Schweiz Med Wochenschr 2000;130:739–48 Peer reviewed article T. Langa, R. Hauserb, R. Schlumpfc, R. Klaghofera, C. Buddeberga a b c Abteilung für Psychosoziale Medizin, Psychiatrische Poliklinik, UniversitätsSpital Zürich Praxis für Chirurgie FMH, Konsiliararzt für klinische Ernährung Klinik für Viszeralchirurgie, Departement Chirurgie, UniversitätsSpital Zürich Originalarbeit Psychische Komorbidität und Lebensqualität von Patienten mit morbider Adipositas und Wunsch nach Gastric banding Summary Psychic comorbidity and quality of life in patients with morbid obesity applying for gastric banding Bariatric surgical operations are well established in the treatment of morbid obesity. In this study, 79 consecutive applicants for laparoscopic gastric banding (60 females with a mean BMI of 47.4 kg/m2 and 19 males with a mean BMI of 48.9 kg/m2, mean age 39.6 years) were examined preoperatively by structured psychiatric interview and questionnaire. Goal and questions: The aim of the study was to determine physical and psychological symptoms, specific eating problems, life satisfaction and incidence of psychiatric comorbidity, as well as the relations between psychological and psychosocial markers on the one hand, and demographic and somatic parameters on the other. Results: Most patients displayed multiple somatic symptoms and diseases, in particular orthopaedic problems, exertion dyspnoea, hyperlipidaemia, hypertension, diabetes mellitus or sleep apnoea. The averages of all psychometric scales (General Symptomatic Index of Symptom Checklist [SCL-90-R], anxiety and depression states of the Hospital Anxiety and Depression Scale [HADS]) were higher than normal. General life satisfaction and satisfaction with health (FLZM) were low. Eating behaviour in both sexes was characterised by marked irritability, disinhibition and ravenousness. Binge eating was common, 27% reporting binges at least weekly and only 37% no binges at all. 46% were found to suffer from at least one psychiatric disorder, while half had an eating disorder with frequent bingeing and loss of control. 6.3% were diagnosed with atypical bulimia, 15.2% had an adaptational disorder and 10% a personality disorder. The HADS scales did not correlate with BMI or other somatic factors and the correlation between the SCL-90-R and BMI was low (r = 0.36, p = 0.01). However, patients with psychiatric disorders had significantly higher BMIs and higher averages on all scales except overall life satisfaction. There was no direct relation between psychosocial and sociodemographic variables (educational level, living alone). Conclusion: Morbidly obese patients desiring laparoscopic gastric banding display many physical and psychological symptoms with a higher preference for psychiatric (especially eating) disorders. Since there is no close relationship between psychosocial and somatic aspects in this group of patients, routine psychiatric evaluation appears to be of importance. Keywords: bariatric surgery; binge eating; gastric banding; satisfaction with life; psychiatric evaluation; psychiatric comorbidity Korrespondenz: Dr. med. Thomas Lang Oberarzt Abteilung Psychosoziale Medizin Psychiatrische Poliklinik UniversitätsSpital Culmannstrasse 8 CH-8091 Zürich 739 Originalarbeit Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20 Zusammenfassung Bei der Behandlung der morbiden Adipositas werden seit längerer Zeit sogenannte bariatrische Eingriffe zur Senkung des Morbiditätsrisikos angewandt. Das laparoskopisch eingebrachte, adjustierbare Magenband wurde 1995 durch Schlumpf in der Schweiz eingeführt und wird seither vielerorts verwendet. Diese Arbeit berichtet über erste Ergebnisse einer präoperativen konsiliarpsychiatrischen Untersuchung zur psychischen Komorbidität, Lebensqualität und Befindlichkeit von Patienten, die ein Magenband wünschten. Fragestellungen: Eruiert wurden die körperlichen und psychischen Symptome, die Lebenszufriedenheit, die Art und Häufigkeit allfälliger psychischer Störungen und die Besonderheiten des Essverhaltens dieser Patienten. Zudem interessierten die Zusammenhänge zwischen psychischen und psychosozialen Merkmalen einerseits und soziodemographischen und somatischen Parametern anderseits. Methode: 79 morbid-adipöse Patienten (19 Männer, durchschnittlicher BMI 48,9 kg/m2, 60 Frauen, durchschnittlicher BMI 47,4 kg/m2; Durchschnittsalter insgesamt 39,6 Jahre) wurden mittels konsiliarpsychiatrischem Interview und Fragebogen präoperativ untersucht. Resultate: Somatisch fanden sich multiple körperliche Probleme wie orthopädische Beschwerden, Anstrengungsdyspnoe, Hyperli- pidämie, Hypertonie oder Diabetes mellitus. Die Mittelwerte sämtlicher psychometrischer Skalen (SCL-90-R, HADS) waren erhöht. Die Lebenszufriedenheit (FLZM) war wegen der reduzierten Leistungsfähigkeit markant eingeschränkt. Bloss 32% waren frei von Heisshungerattacken, die Störbarkeit beim Essen (FEV) war durchwegs extrem stark. Die klinischpsychiatrische Untersuchung ergab bei 36 Patienten mindestens eine psychiatrische Diagnose, zur Hälfte eine Essstörung. 