mellitus, Cholelithiasis,
orthopädische Probleme der unteren Extremitäten sowie Schlafapnoesyndrom [1]. Die
somatischen Auswirkungen der morbiden Adipositas sind in der Literatur gut dokumentiert.
Die durch diese Krankheit verursachten Gesundheitsrisiken und -kosten sind sehr hoch,
obwohl nur etwa 0,5–1,5% der gesamten Bevölkerung je dieses Ausmass an Übergewicht
erreicht (Extrapolation Schweizerische Gesundheitsbefragung 1992/93) [2]. Für die Betroffenen können auch die psychosozialen und
sozioökonomischen Auswirkungen der morbi740
den Adipositas beträchtlich sein [3], und ihr
Sterberisiko steigt bereits ab einem BMI über
30 kg/m2 exponentiell an [4].
Bei der Therapie der morbiden Adipositas
wird zur Senkung des Morbiditäts- und Mortalitätsrisikos sowie zur Verbesserung der
Lebensqualität eine dauerhafte Gewichtsreduktion auf einen BMI unter 30 kg/m2 angestrebt. In der Mehrzahl aller Fälle kann dieses
Ziel jedoch mit konservativen Massnahmen
allein nicht erreicht werden, so dass zusätzlich
sogenannte bariatrisch-chirurgische Verfahren
eingesetzt werden müssen [5]. Dabei handelt
es sich um Eingriffe, bei welchen entweder
der Magen zwecks Drosselung der Nahrungszufuhr künstlich mittels eines sogenannten
Magenbandes stenosiert oder der Dünndarm
durch eine teilweise Resektion oder Umgehung
zwecks verminderter Nährstoffabsorption verkürzt wird. Die Indikation für beide Verfahren
stützt sich heute auf ihre mehrfach nachgewiesene Überlegenheit gegenüber alleiniger
Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20
Originalarbeit
konservativer Behandlung ab [6–8], wobei die
stenosierenden Mageneingriffe eine durchschnittlich etwas geringere Gewichtsreduktion
(40% des Übergewichts) bewirken, jedoch
technisch vergleichsweise einfacher durchzuführen und mit insgesamt einer niedrigeren
Morbiditäts- und Mortalitätsrate behaftet sind
[8, 9]. Das laparoskopisch angewandte adjustierbare Magenband (Abb. 1) scheint dabei eines der vielversprechendsten Verfahren zu sein,
da der Eingriff weniger invasiv ist als die offene
Operation und die Stenose durch eine laparoskopische Entfernung des Bandes jederzeit wieder rückgängig gemacht werden kann [10].
Den Hauptanlass für die vorliegende Untersuchung bildete eine deutliche Zunahme der
Nachfrage nach einer laparoskopisch durchgeführten Gastric-banding-Operation nach Einführung und Propagierung dieses Verfahrens
am Universitätsspital Zürich. Erste Erfahrungen sowie Hinweise aus der Literatur [11] wiesen uns darauf hin, dass der Leidensdruck und
Veränderungswunsch vieler morbid Adipöser
nicht bloss durch körperliche Faktoren allein,
sondern oftmals auch durch zusätzliche grössere psychosoziale Probleme bedingt sein kann,
so dass eine routinemässige präoperative
psychiatrische Evaluation unabhängig von der
Indikation zum Eingriff sinnvoll erschien.
Diese Arbeit fasst erste Ergebnisse der präoperativen konsiliarpsychiatrischen Untersuchung
zur psychischen Komorbidität, Lebensqualität
und Befindlichkeit von Patienten, die eine
laparoskopische Gastric-banding-Operation
wünschten, zusammen. Folgende Fragen sollten damit geklärt werden:
– Unter welchen physischen und psychischen
Beschwerden und Symptomen leiden morbid Adipöse mit Wunsch nach einer Gastricbanding-Operation und wie ist ihre Lebenszufriedenheit im Vergleich zur Normalbevölkerung?
– Wie häufig und welcher Art sind psychische
Störungen bei Patienten mit morbider Adipositas, die einen bariatrischen Eingriff
wünschen?
– Welche Merkmale zeigt das Essverhalten
dieser Patienten in Abhängigkeit von ihrer
psychischen Befindlichkeit?
– Welche Zusammenhänge bestehen zwischen
psychischen und psychosozialen Merkmalen einerseits und soziodemographischen
und somatischen Parametern anderseits?
Abbildung 1
Laparoskopisches adjustierbares
Gastric banding.
Methode
Untersuchungsstichprobe
Für den Einschluss in die Studie galten folgende Kriterien: (1.)
grundsätzliche Qualifikation für eine bariatrische Operation (BMI
>35 kg/m2 und mindestens eine relevante somatische Folgekrankheit), (2.) Alter zwischen 18 und 55 Jahren, (3.) Bereitschaft zur
psychiatrischen Evaluation und Teilnahme an der schriftlichen Befragung, (4.) ausreichende Deutschkenntnisse.
