Die ganze Kritik als pdf - Kinowerkstatt St. Ingbert

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Name: kai_hp07_kult.01
Ausgabe rhp-kai
Erstellt von: dittgea
Ressort
kult ()
PDF erstellt 19.07.2017 17:09:06
Erscheint am Mittwoch, 28. Juni 2017
DLayName:
kai_hp07_kult.01
KULTUR
DIE RHEINPFALZ — NR. 147
MITTWOCH, 28. JUNI 2017
Total von der Rolle
Sammlung Gurlitt:
Erste Werke
in Bonn präsentiert
KINO AKTUELL: „Axolotl Overkill“ von Helene Hegemann hat nur bedingt mit ihrem Roman zu tun
VON ANDREA DITTGEN
„Steh auf, Fotze, und verbeug’ dich!“,
sagt Mifti, die 16-jährige Schülerin, zu
der jungen blonden Frau, die ihr in
der Schulkantine keine zweiten Nachtisch geben will. Wenig später wird
sie ihre beste Freundin. Wer solche
Widersprüche mag, wird in „Axolotl
Overkill“ von Helene Hegemann bestens bedient. Der Film hat mit ihren
Skandalroman „Axolotl Roadkill“
(2010) nur bedingt zu tun, deshalb
heißt er auch ein wenig anders.
Wie im Roman ist Mifti (Jasna Fritzi
Bauer) 16 Jahre alt und wohnt nach
dem Tod der Mutter mit ihren zwei erwachsenen Halbgeschwistern in Berlin
in einer Wohngemeinschaft. Damit
Mifti morgens aus dem Bett kommt
und danach in die Schule, schüttet ihr
die Halbschwester (Laura Tonke, zweifacher deutscher Filmpreis 2016) schon
mal einen Eimer Wasser ins Bett. Aber
das hilft nicht wirklich. Wenn sie es in
die Schule packt, eckt sie an, nennt ihren Lehrer beim KZ-Ausflug „Führer“,
verhaut schon mal einen Mitschüler
und wird vor die Rektorin zitiert. „Was
ist das Problem?“, fragt Mifti. „Dass du
dich permanent unangemessen verhältst“, sagt diese und kippt ihrer Schülerin absichtlich Kaffee übers T-Shirt,
als die ihr wilde Geschichten über einen Opa erzählt, der Russe sei und sich
selbst angezündet habe.
„Axolotl Overkill“ kommt mehr als
spontane Szenenfolge denn als klassischer, durchkomponierter Film daher.
Die Hauptfigur durchlebt keine Entwicklung, sie ist mit 16 schon fertig, so
abgebrüht wie eine Endzwanzigerin –
oder wie ein Junge. Mifti tut viele Dinge, die bürgerliche Mädchen – ihr Vater
lebt in einem kalten Designerhaus, hat
nur Kunst im Kopf und hält Terrorismus
für eine gute Berufswahl – nicht tun.
Als Rebellin würde man Mifti deshalb
nicht gleich ansehen. Sie hat Langewei-
le, sie weiß nicht so recht, was das Leben lebenswert macht. Sie nimmt Drogen. Sie wird von einem Psychiater als
„Borderline“ mit Tabletten therapiert
(„Wenn denen nichts einfällt, sagen sie
sie immer Borderline“). Sie ist verliebt
in eine über 40-jährige Frau, nach der
sie sich sehnt. Als sie sich bei einer
langweiligen Party die Männer anschaut und sagt, „vielleicht sollte ich
jetzt mal richtig vergewaltigt werden“,
hilft das auch nicht weiter.
Es ist nicht einfach, es im Kino zwei
Stunden mit dieser verzogenen, zu früh
erwachsenen gewordenen SchickeriaFrau auszuhalten. Mifti nervt – und
trifft einen Nerv. Sie ist das Ventil für
alle, denen in einem Deutschland, in
dem die Sprache der politischen Überkorrektheit schon in der Schule eingeimpft wird, oft der Kragen platzt, es
aber nicht (so deutlich) zu sagen wagen.
Doch vor allem ist Mifti das Bild einer jungen Frau, die durchs Leben
treibt, alles ausprobiert und nichts findet außer Enttäuschungen. In der Liebe
wird sie von einer Frau verraten, Männer helfen in puncto Sex nicht wirklich
weiter, der Vater ist ihr fremd, die Halbgeschwister denken nur an sich selbst
wie die Mitglieder in jeder zerrütteten
Familie, Drogen und Pillen helfen nur
auf Zeit, Partys sind besser als Schule,
und was danach kommt, entscheidet
sich spontan.