15,2% aller Patienten hatten eine Anpassungsstörung, 10% Anzeichen für eine Persönlichkeitsstörung. Psychische und somatische Parameter korrelierten wenig. Schlussfolgerungen: Die Studie bestätigt einen hohen körperlichen und psychischen Leidensdruck bei morbid Adipösen. Ein relevanter Teil dieser Patienten weist eine oder mehrere psychische Störungen, insbesondere des Essverhaltens mit gehäuften Heisshungerattacken auf. Aufgrund des geringen Zusammenhangs zwischen psychischen und somatischen Befunden erscheint die konsiliarpsychiatrische Untersuchung von morbid Adipösen mit Operationswunsch sinnvoll. Keywords: bariatrische Chirurgie; morbide Adipositas; konsiliarpsychiatrische Untersuchung; Lebenszufriedenheit; Binge Eating; psychische Komorbidität Einleitung und Fragestellung Morbide Adipositas wird definiert als Body Mass Index (BMI) von mehr als 40 kg/m2 oder als BMI von 35 kg/m2 und mehr in Kombination mit einer erheblichen somatischen Komorbidität. Es handelt sich um eine ernstzunehmende Erkrankung mit erhöhtem Risiko für eine Reihe von Störungen wie atherosklerotische kardiovaskuläre Ereignisse, arterielle Hypertonie, Störungen des Lipidstoffwechsels, Diabetes mellitus, Cholelithiasis, orthopädische Probleme der unteren Extremitäten sowie Schlafapnoesyndrom [1]. Die somatischen Auswirkungen der morbiden Adipositas sind in der Literatur gut dokumentiert. Die durch diese Krankheit verursachten Gesundheitsrisiken und -kosten sind sehr hoch, obwohl nur etwa 0,5–1,5% der gesamten Bevölkerung je dieses Ausmass an Übergewicht erreicht (Extrapolation Schweizerische Gesundheitsbefragung 1992/93) [2]. Für die Betroffenen können auch die psychosozialen und sozioökonomischen Auswirkungen der morbi740 den Adipositas beträchtlich sein [3], und ihr Sterberisiko steigt bereits ab einem BMI über 30 kg/m2 exponentiell an [4]. Bei der Therapie der morbiden Adipositas wird zur Senkung des Morbiditäts- und Mortalitätsrisikos sowie zur Verbesserung der Lebensqualität eine dauerhafte Gewichtsreduktion auf einen BMI unter 30 kg/m2 angestrebt. In der Mehrzahl aller Fälle kann dieses Ziel jedoch mit konservativen Massnahmen allein nicht erreicht werden, so dass zusätzlich sogenannte bariatrisch-chirurgische Verfahren eingesetzt werden müssen [5]. Dabei handelt es sich um Eingriffe, bei welchen entweder der Magen zwecks Drosselung der Nahrungszufuhr künstlich mittels eines sogenannten Magenbandes stenosiert oder der Dünndarm durch eine teilweise Resektion oder Umgehung zwecks verminderter Nährstoffabsorption verkürzt wird. Die Indikation für beide Verfahren stützt sich heute auf ihre mehrfach nachgewiesene Überlegenheit gegenüber alleiniger Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20 Originalarbeit konservativer Behandlung ab [6–8], wobei die stenosierenden Mageneingriffe eine durchschnittlich etwas geringere Gewichtsreduktion (40% des Übergewichts) bewirken, jedoch technisch vergleichsweise einfacher durchzuführen und mit insgesamt einer niedrigeren Morbiditäts- und Mortalitätsrate behaftet sind [8, 9]. Das laparoskopisch angewandte adjustierbare Magenband (Abb. 1) scheint dabei eines der vielversprechendsten Verfahren zu sein, da der Eingriff weniger invasiv ist als die offene Operation und die Stenose durch eine laparoskopische Entfernung des Bandes jederzeit wieder rückgängig gemacht werden kann [10]. Den Hauptanlass für die vorliegende Untersuchung bildete eine deutliche Zunahme der Nachfrage nach einer laparoskopisch durchgeführten Gastric-banding-Operation nach Einführung und Propagierung dieses Verfahrens am Universitätsspital Zürich. Erste Erfahrungen sowie Hinweise aus der Literatur [11] wiesen uns darauf hin, dass der Leidensdruck und Veränderungswunsch vieler morbid Adipöser nicht bloss durch körperliche Faktoren allein, sondern oftmals auch durch zusätzliche grössere psychosoziale Probleme bedingt sein kann, so dass eine routinemässige präoperative psychiatrische Evaluation unabhängig von der Indikation zum Eingriff sinnvoll erschien. Diese Arbeit fasst erste Ergebnisse der präoperativen konsiliarpsychiatrischen Untersuchung zur psychischen Komorbidität, Lebensqualität und Befindlichkeit von Patienten, die eine laparoskopische Gastric-banding-Operation wünschten, zusammen. Folgende Fragen sollten damit geklärt werden: – Unter welchen physischen und psychischen Beschwerden und Symptomen leiden morbid Adipöse mit Wunsch nach einer Gastricbanding-Operation und wie ist ihre Lebenszufriedenheit im Vergleich zur Normalbevölkerung? – Wie häufig und welcher Art sind psychische Störungen bei Patienten mit morbider Adipositas, die einen bariatrischen Eingriff wünschen? – Welche Merkmale zeigt das Essverhalten dieser Patienten in Abhängigkeit von ihrer psychischen Befindlichkeit? – Welche Zusammenhänge bestehen zwischen psychischen und psychosozialen Merkmalen einerseits und soziodemographischen und somatischen Parametern anderseits? Abbildung 1 Laparoskopisches adjustierbares Gastric banding. Methode Untersuchungsstichprobe Für den Einschluss in die Studie galten folgende Kriterien: (1.) grundsätzliche Qualifikation für eine bariatrische Operation (BMI >35 kg/m2 und mindestens eine relevante somatische Folgekrankheit), (2.) Alter zwischen 18 und 55 Jahren, (3.) Bereitschaft zur psychiatrischen Evaluation und Teilnahme an der schriftlichen Befragung, (4.) ausreichende Deutschkenntnisse. Von Januar 1996 bis Juni 1997 wurden insgesamt 139 Patienten, die eine laparoskopische Gastric-banding-Operation wünschten, zur psychiatrischen Abklärung angemeldet. 27 zogen ihre Anmeldung zurück, 108 wurden psychiatrisch untersucht, wovon schliesslich 79 (73,1%) bereit bzw. in der Lage waren, zusätzlich zum klinischen Interview einen Fragebogen auszufüllen, so dass sie in die Studie eingeschlossen werden konnten. Die Untersuchungsstich- probe setzte sich wie folgt zusammen: 19 Männer und 60 Frauen mit einem Durchschnittsalter von 39,6 Jahren. 58,2% waren verheiratet, 30,4% ledig und 10,3% geschieden. 