Der LANGE WEG ZUR URAUFFÜHRUNG

Werbung
Der LANGE WEG ZUR URAUFFÜHRUNG
Zwei Kurzopern von Claude Debussy erleben in Göttingen nach fast 100 Jahren
ihre eigentliche Uraufführung
Die äußerst erfolgreiche Uraufführung seiner Oper „Pelléas et Mélisande“ im Jahre 1902 in
Paris war für Claude Debussy Ansporn genug, sich umgehend einem neuen Opernprojekt zu
widmen. Eine Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe hatte sein Interesse geweckt: „Le diable dans
le beffroi“ („Der Teufel im Glockenturm“). Und nachdem im Jahr 1908 auch die amerikanische
Uraufführung von „Pelléas et Mélisande“ am Manhattan Opera House in New York mit
größtem Beifall aufgenommen wurde – ein Erfolg, der die konkurrierende Metropolitan Opera
dazu veranlasste, sich bei Debussy die Erstaufführungsrechte zweier weiterer Opern zu sichern –
fügte Claude Debussy zum bereits begonnenen „Le diable dans le beffroi“ einen weiteren
Stoff Edgar Allan Poes hinzu, mit dem er sich gedanklich bereits seit den 1890er-Jahren
beschäftigte: „La chûte de la maison Usher“ („Der Untergang des Hauses Usher“): ein Werk,
das oft als Mutter aller modernen Kurzgeschichten bezeichnet wird. Debussy ließ sich
vertraglich bestätigen, dass beide Werke nur im Verbund an ein und demselben Abend zur
Aufführung kommen dürften. Zustande gekommen ist diese Aufführung jedoch bis heute
nicht. Zwar findet sich eine entsprechende Ankündigung beider Stücke für die Saison
1911/1912 auch im Spielplan der Komischen Oper in Paris, wo es jedoch ebenso wie in New
York nie zur Premiere kommen sollte.
Die Arbeit an beiden Werken nahm, auch vor dem Hintergrund der Krebserkrankung
Debussys, schließlich die ganze Kraft des Komponisten in Anspruch, fast bis zur Obsession. So
schreibt er 1909 in einem Brief: „… ich ließ mich dazu hinreißen, mich nur noch um ,Roderick
Usher‘ und den ,Teufel im Glockenturm‘ zu kümmern… Ich schlafe mit ihnen ein, und wenn
ich wieder aufwache, begrüßen mich die düstere Melancholie des einen und das Hohngrinsen
des anderen!“ Doch 1915, nach einer Operation, die keine Besserung brachte, notiert der
schwer Erkrankte: „… Ich war dabei – oder fast dabei – ,La chute de la maison Usher‘ zu
vollenden: die Krankheit hat meine Hoffnung ausgelöscht... Ich finde mich schwer mit dieser
Wendung meines Schicksals ab, und ich leide wie ein Verdammter!“ Debussy starb 1918 und
hinterließ beide Opern als Fragmente, die einen der größten Komponisten des 19. und 20.
Jahrhunderts und zentralen Wegbereiter der Moderne auf dem Gipfel seiner Meisterschaft zeigen.
DAS SymphonieOrchester Niedersachsens
Für den Inhalt dieser Presseinformation verantwortlich/Kontakt für weitere Informationen
Göttinger Symphonie Orchester GmbH, Carola Kasten, Godehardstraße 19 – 21, 37081 Göttingen,
Telefon 05 51/3 05 44-12, Fax 05 51/3 05 44-20, E-Mail [email protected], www.gso-online.de
Dem international anerkannten Musikwissenschaftler Robert Orledge ist es gelungen, in einem
mehrjährigen Prozess diese beiden Debussy-Opern zu komplettieren und zu orchestrieren,
sodass sie zur Aufführung gebracht werden können. Ein Problem etwa war, dass Debussys
zweite Frau Emmy die Kompositionsskizzen zum „Fall des Hauses Usher“ nach seinem Tod
seitenweise an Freunde verschenkt hatte und einige davon vor einigen Jahren erst entdeckt
wurden. Beispielsweise, so erzählt Robert Orledge, der Entwurf der Szenen 1-2, die in der
Bibliothèque Nationale de France zum Vorschein kamen: Sie enthalten nur wenige Angaben zu
Tonarten oder zur Artikulation, nichts zur Dynamik oder den Tempi, und auch der Text ist oft
unvollständig, obwohl er sich dann gut von Debussys Libretto ableiten ließ.