Im Prinzip ist diese Mifti die Vorstufe
von Hanna (der Schriftstellerin Gisela
Elsner) aus Oskar Roehlers Spielfilm
„Die Unberührbare“ (2000) – und genauso faszinierend. Im Gegensatz zum
Roman, der mehr Miftis Gedankenwelt
ausspuckt, sieht man Mifti (was ist das
überhaupt für ein Name?) hier in einem Leben, das voller Action ist. Es gibt
kaum ein Umfeld, in dem man Mifti
zweimal trifft, kaum eine ruhige Minute. Das erinnert an ein anderes deutsches experimentelles Meisterwerk
der jüngsten Zeit, an „Victoria“ (2015)
Anstrengend, mutig, unangepasst: Mifti (Jasna Fritzi Bauer) in „Axolotl Overkill“. Helene Hegemann, die 2009 ihre Karriere auch als Regisseurin begann, hat
ihren eigenen Roman eher frei fürs Kino adaptiert. FOTO: CONSTANTIN FILM/L. GRÜN
von Sebastian Schipper. Hegemann
selbst orientierte sich eher an Jim Jarmuschs „Permanent Vacation“ (1980),
wo ein (männlicher) Teenager ähnlich
ziellos durch eine Stadt läuft, wie sie
sagt. Schon ihr 42-Minuten-Film „Torpedo“, der 2009 den Max-Ophüls-Preis
für den besten mittellangen Film gewann, war verstörend und gut gemacht, wenngleich nicht so radikal.
Vor allem geht es Hegemann darum,
Grenzen zu sprengen. Dabei hilft ihr
vor allem ihre geniale Hauptdarstellerin Jasna Fritzi Bauer, die dafür – ebenso wie Hegemann – einen Deutschen
Filmpreis bekommen müsste. Die heute 28-Jährige Bauer war beim Dreh vor
zwei Jahren (an dem Film wurde viel
und lange geschnitten) 26, geht aber
problemlos als 16-Jährige durch und
hat die passende intellektuelle Reife
und Abgeklärtheit einer Mifti. Bauers
erste große Kinorolle war die einer frechen Außenseiterin in „Ein Tick anders“
(2010), dem Regiedebüt des Pirmasenser Autorenfilmers Andi Rogenhagen.
Das passt.
Hegemanns zweite große Hilfe war
ihr belgischer Kameramann Manuel
Dacosse, der dafür im Januar bei US-Independent-Festival Sundance, wo
„Axolotl Overkill“ uraufgeführt wurde,
für seine krassen Bilder – sie sind mal
hell und hart, mal einfarbig weich und
rauschartig, mal im 50er-Jahre-Hochglanz-Look – den Kamerapreis erhielt.
Man kann Helene Hegemann weiterhin für ein Wunderkind halten – ihren
Roman schrieb sie mit 17, diesen Film,
quasi eine Fortsetzung des Romans auf
einer anderen Ebene, drehte sie mit 23,
jetzt ist sie 25 – oder auch für übergeschnappt. Aber wenn sie redet, ist sie
absolut cool, selbstbewusst und weiß
genau, was sie will. Sie ist der erste Regisseur (als Feministin sieht sie sich
nicht) seit Rainer Werner Fassbinder,
der ähnlich mutig, fantasievoll und unangepasst zeigt, was sonst gerne unter
den Tisch gekehrt wird.
Die Bundeskunsthalle hat gestern
erstmals einige Werke aus dem Gurlitt-Kunstfund präsentiert, die ab 3.
