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© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 9783525369739 — ISBN E-Book: 9783647369730
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts
für Totalitarismusforschung
Herausgegeben von Günther Heydemann
Band 61
Vandenhoeck & Ruprecht
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ISBN Print: 9783525369739 — ISBN E-Book: 9783647369730
Silke Schumann
Kooperation und Effizienz im
Dienste des Eroberungskrieges
Die Organisation von Arbeitseinsatz,
­Soldatenrekrutierung und Zwangsarbeit in der
­Region Chemnitz 1939 bis 1945
Vandenhoeck & Ruprecht
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Umschlagabbildung: Torpedofertigung bei der Auto Union AG im Werk Horch (Zwickau), ca. 1941.
Quelle: Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz,
31050 Auto Union AG Chemnitz, Nr. 7716, Bl. 273
Das Werk wurde für diese Veröffentlichung überarbeitet. /
This dissertation has been revised for publication.
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im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISSN 2198–7459
ISBN 978–3-525–36973–9
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sind erhältlich unter www.v-r.de.
Mit 10 Tabellen.
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Inhalt
I.
Einleitung
9
1. Fragestellung und Forschungsstand
2. Quellenlage
II. Die Region Chemnitz
1. Abgrenzung und Binnenstruktur
2. Wirtschaftliche Entwicklung bis zum Kriegsbeginn
III. Für die Arbeitskräftelenkung zuständige regionale
Institutionen und Behörden
1.
2.
3.
Die Arbeitsämter
Das Rüstungskommando Chemnitz und die
Rüstungsinspektion IV/IVa
Die Industrie- und Handelskammer Chemnitz
IV. Im Schatten des Krieges: Arbeitskräftelenkung und
Industriearbeit bis zum Sommer 1942
1.
2.
Die regionale Industrie zwischen Export
und Rüstungsfertigung Arbeitskräfteentzug durch Einberufungen und
der Schutz der Rüstungsproduktion
2.1 Das Uk-Stellungsverfahren
2.2 Stillhalteabkommen und Spezialbetriebsschutz
2.3 Die „Freimachungsausschüsse“
2.4 Bilanz der Einberufungen bis zum Sommer 1942
3. Arbeitskräftefluktuation: Versetzungen,
Auskämmungen und Stilllegungen
3.1 Ängste vor Arbeitslosigkeit und Stilllegungen
bei Kriegsbeginn
3.2 Die Arbeitsamtskommissionen in den
Jahren 1939 und 1940
3.3 Soldaten auf „Arbeitsurlaub“
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6
Inhalt
3.4 Die misslungene Stilllegungskampagne
im Frühjahr 1940
3.5 Die Tätigkeit der Todt’schen
Auskämmungskommissionen bis Mitte 1941
3.6 Friedensburgs Kritik an der „Rüstungsumsteuerung“
3.7 Stilllegungen in der Konsumgüterindustrie
in den Jahren 1941 bis 1942
3.8 Bilanz der Auskämmungen und Stilllegungen
1939 bis 1942
4. Zwangsarbeit: Kriegsgefangene und zivile
ausländische Arbeitskräfte
5. Frauenarbeit in der Industrie
V.
„Industrieller Luftschutzkeller“: Arbeitskräftelenkung und
Industriearbeit vom Sommer 1942 bis zum Sommer 1944
1. Die Entwicklung der Rüstungsfertigung
2. Umorganisationen in der Rüstungswirtschaft
2.1 Die Entstehung der Rüstungskommission IV/IVa 1942
2.2 Die Umstrukturierung der Rüstungslenkung 1943
3. Arbeitskräfteentzug: Einberufungen contra
Intensivierung der Rüstung
3.1 Die Winterkrise 1942/43 und die
Sondereinziehungsaktionen 1943/44
3.2 Die Rekrutierung von Frauen als
Wehrmachtshelferinnen
3.3 Das „Kalender“-Aufgebot Ende 1943
4. Zwangsarbeit: Die Entwicklung des Ausländereinsatzes
5. Die Rassengesellschaft im Betrieb: Lebens- und
Arbeitsverhältnisse ausländischer Zwangsarbeiter
am Beispiel der „Ostarbeiter“
5.1 Die sowjetische Bevölkerung in der NS-Ideologie
5.2 Der physische Bewegungsspielraum
5.3 Die materielle Versorgung
5.4 Arbeitsbedingungen und Löhne
5.5 Disziplinierung und Auflehnung
5.6 Geburt und Mutterschaft
6. „Bedarfsinflation“: Der Kampf um die Reduzierung des Arbeitskräftebedarfs
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302
Inhalt
7. Die Mobilisierung von Frauen und
die Meldepflichtverordnung
8. Stilllegungen und Auskämmungen
8.1 Der Schutz der regionalen Wirtschaft und die
Stilllegungen im Frühjahr 1943
8.2 Die „Auskämmung des zivilen Sektors“ (AZS) 1943
8.3 Die Wissmann-Aktion
8.4 Die Entwicklung des Arbeitskräftebedarfs bis zum
Sommer 1944 und der Facharbeitermangel
9. Kriegsbedingter Strukturwandel und soziale Folgen
VI. Allmähliche Auflösung und Kriegsende
(Sommer 1944 bis Frühjahr 1945)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Die militärische und kriegswirtschaftliche Situation
im Sommer 1944
Konflikte auf der Mittelebene
Einberufungen: Goebbels’ Aktion „totaler Kriegseinsatz“
Auskämmungen und Betriebsumsetzungen ab Sommer 1944
Zwangsarbeit: KZ-Häftlinge in der Rüstungswirtschaft
Bombenkrieg und Verinselung: Kriegswirtschaft und
Arbeitskräftelenkung im Zusammenbruch
7
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354
361
361
363
367
372
376
383
VII. Resümee
395
VIII.Anhang
411
1.
2.
3.
4.
5.
6.
411
414
416
433
434
436
Abkürzungsverzeichnis
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Personenverzeichnis
Danksagung
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I.
Einleitung
1.
Fragestellung und Forschungsstand
Die menschliche Arbeitskraft war für das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg
eine überaus knappe Ressource. Genügend Soldaten für die Front und ausreichend Arbeiter für die Rüstungsproduktion zu mobilisieren war eine notwendige Voraussetzung für den Raub- und Eroberungskrieg der Nationalsozialisten.
Millionen Männer mussten ihre Arbeitsplätze verlassen, um zur Wehrmacht eingezogen zu werden. Um sie zu ersetzen und die Zahl der Beschäftigten in der
Rüstungswirtschaft zu steigern, veranlasste das Regime die Stilllegung von weniger kriegswichtigen Unternehmen und versetzte Arbeiter von der Konsumgüterin die Rüstungsproduktion. Es versuchte verstärkt, Frauen für eine Tätigkeit in
der Industrie zu gewinnen, und setzte schließlich Millionen von ausländischen
Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen ein.1
Die gleichzeitige Befriedigung des Kräftebedarfs der Front und der Kriegswirtschaft war eine entscheidende Herausforderung für das nationalsozialistische Regime. Gleichzeitig musste es die dadurch entstehenden Belastungen für
die einheimische Bevölkerung dosieren, um deren Unterstützung zu erhalten.
Die Analyse der Arbeitseinsatzpolitik und ihrer organisatorischen Umsetzung
in der Region ist daher von zentraler Bedeutung für die Beantwortung der Frage, wie es den Nationalsozialisten gelang, den Krieg bis zur vollständigen Besetzung Deutschlands durch die alliierten Truppen fortzuführen.
Die bisherige Literatur ist in dieser Hinsicht meist wenig aufschlussreich.
Vielmehr steht das Bild der ausgeprägten organisatorischen Ineffizienz, das viele Studien von der Arbeitseinsatzpolitik zeichnen, in krassem Gegensatz zum
Durchhaltevermögen des NS-Regimes. Die meisten Untersuchungen betonen,
zumindest implizit an die Polykratiethesen Martin Broszats, Hans Mommsens
und Peter Hüttenbergers anknüpfend,2 konkurrierende Führungsstrukturen,
1
2
Vgl. Bernhard R. Kroener/Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit, Zusammenfassung. In:
Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr, Band 5/1: Organisation und Mobilisierung des deutschen
Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939–1941,
Stuttgart 1988, S. 1003–1016, hier 1012–1015; dies., Zusammenfassung. In: ebd., Band
5/2: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung,
Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942–1944/45, Stuttgart 1999, S. 1003–1022,
hier 1018–1021; Michael Schneider, In der Kriegsgesellschaft. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1939–1945, Bonn 2014, S. 151 f. Dieses Werk konnte wie alle ab 2014 erschienenen Studien nur punktuell ausgewertet werden, da es erst während der Drucklegung
erschien.