Von Januar 1996 bis Juni 1997 wurden insgesamt 139 Patienten,
die eine laparoskopische Gastric-banding-Operation wünschten,
zur psychiatrischen Abklärung angemeldet. 27 zogen ihre Anmeldung zurück, 108 wurden psychiatrisch untersucht, wovon schliesslich 79 (73,1%) bereit bzw. in der Lage waren, zusätzlich zum
klinischen Interview einen Fragebogen auszufüllen, so dass sie in
die Studie eingeschlossen werden konnten. Die Untersuchungsstich-
probe setzte sich wie folgt zusammen: 19 Männer und 60 Frauen
mit einem Durchschnittsalter von 39,6 Jahren. 58,2% waren verheiratet, 30,4% ledig und 10,3% geschieden. 17,9% lebten allein,
62,8% mit einem Partner, 19,2% ohne Partner jedoch mit anderen
Personen (Geschwister, eigene Kinder, andere) zusammen. Zurzeit
der Befragung waren 56,9% berufstätig, etwa die Hälfte davon in
Teilzeit und 21,6% arbeitslos. Die restlichen 21,5% waren entweder im Haushalt tätig oder befanden sich in Ausbildung. Der Ausbildungsstand war bei 35,1% niedrig (nur obligatorische Schule),
bei 53,2% mittel (zusätzlich abgeschlossene Berufslehre oder andere Ausbildung), bei 11,7% hoch (zusätzlich Matura, höhere Fachschule oder Hochschulstudium).
Die Körpermasse sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Alle Untersuchten erfüllten die Kriterien einer morbiden Adipositas. Ein statistisch signifikanter Geschlechtsunterschied zwischen Männern
741
Originalarbeit
Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20
Tabelle 1
Körpermasse
Körpermasse und
somatische Befunde.
Frauen
n = 60
BMI (Mittelwert ± SD)
47,4 ± 7,0
Range BMI
Männer
n = 19
49,9 ± 10,1
36,4 bis 78,8
Gewicht kg (Mittelwert ± SD)
125,5 ± 18,0
Grösse cm (Mittelwert ± SD)
162,9 ± 6,4
mittlere Dauer der Adipositas
somatische Befunde
157,0 ± 29,4
179,4 ± 7,4
17 ± 8 Jahre
%
%
orthopädische Probleme
90,0%
78,9%
Anstrengungsdyspnoe
83,2%
84,2%
Harninkontinenz
51,7%
1,3%
Hyperlipidämie
53,3%
52,6%
arterielle Hypertonie
46,7%
42,1%
Diabetes mellitus Typ II
31,7%
52,6%
Hyperurikämie
13,3%
31,6%
Schlafapnoesyndrom (klinisch)
21,7%
26,3%
und Frauen fand sich sowohl bei der Körpergrösse als auch beim
Gewicht; die Männer wogen durchschnittlich 157,0 kg, die Frauen
125,5 kg (p = 0,008). Bezüglich Body Mass Index (BMI) fand sich
kein statistisch signifikanter Geschlechtsunterschied: Bei den Männern lag er im Mittel bei 48,9 kg/m2 (n = 19), bei den Frauen bei
47,4 kg/m2 (n = 60). Der geringste BMI betrug 38,6 kg/m2, der höchste 78,8 kg/m2. Der Grossteil (55% der Frauen, 68,4% der Männer) war gemäss eigenen Angaben bereits vor Eintritt in die Pubertät adipös, ungefähr ein Fünftel seit einem Alter zwischen 12 und
16 Jahren. Die mittlere Dauer der Adipositas betrug 17 ± 10,8 Jahre.
Untersuchungsgang
Die präoperative psychiatrische Untersuchung bestand aus einem
psychiatrischen Abklärungsgespräch, wonach eine oder mehrere
klinische Diagnosen nach ICD-10 Kapitel F gestellt wurden, sowie
aus einer Fragebogenerhebung mit standardisierten Instrumenten.
Somatische Parameter umfassten die anthropometrischen Variablen
Grösse, Gewicht und BMI sowie Vorhandensein oder Fehlen der
Befunde Anstrengungsdyspnoe, Urininkontinenz, arterielle Hypertonie, Hyperlipidämie, Hyperurikämie, eines Diabetes mellitus Typ
II, eines obstruktiven Schlafapnoesyndroms (Hauptsymptome zyklisches Schnarchen plus vermehrte Schläfrigkeit tagsüber) sowie
Gelenk- oder Rückenbeschwerden bzw. einer orthopädischen Pathologie. Ausserdem lagen Angaben der behandelnden Ärzte über
die systematische Befragung zur Dauer der Adipositas, Merkmalen
gestörten Essverhaltens (insbesondere Bevorzugung von Süssigkeiten) sowie zu schwerem sexuellem oder körperlichem Missbrauch
in der Vorgeschichte vor.