November in Bonn gezeigt werden sollen. Darunter sind das Gemälde „Waterloo Bridge“ von Claude Monet, die
Skulptur „Kauernde“ von Auguste Rodin und eine Grafik von Albrecht Dürer,
deren Herkunft jeweils unklar ist wie
bei rund 200 der für die Schau vorgesehenen 250 Arbeiten. Man erhoffe sich
durch die Ausstellung Hinweise, so Kuratorin Agnieszka Lulinska. Bisher ist
bei rund einem Drittel der über 1500
Werke des 2014 verstorbenen Sammlers und NS-Kunsthändlersohns die
sogenannte Provenienz ermittelt. Derzeit werden die Gemälde, Zeichnungen, Grafiken und Skulpturen in der
Bundeskunsthalle für die Ausstellung
„Bestandsaufnahme Gurlitt“ restauriert. |dpa/epd
Film: Fleischmanns
„Das Unheil“ gefeiert
Am Montagabend wurde der Film „Das
Unheil“ des in Zweibrücken geborenen
und in Neustadt aufgewachsenen Regisseurs Peter Fleischmann (79) beim
Münchner Filmfest in restaurierter Fassung gezeigt – und gefeiert. Das Ungewöhnliche daran: Der Film ist von 1972,
er lief beim Festival von Cannes, bekam
dort den Luis-Buñuel-Preis, wurde bei
den ersten Vorführungen in Deutschland gnadenlos verrissen und war seitdem nie mehr zu sehen. Der optisch
und akustisch etwas surreale Spielfilm
erzählt episodenhaft ohne stringente
Handlung, wie die bürgerliche Fassade
einer Kleinstadt bröckelt, ausgelöst
durch rebellische junge Leute. Plötzlich
ist die ganze Stadt vergiftet: Das Wasser
ist braun, Alt-Nazis wachen auf, man
vermutet eine Bombe. Der Film wird
am Samstag noch einmal beim Münchner Filmfest gezeigt. |adi
Am Rande des Nirgendwo
Werke von Johanna Jakowlev und Uli Gsell treten in der Galerie Ruppert in Birkweiler in einen spannenden Dialog
VON BRIGITTE SCHMALENBERG
Das passt! Sitzt, wackelt nicht, hat viel
Luft. Die kargen und doch vielsagenden Gemälde von Johanna Jakowlev
und die archaisch unaufgeregten
Steinskulpturen von Uli Gsell haben
in der Galerie Ruppert in Birkweiler
zusammengefunden zu einer Werkschau wie aus einem Guss. Sie verbinden Geschichte und Moderne, Architektur und Natur, Kühnheit und Sinnlichkeit.
Diese Ausstellung ist ein Erlebnis. Weil
sie so einfach, so unaufgeregt, so geerdet daherkommt und doch eine so irritierende und lang anhaltend frappierende Wirkung entfaltet. Der erste Blick
eröffnet Klarheit und eine in sich selbst
ruhende Ordnung und Kraft. Man spürt
die Aura der Einsamkeit, die jedes einzelne Objekt umkreist und hört zugleich den Dialog, den Johanna Jakowlevs großformatige Gemälde und Uli
Gsells steinerne Skulpturen miteinander führen.
Beide Künstler sind in Stuttgart geboren, die Malerin 1980, der Steinwerker
1967, beide haben an der Staatlichen
Akademie der Bildenden Künste ihrer
Heimatstadt studiert, beide haben
künstlerische Formsprachen gefunden,
die schwäbische Enge und Gemütlichkeit sehr weit hinter sich lassen. Johanna Jakowlevs linear strukturierte, fast
surreal inszenierte Bildwelten führen
an menschenleere Orte am Rande des
Nirgendwo. Doch weisen die verlassenen Betonrelikte vor kargen klaren
Meeresküsten selbstredend darauf hin,
dass sie vor nicht allzu langer Zeit von
Menschenhand gebaut wurden, vielleicht bewohnt wurden. Mit rahmenähnlichen Öffnungen gewähren die
kantigen Kuben erstaunlich reizvolle
Blicke in eine leblose Landschaftsszenerie, in der über einem scharf konturierten Horizont der Himmel dominiert. Die schmutzigen Verwitterungen
und rostigen Brauntöne, die auch an Industrierelikte denken lassen, können
ihrer kühnen Ästhetik nichts anhaben.
Doch verströmt die textile Anmutung
der vielfach geschichteten Acrylfarbe
auf grober Leinwand zugleich einen
stimmungsvollen, melancholisch-poetischen Grundton. Und jeder Betrachter
wird sich zu den Szenerien, die durch
knappe Titel wie „Tragwerk“ oder
„Schwindspannung“ eine zweite Ebene
erhalten, seine eigene Geschichte reimen.