Vgl. Martin Broszat, Der Staat Hitlers, 12. Auflage München 1989, S. 379, 438–442;
Hans Mommsen, Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. In: Gerhard Hirschfeld/Lothar Kettenacker (Hg.), Der „Führerstaat“: Mythos und Realität.
Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981, S. 43–72, insbes.
50–69; Peter Hüttenberger: Nationalsozialistische Polykratie. In: Geschichte und Gesellschaft, 2 (1976), S. 417–442.
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10
Einleitung
sich überschneidende Zuständigkeiten und sich zersetzende Verwaltungsstrukturen. Die Arbeitskräftelenkung im Krieg wird als eine Folge kampagnenartig
organisierter Ad-hoc-Aktionen beschrieben, die jeweils von unterschiedlichsten
Stellen eingeleitet wurden und sich im Gestrüpp der ungeklärten Zuständigkeiten verloren.3 Schwerpunkte der Darstellung liegen zumeist auf den Machtkämpfen an der Reichsspitze, der Entstehung immer neuer Sonderbehörden,
der fortschreitenden Erosion der Reichsbehörden und den daraus entstehenden
Dysfunktionen und Effizienzmängeln bei der Rekrutierung der notwendigen Arbeitskräfte für Militär und Rüstungsindustrie.4
Der Versuch, den Widerspruch zwischen der faktischen Überlebenskraft des
Regimes und den Befunden für die Reichsebene aufzulösen, führt in die Region.
Hier, „im Schnittpunkt von Struktur und Erfahrung“,5 lassen sich diejenigen
Faktoren auffinden, die die Stabilität des Nationalsozialismus im Krieg erklären. Hier konnten anders als auf der Reichsebene kriegswirtschaftliche Streitfragen wie „Strümpfe oder Kanonen?“6 nicht mehr durch Formelkompromisse
zwischen einzelnen Herrschaftsträgern beigelegt werden. Die unteren Verwal-
3
4
5
6
Bernhard R. Kroener, Die personellen Ressourcen des Dritten Reiches im Spannungsfeld zwischen Wehrmacht, Bürokratie und Kriegswirtschaft 1939–1942. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 5/1, S. 693–1001; ders., „Menschenbewirtschaftung“, Bevölkerungsverteilung und personelle Rüstung in der zweiten Kriegshälfte
(1942–1944). In: ebd., Band 5/2, S. 777–1001; Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, Band I: 1939–1941, Berlin (Ost) 1969; ders., Band
II: 1941–1943, Berlin (Ost) 1985; ders., Band III: 1943–1945, Berlin 1996; Walter Naasner, Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 1942–1945. Die Wirtschaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und
das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition/Reichsministerium für Rüstung
und Kriegsproduktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Boppard am Rhein
1994; Marie-Luise Recker, Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg,
München 1985, insbes. S. 297–299; Wolfgang Franz Werner, „Bleib übrig“. Deutsche
Arbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Düsseldorf 1983; Schneider,
Kriegsgesellschaft, S. 148–277, für den allerdings die Frage nach der Effektivität des Arbeitseinsatzes nachrangig ist (S. 150); für die Gau- bzw. Landesebene siehe Roland Peter, Rüstungspolitik in Baden. Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz in einer ­Grenzregion
im Zweiten Weltkrieg, München 1995.
Vgl. Bernhard R. Kroener, Der Kampf um den „Sparstoff Mensch“. Forschungskontroversen über die Mobilisierung der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1942. In: Wolfgang
Michalka (Hg.), Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, München 1989, S. 402–417, insbes. 415; ders., Ressourcen; ders., „Menschenbewirtschaftung“, insbes. S. 779, 893; Naasner, Machtzentren, insbes. S. 472.
Andreas Wirsching, Nationalsozialismus in der Region. Tendenzen der Forschung
und methodische Probleme. In: Horst Möller/Andreas Wirsching/Walter Ziegler (Hg.),
Natio­nalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und
zum internationalen Vergleich, München 1996, S. 25–46, hier 38; vgl. auch Michael
Schwartz, Regionalgeschichte und NS-Forschung. Über Resistenz und darüber hinaus. In:
Edwin Dillmann (Hg.), Regionales Prisma der Vergangenheit. Perspektiven der modernen
Regionalgeschichte (19./20. Jahrhundert), St. Ingbert 1996, S. 197–218, hier 199 f.
IHK Chemnitz, Linse, am 27.1.1943, Aktennotiz betr. Januar-Aktion 1943, S. 2
(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.).
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Fragestellung und Forschungsstand
11
tungs- und Lenkungsinstanzen hatten die häufig wechselnden und selten klar
formulierten Prioritäten des Regimes und seiner unterschiedlichen Sonderverwaltungen zu interpretieren und in einer Gemengelage widerstreitender lokaler
und regionaler Interessen durchzusetzen. Letzten Endes entschieden Aushandlungsprozesse auf dieser Ebene darüber, ob das Regime seine Ressourcen effizient organisieren und die Weiterführung des Krieges sicherstellen konnte.
Die vorliegende Studie untersucht daher am Beispiel der Region Chemnitz
erstmals systematisch die Umsetzung der Arbeitskräftelenkung auf lokaler Ebene. Das Untersuchungsgebiet ist der Regierungsbezirk Chemnitz. Der industrielle Kernraum der Region, der das Gebiet der Stadt Chemnitz und auch der Stadt
Siegmar-Schönau umfasst, steht dabei im Mittelpunkt.7 Zwar liegen einzelne Erkenntnisse aus der umfangreichen heimat- und lokalgeschichtlichen Forschung
des Chemnitzer Raums 8 sowie aus der Unternehmensgeschichte9 vor, es fehlte
jedoch bislang nicht nur für Chemnitz, sondern auch für andere Reichsgebiete
eine Untersuchung, die die einzelnen Aspekte der Arbeitskräftelenkung systematisch zueinander in Beziehung setzt, die einzelne Informationen etwa über
die Organisation von Arbeitsämtern oder über ein Treffen von Auskämmungskommissionen mit Unternehmensmanagern in den Gesamtzusammenhang der
Arbeitskräftelenkung durch die unteren Verwaltungsebenen einordnet.
Dabei bezieht die Untersuchung auch das bisher kaum untersuchte Wehrersatzwesen ein,10 da die Soldateneinberufung eine wesentliche Ursache für den
7 Vgl. zur Beschreibung und Abgrenzung der Region Kap. II. 1.
8 Karlheinz Schaller, Fabrikarbeit in der NS-Zeit. Arbeiter und Zwangsarbeit in Chemnitz
1933–1945, Gütersloh 2011; ders., Die Arbeiter der Auto Union AG (1933–1945). In: Jörg
Feldkamp (Hg.), 75 Jahre Auto Union. Begleitbuch anlässlich der Ausstellung „Vier Ringe
für Sachsen“. 75 Jahre Auto Union“ vom 9.6.–2.9.2007 im Industriemuseum Chemnitz,
Chemnitz 2007, S. 107–121; Stephan Pfalzer, Aspekte des Einsatzes von Zwangsarbeitern
in Chemnitz und seinem Umland 1939–1945. In: Chemnitz in der NS-Zeit. Beiträge zur
Stadtgeschichte 1933–1945, o. Hg., Leipzig 2008, S. 197–218; Verlagerter Krieg. Umstellung der Industrie auf Rüstungsproduktion im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz während des Zweiten Weltkrieges. Hg. vom Heimatverein Niederfrohna e. V., o. O.
[Niederfrohna] 2011; Wolfgang Uhlmann, Die Chemnitzer Rüstungsindustrie zwischen
1935 und 1945. In: Chemnitz in der NS-Zeit, S. 173–196; ders., Chemnitzer Industrie und
Wirtschaft im 20. Jahrhundert. In: Chemnitz im 20. Jahrhundert. Hg. vom Chemnitzer
Geschichtsverein e. V. in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Chemnitz, Band I: Indus­
trie – Stadtentwicklung – Verkehr, Chemnitz 2000, S. 17–40.
