KlassikerHeft44Debussy + HoneggerkorrBann21.11.07

Werbung
Ö1-KLASSIKER
DEBUSSY + HONEGGER
MEDIENBEGLEITHEFT zur CD
Claude Debussy (1862-1918)
Prélude à l’après-midi d’un faune, 08.55 Minuten
Quartett für Streicher g-Moll op. 10, 24.38 Minuten
La Mer – Drei symphonische Skizzen, 23.11 Minuten
Arthur Honegger (1892-1955)
Jeanne d’Arc au bûcher, 69.04 Minuten
12144
Ö 1-KLASSIKER:
DEBUSSY + HONEGGER
Das vorliegende Heft ist die weitgehend vollständige Kopie des Begleitheftes zur CD
Konzept der Zusammenstellung von
Dr. Haide Tenner, Dr. Bogdan Roscic, Lukas Barwinski
Executive Producer:
Martin Kienzl
Musik Redaktion:
Dr. Gustav Danzinger, Dr. Robert Werba, Albert Hosp, Mag. Alfred Solder
Text:
Ursula Magnes
Lektorat:
Michael Blees
Grafikdesign:
vektorama.
Fotorecherche:
Österreichische Nationalbibliothek/ Mag. Eva Farnberger
Fotos:
ORF, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv
Herausgeber der CDs und der Begleithefte:
Universal Music GmbH, Austria 2007
Besonderen Dank an:
Prof. Alfred Treiber, Mag. Ruth Gotthardt, Dr. Johanna Rachinger,
Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek
Medieninhaber und Herausgeber des vorliegenden Heftes:
Medienservice des
Bundesministeriums für
Unterricht, Kunst und Kultur
1014 Wien, Minoritenplatz 5
Bestellungen:
Tel. 01/982 13 22-310, Fax. 01/982 13 22-311
E-Mail: [email protected]
2
Ö 1-KLASSIKER:
DEBUSSY + HONEGGER
CLAUDE DEBUSSY
»VERKAUFSSCHLAGER: IMPRESSIONISMUS«
Claude Debussy kreierte aus der überschäumenden Verehrung für Richard Wagner, welche
durch den Einfluss Erik Saties etwas abgedämpft wurde, der Wertschätzung seiner barocken Vorgänger und der Farbigkeit fernöstlicher Musik etwas Neues: den musikalischen
Impressionismus. Eine Etikettierung, die ihn nicht glücklich, aber berühmt machte.
Bestimmte Titel seiner Werke, wie beispielsweise »Estampes« (Kupferstiche) oder
»Images« (Bilder) legen es nahe, seine Art des Komponierens mit dem bildnerischen
Schaffen eines Claude Monet, Auguste Renoir oder Camille Pisarro in Verbindung zu
bringen, über Parallelen nachzudenken. Josef Häusler fasst die Spurensuche – in deutlicher
Opposition Debussys zur deutschen Spätromantik – im Wesentlichen zusammen: »Der
Gebrauch, den Debussy von Wagner'schen Errungenschaften macht, ist tief bezeichnend; er
zeigt, dass Debussy die Einflüsse zu etwas ganz und gar Eigenem umformt. Nicht anders
verhält es sich mit Chopin und Liszt, ohne deren Vorbild seine Klaviermusik, insbesondere
die >Images<, die Préludes und die Etüden nicht denkbar wären; es verhält sich so mit
Mussorgsky und auch mit den beiden französischen Meistern, die Debussy je länger, desto
mehr verehrte: Couperin und Rameau.«
In seinen 1976 veröffentlichten »Anhaltspunkten« schreibt Pierre Boulez, der sich aus der
Tradition Debussy kommend sieht: »Müssen wir demnach die Trias Debussy-CézanneMallarmé als Wurzel aller Modernität ansehen? Wir würden diese These gerne aufgreifen,
hätte sie nicht einen leicht autarken Anstrich. Doch nach diesen drei großen Meistern traten