17,9% lebten allein, 62,8% mit einem Partner, 19,2% ohne Partner jedoch mit anderen Personen (Geschwister, eigene Kinder, andere) zusammen. Zurzeit der Befragung waren 56,9% berufstätig, etwa die Hälfte davon in Teilzeit und 21,6% arbeitslos. Die restlichen 21,5% waren entweder im Haushalt tätig oder befanden sich in Ausbildung. Der Ausbildungsstand war bei 35,1% niedrig (nur obligatorische Schule), bei 53,2% mittel (zusätzlich abgeschlossene Berufslehre oder andere Ausbildung), bei 11,7% hoch (zusätzlich Matura, höhere Fachschule oder Hochschulstudium). Die Körpermasse sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Alle Untersuchten erfüllten die Kriterien einer morbiden Adipositas. Ein statistisch signifikanter Geschlechtsunterschied zwischen Männern 741 Originalarbeit Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20 Tabelle 1 Körpermasse Körpermasse und somatische Befunde. Frauen n = 60 BMI (Mittelwert ± SD) 47,4 ± 7,0 Range BMI Männer n = 19 49,9 ± 10,1 36,4 bis 78,8 Gewicht kg (Mittelwert ± SD) 125,5 ± 18,0 Grösse cm (Mittelwert ± SD) 162,9 ± 6,4 mittlere Dauer der Adipositas somatische Befunde 157,0 ± 29,4 179,4 ± 7,4 17 ± 8 Jahre % % orthopädische Probleme 90,0% 78,9% Anstrengungsdyspnoe 83,2% 84,2% Harninkontinenz 51,7% 1,3% Hyperlipidämie 53,3% 52,6% arterielle Hypertonie 46,7% 42,1% Diabetes mellitus Typ II 31,7% 52,6% Hyperurikämie 13,3% 31,6% Schlafapnoesyndrom (klinisch) 21,7% 26,3% und Frauen fand sich sowohl bei der Körpergrösse als auch beim Gewicht; die Männer wogen durchschnittlich 157,0 kg, die Frauen 125,5 kg (p = 0,008). Bezüglich Body Mass Index (BMI) fand sich kein statistisch signifikanter Geschlechtsunterschied: Bei den Männern lag er im Mittel bei 48,9 kg/m2 (n = 19), bei den Frauen bei 47,4 kg/m2 (n = 60). Der geringste BMI betrug 38,6 kg/m2, der höchste 78,8 kg/m2. Der Grossteil (55% der Frauen, 68,4% der Männer) war gemäss eigenen Angaben bereits vor Eintritt in die Pubertät adipös, ungefähr ein Fünftel seit einem Alter zwischen 12 und 16 Jahren. Die mittlere Dauer der Adipositas betrug 17 ± 10,8 Jahre. Untersuchungsgang Die präoperative psychiatrische Untersuchung bestand aus einem psychiatrischen Abklärungsgespräch, wonach eine oder mehrere klinische Diagnosen nach ICD-10 Kapitel F gestellt wurden, sowie aus einer Fragebogenerhebung mit standardisierten Instrumenten. Somatische Parameter umfassten die anthropometrischen Variablen Grösse, Gewicht und BMI sowie Vorhandensein oder Fehlen der Befunde Anstrengungsdyspnoe, Urininkontinenz, arterielle Hypertonie, Hyperlipidämie, Hyperurikämie, eines Diabetes mellitus Typ II, eines obstruktiven Schlafapnoesyndroms (Hauptsymptome zyklisches Schnarchen plus vermehrte Schläfrigkeit tagsüber) sowie Gelenk- oder Rückenbeschwerden bzw. einer orthopädischen Pathologie. Ausserdem lagen Angaben der behandelnden Ärzte über die systematische Befragung zur Dauer der Adipositas, Merkmalen gestörten Essverhaltens (insbesondere Bevorzugung von Süssigkeiten) sowie zu schwerem sexuellem oder körperlichem Missbrauch in der Vorgeschichte vor. Untersuchungsinstrumente In der psychometrischen Untersuchung wurden folgende standardisierte und normierte Instrumente verwendet: Symptom Checklist SCL-90-R zur allgemeinen psychischen Befindlichkeit [12], Hospital Anxiety and Depression Scale HADS zur Bestimmung von Ängstlichkeit und Depressivität auf der Symptomebene [13, 14], Fragen zur subjektiven Lebenszufriedenheit FLZM [15] sowie eine deutsche, 13 Items umfassende Kurzversion der Skala Kohärenzsinn (Sense of Coherence SOC) [16] zu den Bewältigungsressourcen. Als Vergleichsnormwerte wurden Mittelwerte sämtlicher Altersklassen gewählt. Das Essverhalten wurde mit dem Fragebogen zum Essverhalten FEV [17, 18] erhoben, mit den Skalen kognitive Kontrolle, Störbarkeit und Hungergefühle, von welchen aus der Literatur Normwerte für beide Geschlechter vorlagen. Für die Erfassung der Häufigkeit und Ausprägung von Heisshungerattacken wurde eine eigene Übersetzung des 14 Items umfassenden Binge Scale Questionnaire BSQ [19] benützt. Die psychiatrischen Interviews wurden mehrheitlich vom Erstautor, die somatischen Untersuchungen vom Zweitautor durchgeführt. Die psychometrischen Fragebogen wurden von den Patienten nach einer kurzen Instruktion zuhause ausgefüllt und zurückgeschickt. Nebst einer deskriptiven Datenanalyse wurden Gruppenunterschiede zwischen Patienten mit und ohne psychiatrische Diagnosen sowie einfache Korrelationen zwischen soziodemographischen und psychosozialen Variablen sowie zwischen somatischen und psychosozialen Parametern berechnet. Ergebnisse Somatische Komorbidität, psychische Befindlichkeit und Lebenszufriedenheit In Tabelle 1 sind nebst den Körpermassen die häufigsten somatischen Befunde aufgeführt. 90% der Frauen und rund 79% der Männer litten unter relevanten orthopädischen Beschwerden. Mehr als 80% aller Patienten 742 gaben eine Anstrengungsdyspnoe an, rund die Hälfte wies eine Hyperlipidämie und 45% wiesen eine arterielle Hypertonie auf. Die Hälfte der Männer und ein Drittel der Frauen hatten einen Diabetes mellitus Typ II, bei einem Fünftel der Frauen und einem Viertel der Männer bestanden typische Zeichen und Symptome eines obstruktiven Schlafapnoesyndroms. Rund Originalarbeit Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20 Tabelle 2 Psychometrische Befunde der Gesamtstichprobe sowie von Patienten mit und ohne psychiatrische Diagnosen. Norm* Mittelwert Gesamtstichprobe n = 79 SD Patienten mit 1–3 psychiatrischen Diagnosen n = 36 Patienten ohne psychiatrische Diagnosen n = 43 Signifikanz p SCL-globaler Schwere-Index 0,3 0,8 0,5 1,1 0,6 <0,001 HADS-Depressivität 3,4 6,6 3,4 8,1 5,5 <0,001 HADS-Ängstlichkeit 5,8 7,3 3,8 9,3 5,8 <0,001 globale Lebenszufriedenheit 60,5 45,7 33,1 42,6 48,2 n.s. Zufriedenheit mit Gesundheit 74,4 36,7 37,6 26,5 44,8 0,030 Kohärenzgefühl SOC 5,0 Binge-Scale-Summen-Score 0 4,6 0,9 4,3 4,9 0,001 14,0 10,3 16,6 10,9 0,010 * Normwerte repräsentativer Eichstichproben die Hälfte der Frauen beklagte Urininkontinenz-Beschwerden. Tendenziell, nicht jedoch statistisch signifikant, zeigten die Männer gehäuft eine Pathologie im Stoffwechselbereich (erhöhte Lipid-, Nüchternglukose- und Harnsäurewerte), während die Frauen noch häufiger als die Männer unter orthopädischen Beschwerden litten. Der Grossteil der Patientinnen und Patienten nannte deutliche Einschränkungen in der körperlichen Aktivität (85–90%) und im sozialen Leben (53–62%). 