9 Michael C. Schneider, Unternehmensstrategien zwischen Weltwirtschaftskrise und
Kriegswirtschaft. Chemnitzer Maschinenbauindustrie in der NS-Zeit 1933–1945, Essen
2005; Martin Kukowski, Einführung und Hinweise. In: Findbuch zu den Beständen
Auto Union AG, Horchwerke AG, Audi-Automobilwerke AG und Zschopauer Motorenwerke J. S. Rasmussen AG. Hg. vom Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz, Halle (Saale)
2000, Band 1, S. X–CXVII; ders., Die Auto Union im Zweiten Weltkrieg, ihre Zerschlagung und Reorganisation. In: Feldkamp (Hg.), 75 Jahre Auto Union, S. 85–105; ders./
Rudolf Boch, Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz bei der Auto Union AG Chemnitz im
Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2014.
10 Vgl. Armin Nolzen, Von der geistigen Assimilation zur institutionellen Kooperation: Das
Verhältnis zwischen NSDAP und Wehrmacht. 1943–1945. In: Jörg Hillmann/John Zimmermann (Hg.), Kriegsende in Deutschland, München 2002, S. 69–96, hier 73; ausführlich zu diesem Thema lediglich Kroener, Ressourcen; ders., „Menschenbewirtschaftung“.
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12
Einleitung
Arbeitskräftemangel in der deutschen Rüstungsindustrie war und die Auseinan­
dersetzungen über die Anzahl sowie die Qualifikation der einzuberufenden
Soldaten sich unmittelbar auf die Zusammenarbeit der Institutionen der Arbeitskräftelenkung auswirkten. Indem die vorliegende Studie die Beschreibung
der verschiedenen Strategien der Arbeitskräfterekrutierung bzw. Arbeitskräfteversetzung mit der Frage verbindet, wie effizient die Verwaltungen dabei im
Sinne des Regimes agierten, erhellt sie nicht nur einen wichtigen Bereich der
Kriegswirtschaft und Kriegsverwaltung, sondern versteht sich darüber hinaus
als Beitrag zur Beantwortung der zentralen Frage, wie nationalsozialistische
Herrschaft funktionierte und was sie bis zum Kriegsende 1945 aufrechterhielt.
Theoretische Modelle wie jenes der charismatischen Herrschaft Hitlers,11 das
die Integrationskraft und besondere Ausstrahlung des Diktators in den Mittelpunkt stellt, oder der „Gefälligkeitsdiktatur“, welches den materiellen Nutzen
der Rassenpolitik des Regimes für den Einzelnen betont,12 sind für die Behandlung der Arbeitskräftelenkung nur von begrenztem Nutzen, nehmen sie doch
eher die Stimmungslage der Bevölkerung in den Blick und weniger die Organisation des Raub- und Eroberungskrieges.
Hilfreicher sind Überlegungen von Ludolf Herbst: 1999 wies er auf den Widerspruch zwischen der faktischen Leistungsfähigkeit des NS-Regimes und der
polykratietheoretischen Beschreibung seiner funktionalen Strukturen als defizitär hin.13 Der Schlüssel für die Effizienz des NS-Staates liegt aus seiner Sicht
darin, dass die „totalitäre Bürokratisierung“14 im Wesentlichen nur den Parteiund Sicherheitsapparat erfasste. Gerade die polykratische Struktur, so Herbsts
These, könnte dafür gesorgt haben, dass andere staatliche Bereiche ein gewisses
Maß an Selbstorganisationskräften behalten oder entwickeln konnten, die das
bürokratische System leistungsfähig hielten.15
In eine ähnliche Richtung weisen Impulse aus verwaltungsgeschichtlichen
Studien der letzten Jahre, die die Überlebensfähigkeit des Regimes, nicht zu-
11 Vgl. Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus. 1933–
1944, Frankfurt a. M. 1984, insbes. S. 114–130; Ian Kershaw, Hitler. 1889–1936, Stuttgart 1998; ders., Hitler. 1936–1945, Stuttgart 2000; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 4. Band: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung
der beiden deutschen Staaten. 1914–1949, München 2003, insbes. S. 600–635. Grundsätzlich zum Konzept der charismatischen Herrschaft siehe Max Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studienausgabe. 5., revidierte
Auflage, Tübingen 1972, S. 122–124, 140–148.
12 Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat, durchges. und erweiterte Auflage Frankfurt a. M. 2006.
13 Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Herrschaftssystem als Vergleichsgegenstand
und der Ansatz der Totalitarismustheorien. In: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1999, S. 19–26, hier 26.
14 Herbst, Herrschaftssystem, S. 26.
15 Ebd., S. 24–26. Vgl. auch in Bezug auf das Subsystem Wirtschaft Ludolf Herbst, Der
Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld
von Politik, Ideologie und Propaganda 1939–1945, Stuttgart 1982, insbes. S. 454.
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Fragestellung und Forschungsstand
13
letzt unter dem Einfluss neuerer Werke der Managementlehre,16 neu beleuchtet
und die Reintegrationskraft nationalsozialistischer Steuerungs- und Führungstechniken vor dem Hintergrund der unbestrittenen Polykratiebefunde der älteren Forschung17 stärker betont haben.18 Für die kommunale Verwaltung in
Augsburg hat beispielsweise Bernhard Gotto auf das geradezu „symbiotische“
Zusammenspiel der unteren Partei- und Verwaltungsebenen verwiesen, das
zu einer „kaum zu erschütternden Stabilität“ des Nationalsozialismus vor Ort
geführt habe19 und das trotz zahlreicher Meinungsverschiedenheiten zwischen
den Protagonisten insbesondere in der Kriegszeit bürokratische Überregulierungen und Fehlleistungen lange korrigieren konnte.20 Wolf Gruner betont die
intensive Vernetzung der kommunalen Verwaltungsfachleute untereinander, die
sie unter anderem zu einer effizienten Verfolgung von Juden und anderer im
Nationalsozialismus unerwünschten Volksgruppen nutzten.21
Bei einer Analyse der Arbeitseinsatzpolitik der Nationalsozialisten in der
Region Chemnitz sind daher nicht nur die Effizienzdefizite zu beschreiben, die
durch das polykratische Gegeneinander der Herrschaftsträger entstanden. Das
Augenmerk ist vielmehr in besonderer Weise auf diejenigen Faktoren zu legen,
die die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der regionalen und lokalen Lenkungsinstanzen im Sinne der Regimeziele, also im Sinne der Führung eines Raub- und
Eroberungskrieges, gewährleisteten. Es ist zu fragen, ob und inwiefern es den
unteren Verwaltungs- und Parteiinstanzen gelang, die aus dem polykratischen
Gegeneinander der Herrschaftsträger im Reich resultierenden Dysfunktionen zu
reduzieren oder gar abzufangen, so zum Beispiel, wenn dringende Forderungen
nach der Bereitstellung neuer Soldaten für die Front mit immer neuen, sich ständig ausweitenden Bestimmungen zum Schutz der Arbeitskräfte bestimmter Rüstungsfertigungen kollidierten. Dabei ist nach Kriegsphasen zu unterscheiden und
16 Vgl. den Überblick bei Sven Reichardt/Wolfgang Seibel, Radikalität und Stabilität. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus. In: dies. (Hg.): Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2011, S. 7–27, hier 19.
17 Vgl. für die auf der klassischen Polykratiethese beruhende Verwaltungsgeschichte Dieter
Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung
und Verwaltungspolitik 1939–1945, Stuttgart 1989.
18 Vgl. ebd.; Christiane Kuller, „Kämpfende Verwaltung“. Bürokratie im NS-Staat. In: Dietmar Süß/Winfried Süß (Hg.), Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008,
S. 227–245; zu den Anfängen dieser Neuausrichtung der Verwaltungsgeschichte siehe
Wolf Gruner/Armin Nolzen, Editorial. In: dies. (Hg.), Bürokratien. Initiative und Effizienz, Hamburg 2001, S. 7–15.
19 Bernhard Gotto, Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität
und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933–1945, München
2006, S. 442.
20 Vgl. ebd., S. 432–434; siehe auch Sabine Mecking/Andreas Wirsching, Stadtverwaltung als Systemstabilisierung? Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume kommunaler
Verwaltung im Nationalsozialismus. In: dies. (Hg.), Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft, Paderborn 2005,
S. 1–19.
21 Vgl. Wolf Gruner, Die Kommunen im Nationalsozialismus: Innenpolitische Akteure und
ihre wirkungsmächtige Vernetzung. In: Reichardt/Seibel (Hg.), Staat, S. 167–211.