andere Große auf den Plan, deren Umwälzungen stärker in die Augen sprangen. Die
zeitgenössische Wahrheit – oder das zeitgenössische Schaffen – verlangte Ungestüm,
beinahe Demonstration: notwendige Oberflächenschocks, welche die verschiedenen neu
aufgetretenen Aspekte dieser Wahrheit von Grund auf veränderten. Jetzt, wo mit Axtschlägen geformt ein neues Gestaltungsprinzip hervorgetreten ist, sieht man sich – was
Ruhm und Revolution angeht – merkwürdigen Überraschungen ausgesetzt: Man wird
zunächst skeptisch gegenüber dem Befund, dass diese brüsken und gewaltsamen Veränderungen jene Wandlungen beiseite gedrängt haben sollen, die zwar im Augenblick
weniger spürbar, auf weite Sicht aber umso umwälzender sind.«
PRÉLUDE À L'APRÈS-MIDI D'UN FAUNE:
DURCH UND DURCH EROTISCH
Bereits während seiner Studienzeit galt Claude Debussy (1862-1918) als »gefährlicher Revolutionär«, der seine Kollegen mit seinen musikästhetischen Vorstellungen gehörig unter
Druck setzte: »Seid ihr nicht imstande, Akkorde zu hören, ohne nach ihrem Pass und ihren
besonderen Kennzeichen zu fragen? Woher kommen sie? Wohin gehen sie? Hört sie an;
das genügt!«
Ursprünglich hätte er die Bühnenmusik zu Stéphane Mallarmés symbolistischem Gedicht
»Nachmittag eines Faunes« schreiben sollen. Die geplante Theaterfassung wurde allerdings nie realisiert und in Folge komponierte Debussy das »Vorspiel zum Nachmittag
eines Fauns«, den einzig realisierten Teil eines geplanten Triptychon »Prélude, Interlude
et Paraphrase finale pour l'après-midi d'un faune«. Seit dessen Pariser Uraufführung
am 22. Dezember 1894 wird das gut 10-minütige Werk von vielen als Beginn der
musikalischen Moderne bezeichnet, als »Umsturz im musikalischen Empfinden«.
3
»Nach der Flöte des Fauns atmet die europäische Musik anders«, bringt es Pierre Boulez
auf den Punkt.
Claude Debussy
Claude Debussys Grab,
Friedhof von Passy, Paris
Stéphane Mallarmé, mit dem Debussy eng befreundet war, übte sich als ein leidenschaftlicher Konzertbesucher und fand sein poetisches Ideal in der Musik, »die wir ausbeuten
und paraphrasieren müssen, wenn unsere eigene sprachlos gewordene Musik nicht ausreicht.« Im Zentrum seines Gedichtes stehen die erotischen Fantasien eines Fauns. Aus
dem Nachmittagsschlaf erwachend, sinniert er [der Faun] darüber, was er am Morgen
erlebt oder vielleicht doch nur geträumt hatte. Er erinnert sich, dass er zwei Nymphen
entdeckte, als er eine Panflöte anfertigte, und sie anschließend verfolgte. Zwar flüchteten
diese, doch er eroberte zwei andere und verschleppte sie auf eine Lichtung. Der Faun ist
sich nicht mehr sicher darüber, was dort geschah – aber auch diese entkamen. Er schwankt
zwischen Reue über seine Tat und Rechtfertigung seines sehnsüchtigen Verlangens. Am
Abend bricht das Schuldgefühl nochmals intensiv durch, verbunden mit der Angst, sich
möglicherweise an der Göttin Venus vergangen zu haben und dafür schwer bestraft zu
werden. Endlich überkommt den mittlerweile von Wein schweren Faun erneut der Schlaf.