Untersuchungsinstrumente
In der psychometrischen Untersuchung wurden folgende standardisierte und normierte Instrumente verwendet: Symptom Checklist
SCL-90-R zur allgemeinen psychischen Befindlichkeit [12], Hospital Anxiety and Depression Scale HADS zur Bestimmung von Ängstlichkeit und Depressivität auf der Symptomebene [13, 14], Fragen
zur subjektiven Lebenszufriedenheit FLZM [15] sowie eine deutsche,
13 Items umfassende Kurzversion der Skala Kohärenzsinn (Sense of
Coherence SOC) [16] zu den Bewältigungsressourcen. Als Vergleichsnormwerte wurden Mittelwerte sämtlicher Altersklassen gewählt.
Das Essverhalten wurde mit dem Fragebogen zum Essverhalten FEV
[17, 18] erhoben, mit den Skalen kognitive Kontrolle, Störbarkeit
und Hungergefühle, von welchen aus der Literatur Normwerte für
beide Geschlechter vorlagen. Für die Erfassung der Häufigkeit und
Ausprägung von Heisshungerattacken wurde eine eigene Übersetzung des 14 Items umfassenden Binge Scale Questionnaire BSQ [19]
benützt.
Die psychiatrischen Interviews wurden mehrheitlich vom Erstautor,
die somatischen Untersuchungen vom Zweitautor durchgeführt.
Die psychometrischen Fragebogen wurden von den Patienten nach
einer kurzen Instruktion zuhause ausgefüllt und zurückgeschickt.
Nebst einer deskriptiven Datenanalyse wurden Gruppenunterschiede zwischen Patienten mit und ohne psychiatrische Diagnosen
sowie einfache Korrelationen zwischen soziodemographischen und
psychosozialen Variablen sowie zwischen somatischen und psychosozialen Parametern berechnet.
Ergebnisse
Somatische Komorbidität, psychische
Befindlichkeit und Lebenszufriedenheit
In Tabelle 1 sind nebst den Körpermassen die
häufigsten somatischen Befunde aufgeführt.
90% der Frauen und rund 79% der Männer
litten unter relevanten orthopädischen Beschwerden. Mehr als 80% aller Patienten
742
gaben eine Anstrengungsdyspnoe an, rund die
Hälfte wies eine Hyperlipidämie und 45% wiesen eine arterielle Hypertonie auf. Die Hälfte
der Männer und ein Drittel der Frauen hatten
einen Diabetes mellitus Typ II, bei einem Fünftel der Frauen und einem Viertel der Männer
bestanden typische Zeichen und Symptome eines obstruktiven Schlafapnoesyndroms. Rund
Originalarbeit
Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20
Tabelle 2
Psychometrische Befunde
der Gesamtstichprobe sowie
von Patienten mit und ohne
psychiatrische Diagnosen.
Norm*
Mittelwert
Gesamtstichprobe
n = 79
SD
Patienten mit 1–3
psychiatrischen
Diagnosen
n = 36
Patienten ohne
psychiatrische
Diagnosen
n = 43
Signifikanz
p
SCL-globaler Schwere-Index
0,3
0,8
0,5
1,1
0,6
<0,001
HADS-Depressivität
3,4
6,6
3,4
8,1
5,5
<0,001
HADS-Ängstlichkeit
5,8
7,3
3,8
9,3
5,8
<0,001
globale Lebenszufriedenheit
60,5
45,7
33,1
42,6
48,2
n.s.
Zufriedenheit mit Gesundheit
74,4
36,7
37,6
26,5
44,8
0,030
Kohärenzgefühl SOC
5,0
Binge-Scale-Summen-Score
0
4,6
0,9
4,3
4,9
0,001
14,0
10,3
16,6
10,9
0,010
* Normwerte repräsentativer Eichstichproben
die Hälfte der Frauen beklagte Urininkontinenz-Beschwerden. Tendenziell, nicht jedoch
statistisch signifikant, zeigten die Männer
gehäuft eine Pathologie im Stoffwechselbereich (erhöhte Lipid-, Nüchternglukose- und
Harnsäurewerte), während die Frauen noch
häufiger als die Männer unter orthopädischen
Beschwerden litten. Der Grossteil der Patientinnen und Patienten nannte deutliche Einschränkungen in der körperlichen Aktivität
(85–90%) und im sozialen Leben (53–62%).
67% der Frauen und 47% der Männer bejahten bereits beim Erstkontakt mit dem Chirurgen häufige depressive Verstimmungen und
17% der Frauen sowie 5% der Männer einen
sexuellen Missbrauch in ihrer Vorgeschichte.