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14
Einleitung
zu überlegen, ob es einen Zeitpunkt gegen Kriegsende gegeben hat, an dem Korrekturfunktionen der unteren Ebenen nichts mehr bewirken konnten, weil die
Desintegration an der Spitze des Regimes bereits zu weit vorangeschritten war.
Damit eng verknüpft stellt sich die Frage nach der Autonomie der regionalen Verantwortungsträger sowie nach ihrer Fähigkeit, sich im Sinne der Überlegungen Herbsts selbst zu organisieren. Diese Frage lässt sich verbinden mit
Rüdiger Hachtmanns Vorstellung einer „Neuen Staatlichkeit“,22 die sich im
Dritten Reich entwickelt habe. Mit ihr versucht er „die ungeheure Dynamik
und Mobilisierungsfähigkeit“23 des Regimes zu erklären. Die „Neue Staatlichkeit“ sei gekennzeichnet gewesen durch als „charismatische Verwaltungsstäbe“
agierende Sondergewalten24 und neuartige besondere Kommunikationsformen
des NS-Regimes: „interinstitutionelle Koordinationsgremien, formelle und informelle ,Querverbünde‘ sowie Klubs und (Herren)Gesellschaften“.25 Lassen
sich solche formellen und informellen Netzwerke und Kommunikationsformen
auch bei der Organisation der Arbeitskräftelenkung in der Region Chemnitz
finden? Und schließlich: Inwieweit waren die regionalen Verantwortungsträger
bereit, etwaige Freiräume in der Ausübung ihrer Tätigkeit in den Dienst des
Nationalsozialismus bzw. der Kriegsführung zu stellen, also „dem Führer entgegen[zu]arbeiten“?26
Eine solche Fragestellung verlangt nach der Explikation von Effizienzkriterien, an denen der Erfolg der NS-Arbeitseinsatzpolitik gemessen wird, auch
wenn die methodischen Schwierigkeiten erheblich sind. Dabei ergibt sich unter
anderem das Problem, dass sich kriegswirtschaftliche Effizienz eigentlich nur
anhand ihrer Produktivität bestimmen lässt, also anhand der Menge der produzierten Rüstungsgüter in Relation zu den aufgewendeten Produktionsfaktoren.
Abgesehen jedoch von den methodischen und quellenmäßigen Schwierigkeiten,
die sich einer exakten Messung des Rüstungsgüterausstoßes entgegenstellen,27
22 Rüdiger Hachtmann, Elastisch, dynamisch und von katastrophaler Effizienz – zur Struktur der neuen Staatlichkeit des Nationalsozialismus. In: Reichardt/Seibel (Hg.), Staat,
S. 29–73; vgl. auch ders., „Neue Staatlichkeit im NS-System – Überlegungen zu einer
systematischen Theorie des NS-Herrschaftssystems und ihrer Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue. In: Jürgen John/Horst Möller/Thomas Schaarschmidt (Hg.), Die
NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007,
S. 56–79.
23 Hachtmann, Elastisch, S. 33.
24 Vgl. ebd., S. 35–59.
25 Vgl. ebd., S. 60–67, Zitat siehe 60.
26 Vgl. Kershaw, Hitler 1889–1936, S. 665–667; Bernhard Gotto, Dem Gauleiter entgegen arbeiten? Überlegungen zur Reichweite eines Deutungsmusters. In: John/Möller/
Schaarschmidt (Hg.), NS-Gaue, S. 80–99.
27 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 36 f. Die Zahlen von Rolf Wagenführ, Die deutsche
Industrie im Kriege 1939–1945, 2. Auflage Berlin (West) 1963, die lange Zeit als Grundlage der Forschung galten, sind in jüngerer Zeit in einer Reihe von Aspekten in Zweifel
gezogen worden. Vgl. Adam Tooze, No Room for Miracles. German Industrial Output
in World War II reassessed. In: GG, 31 (2005), S. 339–464.
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Fragestellung und Forschungsstand
15
ist dieser zudem nicht nur von der Anzahl der für die Produktion zur Verfügung
stehenden Arbeitskräften, sondern genauso von den verfügbaren Rohstoffen
und Maschinen sowie der Arbeitsorganisation, insbesondere dem Grad der Rationalisierung der Produktion, abhängig, sodass sich hieraus ein gültiger Maßstab für die Effizienz der Arbeitseinsatzverwaltung allein nicht ableiten lässt.
In der hier vorliegenden Studie werden daher folgende, in historischen Darstellungen häufig verwendete, aber selten explizit gemachte Effizienzkriterien
verwendet. Erstens wird ein den Quellen inhärenter Maßstab verwendet, den
bereits die handelnden Zeitgenossen benutzten: Inwieweit und wie lange gelang
es den Arbeitskräftelenkungsinstanzen vor Ort, Forderungen der nächsthöheren Ebene, beispielsweise bei der Stellung von Arbeitskräftekontingenten in andere Arbeitsamtsbezirke, zu erfüllen? Welchen Erfolg hatten die Chemnitzer
Instanzen im Vergleich zu anderen Regionen mit ihren Maßnahmen? Dabei
ist freilich im Auge zu behalten, dass dieser quellenimmanente zeitgenössische
Maßstab wenig darüber aussagt, ob die den lokalen Institutionen gestellten Aufgaben im Sinne des Ziels eines Produktivitätszuwachses der Kriegswirtschaft
überhaupt sinnvoll waren.
Eine Annäherung an die Frage der Effizienz der Arbeitseinsatzpolitik ermöglicht, zweitens, die Feststellung der Anzahl Arbeitskräfte, die die Arbeitseinsatz­
instanzen des Chemnitzer Raums für die Rüstungsindustrie rekrutieren konnten
sowie die Behandlung der Frage, in welchem Ausmaß sie das vorhandene Arbeitskräftepotenzial überhaupt für die Kriegswirtschaft mobilisieren konnten.
Letzteres Thema wird in der Forschung vor allem in Bezug auf die Frauenarbeit
intensiv diskutiert, wobei häufig die Rekrutierungsfähigkeiten in den Ländern
der Alliierten als Vergleichsmaßstab dienen.28
28 Vgl. Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im
Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995; Rüdiger Hachtmann, Industriearbeiterinnen in der deutschen Kriegswirtschaft. In: GG, 19 (1993), S. 332–366; ders., „… artgemäßer Arbeitseinsatz der jetzigen und zukünftigen Mütter unseres Volkes“. Industrielle Erwerbstätigkeit von Frauen 1933 bis 1945 im Spannungsfeld von Rassismus,
Biologismus und Klasse. In: Werner Röhr/Brigitte Berlekamp (Hg.), „Neuordnung“ Europas. Vorträge vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus und Weltkriegsforschung
1992–1996, Berlin 1996, S. 233–250; Richard J. Overy, „Blitzkriegswirtschaft“? Finanzpolitik, Lebensstandard und Arbeitseinsatz in Deutschland 1939–1942. In: VfZ,
36 (1988), S. 379–435, hier 425–432; Recker, Sozialpolitik, insbes. S. 74–81, 180–186,
292; Dörte Winkler, Frauenarbeit im Dritten Reich, Hamburg 1977; Stefan Bajohr, Die
Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit in Deutschland 1914–1945, Marburg
1979; Ludwig Eiber, Frauen in der Kriegsindustrie. Arbeitsbedingungen, Lebensumstände und Protestverhalten. In: Martin Broszat/Elke Fröhlich/Anton Großmann (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, Band III: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil B, München
1981, S. 569–644, insbes. 575–582; Kroener, Ressourcen, insbes. S. 770–774, 949;
Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, insbes. S. 835 f., 881–884; Karen Hagemann,
„Jede Kraft wird gebraucht“. Militäreinsatz von Frauen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. In: Bruno Thoß/Hans-Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn
2002, S. 79–106, hier 993 f.