67% der Frauen und 47% der Männer bejahten bereits beim Erstkontakt mit dem Chirurgen häufige depressive Verstimmungen und 17% der Frauen sowie 5% der Männer einen sexuellen Missbrauch in ihrer Vorgeschichte. Psychometrische Befunde Psychische Befindlichkeit: Der Global Severity Index der Symptom Checklist betrug im Mittel 0,8 (± 0,5, Norm 0,3), der HAD-Depressivitäts-Score 6,6, der HAD-ÄngstlichkeitsScore 7,3, wobei die Mittelwerte der Frauen tendenziell gegenüber denjenigen der Männer erhöht waren (Tab. 2). Bei 23% befand sich der Ängstlichkeitsscore, bei 11,5% der Depressivitäts-Score im auffälligen Bereich (Angst- bzw. depressive Störung wahrscheinlich), bei 17,4% (Ängstlichkeit) bzw. 25,0% (Depressivität) im Grenzbereich. Lebenszufriedenheit: Die globale Lebenszufriedenheit erwies sich im Vergleich zur Normpopulation (Mittelwert sämtlicher Altersklassen = 60,5, SD 27,3) mit 45,7 ± 33,1 als deutlich eingeschränkt, in statistisch signifikant höherem Masse bei den untersuchten Männern (27,6 vs. 50,1, p = 0,04). Erwartungsgemäss war auch die Zufriedenheit mit der Gesundheit bei beiden Geschlechtern im Vergleich zum Normwert (74,4, SD 41,5) markant erniedrigt (36,7, SD 37,6), bei den Männern in etwas geringerem Masse (39,9) als bei den Frauen (35,7). Die Patienten empfanden ihre Lebensqualität vor allem wegen ihrer reduzierten körperlichen Leistungsfähigkeit als vermindert und zeigten gegenüber der Norm eine geringe Zufriedenheit hinsichtlich Beschwerdefreiheit, körperlicher Energie und Ausgeglichenheit. In den allgemeinen Lebensbereichen zeigten sich ausser bei der generellen Zufriedenheit mit der Gesundheit (Norm 8,1, adipöse Männer –2,9, Frauen –0,9) die massivsten Einschränkungen in den Dimensionen Zufriedenheit mit der Freizeit (Norm 6,3, adipöse Männer 4,3, Frauen 4,1), dem Einkommen (Norm 6,5, adipöse Männer –0,6, Frauen 4,7) und dem Lebenspartner (Norm 7,9, adipöse Männer 4,2, Frauen 4,7). Die Männer unserer Stichprobe waren mit ihrem Einkommen (–0,6 vs. 4,7, p = 0,03), ihrer Wohnsituation (5,7 vs. 12,5, p = 0,00) und ihrer Familie (3,7 vs. 11,6, p = 0,001) weniger zufrieden als die Frauen, nicht jedoch mit ihrem Beruf (6,4 vs. 5,1, n.s.), worin sie sich im Gegensatz zu den Frauen sogar leicht zufriedener als die Normstichprobe (5,5) einschätzten. Die Frauen hingegen zeigten gegenüber den Männern und der Normstichprobe durchschnittlich erhöhte Werte für Zufriedenheit mit ihrer Wohnsituation und ihren Familien. Das Kohärenzgefühl lag mit 4,6 ± 0,9 bei beiden Geschlechtern deutlich unter dem jeweiligen Normwert (Männer 4,9, Frauen 4,8). Psychische Störungen Wie aus Tabelle 3 ersichtlich ist, wiesen 36 Patienten (45,5%) mindestens eine psychische Störung gemäss ICD-10 auf. Zahlenmässig im Vordergrund standen Essstörungen gemäss F50 bei insgesamt 25,3%, Anpassungsstörungen bei 15,2% sowie Persönlichkeitsstörungen bei 10,1%. Bei den Essstörungen waren die vollen Diagnosekriterien für eine klassische Essstörung, 743 Originalarbeit Tabelle 3 Psychiatrische Diagnosen. Frequenz von ICD-10-Diagnosen % Essstörung F50 25,3 F50.4 Essattacken 19,0 F50.3 atypische Bulimia nervosa 6,3 Anpassungsstörungen F43.X 15,2 Persönlichkeitsstörungen F60.X 10,1 Substanzmissbrauch F1X.202 2,5 Anzahl psychiatrische Diagnosen pro Patient % keine psychische Störung 54,5 eine psychiatrische Diagnose 25,3 zwei psychiatrische Diagnosen 17,7 drei oder mehr psychiatrische Diagnosen 2,5 Tabelle 4 häufigste Probleme (Mehrfachnennungen) % Essverhalten (n = 79). plötzlicher Heisshunger 60,8 Langeweile 46,1 Stress 42,3 Lust nach Süssigkeiten 36,7 Essen in Gegenwart anderer 26,6 ständiges Kalorienzählen 13,9 alkoholische Getränke 2,5 «Ich wage nicht, mich satt zu essen.» 2,5 insbesondere eine Bulimia nervosa, in keinem Fall erfüllt, bei 6,3% fand sich eine atypische Bulimie (ohne absichtliches Erbrechen) und bei 19% lagen gehäufte Essattacken gemäss F50.4 (ICD-10) vor. Patienten, bei denen im Interview eine psychische Störung diagnostiziert wurde (n = 36), unterschieden sich von denjenigen ohne psychiatrische Diagnose (n = 43) statistisch signifikant hinsichtlich Body Mass Index und sämtlichen Symptom-Skalen ausser der globalen Lebenszufriedenheit (Tab. 2). Essverhalten In Tabelle 4 sind die häufigsten Probleme beim Essen, in Tabelle 5. die Ergebnisse der Skalen kognitive Kontrolle, Störbarkeit und Hunger- gefühle und in Tabelle 6 die Häufigkeit von Heisshungerattacken aufgeführt. Hinsichtlich kognitiver Kontrolle (Mass für sog. gezügeltes Essverhalten) lagen die Frauen nur knapp über ihrem Normwert, während die Männer unserer Stichprobe eine verhältnismässig hohe kognitive Kontrolle aufwiesen und damit näher beim weiblichen als beim männlichen Normaldurchschnittswert lagen. Sowohl die Frauen als auch die Männer der Patientengruppe zeigten im Vergleich zu