Psychometrische Befunde
Psychische Befindlichkeit: Der Global Severity
Index der Symptom Checklist betrug im Mittel 0,8 (± 0,5, Norm 0,3), der HAD-Depressivitäts-Score 6,6, der HAD-ÄngstlichkeitsScore 7,3, wobei die Mittelwerte der Frauen
tendenziell gegenüber denjenigen der Männer
erhöht waren (Tab. 2). Bei 23% befand sich
der Ängstlichkeitsscore, bei 11,5% der Depressivitäts-Score im auffälligen Bereich
(Angst- bzw. depressive Störung wahrscheinlich), bei 17,4% (Ängstlichkeit) bzw. 25,0%
(Depressivität) im Grenzbereich.
Lebenszufriedenheit: Die globale Lebenszufriedenheit erwies sich im Vergleich zur Normpopulation (Mittelwert sämtlicher Altersklassen = 60,5, SD 27,3) mit 45,7 ± 33,1 als deutlich eingeschränkt, in statistisch signifikant
höherem Masse bei den untersuchten Männern
(27,6 vs. 50,1, p = 0,04). Erwartungsgemäss
war auch die Zufriedenheit mit der Gesundheit
bei beiden Geschlechtern im Vergleich zum
Normwert (74,4, SD 41,5) markant erniedrigt
(36,7, SD 37,6), bei den Männern in etwas
geringerem Masse (39,9) als bei den Frauen
(35,7). Die Patienten empfanden ihre Lebensqualität vor allem wegen ihrer reduzierten körperlichen Leistungsfähigkeit als vermindert
und zeigten gegenüber der Norm eine geringe
Zufriedenheit hinsichtlich Beschwerdefreiheit,
körperlicher Energie und Ausgeglichenheit. In
den allgemeinen Lebensbereichen zeigten sich
ausser bei der generellen Zufriedenheit mit der
Gesundheit (Norm 8,1, adipöse Männer –2,9,
Frauen –0,9) die massivsten Einschränkungen
in den Dimensionen Zufriedenheit mit der Freizeit (Norm 6,3, adipöse Männer 4,3, Frauen
4,1), dem Einkommen (Norm 6,5, adipöse
Männer –0,6, Frauen 4,7) und dem Lebenspartner (Norm 7,9, adipöse Männer 4,2,
Frauen 4,7). Die Männer unserer Stichprobe
waren mit ihrem Einkommen (–0,6 vs. 4,7,
p = 0,03), ihrer Wohnsituation (5,7 vs. 12,5,
p = 0,00) und ihrer Familie (3,7 vs. 11,6, p =
0,001) weniger zufrieden als die Frauen, nicht
jedoch mit ihrem Beruf (6,4 vs. 5,1, n.s.), worin
sie sich im Gegensatz zu den Frauen sogar
leicht zufriedener als die Normstichprobe (5,5)
einschätzten. Die Frauen hingegen zeigten
gegenüber den Männern und der Normstichprobe durchschnittlich erhöhte Werte für Zufriedenheit mit ihrer Wohnsituation und ihren
Familien.
Das Kohärenzgefühl lag mit 4,6 ± 0,9 bei beiden Geschlechtern deutlich unter dem jeweiligen Normwert (Männer 4,9, Frauen 4,8).
Psychische Störungen
Wie aus Tabelle 3 ersichtlich ist, wiesen 36 Patienten (45,5%) mindestens eine psychische
Störung gemäss ICD-10 auf. Zahlenmässig
im Vordergrund standen Essstörungen gemäss
F50 bei insgesamt 25,3%, Anpassungsstörungen bei 15,2% sowie Persönlichkeitsstörungen
bei 10,1%.
Bei den Essstörungen waren die vollen Diagnosekriterien für eine klassische Essstörung,
743
Originalarbeit
Tabelle 3
Psychiatrische Diagnosen.
Frequenz von ICD-10-Diagnosen
%
Essstörung F50
25,3
F50.4 Essattacken
19,0
F50.3 atypische Bulimia nervosa
6,3
Anpassungsstörungen F43.X
15,2
Persönlichkeitsstörungen F60.X
10,1
Substanzmissbrauch F1X.202
2,5
Anzahl psychiatrische Diagnosen pro Patient
%
keine psychische Störung
54,5
eine psychiatrische Diagnose
25,3
zwei psychiatrische Diagnosen
17,7
drei oder mehr psychiatrische Diagnosen
2,5
Tabelle 4
häufigste Probleme (Mehrfachnennungen)
%
Essverhalten (n = 79).
plötzlicher Heisshunger
60,8
Langeweile
46,1
Stress
42,3
Lust nach Süssigkeiten
36,7
Essen in Gegenwart anderer
26,6
ständiges Kalorienzählen
13,9
alkoholische Getränke
2,5
«Ich wage nicht, mich satt zu essen.»
2,5
insbesondere eine Bulimia nervosa, in keinem
Fall erfüllt, bei 6,3% fand sich eine atypische
Bulimie (ohne absichtliches Erbrechen) und
bei 19% lagen gehäufte Essattacken gemäss
F50.4 (ICD-10) vor.