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16
Einleitung
Drittens, und dieses Effizienzkriterium steht bei den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt, wird nach Handlungsmustern gesucht, die auf der Reichs­
ebene entstehende Dysfunktionen auf der lokalen Ebene mildern oder gar aufheben konnten. Dabei ist insbesondere zu untersuchen, inwieweit die lokalen
Instanzen trotz der Konkurrenz der einzelnen Herrschaftsträger, sachbezogen
im Sinne der Regimeziele zusammenarbeiteten. Wie gestalteten sich die Kommunikationsbeziehungen der einzelnen lokalen Institutionen wie etwa dem Rüstungskommando Chemnitz, den Wehrersatzdienststellen, den Arbeitsämtern,
der Industrie- und Handelskammer Chemnitz untereinander und wie waren die
Verantwortlichkeiten verteilt? In welchem Ausmaß gelang es, die zwischen den
Herrschaftsträgern auf Reichsebene häufig nicht abgestimmten adhoc-Aktionen
an der Basis zu koordinieren? Zu berücksichtigen ist dabei auch die Rolle der
unteren NSDAP-Gliederungen, deren Herrschaftspraxis lediglich für einige Regionen außerhalb Sachsens bereits systematisch untersucht worden ist.29 Wie
stark etwa die Kreisleitungen oder Ortsgruppen in die Organisation der Arbeitskräftelenkung im Krieg involviert waren,30 ist eine Frage, die wegen der nur
splitterhaften Parteiüberlieferung für das Untersuchungsgebiet und für Sachsen
besonders schwierig zu beantworten ist.
Obwohl die Mittelinstanz, etwa die Rüstungsinspektion und ihre Einbettung
in die Landes- bzw. NSDAP-Gauverwaltung, nicht das eigentliche Thema dieser
29 Konflikte mit dem Verwaltungsapparat, vor allem in Auseinandersetzung mit den Land­
räten, berücksichtigen Claudia Roth, Parteikreis und Kreisleiter der NSDAP unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, München 1997, S. 194–333; Christine Arbogast,
Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP: Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS-Elite 1920–1960, München 1998, S. 37–73, 49–57, 99–
126; Michael Rademacher, Die Kreisleiter der NSDAP im Gau Weser-Ems, Marburg
2005, S. 344–346, 363; Sebastian Lehmann, Kreisleiter der NSDAP in Schleswig-Holstein. Lebensläufe und Herrschaftspraxis einer regionalen Machtelite, Bielefeld 2007, S.
236–313, insbes. 312 f. sowie 477–478; nicht sehr ergiebig für die hier vorliegende Studie wegen des stark gruppenbiografischen Ansatzes Wolfgang Stelbrink, Die Kreisleiter
der NSDAP in Westfalen und Lippe. Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang, Münster 2003; sowie Christine Müller-Botsch, „Den richtigen Mann an
der richtigen Stelle“. Biographien und politisches Handeln von unteren NSDAP-Funktio­
nären, Frankfurt a. M. 2009. Übergreifend zur Geschichte der NSDAP vgl. Armin Nolzen, Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft. In: Das Deutsche Reich und
der Zweite Weltkrieg. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr,
Band 9/2: Jörg Echternkamp (Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft. 1939–1945. Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, München 2005, S. 99–193; Wolfgang Benz (Hg.),
Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt a. M. 2009;
für die Geschichte der Ortsgruppen einschlägig Carl-Wilhelm Reibel, Das Fundament
der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen. 1932–1945, Paderborn 2002.
30 Vgl. dazu bisher Peter, Rüstungspolitik; Andreas Ruppert, „Der nationalsozialistische
Geist lässt sich nicht in die Enge treiben, auch nicht vom Arbeitsamt“. Zur Auseinandersetzung zwischen dem Kreisleiter der NSDAP in Lippe und dem Leiter des Arbeitsamtes Detmold in den Jahren 1939 bis 1943. In: Lippische Mitteilungen, 62 (1993), S.
253–283.
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Fragestellung und Forschungsstand
17
Arbeit darstellt, so ist zur Lösung insbesondere der letztgenannten Frage eine
Berücksichtigung dieser Ebene unerlässlich, vor allem angesichts des nahezu
völligen Fehlens von Forschungsergebnissen zur politischen Geschichte des
Gaues Sachsen während der Kriegszeit31 wie auch der ungünstigen Forschungslage zu anderen Ländern und Gauen.32 Um die Prozesse auf den unteren Verwaltungsebenen nicht isoliert und ohne Rückkoppelung an zentrale Entscheidungen zu schildern, nimmt in der vorliegenden Studie das Geschehen auf der
Rüstungsbezirks- bzw. Landes- und Gauebene einen vergleichsweise großen
Raum ein. Die Studie fragt nach der Bedeutung von Entscheidungsprozessen
und institutionellen Veränderungen in den mittleren Verwaltungsinstanzen für
die unteren Instanzen in der Region Chemnitz, nach den Kommunikationsbeziehungen zwischen beiden Ebenen und nach deren Veränderungen im Laufe
des Zweiten Weltkrieges. Nützlich waren dafür die Untersuchung von Roland
Peter zur Kriegswirtschaft in Baden, die allerdings noch stark der klassischen
Polykratietheorie verpflichtet ist, und die Struktur- und Funktionsgeschichte des
Gaues Thüringen, mit der Markus Fleischhauer die Impulse der neueren Verwaltungsgeschichte aufnimmt.33
Verwaltung und Gesellschaft stehen in einem engen Bezug zueinander. Das
gilt insbesondere für die unteren Verwaltungs- und Lenkungsinstanzen. Zwar
waren die lokalen Verwaltungen Teil des NS-Herrschaftsapparates. Sie waren
aber auch Teil der lokalen Gesellschaft und ihre Mitarbeiter nicht selten Teil
der lokalen Eliten. Darüber hinaus wurden sie immer wieder mit den Reaktionen einzelner Bevölkerungsgruppen auf staatliche Lenkungsmaßnahmen direkt
konfrontiert. Sie waren daher in einem hohen Maße Vermittlungsinstanzen zwischen dem Herrschaftsapparat und der Kriegsgesellschaft. Deshalb lässt sich
über ihr Handeln auch die Kriegsgesellschaft analysieren, die geprägt war von
der Vorbereitung, dem Verlauf und den Konsequenzen der Kampfhandlungen
sowie von der Tatsache, dass der Krieg das NS-Regime radikalisierte und ihm
31 Vgl. Andreas Wagner, Partei und Staat. Das Verhältnis von NSDAP und innerer Verwaltung im Freistaat Sachsen 1933–1945. In: Clemens Vollnhals (Hg.), Sachsen in der
NS-Zeit, Leipzig 2002, S. 41–56, hier 53–56; ders., Martin Mutschmann. Der braune Gaufürst (1933–1945). In: Mike Schmeitzner/Andreas Wagner (Hg.), Von Macht
und Ohnmacht. Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919–1952,
Beucha 2006, S. 279–308, hier 302–306; Thomas Schaarschmidt, Die regionale Ebene
im zentralistischen „Führerstaat“ – das Beispiel des NS-Gaus Sachsen. In: Michael Richter/Thomas Schaarschmidt/Mike Schmeitzner (Hg.), Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Dresden 2007, S. 125–140; Mike Schmeitzner, Der Fall
Mutschmann. Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal, Beucha 2011, insbes. S. 47.
32 Vgl. Thomas Schaarschmidt, Regionalität im Nationalsozialismus – Kategorien, Begriffe, Forschungsstand. In: John/Möller/Schaarschmidt (Hg.), NS-Gaue, S. 13–21, hier
19 f.; Jürgen John, Die Gaue im NS-System. In: ebd., S. 22–55, hier 26–29; Markus
Fleischhauer, Der NS-Gau Thüringen 1939–1945. Eine Struktur- und Funktionsgeschichte, Köln 2010, S. 7–15.
33 Vgl. Peter, Rüstungspolitik; Fleischhauer, NS-Gau Thüringen.
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18
Einleitung
die Umsetzung rassistischer nationalsozialistischer Gesellschaftsvorstellungen
in einer vorher nicht vorstellbaren Konsequenz und Grausamkeit ermöglichte.34
Dies war auch in der Region Chemnitz zu spüren, selbst wenn der Kriegsalltag
in der sächsischen Provinz im Vergleich zu den besetzten Gebieten Osteuropas
oder den früh vom Luftkrieg betroffenen Reichsgebieten bis zu den ersten verheerenden Bombenangriffen im Sommer 1944 vergleichsweise normal verlief.