Und in diesem Libretto, so verdeutlicht Robert Orledge weiter, hat Claude Debussy Poes
Geschichte von einem dramatischen Monolog aus der Sicht von Roderick Ushers Freund in
eine düstere, straffe und durchaus abwechslungsreiche Oper verwandelt. Auch die Rolle von
Ushers Hausarzt ist wesentlich erweitert worden. Er wird fast zu einer Art Monster, genannt
„Le Médecin“, wird quasi zum Rivalen in der unnatürlichen Liebe Rodericks zu seiner
Schwester. Und „Le Médecin“ ist es auch, der Madeleine schließlich bei lebendigem Leib
begräbt, während sie sich in einem ihrer todesähnlichen Trance-Zustände befindet: ein
elementarer Unterschied zu Edgar Allan Poes Geschichte. Die Handlungsspanne von mehr als
einer Woche (bei Poe) wurde von Debussy auf nur noch 45 Minuten verkürzt. Und als
geradezu kühn wertet Robert Orledge die Besetzung von Roderick und seinem Freund mit
zwei Baritonen, so dass sie in Form musikalischer gegenseitiger Reflexionen agieren. In
musikalischer Hinsicht schafft Debussy in diesen Fragment gebliebenen Spätwerken einen
neuen und komplexen harmonischen Stil, der sich gelöst hat von der verzauberten
symbolistischen Welt der „L'après-midi d'un faune“, und eintaucht in die düstere,
introvertierte, aber hochdramatische Welt des Hauses Usher.
Der Aufwand, eine sinnvolle und spielbare Fassung zu erstellen, war beim „Teufel im
Glockenturm“ noch wesentlich größer. Robert Orledge entschloss sich daher, Stephen Wyatt
hinzuzuziehen, der Debussys Szenario zu einem Sinn stiftenden Libretto erweiterte – zumal
sich Debussy schon in der zweiten Szene seiner Kurzoper von der ursprünglichen Geschichte
Edgar Allan Poes löst: Hier reißt der Teufel die Dorfbewohner mit dem dreizehnten
Glockenschlag sozusagen aus der Zeit, aus ihrer gewohnten Ordnung, und entfesselt in ihnen
ein Gefühl der sexuellen und emotionalen Befreiung. Orledge und Wyatt waren darauf
bedacht, nicht nur den kollektiven Wahnsinn zu zeigen, „als habe das ganze Dorf Exstacy oder
Kokain geschluckt“, wie Stephen Wyatt sich ausdrückt. Vielmehr ging es ihnen darum,
basierend auf einer ganzen Reihe kurzer rhythmischer Linien die individuellen Merkmale der
Dorfbewohner aufrecht zu erhalten. Auch am Schluss der Oper, wenn der Teufel besiegt ist,
haben sich Orledge und Wyatt eine veränderte Akzentuierung erlaubt. Hier erschien ihnen
das ursprüngliche Ende zu flach, wenn, nachdem die Glocken wieder zwölf Mal schlagen, alle
Dorfbewohner ihre Uhren richtig stellen, die gewohnte Ordnung wieder einkehrt und die
Schulkinder ein Volkslied anstimmen, das schon zu Beginn zu hören ist. „Deshalb bringen wir“,
so Robert Orledge, „mit einem prägnanten musikalischen Akzent den grinsenden Teufel
nochmals ins Spiel in der Hoffnung, Debussy hätte dagegen nichts einzuwenden gehabt.“
Zumal mit dieser vervollständigten Fassung vom „Teufel im Glockenturm“ endlich auch die
humorvollen und extrovertierten Facetten im Schaffen von Claude Debussy hörbar gemacht werden.
DAS SymphonieOrchester Niedersachsens
Herunterladen