Patienten, bei denen im Interview eine psychische Störung diagnostiziert wurde (n = 36), unterschieden sich von denjenigen ohne psychiatrische Diagnose (n = 43) statistisch signifikant
hinsichtlich Body Mass Index und sämtlichen
Symptom-Skalen ausser der globalen Lebenszufriedenheit (Tab. 2).
Essverhalten
In Tabelle 4 sind die häufigsten Probleme beim
Essen, in Tabelle 5. die Ergebnisse der Skalen
kognitive Kontrolle, Störbarkeit und Hunger-
gefühle und in Tabelle 6 die Häufigkeit von
Heisshungerattacken aufgeführt. Hinsichtlich
kognitiver Kontrolle (Mass für sog. gezügeltes
Essverhalten) lagen die Frauen nur knapp über
ihrem Normwert, während die Männer unserer Stichprobe eine verhältnismässig hohe kognitive Kontrolle aufwiesen und damit näher
beim weiblichen als beim männlichen Normaldurchschnittswert lagen. Sowohl die Frauen als
auch die Männer der Patientengruppe zeigten
im Vergleich zu den Normwerten erwartungsgemäss hohe bis sehr hohe Werte für Störbarkeit und Hungergefühle, wobei beide Skalen
deutlich untereinander korrelierten (r = 0,55,
p <0,01).
Heisshungerattacken: Im Binge-Scale Questionnaire BSQ gaben lediglich ein knappes
Drittel (32%) an, noch gar nie unter Heisshungerattacken gelitten zu haben. Hingegen
bejahten 8% der Untersuchten mehr oder
weniger täglich, 19% einmal wöchentlich,
18% 1–2mal monatlich und 23% seltener vorkommende Anfälle in den letzten 3 Monaten.
Der Mittelwert von Patienten ohne psychiatrische Diagnose war 10,9, derjenige von Patienten mit psychiatrischer Diagnose 16,6. Der
Summen-Score des BSQ korrelierte mit keinem
der Scores für die psychische Befindlichkeit
(Global Severity Score SCL-90-R, HADSÄngstlichkeit, HADS-Depressivität), jedoch
signifikant positiv mit den FEV-Skalen Störbarkeit (r = 0,41, p <0,01) und Hungergefühle
(r = 0,36, p <0,01, Tab. 6)
Die statistischen Zusammenhänge zwischen
psychischen und somatischen Faktoren waren
insgesamt gering: Mässig mit dem BMI korrelierten lediglich der Global Severity Index der
SCL-90-R (r = 0,36, p = 0,01), während sich
beispielsweise die Ängstlichkeit- und Depressivitätswerte (HADS) unabhängig vom Body
Mass Index erwiesen. Patienten, bei denen im
Interview eine psychische Störung diagnostiziert wurde (n = 36), wiesen gegenüber denjenigen ohne psychiatrische Diagnose (n = 43)
allerdings einen signifikant höheren Body
Mittelwert
Tabelle 5
Skalenmittelwerte
im Fragebogen zum
Essverhalten (FEV).
Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20
Norm
Interpretation
(n. Westenhöfer)
8,8
mittelgradig
Frauen (n = 60)
kognitive Kontrolle
Störbarkeit
9,3
10,5
5,5
extrem stark
7,6
5,0
stark
kognitive Kontrolle
7,8
5,3
stark
Störbarkeit
9,7
4,8
extrem stark
Hungergefühle
7,6
5,3
stark
Hungergefühle
Männer (n = 19)
744
Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20
Tabelle 6
Häufigkeit von Heisshungerattacken (n = 79).
Originalarbeit
%
nie
32
selten
23
ein- bis zweimal im Monat
18
einmal pro Woche
19
(fast) jeden Tag
8
Mass Index auf und zeigten statistisch signifikant auffälligere Mittelwerte in sämtlichen
Skalen ausser der kognitiven Kontrolle im FEV.
Auch zwischen psychosozialen und soziodemographischen Parametern (Alleinleben,
Bildungsgrad) zeigte sich kein direkter Zusammenhang.
Diskussion
Wie einleitend beschrieben, hat morbide Adipositas alle Merkmale einer chronischen Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium. Die
Patienten blicken meist auf eine jahre- bis jahrzehntelange Leidensgeschichte zurück. Einschränkungen im funktionalen Status, der
Lebensqualität sowie Störungen der psychischen Befindlichkeit gelten als typisch. Morbid
adipöse Menschen sind in der heutigen Gesellschaft, in welcher Schlankheit und hohe
Eigenverantwortung bei der Erhaltung von Gesundheit einen hohen Stellenwert haben, einem
besonderen Stigma ausgesetzt: Sie werden gemeinhin – leider allzuoft auch von Ärzten – als
willensschwach und körperlich wenig attraktiv
empfunden. Die Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten sind oft rasch erreicht, so dass
typische Patientenkarrieren durch überhöhte
Zielsetzungen, enttäuschte Erwartungen, Misserfolgserlebnisse und strapazierte Arzt-PatientBeziehungen – alles mögliche Vorboten eines
resignierten Rückzugs in ein Randgruppendasein – gekennzeichnet sind.