Der Kriegsgesellschaft in der Region Chemnitz wird in der Studie, ausgehend von der Arbeitskräftelenkung in drei Aspekten nachgespürt: Erstens ist
zu fragen, inwieweit die Praxis der nationalsozialistischen Arbeitskräftelenkung
von gesellschaftlichen Dimensionen geprägt war. Roland Peter hat bereits für
die mittlere Verwaltungsebene darauf hingewiesen, dass die geschilderten poly­
kratischen Konkurrenzphänomene sowie Rücksichtnahmen auf regionale Gegebenheiten zwar ökonomische Ineffizienzen bewirkten, auf der gesellschaftlichen Ebene aber gerade dadurch zur Stabilisierung der „Heimatfront“ und
damit des NS-Regimes beitrugen.35 Lassen sich solche Stabilisierungsmechanismen auch im Arbeitseinsatz der Region Chemnitz ausmachen? Wie gingen die
mit der Arbeitskräftelenkung befassten Institutionen mit den Reaktionen aus
der Bevölkerung oder aus den Unternehmen um? Waren Inkonsequenzen bei
der Durchsetzung zentraler Vorgaben nicht mitunter nur auf den ersten Blick
effizienzmindernd, auf den zweiten Blick aber in der Gemengelage widerstreitender lokaler Interessen und Traditionen nicht vielmehr der gangbarste und
damit auch ökonomisch der Erfolg versprechendste Weg?
Zweitens, und hier verlässt die Studie die Ebene des Verwaltungshandelns,
ist zu prüfen, wie sich die Zusammensetzung der Arbeiterschaft in der R
­ egion,
in den einzelnen Wirtschaftsbranchen und ihren Unternehmen veränderte. Was
war das Resultat des kriegsalltäglichen Handelns von Verwaltungen, Unternehmen und den betroffenen Arbeiterinnen und Arbeitern? Diese Frage wird modellhaft anhand der Mitarbeiter der maßgebenden industriellen Branchen in der
Region, der Metall- bzw. Maschinenbauindustrie als Vertreter eines rüstungsrelevanten Industriezweiges und der Textilindustrie als klassischem Konsumgüterzweig behandelt.
Drittens schließlich wird am Beispiel der sowjetischen Zwangsarbeiter in
der Region Chemnitz die Radikalisierung der „Rassengesellschaft im Krieg“
veranschaulicht. Ohne das millionenfache Heer der Zwangsarbeiter, wären
34 Jörg Echternkamp, Der Kampf an der inneren und äußeren Front. Grundzüge der Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg,
Band 9/1: ders. (Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939–1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben, S. 1–92, hier 2–4; Dietmar Süß/Winfried Süß, „Volksgemeinschaft“ und Vernichtungskrieg. Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland. In:
dies. (Hg.), Das „Dritte Reich“, S. 79–100, hier 93–98; vgl. auch Karen Hagemann,
Heimat – Front. Militär, Gewalt und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege. In: dies./Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Heimat – Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a. M. 2002, S. 12–52, hier 30–35.
35 Peter, Rüstungspolitik, S. 366.
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Fragestellung und Forschungsstand
19
alle Anstrengungen der nationalsozialistischen Arbeitskräftelenkung sehr früh
zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Zwangsarbeit zählt inzwischen zu einem
der am besten erforschten Themen der Geschichte des Zweiten Weltkrieges.36
Auch liegen zur Ausbeutung von zivilen ausländischen Arbeitern und Kriegsgefangenen in der Region Chemnitz bereits einige Erkenntnisse aus der Lokalgeschichtsschreibung vor.37 Vergleichsweise intensiv erforscht ist überdies die
36 Vgl. die Literaturübersichten von Fabian Lemmies, „Ausländereinsatz“ und Zwangsarbeit
im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Neuere Forschungen und Ansätze. In: AfS, 50 (2010),
S. 395–444; Manfred Grieger, Industrie und Zwangsarbeitersystem. Eine Zwischenbilanz. In: Zwangsarbeiterforschung in Deutschland. Das Beispiel Bonn im Vergleich und
im Kontext neuerer Untersuchungen. Hg. von Dittmar Dahlmann, Albert S. Kotowski,
Norbert Schloßmacher und Joachim Scholtyseck, Essen 2010, S. 87–99; Constantin
Goschler, Sklaven, Opfer und Agenten. Tendenzen der Zwangsarbeiterforschung. In:
Norbert Frei/Tim Schanetzky (Hg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen 2010, S. 116–132; Jens Binner, NS-Besatzungspolitik und Zwangsarbeit. Ideologie und Herrschaftspraxis. In: Zeitschrift für
Weltgeschichte, 12 (2011) 1, S. 67–90. Siehe auch Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerungen und Geschichte. Ein Projekt der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
in Kooperation mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum (http://www.zwangsarbeit-archiv.de; 17.2.2014); Ulrich Herbert, Fremdarbeiter.
Politik und Praxis des „AusländerEinsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches,
2. Auflage Berlin 1986; Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten
Europa 1939–1945, Stuttgart 2001, in überarbeiteter Form erschienen als ders., Die soziale Differenzierung der ausländischen Zivilarbeiter, Kriegsgefangenen und Häftlinge im
Deutschen Reich. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/2: Jörg Echternkamp (Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft. 1939–1945. Ausbeutung, Deutungen,
Ausgrenzung, München 2005, S. 485–576, hier 488; Ela Hornung/Ernst Lang­thaler/
Sabine Schweitzer, Zwangsarbeit in der Landwirtschaft. In: Das Deutsche Reich und der
Zweite Weltkrieg, Band 9/2, S. 577–666; Oliver Rathkolb, Zwangsarbeit in der Industrie. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/2, S. 667–727. Zu den
Kriegsgefangenen siehe Rüdiger Overmans, Die Kriegsgefangenenpolitik des Deutschen
Reiches 1939–1945. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/2, S.
729–875; zur wirtschaftlichen Ausbeutung von Konzentrationslagerhäftlingen siehe Hermann Kaienburg, Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003; Jan Erik Schulte, Zwangsarbeit
und Vernichtung. Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das Wirtschaftsverwaltungshauptamt 1933–1945, Paderborn 2001; Naasner, Kriegswirtschaft, S. 197–443;
zum Land Sachsen vgl. Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen 1939–1945. Beiträge eines
Kolloquiums in Chemnitz am 16. April 2002 und Begleitband einer Gemeinschaftsausstellung der sächsischen Staatsarchive. Hg. vom sächsischen Staatsministerium des Innern, Halle (Saale) 2002.
37 Vgl. Steffen Krannich, Die Ausbeutungs- und Unterdrückungspolitik des faschistischen
deutschen Imperialismus gegenüber ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkriegs, dargestellt am Beispiel von Chemnitzer Betrieben. In:
Beiträge zur Heimatgeschichte von Karl-Marx-Stadt, 22 (1978), S. 39–55; Pfalzer, Aspekte,
S. 197–218; Klaus Müller, Zwangsarbeit im Werkzeugmaschinenbaubetrieb „Deutsche NILES-Werke AG“, Siegmar-Schönau. In: Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen, S. 63–72;
Schaller, Fabrikarbeit, S. 118–131; Horst Kühnert, Ausländische Zwangsarbeiter in Mittweidaer Betrieben. In: Verlagerter Krieg, S. 50–54; zur Auto Union vgl. Kukowski/Boch,
Kriegswirtschaft, S. 239–318, 413–431; Franziska Hockert, Zwangsarbeit bei der Auto
Union: Eine Fallstudie der Werke Audi und Horch in Zwickau, Hamburg 2012. Siehe auch
die Lebenserinnerungen von Inge Auerbacher, die als Kind mit ihren Eltern in F
­ reiberg
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20
Einleitung
Zwangsarbeit der Konzentrationslagerhäftlinge in der Region.38 Doch hier werden die menschenverachtenden Auswirkungen des landläufig nicht selten als
fachlich und damit mutmaßlich neutral eingestuften Verwaltungshandelns im
rassistischen Unrechtsstaat besonders deutlich.
Die Darstellung legt den Schwerpunkt auf einige bisher weniger ausgeleuchtete Aspekte des Themas: Neben den quantitativen Dimensionen der Zwangsarbeitereinsatzes in der Region steht vor allem die Einbettung der Zwangsarbeit in
den Gesamtkontext der regionalen Arbeitskräftelenkung im Vordergrund. Besondere Aufmerksamkeit gilt den „Ostarbeitern“, da sie die größte Gruppe unter den in der Region eingesetzten Zwangsarbeitern waren.39 Dabei verknüpft
und Chemnitz Zwangsarbeit leisten musste; Inge Auerbacher/Bozenna Urbanowicz
­Gilbride, Verlorene Kindheit. 1938–1945, Chemnitz 2012, S. 29–44. Einen Überblick
über die unternehmensbezogenen Archivbestände gibt Klaus Müller, Zwangsarbeit in
Süd-Westsachen und ihre Widerspiegelung in den Wirtschaftsbeständen des Sächsischen
Staatsarchivs Chemnitz. In: Reininghaus/Reimann, Zwangsarbeit, S. 236–242. Für eine
Zusammenfassung der in dieser Arbeit behandelten quantitativen Aspekte des Zwangsarbeitereinsatzes in der Region Chemnitz vgl. Silke Schumann, Zivile ausländische Arbeiter
und Kriegsgefangene in der Region Chemnitz. Zu den quantitativen Dimensionen des nationalsozialistischen Zwangsarbeitereinsatzes. In: Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen,
S. 49–56.
38 Vgl. zu den Lagern der Region Ulrich Fritz, Chemnitz. In: Wolfgang Benz/Barbara Diestel
(Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager,
Band 4: Flossenbürg. Mauthausen. Ravensbrück, München 2006, S. 80–82; ders., Flöha.