Er ruft den Nymphen Lebewohl und kehrt in den Traum des Morgens zurück: »Du Paar leb
wohl; ich werd dich schaun in deinem Schattenbund.«
Stéphane Mallarmé
Debussy erzählt nicht bloß die Geschichte, ganz bewusst übersetzt er die gleißenden
Stimmungen in Musik: der sich windende Faun findet sich im immer wiederkehrenden
Thema der Soloflöte, flirrende Akkorde spiegeln das Flimmern schwüler Sommerluft und
zeichnen eine Landschaft mit prallem Sonnenlicht. Es entsteht eine Impression, die
Debussy mit dem präzisen Einsatz musikalischer Mitteln erreicht. Durch seine Orchestrierung färbt er die Partitur, hebt den Akkord aus seiner tonalen »Verantwortung« und
verwendet ihn als Klangfarbe durch Fünf- und vor allem durch die für ihn typischen
Ganztonreihen.
4
Pierre Boulez, Komponist, Dirigent und trotz seines bereits hohen Alters ewig junger
Verfechter der Moderne, nahm das kurze bahnbrechende Werk schon 1966 mit dem New
Philharmonia Orchestra auf. Die Aufnahme mit dem Cleveland Orchestra aus dem Jahr
1991 geriet etwas zügiger als die erstere und in den vielen kleinen Phrasen innerhalb des
großen musikalischen Flusses noch transparenter. Schon Debussy selbst ärgerte sich über
die sich alles drüberstülpende Bezeichnung »Impressionismus« – gleich dem Ausleeren
eines gewaltigen, aber nur scheinbar undifferenzierten Farbtopfes.
QUARTETT FÜR STREICHER G-MOLL OP. 10:
ZÖGERLICHE BEGEISTERUNG
Das Streichquartett in g-Moll op. 10 entstand 1893 und wurde am 29. Dezember des
Jahres durch das Ysaÿe-Quartett uraufgeführt. Erst durch eine zweite Aufführung durch das
Guarneri-Quartett konnte die anfänglich nur zögerliche Begeisterung des Publikums und
einzelner Kritiker überwunden werden. Was den einen missfiel – besonders Ernest
Chausson äußerte sich sehr kritisch und forderte Debussy auf, ein weiteres Quartett zu
schreiben – gefiel den anderen. Einer davon war Paul Dukas, drei Jahre jünger als Debussy.
Er anerkannte ihn schon früh als maßgebenden schöpferischen Geist: »Alles darin ist klar
und deutlich gezeichnet, trotz großer formaler Freiheit. Debussy zeigt eine besondere
Vorliebe für Verknüpfungen klangvoller Akkorde und für Dissonanzen, die jedoch
nirgends grell, vielmehr in ihren komplexen Verschlingungen fast noch harmonischer als
selbst die Konsonanzen wirken; die Melodie bewegt sich, als schreite sie über einen
luxuriösen, kunstvoll gemusterten Teppich von wundersamer Farbigkeit, aus dem alle
schreienden und unstimmigen Töne verbannt sind.«
Claude Debussy wiederum zeigte sich alias Monsieur Croche, frei übersetzt als »Herr
Achtelnote«, ebenso wohlwollend gegenüber den Werken seines Kollegen: »Seine Musik
gleicht den vollkommenen Linien der Architektur, Linien, die ineinander fließen und sich
mit den farbigen Räumen der Luft und des Himmels zu einer totalen Harmonie vereinen.«
Der Sammelband »Monsieur Croche antidilettante«, in welchem die Musikkritiken
Debussys veröffentlicht wurden, erschien erstmals 1921 in einer kleinen Auflage von 500
Exemplaren. Die feinsinnigen und scharfzüngigen Texte geben dem Leser von heute einen
interessanten Einblick in die Musikästhetik Debussys: »Sehen Sie, einige große Männer
bringen mit geradezu hartnäckigem Starrsinn immer wieder Neues hervor; viele andere dagegen tun fortwährend und ebenso hartnäckig immer nur das, womit sie einmal Erfolg
hatten: Ihre Geschicklichkeit lässt mich kalt. Man rühmt sie als Meister! Aber das ist nur
eine höfliche Art, sie sich vom Hals zu schaffen, oder ihnen ihre allzu gleichförmigen
Kunstgriffe nachzusehen. Auf jeden Fall versuche ich, die gängige Musik zu vergessen,
weil sie mich daran hindert, jene zu hören, die ich noch nicht kenne oder erst morgen
kennen werde. Warum sich an das halten, was man nur zu gut kennt?«
Das Emerson String Quartet, benannt nach dem amerikanischen Transzendentalphilosophen Ralph Waldo Emerson, wurde 1976 von vier Absolventen der New Yorker Juilliard
School gegründet. Das unkonventionelle Ensemble, erster und zweiter Geiger wechseln
sich ab, besticht durch beseelte Präzision. Voraussetzungen, die der 1984 entstandenen
Debussy-Aufnahme besonders zugute kommen.