den Normwerten erwartungsgemäss hohe bis sehr hohe Werte für Störbarkeit und Hungergefühle, wobei beide Skalen deutlich untereinander korrelierten (r = 0,55, p <0,01). Heisshungerattacken: Im Binge-Scale Questionnaire BSQ gaben lediglich ein knappes Drittel (32%) an, noch gar nie unter Heisshungerattacken gelitten zu haben. Hingegen bejahten 8% der Untersuchten mehr oder weniger täglich, 19% einmal wöchentlich, 18% 1–2mal monatlich und 23% seltener vorkommende Anfälle in den letzten 3 Monaten. Der Mittelwert von Patienten ohne psychiatrische Diagnose war 10,9, derjenige von Patienten mit psychiatrischer Diagnose 16,6. Der Summen-Score des BSQ korrelierte mit keinem der Scores für die psychische Befindlichkeit (Global Severity Score SCL-90-R, HADSÄngstlichkeit, HADS-Depressivität), jedoch signifikant positiv mit den FEV-Skalen Störbarkeit (r = 0,41, p <0,01) und Hungergefühle (r = 0,36, p <0,01, Tab. 6) Die statistischen Zusammenhänge zwischen psychischen und somatischen Faktoren waren insgesamt gering: Mässig mit dem BMI korrelierten lediglich der Global Severity Index der SCL-90-R (r = 0,36, p = 0,01), während sich beispielsweise die Ängstlichkeit- und Depressivitätswerte (HADS) unabhängig vom Body Mass Index erwiesen. Patienten, bei denen im Interview eine psychische Störung diagnostiziert wurde (n = 36), wiesen gegenüber denjenigen ohne psychiatrische Diagnose (n = 43) allerdings einen signifikant höheren Body Mittelwert Tabelle 5 Skalenmittelwerte im Fragebogen zum Essverhalten (FEV). Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20 Norm Interpretation (n. Westenhöfer) 8,8 mittelgradig Frauen (n = 60) kognitive Kontrolle Störbarkeit 9,3 10,5 5,5 extrem stark 7,6 5,0 stark kognitive Kontrolle 7,8 5,3 stark Störbarkeit 9,7 4,8 extrem stark Hungergefühle 7,6 5,3 stark Hungergefühle Männer (n = 19) 744 Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20 Tabelle 6 Häufigkeit von Heisshungerattacken (n = 79). Originalarbeit % nie 32 selten 23 ein- bis zweimal im Monat 18 einmal pro Woche 19 (fast) jeden Tag 8 Mass Index auf und zeigten statistisch signifikant auffälligere Mittelwerte in sämtlichen Skalen ausser der kognitiven Kontrolle im FEV. Auch zwischen psychosozialen und soziodemographischen Parametern (Alleinleben, Bildungsgrad) zeigte sich kein direkter Zusammenhang. Diskussion Wie einleitend beschrieben, hat morbide Adipositas alle Merkmale einer chronischen Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium. Die Patienten blicken meist auf eine jahre- bis jahrzehntelange Leidensgeschichte zurück. Einschränkungen im funktionalen Status, der Lebensqualität sowie Störungen der psychischen Befindlichkeit gelten als typisch. Morbid adipöse Menschen sind in der heutigen Gesellschaft, in welcher Schlankheit und hohe Eigenverantwortung bei der Erhaltung von Gesundheit einen hohen Stellenwert haben, einem besonderen Stigma ausgesetzt: Sie werden gemeinhin – leider allzuoft auch von Ärzten – als willensschwach und körperlich wenig attraktiv empfunden. Die Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten sind oft rasch erreicht, so dass typische Patientenkarrieren durch überhöhte Zielsetzungen, enttäuschte Erwartungen, Misserfolgserlebnisse und strapazierte Arzt-PatientBeziehungen – alles mögliche Vorboten eines resignierten Rückzugs in ein Randgruppendasein – gekennzeichnet sind. Die Ergebnisse unserer Studie widerspiegeln sowohl den Beschwerdedruck der einzelnen Patienten als auch die Einschränkungen der Lebensqualität dieser Patientengruppe in ausgeprägter Weise. Insbesondere weisen die hohen Mittelwerte der psychometrischen SymptomSkalen sowie die geringe Lebenszufriedenheit auf eine gegenüber der Norm erhöhte psychische Beeinträchtigung und eingeschränkte Lebensqualität hin. Bei der Interpretation dieser Befunde muss jedoch beachtet werden, dass es sich bei der untersuchten Stichprobe um ein Inanspruchnahme-Klientel einer chirurgischen Ambulanz ohne Kontrollgruppe handelt. Bei allen Teilnehmern wurde der ausgeprägte Wunsch nach einer rasch wirksamen bariatrisch-chirurgischen Therapie erkennbar. Da die Patienten wussten, dass der letztliche Entscheid für den Eingriff zumindest teilweise auch vom Ergebnis der psychiatrischen Untersuchung abhing, war ihr Antwortverhalten möglicherweise geprägt durch die Einstellung «Je mehr ich meinem Leiden Ausdruck ver- leihe, um so eher wird man mich operieren». Aus der Literatur ist bekannt, dass morbid Adipöse mit Operationswunsch einen erhöhten Leidensdruck und mehr psychische Störungen aufweisen als solche ohne Behandlungswunsch [20]. Aus grösseren kontrollierten Untersuchungen, insbesondere der eingangs zitierten schwedischen SOS-Studie [11, 21], geht allerdings hervor, dass die psychische Befindlichkeit auch bei morbid Adipösen, die sich primär gegen eine Operation entscheiden, oftmals beeinträchtigt ist und sich in auffälligen Ängstlichkeits- und Depressivitätswerten widerspiegelt. Als wesentliches Ergebnis stellte sich erwartungsgemäss ein bloss geringer Zusammenhang zwischen dem Schweregrad der somatischen Beschwerden und der psychischen Befindlichkeit heraus. Die mässig hohe Korrelation zwischen dem Gesamt-Schwere-Index des SCL-90-R und dem BMI erklärt sich am ehesten durch die im Fragebogen vorkommenden somatischen Items. Die HADS-Skalen, welche sich speziell gut für Patienten mit somatischen Erkrankungen eignen, korrelierten jedoch nicht mit dem BMI. Dieser Befund bestätigt die der Arbeit zugrundeliegende These, dass psychosoziale Merkmale bei der Evaluation von morbid Adipösen wahrscheinlich eine besondere Beachtung