In: ebd., S. 109–112; ders., Hohenstein-Ernstthal. In: ebd., S. 147–149; ders., Mülsen St.
Micheln. In: ebd., S. 203–206; ders., Oederan. In: ebd., S. 219–223; ders., Siegmar-Schönau. In: ebd. S. 256–258; ders., Venusberg. In: ebd., S. 263–266; ders., Wilischthal. In:
ebd., S. 267–270; ders., Zschopau. In: ebd. S. 279–281; Pascal Cziborra, Frauen im KZ.
Möglichkeiten und Grenzen der historischen Forschung am Beispiel des KZ Flossenbürg
und seiner Außenlager, Bielefeld 2010; ders., KZ Oederan. Verlorene Jugend, Bielefeld
2008; ders., KZ Venusberg. Der verschleppte Tod, Bielefeld 2008; ders., KZ Wilischthal.
Unter Hitlerauges Aufsicht, Bielefeld 2007; ders., KZ Zschopau. Sprung in die Freiheit,
Bielefeld 2005; Hans Brenner/Michael Düsing, Zur Geschichte der Außenlager des KZ
Flossenbürg in Freiberg und Oederan. In: Michael Düsing (Hg.), Wir waren zum Tode
bestimmt. Lódz – Theresienstadt – Auschwitz – Freiberg – Oederan – Mauthausen. Jüdische Zwangsarbeiterinnen erinnern sich, Leipzig 2002, S. 21–37; Hans Brenner, Der
„Arbeitseinsatz“ der KZ-Häftlinge in den Außenlagern des Konzentrationslagers Flossenbürg – ein Überblick. In: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.),
Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Band II,
Frankfurt a. M. 2002, S. 682–706; Karl-Heinz Gräfe/Hans-Jürgen Töpfer: Ausgesondert
und fast vergessen. KZ-Außenlager auf dem Territorium des heutigen Sachsen, Dresden
1996; Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 369–412; siehe zur Organisationsgeschichte
der Konzentrationslager allgemein Benz/Diestel (Hg.), Ort, Band 1: Die Organisation
des Terrors, München 2005; Herbert/Orth/Dieckmann (Hg.): Konzentrationslager;
Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische
Organisationsgeschichte, Hamburg 1999.
39 Vgl. zum Thema „Ostarbeiter“ Jens Binner, „Ostarbeiter“ und Deutsche im Zweiten Weltkrieg. Prägungsfaktoren eines selektiven Deutschlandbildes, München 2008; Alexander
Plato/Almut Leh/Christoph Thonfeld (Hg.), Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Wien 2008; Julia Hildt, Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus der Sowjetunion in Bonn. In: Zwangsarbeiterforschung in Deutschland. Das Beispiel Bonn im Vergleich und im Kontext neuerer
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Quellenlage
21
die Darstellung die Bilder, welche die nationalsozialistische Propaganda vom
sowjetischen Staat40 und seiner Bevölkerung zeichnete, mit der Arbeits- und Lebenswirklichkeit der in der Region Chemnitz eingesetzten Zwangsarbeiter. Eine
Fallstudie zu zwei firmeneigenen Entbindungslagern für „Ostarbeiterinnen“
wirft darüber hinaus ein Schlaglicht auf bisher kaum beschriebene Unternehmensstrategien zur Sicherung von Arbeitskräften sowie das bisher weniger untersuchte Schicksal von schwangeren Müttern, Säuglingen und Kleinkindern.41
2.Quellenlage
Die Quellenlage zum behandelten Thema ist komplex. Ein Teil der relevanten
Bestände wie beispielsweise derjenige des Arbeitsamtes Chemnitz oder der
Wehrersatzbehörden in der Region ist fast vollständig verloren gegangen. Daher
stützt sich die Arbeit in wesentlichen Punkten auf zwei zentrale Bestände wichtiger Akteure der Arbeitskräftelenkung. Dies sind erstens die Unterlagen der
Industrie- und Handelskammer Chemnitz im Sächsischen Hauptstaatsarchiv
Dresden (SächsHStAD), heute im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz (StAC).
Sie enthalten umfangreiche Überlieferungen zur NS-Arbeitskräftelenkung im
gesamten Regierungsbezirk Chemnitz. Darunter sind die nahezu komplette
Sammlung der monatlichen Berichte der Arbeitsämter der Region zwischen
1939 und 1943 sowie die umfangreichen Handakten des „Kräftebedarfsreferenten“ Walter Linse (1903–1953) zur Beteiligung der Kammer bei Stilllegungsund Auskämmungsaktionen besonders aufschlussreich.
Der zweite für diese Arbeit zentrale Bestand besteht im Kriegstagebuch
des Rüstungskommandos Chemnitz im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg
(BA-MA Freiburg), das umfangreiche Informationen zur Organisation der
Kriegswirtschaft im Rüstungsbereich Chemnitz (Regierungsbezirke Chemnitz
und Zwickau) liefert. Ergänzende Informationen birgt der ebenfalls dort liegende Bestand der Rüstungsinspektion IV/IVa, die für Sachsen bzw. zeitweise
auch für Teile Sachsen-Anhalts zuständig war. Außerdem wurden für Hintergrundinformationen vor allem der dortige Bestand des Wehrwirtschafts- und
­Rüstungsamtes des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) sowie einzelne
Personalakten herangezogen.
Für einzelne Fragestellungen enthielten die Firmenüberlieferungen im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz wichtige Quellen. Die Auswertung konzentrierte
Untersuchungen. Hg. von Dittmar Dahlmann, Albert S. Kotowski, Norbert Schloßmacher
und Joachim Scholtyseck, Essen 2010; Hans F. W. Gringmuth, Zwangsarbeit in Lippe.
Zum Verhalten von Firmenleitungen lippischer Betriebe gegenüber „Ostarbeiterinnen“
(1942–1944). In: Ingo Kolboom/Andreas Ruppert (Hg.), Zeit-Geschichten aus Deutschland, Frankreich, Europa und der Welt. Lothar Albertin zu Ehren, Lage 2008, S. 305–318.
40 Vgl. Wolfram Wette, Das Russlandbild in der NS-Propaganda. Ein Problemaufriss. In:
Hans-Erich Volkmann (Hg.), Das Russlandbild im Dritten Reich, Köln 1994, S. 55–78.
41 Zum Forschungsstand vgl. Spoerer, Differenzierung, S. 565, Kap. V. 5. 6.
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22
Einleitung
sich dabei vor allem auf die für die Region zentralen Branchen des Maschinenund Kraftfahrzeugbau sowie der Textilfertigung. Besonders aufschlussreich waren die umfangreichen Akten der Auto Union AG, der Maschinenfabrik Kappel
GmbH oder der Wanderer-Werke AG. Die Überlieferungen der oft kleineren
Textilfirmen sind bruchstückhafter, dafür in Einzelaspekten teilweise sehr aussagekräftig, wie beispielsweise die Unterlagen zur Zwangsarbeit russischer und
polnischer Arbeiterinnen der VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha bzw.
ihrer Vorgängerfirmen.
Demgegenüber haben sich die Bestände der Kreishauptmannschaft (des Regierungsbezirks) Chemnitz und der nachgeordneten Amtshauptmannschaften
(Kreise) im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Chemnitz für das hier behandelte
Thema als weitgehend unergiebig erwiesen. Weitere Bestände wie beispielsweise diejenigen des Gewerbeaufsichtsamtes Chemnitz, des sächsischen Wirtschaftsministeriums sowie eine splitterhafte Überlieferung zu den sächsischen
Arbeitsämtern enthielten punktuell wichtige Informationen.