5
LA MER – DREI SYMPHONISCHE SKIZZEN:
PHANTASIEN EINES MATROSEN
Schon 1892 komponierte der Belgier Paul Gilson vier symphonische Skizzen unter dem
Titel »La Mer«. Claude Debussy hat sich diesen schlichtweg ausgeborgt und darunter drei
wassertriefende Freiluft-Episoden zusammengefasst: »Von der Morgendämmerung bis zum
Mittag auf dem Meer«, »Spiel der Wellen« und »Dialog zwischen Wind und Meer«. Die
Uraufführung fand drei Jahre nach der Oper »Pelléas et Melisande« am 15. Oktober 1905
ebenfalls in Paris statt. Frei nach Johann Wolfgang von Goethe und ganz im Sinne
Debussys »hat die Natur immer Recht«, ist es »nützlicher einen Sonnenaufgang zu betrachten, als Beethovens Pastorale zu hören.« Die Inspiration zu »La Mer« erhielt Debussy
bereits als Sechsjähriger, er wollte Matrose werden, während eines längeren Aufenthaltes
in Cannes. So schreibt er in einem Brief vom 12. September 1903 an André Messager: »Sie
wissen vielleicht nicht, dass ich eigentlich den schönen Beruf des Seemanns ergreifen
wollte und dass mich nur die Zufälle des Lebens auf einen anderen Weg brachten.
Trotzdem habe ich mir für das Meer eine besondere Zuneigung bewahrt. Sie werden
vielleicht einwenden, dass der Ozean nun nicht gerade die Hügel Burgunds umspült ...!
Und dass das alles wie ein im Atelier gemaltes Landschaftsbild wirken könnte! Aber ich
habe unzählige Erinnerungen; das zählt meiner Meinung nach mehr als jede Wirklichkeit,
deren Zauber unsere Phantasie meist zu sehr belastet.«
Verarbeitet hatte er diese in der Normandie, in der Kanalhafenstadt Dieppe. Im Gegensatz
zu Richard Strauss, dessen symphonische Dichtungen er als Bilderbücher oder sogar Filme
bezeichnete, versuchte er das Geheimnishafte der Natur in Musik zu übersetzen: »Musik ist
eine freie Kunst, frei hervorsprudelnd, eine Pleinair-Kunst, eine Kunst nach dem Maß der
Elemente, des Windes, des Himmels, des Meeres!« Bewegt war in jenen Jahren auch sein
Privatleben. Nachdem er 1904 mit Emma Bardac auf die Insel Jersey floh, unternahm seine
Ehefrau Lily Texier einen Selbstmordversuch.
Die Begegnung mit asiatischer Kunst und Musik war für Debussy sehr bedeutsam. So
wählte er den Holzschnitt »Die große Welle vor Kanawaga« des japanischen Meisters
Katsushika Hokusai als Titelbild für die Erstausgabe von »La Mer«.
Sir Georg Solti prägte das Chicago Symphony Orchestra in der Nachfolge Fritz Reiners
22 Jahre lang bis zu seinem Rücktritt 1991. Seine Debussy-Interpretation ist geprägt von
technischer Perfektion und der ihm innewohnenden Impulsivität.