verdienen, da sie sich nicht ohne weiteres aus den somatischen Variabeln ableiten lassen. Die klinisch-psychiatrische Untersuchung ergab bei nahezu der Hälfte aller Fälle mindestens eine psychiatrische Diagnose gemäss ICD-10. Diese Patienten zeigten gegenüber den psychiatrisch Unauffälligen erwartungsgemäss auch statistisch signifikant höhere Werte in allen psychometrischen Skalen. Diese hohe Punktprävalenz für psychische Störungen deckt sich mit unseren Erwartungen aufgrund der allerdings immer noch verhältnismässig spärlichen Literatur zur psychischen Morbidität bei morbider Adipositas. So wiesen Black und Mitarbeiter 1992 in einer kontrollierten Untersuchung bei 88 Patienten 745 Originalarbeit eine Lebenszeitprävalenz von 84,1% für irgendeine psychische Störung (versus 49,2% in der Vergleichsgruppe) nach. 62,5% dieser morbid Adipösen – zumeist Frauen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status – erhielten mindestens zwei und 21,2% eine psychiatrische Diagnose, rund 50% hatten eine Persönlichkeitsstörung, 47,7% eine Angststörung, 30,7% affektive Störungen, 22,7% einen Substanzmissbrauch [22]. Obschon diese Untersuchung methodisch einigermassen einwandfrei ist, bietet sie bloss einen groben Anhaltspunkt für unsere Ergebnisse, erstens weil sie in einem anderen soziokulturellen Kontext durchgeführt wurde und zweitens weil bei unserer Studie kein strukturiertes psychiatrischdiagnostisches Untersuchungsinstrument (Interview) zum Einsatz kam, mit welchem nicht bloss die Punkt-, sondern auch die Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen zuverlässig hätte erfasst werden können. Zum weiteren Vergleich bieten sich daher am ehesten einige der neueren Untersuchungen aus der Übersicht von Black an, welche die seit den 60er Jahren relevanten, vor allem in den USA durchgeführten Studien zusammenfasst und Punktprävalenzen von bis zu 80% für Persönlichkeitsstörungen und Depressionen nachweist [22]. Der Autor weist darauf hin, dass mit Zunahme der Stichprobengrösse und Verbesserung der Methodik die Punktprävalenz für psychiatrische Störungen im Laufe der Zeit abnimmt und dass vor allem die älteren Untersuchungen wegen ihres retrospektiven Designs oder mangels einer Kontrollgruppe nur von begrenzter Aussagekraft seien. 1980 fanden Halmi und Mitarbeiter bei 86 Patienten vor einer bariatrischen Operation eine Punktprävalenz von 45% für psychische Störungen auf der DSMIII Achse I (psychiatrische Syndrome) [23]. Larsen beschrieb 1990 in seinem Krankengut von 103 Patienten ebenfalls bei 45% mindestens eine psychiatrische Störung, bei 22% eine Persönlichkeitsstörung, bei 8% eine Depression [24]. Ähnlich wie in unserer Untersuchung zeigt sich eine verhältnismässig niedrige Punktprävalenz für Depressionen; d.h. viele Patienten weisen zum Untersuchungszeitpunkt zwar depressive Symptome und Syndrome auf, ohne jedoch die Kriterien für eine depressive Episode zu erfüllen. Hingegen machen Störungen beim Essverhalten einen relevanten Teil der psychischen Komorbidität bei der untersuchten Patientengruppe aus, was sowohl die hochgradige Auffälligkeit in sämtlichen entsprechenden Skalen als auch der beim psychiatrischen Abklärungsgespräch gewonnene Eindruck widerspiegeln. 746 Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20 Lediglich 5 unserer Patientinnen erfüllten die Kriterien für eine atypische Bulimia nervosa (sämtliche Kriterien ausser selbstinduziertes Erbrechen erfüllt). Bei rund einem Viertel diagnostizierten wir eine Essstörung entsprechend der ICD-Klassifikation. Dabei mussten wir allerdings feststellen, dass die in diesem System vorgesehenen phänomenologischen Beschreibungen meistens zu wenig differenziert und unzureichend waren. Das gestörte Essverhalten adipöser Patienten passt insgesamt nur schlecht in die Klassifikation der Essstörungen der ICD-10-Nomenklatur. Isolierte wiederholte Heisshungerattacken müssen hier unter F50.9 als nicht näher bezeichnete Essstörung klassifiziert werden, da eine eigene Kategorie für ein Binge Eating Disorder (BED), wie sie im Anhang der DSM-IV z.B. vorkommt, fehlt. Vermutlich hätte ein grösserer Teil dieser Patienten die Kriterien für ein Binge Eating Disorder erfüllt, wozu allerdings eine zusätzliche, sehr ausführliche und strukturierte Befragung nötig gewesen wäre. Dennoch steht der Befund des häufig gestörten Essverhaltens im Einklang mit der Literatur [25], wonach ungefähr 20–30% aller in Behandlung stehenden morbid adipösen Patienten klinisch bedeutsame Probleme mit ihrem Essverhalten aufweisen sollen: Häufige und regelmässige Einnahme einer objektiv übergrossen Nahrungsmenge, welche mit einem Gefühl des Kontrollverlusts beim Essen einhergeht. Ebenfalls als charakteristisch gilt ein zirkadian verschobener Mahlzeitenrhythmus mit morgendlicher Anorexie sowie abendlicher Hyperphagie und nächtlicher Insomnie. Eine unserer ersten Patientinnen, die wegen persistierenden Hungergefühlen den Schlaf nicht fand, berichtete nach Einstellung auf Mianserin, ein schlafanstossendes Antidepressivum, nebst Besserung der Schlafstörung von einem eindrücklichen Rückgang ihrer nächtlichen Heisshungerattacken. In den Skalen des Essverhaltens (kognitive Kontrolle, Störbarkeit, Hungergefühle) zeigt die untersuchte Stichprobe erwartungsgemäss ein Muster, welches von extrem hoher Störbarkeit, starken permanenten Hungergefühlen und (rigider) Kontrolle gekennzeichnet ist. Interessant und bedeutsam erscheint uns, dass sich kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen den Skalen für psychische Befindlichkeit (SCL-90, HADS) und den Skalen des