Auch Uli Gsell schickt seine Werke
nicht namenlos unters Volk – wobei
man nicht wissen muss, was Namen
wie „Flog“ für eine Stele aus Jurakalkstein, oder „kleines hoola“, für einen bearbeiteten Quader aus Basaltlava bedeuten. Man will diese Skulpturen, die
so raffiniert den menschlichen Eingriff
in die Natur dokumentieren, ohnehin
selbst ergründen. Manche Arbeiten
wirken mit ihren Einkerbungen und
rhythmisierten Spalten wie Hierogly-
phen, die man enträtseln kann. Andere
– etwa die „Schilder“ – gleichen verrosteten Gebrauchsgegenständen aus vorchristlichen Zeiten. Wieder andere
Findlinge sind mit akkurat ausgearbeiteten Nischen, geometrisch gesetzten
Einschnitten oder glatt verschliffenen
fensterähnlichen Fassaden so bearbeitet, als wären sie Zeitzeugen einstiger
Felswohnungen. So gelingt Uli Gsell,
der auch bei Kiyoto Ota an der Escuela
Nacional de Artes Plasticas in Mexiko
studierte, eine spannende Symbiose
von Kultur und Natur, die sich aus ferner Vergangenheit speist, während die
Bilder von Johanna Jakowlev auf moderne Ruinen der Gegenwart verweisen. In der Galerie Ruppert berühren
sich beide Positionen.
DIE AUSSTELLUNG
„Schwindspannung 1“ heißt diese
Arbeit von Johanna Jakowlev aus
dem Jahr 2016. FOTO: JAKOWLEV/GALERIE
Raffinierte Eingriffe: Uli Gsells OnyxWerk „Lichtstein“ aus dem Jahr
2004.
FOTO: WOLFRAM JANZER/GALERIE
„Johanna Jakowlev und Uli Gsell“, bis 23. Juli,
Galerie Ruppert, Birkweiler; samstags 14 bis
18 Uhr, sonntags 11 bis 18 Uhr ; www.galerieruppert.com
Die Schönheit und das Grauen
Ersan Mondtag inszeniert an den Münchner Kammerspielen „Das Erbe“ und beschäftigt sich mit der mutmaßlichen NSU-Terroristin Beate Zschäpe
VON JÜRGEN BERGER
Er ist der große Aufsteiger unter den
Regisseuren. Jetzt hat Ersan Mondtag an den Münchner Kammerspielen die wohl rechtsradikale Beate
Zschäpe zum Gegenstand eines Theaterabends gemacht. Der Text zur
Uraufführung von „Das Erbe“
stammt von der Autorin Olga Bach.
Wäre die Hölle ein kosmisches Labor,
würden dort Lemuren geistern, wie
sie jetzt an den Münchner Kammerspielen zu sehen sind. Aufgeschossene Rotgesichte mit langem Strähnenhaar auf dem Hinterkopf einer Tonsur,
als wandelten verhärmte Novizinnen
in knielangen Kleidern und mit Kniestrümpfen durch ein teuflisches Kloster. Heilig ist dieser Ort nicht. Im Gegenteil: Was Rainer Casper da als Bühne gebaut hat, könnte eine riesige
Weltbibliothek sein, in der alles zu
finden ist, was die Menschheit in Jahrtausenden gesammelt hat. Die Schönheit der Kunst und Kultur, aber auch
all das Grauen der Weltgeschichte.
„Das Erbe“ nennt Regisseur Ersan
Mondtag seinen jüngsten, zusammen
mit der Autorin Olga Bach und dem
Videokünstler Florian Seufert entwickelten Theaterabend. Mondtag –
bürgerlich Ersan Aygün und 1987 in
Berlin geboren – wurde innerhalb
kurzer Zeit zwei Mal zum Berliner
Theatertreffen eingeladen. Inzwischen kann es sich aussuchen, an wel-
chem Theater er eines seiner szenischen Gesamtkunstwerke inszenieren möchte.
Im Untertitel der Uraufführung
steht „Eine Assoziation zum NSU“. Gemeint ist das Trio des „nationalsozialistischen Untergrunds“, das im
Wohnmobil durch Deutschland reiste
und neun Männer türkischer und
griechischer Herkunft ermordete. Die
Schützen Uwe Böhnhardt und Uwe
Mundlos richteten sich selbst. Beate
Zschäpe, von der man bis heute nicht
genau weiß, welche Rolle sie im
rechtsradikalen
Hinrichtungskommando spielte, sitzt immer noch auf
der Anklagebank des Münchner Landgerichts und schweigt sich wund.
Was sich im Hirn dieser Frau wohl
abspielt, fragte sich vor drei Jahren
schon Elfriede Jelinek im ebenfalls an
den Münchner Kammerspielen uraufgeführten „Das schweigende Mädchen“. Olga Bach, die jetzt für den Text
verantwortlich ist, widmet sich ebenfalls dieser Frage. Ihr Text ist aber
nicht zu vergleichen mit dem der Nobelpreisträgerin, und Ersan Mondtag
hat völlig anders inszeniert als Johan
Simon, der ehemalige KammerspielIntendant und Regisseur der JelinekUraufführung.