Die Ergebnisse unserer Studie widerspiegeln
sowohl den Beschwerdedruck der einzelnen
Patienten als auch die Einschränkungen der
Lebensqualität dieser Patientengruppe in ausgeprägter Weise. Insbesondere weisen die hohen
Mittelwerte der psychometrischen SymptomSkalen sowie die geringe Lebenszufriedenheit
auf eine gegenüber der Norm erhöhte psychische Beeinträchtigung und eingeschränkte
Lebensqualität hin. Bei der Interpretation
dieser Befunde muss jedoch beachtet werden,
dass es sich bei der untersuchten Stichprobe um
ein Inanspruchnahme-Klientel einer chirurgischen Ambulanz ohne Kontrollgruppe handelt.
Bei allen Teilnehmern wurde der ausgeprägte
Wunsch nach einer rasch wirksamen bariatrisch-chirurgischen Therapie erkennbar. Da
die Patienten wussten, dass der letztliche Entscheid für den Eingriff zumindest teilweise
auch vom Ergebnis der psychiatrischen Untersuchung abhing, war ihr Antwortverhalten
möglicherweise geprägt durch die Einstellung
«Je mehr ich meinem Leiden Ausdruck ver-
leihe, um so eher wird man mich operieren».
Aus der Literatur ist bekannt, dass morbid
Adipöse mit Operationswunsch einen erhöhten Leidensdruck und mehr psychische Störungen aufweisen als solche ohne Behandlungswunsch [20]. Aus grösseren kontrollierten
Untersuchungen, insbesondere der eingangs
zitierten schwedischen SOS-Studie [11, 21],
geht allerdings hervor, dass die psychische Befindlichkeit auch bei morbid Adipösen, die
sich primär gegen eine Operation entscheiden,
oftmals beeinträchtigt ist und sich in auffälligen Ängstlichkeits- und Depressivitätswerten
widerspiegelt.
Als wesentliches Ergebnis stellte sich erwartungsgemäss ein bloss geringer Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der somatischen Beschwerden und der psychischen
Befindlichkeit heraus. Die mässig hohe Korrelation zwischen dem Gesamt-Schwere-Index
des SCL-90-R und dem BMI erklärt sich am
ehesten durch die im Fragebogen vorkommenden somatischen Items. Die HADS-Skalen,
welche sich speziell gut für Patienten mit somatischen Erkrankungen eignen, korrelierten
jedoch nicht mit dem BMI. Dieser Befund bestätigt die der Arbeit zugrundeliegende These,
dass psychosoziale Merkmale bei der Evaluation von morbid Adipösen wahrscheinlich
eine besondere Beachtung verdienen, da sie
sich nicht ohne weiteres aus den somatischen
Variabeln ableiten lassen.
Die klinisch-psychiatrische Untersuchung ergab bei nahezu der Hälfte aller Fälle mindestens eine psychiatrische Diagnose gemäss
ICD-10. Diese Patienten zeigten gegenüber
den psychiatrisch Unauffälligen erwartungsgemäss auch statistisch signifikant höhere
Werte in allen psychometrischen Skalen. Diese
hohe Punktprävalenz für psychische Störungen deckt sich mit unseren Erwartungen aufgrund der allerdings immer noch verhältnismässig spärlichen Literatur zur psychischen
Morbidität bei morbider Adipositas.
So wiesen Black und Mitarbeiter 1992 in einer
kontrollierten Untersuchung bei 88 Patienten
745
Originalarbeit
eine Lebenszeitprävalenz von 84,1% für irgendeine psychische Störung (versus 49,2% in
der Vergleichsgruppe) nach. 62,5% dieser
morbid Adipösen – zumeist Frauen mit einem
niedrigen sozioökonomischen Status – erhielten mindestens zwei und 21,2% eine psychiatrische Diagnose, rund 50% hatten eine
Persönlichkeitsstörung, 47,7% eine Angststörung, 30,7% affektive Störungen, 22,7%
einen Substanzmissbrauch [22]. Obschon diese
Untersuchung methodisch einigermassen einwandfrei ist, bietet sie bloss einen groben Anhaltspunkt für unsere Ergebnisse, erstens weil
sie in einem anderen soziokulturellen Kontext
durchgeführt wurde und zweitens weil bei unserer Studie kein strukturiertes psychiatrischdiagnostisches Untersuchungsinstrument (Interview) zum Einsatz kam, mit welchem nicht
bloss die Punkt-, sondern auch die Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen zuverlässig
hätte erfasst werden können. Zum weiteren
Vergleich bieten sich daher am ehesten einige
der neueren Untersuchungen aus der Übersicht
von Black an, welche die seit den 60er Jahren
relevanten, vor allem in den USA durchgeführten Studien zusammenfasst und Punktprävalenzen von bis zu 80% für Persönlichkeitsstörungen und Depressionen nachweist [22].