Essverhaltens ergab. Die naheliegende Hypothese, dass erhöhte Depressivität oder Ängstlichkeit in dieser Patientengruppe für gestörtes Essverhalten verantwortlich seien, konnte somit nicht bestätigt werden. Eine andere Hypothese wäre, dass gestörtes Essver- Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20 Originalarbeit halten mehr mit dem Erleben des eigenen Körpers und den unterschiedlich ausgeprägten Wahrnehmungen von Innen- und Aussenreizen assoziiert ist. Aus grösseren Untersuchungen ist bekannt, dass für die Entwicklung eines Binge Eating Disorder insbesondere negative Erfahrungen beim Essen in der Kindheit, depressive Eltern, Vulnerabilität für Adipositas und gehäuftes Ausgesetztsein gegenüber negativen Kommentaren zu Aussehen, Gewicht und Essverhalten eine Rolle spielen (26]. Inwieweit diese Faktoren auch für das Essverhalten, insbesondere die häufig berichteten Heisshungerattacken, der Patientinnen unserer Stichprobe massgebend sein könnten, vermochten wir mangels Vergleichs mit einer Kontrollgruppe nicht zu eruieren. Insgesamt zeigt sich bei unseren morbid adipösen Patienten eine im Vergleich zu Normpopulationen deutlich erhöhte psychische Morbidität mit Störungen im Bereich des Essverhaltens und im emotionalen Bereich. Ähnlich wie aus verschiedenen anderen Untersuchungen (Übersicht bei [3, 11, 27–29]) wird auch hier erkennbar, dass die Lebensqualität morbid Adipöser nicht nur durch die körperlichen Beschwerden und Einschränkungen, sondern auch hinsichtlich anderer Bereiche der Gesundheit drastisch eingeschränkt ist und diese Patienten über vergleichsweise geringe Ressourcen zur Bewältigung ihrer schwierigen Lebenssituation verfügen. Auch wenn es sich hier lediglich um eine Querschnittsuntersuchung handelt, so kann aufgrund der langen Krankheitsdauer und diesen psychometrischen Ergebnissen zumindest vermutet werden, dass die festgestellte psychische Komorbidität eher eine Folgeerscheinung als eine Ursache der morbiden Adipositas darstellt. Psychosoziale Auswirkungen der morbiden Adipositas auf die meisten Bereiche sozialen Wirkens, beispielsweise durch die besondere Stigmatisierung adipöser Menschen in unserer Kultur, wurden bereits vor längerer Zeit eingehend beschrieben [30–33], ebenfalls die Assoziation zwischen Adipositas und einem niedrigeren sozioökonomischen Status und sozialer Abwärtsmobilität in der westlichen Welt [34, 35]. Die Interaktion zwischen genetischen und umweltbedingten Faktoren ist dabei allerdings von komplexer Natur [36]. Schlussfolgerungen Trotz des Aufschwungs der bariatrischen Chirurgie [37] und den zumeist optimistisch stimmenden Kurzzeitresultaten [38] ist über den Zusammenhang zwischen psychischer und somatischer Komorbidität vor und nach bariatrischen Operationen noch wenig bekannt. Es existieren dazu nur wenige längerfristig angelegte Verlaufsuntersuchungen [39–41] aus dem skandinavischen und angelsächsischen Raum. Bis heute ist nicht klar, ob und wenn ja welche psychosozialen Variabeln allenfalls eine prädiktive Bedeutung für das Langzeitresultat haben [41]. Bariatrische Operationen greifen sehr direkt und nachhaltig ins Essverhalten und damit in ein äusserst komplexes Verhaltensmuster ein, welches nicht nur durch physiologische und psychologische, sondern auch kulturelle Faktoren determiniert ist. Die Vermutung, dass diese Faktoren, insbesondere der frühere Umgang mit der Adipositas und das Vorhandensein von psychischen Störungen, für das längerfristige Ergebnis eine Rolle spielen könnten, ist deshalb trotz der optimistischen Resultate bei kurzer Beobachtungsdauer vorderhand weder bestätigt, noch widerlegt. Unsere Studie zeigt als wichtiges Resultat, dass bei morbider Adipositas psychische und somatische, Parameter insgesamt nur in geringem Masse korrelieren. Daraus lässt sich ableiten, dass es sich vor allem im Hinblick auf den späteren längerfristigen Verlauf lohnen dürfte, morbid adipöse Patienten nicht nur somatisch, sondern auch umfassend psychiatrisch und psychometrisch zu untersuchen und gegebenenfalls einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung zuzuführen. Unabdingbar erscheint insbesondere auch eine genaue Exploration der Schwierigkeiten des Essverhaltens und der Einstellung zum eigenen Körper zu sein, welche häufig aus Scham verschwiegen werden. Die Untersuchung zeigt auch, dass subjektive Angaben (in standardisierten Selbstbeurteilungsfragebogen) sich als psychologisches Screening eignen, da höhere Scores mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für eine psychiatrische Diagnose korrelieren. 747 Originalarbeit Schweiz Med Wochenschr 2000;130: Nr 20 Literatur 1 McIntyre AM. Burden of illness review of obesity: are the true costs realised? J R Soc Health 1998;118:76–84. 2 Eichholzer M, Lüthy J, Gutzwiller F. Epidemiologie des Übergewichts in der Schweiz: Resultate der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 1992/93. Schweiz Med Wochenschr 1999;129:353–61. 3 Sarlio Lahteenkorva S, Stunkard A, Rissanen A. Psychosocial factors and quality of life in obesity. Int J Obes Relat Metab Disord 1995;19 Suppl 6:S1–S5. 4 Rissanen A, Heliovaara M, Knekt P, Aromaa A, Reunanen A, Maatela J. Weight and mortality in Finnish men. J Clin Epidemiol 1989;42:781–9. 5 NIH conference. Gastrointestinal surgery for severe obesity. Consensus Development Conference Panel. Ann Intern Med 1991;115:956–61. 6 Sjöström CD, Lissner L, Wedel H, Sjöström L. Reduction in incidence of diabetes, hypertension and lipid disturbances after intentional weight loss induced by bariatric surgery: the SOS Intervention Study. Obes Res 1999;7:477–84. 