Olga Bach schreibt so dicht wie
knapp. „Das Erbe“ umfasst gerade mal
20 Seiten, holt aber trotzdem zu einem kulturgeschichtlichen Rundumschlag aus. In einer kurzen Bildbeschreibung geht es um das „Bildnis ei-
nes bartlosen Mannes und Bildnis einer Frau“ von Lucas Cranach dem Älteren. Es folgen Textpartikel von Sophokles, Schiller, Kafka, Heinrich Böll,
Heiner Müller. Mitten im assoziativen
Kunterbunt sprechen dann aber
plötzlich zwei nicht näher definierte
Menschen über Beate Zschäpe. Eigentlich sehe sie „fast wie ein zartes
Mädchen aus“, meint der eine. Darauf
der andere: „Sie sieht völlig verblödet
aus.“
„Eine Assoziation zum NSU“ heißt der von Ersan Mondtag entwickelte Theaterabend, in dem Tina Keserovic als Beate Zschäpe zu sehen ist (Mitte). Lena Lauzemis (links) und Thomas Hauser sind ihre Beobachter.
FOTO: ARMIN SMAILOVIC
In der Uraufführung geht an dieser
Stelle mitten in der Fake-Bibliothek
eine große Schiebetür auf und öffnet
den Blick auf einen dahinter liegenden Raum, in dessen Mitte eine
Schauspielerin in einem jener Ganzkörperanzüge liegt, die Nacktheit vortäuschen: Tina Keserovic sieht wie
Beate Zschäpe aus und erweckt in ihrem Bodysuit den Eindruck, sie sei
schwanger. Später wird sie mit einem
Unschuldslächeln umher wandeln,
sich wie ein trotziges Kind schreiend
winden und schließlich ihr eigenes
Hirn gebären. Zunächst aber liegt sie
reglos, und wir verstehen: Hier wurde
eines der wohl interessanteren Studienobjekte der Menschheitsgeschichte
konserviert. Mit ihm werden sich die
maskenhaften
Lemuren
(Jonas
Grundner-Culemann, Thomas Hauser,
Jelena Kuljic, Lena Lauzemis, Wiebke
Puls, Damian Rebgetz) näher beschäftigen.
Ersan Mondtag inszeniert, als seien
Nachkommen der heutigen Menschheit mit einem Raumschiff unterwegs. Robo-Wissenschaftler, die
durch ein großes Fenster ins Nichts
des All blicken und kühl gezirkelt das
Erbe der Menschheit analysieren. Nirgendwo ist da Empathie oder Grauen,
auch nicht, wenn sie unvermittelt einen Vers aus Gustav Mahlers „Kindertotenlieder“ singen. Das „Oft denk’
ich, sie sind nur ausgegangen!“ wirkt,
als wollten sie die Angehörigen der
NSU-Opfer darauf aufmerksam ma-
chen, dass der Tod nichts Endgültiges
sei. Der Eindruck, man sei in einem
gefühllosen Labor gelandet, stellt sich
auch ein, wenn es um den Schwaben
Ernst August Wagner geht, der im
September 1913 nahe Stuttgart seine
gesamte Familie ermordete und auf
der Straße mit zwei Mauser-Pistolen
wahllos um sich schoss.
Der erste amtlich registrierte
Amokläufer schrieb ganz nebenbei
Theaterstücke und wälzte herrenmenschliches Gedankengut. Nachdem er gestorben war, wurde sein Gehirn seziert, und da habe man,
schreibt Olga Bach, einen Schaden im
limbischen System festgestellt, also in
jener Hirnregion, die für unsere Emotionalität zuständig ist. Und weiter:
„Wagner war wahnsinnig. Keine politische Motivation. Schwere dependente Persönlichkeitsstörung, schwere seelische Abartigkeit.“
Man könnte sich nun die Frage stellen, ob Beate Zschäpe am Ende des
Münchner Prozesses unter Umständen in eine psychiatrischen Klinik eingeliefert wird, beschäftigte sich aber
lieber damit, ob Ersan Mondtags ästhetisches
Überwältigungstheater
nicht ein etwas schlaffer Zugriff ist angesichts eines Themas wie den Morden des NSU.
TERMINE
— Nächste Aufführungen am 2. und 4. Juli
— Karten im Internet: www.muenchner-kammerspiele.de; Telefon 089/233 966 00
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