ARTHUR HONEGGER: »ICH BIN KOMPONIST«
Als Sohn einer deutsch-schweizer Handelsfamilie wurde für Arthur Honegger die
Aufführung von Bach-Kantaten durch André Caplet in seiner Heimatstadt Le Havre zur
lnitialzündung, Komponist und Musiker werden zu wollen. Die Bach’sche Ernsthaftigkeit
und Tiefe der musikalischen Aussage und ihre Gestaltung unterschied ihn auch im Wesentlichen von anderen Mitgliedern der »Groupe des Six« – ein französisches Gegenmodell
zum »Mächtigen Häuflein« aus St. Petersburg; 1920 herbeigeschrieben durch den Musikkritiker Henri Collet in dem Aufsatz »Les Cinq Russes, les six Français et Satie«. Dazu
bemerkte der amerikanische Musikschriftsteller Benjamin Irvy, dass »im Gegensatz zur
landläufigen Meinung über die >leichtherzige< Attitüde der Gruppe zumindest einer der
>Six<, Arthur Honegger, jene schwere religiöse Musik liebte, die seine Freunde, wie
Cocteau behauptete, hinter sich lassen wollten.«
6
Arthur Honegger
In einem Gespräch mit Bernard Gavoty, der Arthur Honegger auch zu weiteren schriftlichen Ausführungen über Beruf, Handwerk und Kunst anregte, erschienen 1952 in dem
Büchlein »Ich bin Komponist«, äußert sich Honegger über das in der Tradition verankerte
Werden seiner Werke: »Geniale Meister wie Bach haben die Werke ihrer Vorgänger
übertragen und daraus geschöpft. Heute verlangt man von Komponisten, dass er Eigenes
beibringt: es ist vollkommen überflüssig, die Sonate eines anderen nachahmen zu wollen.
Der Komponist muss im Abstrakten einen eigenen Vorwurf finden und ihn im Geiste
ausbauen. Aber dieser Vorwurf wird keine endgültige Gestalt haben können, bevor er
verwirklicht ist, denn je nach dem Material, das dazu verwendet wird, kann auch die Gestaltung des Vorwurfs sich verändern. Plötzlich bekommt die Figur eine andere Nase. Ihr
Aussehen, ihre Proportionen ändern sich und zwingen mich, die schöne nackte Dame in
einen Leoparden zu verwandeln.«
JEANNE D'ARC AU BÛCHER: NATIONALES MYSTERIUM
Neben fünf Symphonien, Opern, Operetten, Balletten, Filmmusik und dem dramatischen
Psalm »Le roi David«, in der ersten Fassung uraufgeführt 1921 im schweizerischen Freilufttheater Mezières, gehört das Bühnenoratorium »Johanna auf dem Scheiterhaufen«
»Die heilige Johanna
auf dem Scheiterhaufen«
Wiener Staatsoper im Theater
an der Wien, 1950
nach einer Dichtung von Paul Claudel zweifellos zu Honeggers wichtigsten und bekanntesten Kompositionen. Die legendäre Tänzerin und Ballett- wie Theaterunternehmerin Ida
Rubinstein hat das szenische Werk, angeregt durch ein mittelalterliches Mysterienspiel an
der Pariser Sorbonne, in Auftrag gegeben. Die Annäherungen an die französische Nationalheilige konnten unterschiedlicher nicht sein: Paul Claudel, der katholische Mystiker, lehnte
zuerst sogar ab, da er es nicht wagte »die historische Gestalt der Jungfrau von Orleans in
einen fiktiven Rahmen zu stellen.« Nach der Vision eines Kreuzzeichens während einer
7
Bahnfahrt begann er schließlich doch am Libretto zu arbeiten und so konnte der Schweizer
Calvinist Honegger im Sommer 1934 mit der Vertonung für eine russische Jüdin beginnen.
