Federico García Lorca / Komödie ohne Titel Federico García Lorca, geboren 1898 in Fuente Vaqueros , Granada, beginnt nach dem Studium eine Ausbildung als Musiker. 1918 veröffentlicht er sein erstes Buch Impresiones y Paisajes (Impressionen und Landschaften), 1920 folgt die Uraufführung seines ersten Theaterstücks El maleficio de la mariposa (Die Verwünschung des Schmetterlings). 1929 reist der Dichter nach New York. Es entsteht der weltberühmte Lyrikband Dichter in New York. 1930 begibt er sich nach Kuba. Ab 1931 arbeitet er für die regierenden Republikaner in Spanien. Von 1933 bis 1934 bereist er Südamerika. 1936 beginnt der Spanische Bürgerkrieg. Federico García Lorca stellt zur gleichen Zeit sein Hauptwerk Das Haus von Bernarda Alba fertig. Als er sich zu seinen Eltern nach Granada ins Einflussgebiet der Falange begibt, wird er verhaftet © 2016 Suhrkamp Verlag AG, Alle Rechte vorbehalten Seite 1 und am 19. August 1936 an der Friedhofsmauer von Fuente Grande erschossen. Er gilt heute als einer der wichtigsten Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts, zu einem seiner berühmtesten Werke zählen die Zigeunerromanzen. Originaltitel: Comedia sin título 1 Dekoration, Mehrere Personen, Doppelbesetzungen möglich Deutsche Erstaufführung: Städtische Bühnen Dortmund 1987 Regie: Annegret Ritzel SYNOPSE »Man muß das Theater zerstören oder im Theater leben!«, läßt Federico García Lorca den Theaterdirektor ausrufen, und dieser Schrei könnte zweifellos sein eigener sein. Das Stück, in dem er ausgestoßen wird, heißt »Das Publikum«, es ist Anfang der dreißiger Jahre geschrieben, noch nie aufgeführt worden und weder in der spanischen Gesamtausgabe noch in der deutschen Werkausgabe von Enrique Beck zu finden. Erst jetzt ist es, zusammen mit dem thematisch verwandten Einakter »Komödie ohne Titel«, übersetzt worden. © 2016 Suhrkamp Verlag AG, Alle Rechte vorbehalten Seite 2 Anfang der dreißiger Jahre, das war die Zeit, als Spanien nach Jahren der Militärdiktatur für eine kurze Dauer Republik wurde und Lorca, im Zuge einer neuen Kulturpolitik, als Direktor und Regisseur der Studenten-Wanderbühne »La Barraca« über die Dörfer zog. »Das Publikum« kann man als Abrechnung mit jenem Publikum sehen, das es hinter sich läßt, mit dem bourgeoisen der Städte, das sich jeden Abend in einer Art Totenkult selber feiert. Aber Lorca ist ehrlich genug zu wissen, wie stark er selber jener Gesellschaft, die sich hinter Masken versteckt, die unfähig ist zu lieben, angehört. Die Revolution, die er sich vorstellt, müßte auch ihn selber umwälzen, und so ist »Das Publikum« konsequent auch eine schonungslose Abrechnung in eigener Sache. Lorca, der Freund von Buñuel und Dali, hat einen obszönen, blasphemischen Alptraum entworfen, ein surrealistisches Vexierbild, in dem Visionen von der Vermählung von Kunst und Natur, von einer befreiten Erotik jenseits der Geschlechterrollen, kurz: von einer Kulturrevolution ineinander projiziert werden. Shakespeares »Romeo und Julia« liefert dazu den äußeren Anlaß, aber von der erbaulichen Tragödie, in der sich üblicherweise »Sägemehlherzen« lieben und die schönen Leichen am Schluß wieder lächelnd vor den Vorhang treten, bleibt nicht viel übrig. Bei Lorca trägt Julia ein weißes Operngewand, das zwei Brüste aus rosa Zelluloid frei läßt. Als das Publikum bemerkt, daß sie keine Frau ist, sondern ein halbwüchsiger Junge, © 2016 Suhrkamp Verlag AG, Alle Rechte vorbehalten Seite 3 wird sie samt Romeo massakriert. Lorca hat die analytische und selbstanalytische Radikalität seines Stücks zweifellos erkannt, in einem Interview von 1933 sagte er: »Das Stück, das ich im Koffer habe, maße ich mir nicht an, hier oder sonstwo herauszubringen, ich glaube, daß es weder eine Truppe gibt, die sich an eine Inszenierung wagt, noch ein Publikum, das es ohne Unwillen hinnimmt – einfach, weil es der Spiegel des Publikums ist. Das heißt, es läßt auf der Bühne die eigentlichen Dramen vorüberziehen, an die jeder Zuschauer denkt, während er die Aufführung – oft ohne ihr zu folgen – ansieht. Und da das Drama eines jeden manchmal stechend und schmerzlich und im allgemeinen gar nicht ehrenhaft ist, würden die Zuschauer verärgert aufstehen und den Fortgang der Aufführung unmöglich machen. Ja, mein Stück ist nicht zum Aufführen, es ist eine Dichtung zum Auspfeifen.« Heute, fünfzig Jahre später, ist es ein Stück zum Aufführen. © 2016 Suhrkamp Verlag AG, Alle Rechte vorbehalten Seite 4