Der Autor weist darauf hin, dass mit Zunahme
der Stichprobengrösse und Verbesserung der
Methodik die Punktprävalenz für psychiatrische Störungen im Laufe der Zeit abnimmt und
dass vor allem die älteren Untersuchungen wegen ihres retrospektiven Designs oder mangels
einer Kontrollgruppe nur von begrenzter Aussagekraft seien. 1980 fanden Halmi und Mitarbeiter bei 86 Patienten vor einer bariatrischen Operation eine Punktprävalenz von
45% für psychische Störungen auf der DSMIII Achse I (psychiatrische Syndrome) [23].
Larsen beschrieb 1990 in seinem Krankengut
von 103 Patienten ebenfalls bei 45% mindestens eine psychiatrische Störung, bei 22% eine
Persönlichkeitsstörung, bei 8% eine Depression [24]. Ähnlich wie in unserer Untersuchung
zeigt sich eine verhältnismässig niedrige Punktprävalenz für Depressionen; d.h. viele Patienten weisen zum Untersuchungszeitpunkt zwar
depressive Symptome und Syndrome auf, ohne
jedoch die Kriterien für eine depressive Episode
zu erfüllen.
Hingegen machen Störungen beim Essverhalten einen relevanten Teil der psychischen Komorbidität bei der untersuchten Patientengruppe aus, was sowohl die hochgradige Auffälligkeit in sämtlichen entsprechenden Skalen
als auch der beim psychiatrischen Abklärungsgespräch gewonnene Eindruck widerspiegeln.
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Lediglich 5 unserer Patientinnen erfüllten die
Kriterien für eine atypische Bulimia nervosa
(sämtliche Kriterien ausser selbstinduziertes
Erbrechen erfüllt). Bei rund einem Viertel diagnostizierten wir eine Essstörung entsprechend
der ICD-Klassifikation. Dabei mussten wir
allerdings feststellen, dass die in diesem System vorgesehenen phänomenologischen Beschreibungen meistens zu wenig differenziert
und unzureichend waren. Das gestörte Essverhalten adipöser Patienten passt insgesamt nur
schlecht in die Klassifikation der Essstörungen
der ICD-10-Nomenklatur. Isolierte wiederholte Heisshungerattacken müssen hier unter
F50.9 als nicht näher bezeichnete Essstörung
klassifiziert werden, da eine eigene Kategorie
für ein Binge Eating Disorder (BED), wie sie
im Anhang der DSM-IV z.B. vorkommt, fehlt.
Vermutlich hätte ein grösserer Teil dieser Patienten die Kriterien für ein Binge Eating Disorder erfüllt, wozu allerdings eine zusätzliche,
sehr ausführliche und strukturierte Befragung
nötig gewesen wäre. Dennoch steht der Befund
des häufig gestörten Essverhaltens im Einklang mit der Literatur [25], wonach ungefähr
20–30% aller in Behandlung stehenden morbid adipösen Patienten klinisch bedeutsame
Probleme mit ihrem Essverhalten aufweisen
sollen: Häufige und regelmässige Einnahme
einer objektiv übergrossen Nahrungsmenge,
welche mit einem Gefühl des Kontrollverlusts
beim Essen einhergeht. Ebenfalls als charakteristisch gilt ein zirkadian verschobener Mahlzeitenrhythmus mit morgendlicher Anorexie
sowie abendlicher Hyperphagie und nächtlicher Insomnie. Eine unserer ersten Patientinnen, die wegen persistierenden Hungergefühlen den Schlaf nicht fand, berichtete nach
Einstellung auf Mianserin, ein schlafanstossendes Antidepressivum, nebst Besserung der
Schlafstörung von einem eindrücklichen Rückgang ihrer nächtlichen Heisshungerattacken.