Paul Claudel
»Jeanne d’Arc vor dem
König von Frankreich«
Claudel hatte ganz genaue Vorstellungen vom musikalischen Ablauf des Oratoriums und
der Komponist Honegger war bereit, sich kreativ unterzuordnen: »Die ganze musikalische
Atmosphäre ist geschaffen, die Partitur entworfen, und der Komponist braucht sich nur
führen zu lassen, um all das Klang werden zu lassen. Es genügt Claudel wieder und wieder
seinen Text lesen zu hören. Er tut dies mit einer so plastischen Kraft, dass sich für jeden,
der nur auch ein bisschen musikalische Phantasie hat, das ganze musikalische Relief daraus
ergibt. Tatsächlich war Claudels Anteil an >Jeanne d'Arc au bûcher< so groß, dass ich
mich nicht als den eigentlichen Autor des Werkes betrachte, sondern nur als einen bescheidenen Mitarbeiter.«
Ausgehend vom Tag der Hinrichtung Jeanne d'Arcs am 30. Mai 1431 erzählt Claudel ihr
Schicksal in einer Folge nicht chronologisch ineinander übergehender Szenen aus ihrem
Leben. Die einzig reale Gestalt bleibt sie selbst, umgeben von symbolträchtigen Figuren,
abstrakten Anspielungen und Allegorien. Honegger besetzt das Orchester mit dreifachem
Holz, drei Alt-Saxophonen anstelle der Hörner, zwei Klavieren, Celesta und den elektronischen Ondes Martenot und erreicht damit eine Vielzahl an möglichen Klangfarben. Das
musikalische Material ist so vielschichtig wie das erzählte Schicksal. Honegger verwendet
unter anderem die gregorianische Antiphon »Aspiciens a longe« (8. Szene), das lothringische Volkslied »Trimazô« (10. Szene), barocke Tänze und verzerrte Jazz-Rhythmen,
die besonders im Tiergericht (4. Szene) die Wahl des Schweins (»cochon«) zum
Vorsitzenden kommentieren. Es ist ein ironischer Verweis auf den Bischof von Beauvais,
Pierre Cauchon, der im historischen Prozess eine sehr zwielichtige Haltung einnahm.
Nach der konzertanten Uraufführung 1938 durch Paul Sacher in Basel mit Ida Rubinstein
in der Hauptrolle, erlebte das Werk im neutralen, von den Wirren des Zweiten Weltkriegs
fernen Zürich, am 13. Juni 1942 seine szenische Uraufführung. Der bedeutende Musik- und
vor allem Filmkritiker Émile Vuillermoz zeigte sich begeistert: »Was für eine Abwechslung in der Wahl des Materials! Skandierte Worte, Choräle, Murmeln, Schreien, Psalmodieren, Chöre mit geschlossenem Mund, gesprochene und gesungene Wutausbrüche,
himmlische Stimmen, Klänge, die abwechselnd dumpf und drohend und kristallklar sind.«
Nach dem Krieg, währenddessen das Ensemble »Chantier orchetral« das nicht unpolitische
Werk um die verlorene Einheit Frankreichs auf einer Tournee in über vierzig Städten im
unbesetzten Teil des Landes aufführte, fügten Claudel und Honegger noch einen Prolog
hinzu, der Jeanne als Retterin Frankreichs preist. Diese finale Fassung wurde erstmals am
8
18. Dezember 1950 an der Pariser Opéra aufgeführt. Wie in vielen seiner anderen Werke,
verbindet Honegger den Anspruch verstanden zu werden, ohne sich an den Publikumsgeschmack anbiedern zu müssen: »Mein Wunsch und mein Ziel waren es immer, eine
Musik zu schreiben, die zwar verständlich für die breite Masse sein soll, aber doch so weit
frei von Banalität, dass auch die wirklichen Musikfreunde ihren Reiz an ihr finden.«
Die Live-Aufnahme mit Seiji Ozawa und dem Orchestre National de France vom Festival
de Saint Denis aus dem Jahr 1989 mit der herausragenden Marthe Keller als Sprecherin gilt
künstlerisch wie technisch als absolute Referenzaufnahme des Werkes.
Arthur Honegger bei einer Regiebesprechung, 1949
9
Herunterladen