7 Atkinson RL. Proposed standards for judging the success of the treatment of obesity. Ann Intern Med 1993;119: 677–80. 8 Benotti PN, Forse RA. The role of gastric surgery in the multidisciplinary management of severe obesity. Am J Surg 1995;169:361–7. 9 Desaive C. A critical review of a personal series of 1000 gastroplasties. Int J Obes Relat Metab Disord 1995;19 Suppl 3:S56–S60. 10 Kunath U, Memari B. Laparoskopisches «Gastric Banding» zur Behandlung der pathologischen Adipositas. Chirurg 1995;66:1263–7. 11 Sullivan M, Karlsson J, Sjöström L, Backman L, Bengtsson C, Bouchard C, et al. Swedish obese subjects (SOS) – an intervention study of obesity. Baseline evaluation of health and psychosocial functioning in the first 1743 subjects examined. Int J Obes Relat Metab Disord 1993;17:503–12. 12 Derogatis LR (1977) SCL-90-R. Administration, scoring and procedures. Manual-1 for the R(evised) version and other instruments of the psychopathology rating scale series. Johns Hopkins University School of Medicine. Deutsche Version: Collegium Internationale Psychiatriae Scalarum, 1986. 13 Zigmond AS, Snaith RP. The hospital anxiety and depression scale. Acta Psychiatr Scand 1983;67:361–70. 14 Herrmann C, Buss C, Snaith RP. HADS-D Hospital Anxiety and Depression Scale – Deutsche Version. Ein Fragebogen zur Erfassung von Angst und Depressivität in der somatischen Medizin. Testdokumentation und Handanweisung. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Hans Huber; 1995. 15 Huber D, Henrich G, Herschbach P. Measuring the quality of life: a comparison between physically ill patients and healthy persons. Pharmacopsychiatry 1988;21:453–5. 16 Noack H, Bachmann N, Oliveri M, Kopp HG, Udris I. (1991): Fragebogen zum Kohärenzgefühl. Autorisierte Übersetzung des «Sense of Coherence Questionnaire» von Antonovsky (1987). Bern: Institut für Sozial- und Präventivmedizin. 17 Stunkard AJ, Messick S. The three-factor eating questionnaire to measure dietary restraint, disinhibition and hunger. J Psychosom Res 29;1985:71–83. 18 Pudel V, Westenhöfer J. Fragebogen zum Essverhalten (FEV). Handanweisung. Göttingen, Toronto, Zürich: Hogrefe; 1989. 19 Hawkins RC, Clement PF. Development and construct validation of a self-report measure of binge eating tendencies. Addict Behav 1980;5:219–26. 20 Kral JG, Sjöström LV, Sullivan MB. Assessment of quality of life before and after surgery for severe obesity. Am J Clin Nutr 1992;55:611S–614S. 748 21 Karlsson J, Sjöström L, Sullivan M. Swedish Obese Subjects (SOS) – an intervention study of obesity. Measuring psychosocial factors and health by means of short-form questionnaires. Results from a method study. J Clin Epidemiol 1995;48:817–23. 22 Black DW, Goldstein RB, Mason EE. Prevalence of mental disorder in 88 morbidly obese bariatric clinic patients. Am J Psychiatry 1992;149:227–34. 23 Halmi KA, Long M, Stunkard AJ, Mason E. Psychiatric diagnosis of morbidly obese gastric bypass patients. Am J Psychiatry 1980;137:470–2. 24 Larsen F. Psychosocial function before and after gastric banding surgery for morbid obesity. A prospective psychiatric study. Acta Psychiatr Scand 1990;Suppl 359:1–57. 25 Saunders R. Binge eating in gastric bypass patients before surgery. Obes Surg 1999;9:72–6. 26 Fairburn CG, Doll HA, Welch SL, Hay PJ, Davies BA, O’Connor ME. Risk factors for binge eating disorder: a community-based, case-control study. Gen Psychiatry 1998; 55:425–32. 27 Fontaine KR, Cheskin LJ, Barofsky I. Health-related quality of life in obese persons seeking treatment. J Fam Pract 1996; 43:265–70. 28 Kolotkin RL, Head S, Hamilton M, Tse CK. Assessing impact of weight on quality of life. Obes Res 1995;3:49–56. 29 Robinson BE, Gjerdingen DK, Houge DR. Obesity: a move from traditional to more patient-oriented management. J Am Board Fam Pract 1995;8:99–108. 30 Staffieri JR. A study of social stereotype of body image in children. J Pers Soc Psychol 1967;7:101–4. 31 Maddox GL, Back KW, Liederman WR. Overweight as social deviance and disability. J Health Soc Behav 1968;9: 287–98. 32 Allon N. Self-perceptions of the stigma of overweight in relationship to weight-losing patterns. Am J Clin Nutr 1979; 32:470–80. 33 Stunkard AJ, Wadden TA. Psychological aspects of severe obesity. Am J Clin Nutr 1992;55:524S–532S. 34 Sobal J, Stunkard AJ. Socioeconomic status and obesity: a review of literature. Psychol Bull 1989;105:260–75. 35 Gortmaker SL, Must A, Perrin JM, Sobol AM, Dietz WH. Social and economic consequences of overweight in adolescence of young adulthood. N Engl J Med 1993;329: 1008– 12. 36 Sörensen TIA. Socio-economic aspects of obesity: causes or effects? Int J Obes Relat Metab Disord 1995;19 Suppl 6: S6–S8. 37 Mason EE, Tang S, Renquist KE, Barnes DT, Cullen JJ, Doherty C, et al. A decade of change in obesity surgery. Obes Surg 1997;7:189–97. 38 Schlumpf R, Lang T, Schöb O, Röthlin M, Kacl G, Zollinger A, et al. Treatment of the morbidly obese patient with laparoscopic adjustable gastric banding. Dig Surgery 1997;14: 438–43. 39 Lovig T, Haffner JF, Kaaresen R, Nygaard K, Stadaas JO. Gastric banding for morbid obesity: five years follow-up. Int J Obes Relat Metab Disord 1993;17:453–7. 40 Waters GS, Pories WJ, Swanson MS, Meelheim HD, Flickinger EG, May HJ. Long-term studies of mental health after the Greenville gastric bypass operation for morbid obesity. Am J Surg 1991;161:154–7. 41 Hsu LK, Benotti PN, Dwyer J, Roberts SB, Saltzman E, Shikora S, et al. Nonsurgical factors that influence the outcome of bariatric surgery: a review. Psychosom Med 1998; 60:338–46.