In den Skalen des Essverhaltens (kognitive
Kontrolle, Störbarkeit, Hungergefühle) zeigt
die untersuchte Stichprobe erwartungsgemäss
ein Muster, welches von extrem hoher Störbarkeit, starken permanenten Hungergefühlen
und (rigider) Kontrolle gekennzeichnet ist. Interessant und bedeutsam erscheint uns, dass
sich kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen den Skalen für psychische Befindlichkeit (SCL-90, HADS) und den Skalen
des Essverhaltens ergab. Die naheliegende
Hypothese, dass erhöhte Depressivität oder
Ängstlichkeit in dieser Patientengruppe für
gestörtes Essverhalten verantwortlich seien,
konnte somit nicht bestätigt werden. Eine andere Hypothese wäre, dass gestörtes Essver-
Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20
Originalarbeit
halten mehr mit dem Erleben des eigenen
Körpers und den unterschiedlich ausgeprägten
Wahrnehmungen von Innen- und Aussenreizen
assoziiert ist. Aus grösseren Untersuchungen
ist bekannt, dass für die Entwicklung eines
Binge Eating Disorder insbesondere negative
Erfahrungen beim Essen in der Kindheit, depressive Eltern, Vulnerabilität für Adipositas
und gehäuftes Ausgesetztsein gegenüber negativen Kommentaren zu Aussehen, Gewicht und
Essverhalten eine Rolle spielen (26]. Inwieweit
diese Faktoren auch für das Essverhalten, insbesondere die häufig berichteten Heisshungerattacken, der Patientinnen unserer Stichprobe massgebend sein könnten, vermochten
wir mangels Vergleichs mit einer Kontrollgruppe nicht zu eruieren.
Insgesamt zeigt sich bei unseren morbid adipösen Patienten eine im Vergleich zu Normpopulationen deutlich erhöhte psychische Morbidität mit Störungen im Bereich des Essverhaltens und im emotionalen Bereich. Ähnlich wie
aus verschiedenen anderen Untersuchungen
(Übersicht bei [3, 11, 27–29]) wird auch hier
erkennbar, dass die Lebensqualität morbid
Adipöser nicht nur durch die körperlichen
Beschwerden und Einschränkungen, sondern
auch hinsichtlich anderer Bereiche der Gesundheit drastisch eingeschränkt ist und diese
Patienten über vergleichsweise geringe Ressourcen zur Bewältigung ihrer schwierigen
Lebenssituation verfügen.
Auch wenn es sich hier lediglich um eine Querschnittsuntersuchung handelt, so kann aufgrund der langen Krankheitsdauer und diesen
psychometrischen Ergebnissen zumindest vermutet werden, dass die festgestellte psychische
Komorbidität eher eine Folgeerscheinung als
eine Ursache der morbiden Adipositas darstellt. Psychosoziale Auswirkungen der morbiden Adipositas auf die meisten Bereiche sozialen Wirkens, beispielsweise durch die besondere Stigmatisierung adipöser Menschen in
unserer Kultur, wurden bereits vor längerer
Zeit eingehend beschrieben [30–33], ebenfalls
die Assoziation zwischen Adipositas und einem
niedrigeren sozioökonomischen Status und sozialer Abwärtsmobilität in der westlichen Welt
[34, 35]. Die Interaktion zwischen genetischen
und umweltbedingten Faktoren ist dabei allerdings von komplexer Natur [36].
Schlussfolgerungen
Trotz des Aufschwungs der bariatrischen
Chirurgie [37] und den zumeist optimistisch
stimmenden Kurzzeitresultaten [38] ist über
den Zusammenhang zwischen psychischer und
somatischer Komorbidität vor und nach bariatrischen Operationen noch wenig bekannt. Es
existieren dazu nur wenige längerfristig angelegte Verlaufsuntersuchungen [39–41] aus dem
skandinavischen und angelsächsischen Raum.
Bis heute ist nicht klar, ob und wenn ja welche
psychosozialen Variabeln allenfalls eine prädiktive Bedeutung für das Langzeitresultat
haben [41]. Bariatrische Operationen greifen
sehr direkt und nachhaltig ins Essverhalten und
damit in ein äusserst komplexes Verhaltensmuster ein, welches nicht nur durch physiologische und psychologische, sondern auch kulturelle Faktoren determiniert ist. Die Vermutung, dass diese Faktoren, insbesondere der
frühere Umgang mit der Adipositas und das
Vorhandensein von psychischen Störungen, für
das längerfristige Ergebnis eine Rolle spielen
könnten, ist deshalb trotz der optimistischen
Resultate bei kurzer Beobachtungsdauer vorderhand weder bestätigt, noch widerlegt.
Unsere Studie zeigt als wichtiges Resultat, dass
bei morbider Adipositas psychische und somatische, Parameter insgesamt nur in geringem
Masse korrelieren. Daraus lässt sich ableiten,
dass es sich vor allem im Hinblick auf den späteren längerfristigen Verlauf lohnen dürfte,
morbid adipöse Patienten nicht nur somatisch,
sondern auch umfassend psychiatrisch und
psychometrisch zu untersuchen und gegebenenfalls einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung zuzuführen. Unabdingbar
erscheint insbesondere auch eine genaue Exploration der Schwierigkeiten des Essverhaltens und der Einstellung zum eigenen Körper
zu sein, welche häufig aus Scham verschwiegen
werden. Die Untersuchung zeigt auch, dass
subjektive Angaben (in standardisierten Selbstbeurteilungsfragebogen) sich als psychologisches Screening eignen, da höhere Scores
mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für eine
psychiatrische Diagnose korrelieren.
747
Originalarbeit
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