Ergänzende Erkenntnisse konnten aus den Resten der Überlieferung des Arbeitsamtes Chemnitz und den Unterlagen des Rates der Stadt Chemnitz gewonnen werden, welche das Stadtarchiv Chemnitz aufbewahrt. Schließlich wurden
im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde der Bestand des Reichsarbeits-, des Reichswirtschaftsministeriums und des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition bzw. für Rüstung und Kriegsproduktion (Ministerium Speer) und Bestände
des ehemaligen Berlin Document Center (BDC) herangezogen.
Bei den gedruckten Quellen ist vor allem die verwaltungsinterne Zeitschrift
„Der Arbeitseinsatz in Sachsen“42 mit umfangreichen und detaillierten Statistiken bis hinunter auf die Ebene der Arbeitsämter zu erwähnen sowie das
ebenfalls behördeninterne Pendant „Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich“43
für die Reichsebene. In diesen Zeitschriften findet sich, u. a. mit den Arbeitsbuchstatistiken, für die Zeit bis in das Jahr 1944 hinein lange unterschätztes
Zahlenmaterial zur Arbeitskräfteentwicklung.
Aufgrund der negativen Einschätzung der Arbeitsbuchstatistiken durch das
USS Bombing Survey44 dominierten in der Forschung lange die als zuverlässiger geltenden Zahlen von Rolf Wagenführ, dem Statistiker im Planungsamt des
Speerministeriums, die sich im Wesentlichen auf die Ergebnisse der „kriegswirtschaftlichen Kräftebilanz“ sowie auf die „Kräftebilanz der Industrie“ des
Statistischen Reichsamtes stützen.45 Adam Tooze, Jonas Scherner und Jochen
42 Der Arbeitseinsatz in Sachsen (bis 1934 erschienen als „Der Arbeitsmarkt in Sachsen“,
1934–1938 als „Mitteilungsblatt des Landesarbeitsamtes Sachsen“), 1930–1944.
43 Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich (ab 1943 erschienen als „Der Arbeitseinsatz im
Großdeutschen Reich“), 1938–1945.
44 Vgl. The Effects of Strategic Bombing on the German War Economy. Hg. von der United States Strategic Bombing Survey, Overall Economic Effects Division am 31.10.1945,
S. 199 (http://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=mdp.39015017684799;view=1up;seq=7;
7.12.1015).
45 Vgl. Rolf Wagenführ, Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, 2. Auflage Berlin
(West) 1963, S. 137.
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Quellenlage
23
Streb haben kürzlich durch eine umfassende quellenkritische Bewertung die
Problematik dieses Zahlenmaterials offengelegt und seine oftmals unkritische
Übernahme durch die historische Forschung bemängelt.46
Die Arbeitsbuchstatistiken fanden demgegenüber bisher wenig Verwendung.47 Doch anders als die USS Bombing Survey unterstellt,48 konnten die Arbeitseinsatzstatistiker im Zweiten Weltkrieg sehr wohl zwischen unselbstständigen Arbeitnehmern, Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen
unterscheiden, wenn auch seit 1940 nicht mehr zwischen Arbeitern und Angestellten derselben Berufsgruppe.49 Das beweisen auch die sehr detaillierten
Anweisungen zur Auszählung der Arbeitsbuchkarteien.
Für bestimmte Erfassungsformen wurden die Arbeitsämter sogar explizit
dazu angehalten, lediglich Arbeiter und Angestellte zu zählen.50 Kleine Unschärfen werden von den Fachstatistikern in ihren Ergebnispublikationen sorglich
dokumentiert.51 Sie dürften die Aussagekraft aber nur wenig geschmälert haben. Damit enthalten die Arbeitsbuchstatistiken in der Regel zuverlässiges Zahlenmaterial, das bis auf die Ebene der Arbeitsamtsbezirke hinunter Aussagen zu
historischen Trends erlaubt.52
46 Vgl. Tooze, No Room; Jonas Scherner/Jochen Streb, Das Ende eines Mythos. Albert
Speer und das so genannte Rüstungswunder. In: VSWG, 93 (2006), S. 172–196.
47 Als Ausnahme vgl. Mark Spoerer, NS-Zwangsarbeiter im Deutschen Reich. Eine Statistik vom 30.9.1944 nach Arbeitsamtsbezirken. In: VfZ, 49 (2001), S. 665–684.
48 Die Verantwortlichen hatten den Verdacht, dass die Arbeitsämter mitunter alle Arbeitsbuchinhaber gezählt und daher auch Arbeitgeber und angeblich sogar deren Familienmitglieder oder invalidisierte Arbeitnehmer in die Zahl der Arbeiter und Angestellten
einbezogen hätten. Vgl. Effects, S. 199.
49 Vgl. 285/40 Umstellung des „Berufsverzeichnisses für die Statistik der Arbeitsvermittlung“ auf die Notwendigkeiten des Arbeitseinsatzes – Einordnung der Selbständigen und
der mithelfenden Familienangehörigen in die Arbeitsbuchkartei. In: Runderlasse des RAM
für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 2 (1940), S.
141–144, hier 143 f. (BA Berlin, R 3903, Berufskundliches Archiv, B13/176/10, unpag.).
50 Vgl. 687/40 Arbeitsbuchstatistik Abu 4. In: Runderlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 2 (1940), S. 341–346 (ebd.);
575/41 Arbeitsbuchstatistik: Auszählung der beschäftigten Arbeiter und Angestellten
nach Wirtschaftszweigen sowie Berufsgruppen und -arten am 15. August 1941. In: Rund­
erlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 3 (1941), S. 341–346 (ebd.); 82/42 Arbeitsbuchstatistik Abu 4b: Auszählung
der beschäftigten Arbeiter und Angestellten nach Wirtschaftszweigen. In: Runderlasse
des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung,
4 (1942), S. 44–46 (ebd.); 917/42 Anleitung für die Statistik Abu 4. In: ebd.
51 Vgl. z. B. Arbeitsbucherhebung vom 5.7.1940. Die Ergebnisse der Erhebung über die Arbeiter und Angestellten (ohne die zum Wehrdienst eingezogenen). Bearbeitet im RAM,
S. 1 (BA Berlin, R 3903, Berufskundliches Archiv, B13/176/10, unpag.). Aufgrund der
in Gang befindlichen Ausstellung von Arbeitsbüchern für Selbstständige und mithelfende Familienangehörige wurde hier eine geringe Anzahl dieser Personen als „Arbeiter
und Angestellte“ gezählt.
52 Auf einzelne Probleme bei der Erstellung von Zahlenreihen wie abweichende Zuschnitte von Arbeitsamtsbezirken, die Miterfassung von Frontsoldaten als Arbeiter und Angestellte im ersten Kriegsjahr etc. wird bei der jeweiligen Tabelle hingewiesen.
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II. Die Region Chemnitz
In der historischen Fachliteratur ist der Begriff der Region nicht klar umrissen.1
Allgemein scheint sich ein Wortgebrauch durchgesetzt zu haben, der als „­ Region“
im Sinne eines Forschungsobjekts der Regionalgeschichte alle jene Gebiete bezeichnet, die größer sind als eine Kommune und kleiner als ein Staat. Dabei
werden Reichs- oder Bundesländer teils mit einbezogen, teils aus der Definition
auch ausgegrenzt.2 Vielfach bezieht sich der Begriff Region nicht so sehr auf
die geografische Ausdehnung eines Untersuchungsgebietes, sondern wird im
Hinblick auf bestimmte methodische Zugänge definiert: So werden Regionen
etwa als „kleine(re), lebensweltliche, häufig wirtschaftsgeographisch umgrenzte
Bereiche und Kulturräume“3 bezeichnet, bei deren Erforschung die Regionalgeschichte mit ihrer Kombination von Struktur-, Sozial- und Alltagsgeschichte ihre besonderen Stärken zur Geltung bringen kann.4 Oder die Region wird
im Sinne der Kulturhistoriker als „mental map“ in den Köpfen der Menschen,
also aus der Deutung der Einzelindividuen heraus konstruiert.5 Die Unschärfe
des Begriffs „Region“ verweist auf das empirische Problem, für ein konkretes
Forschungsvorhaben eine bestimmte Region von einer anderen abzugrenzen.
Die folgende Bestimmung der Untersuchungsregion erfolgt daher pragmatisch,
ausgehend von der Fragestellung der vorliegenden Studie.6
1
2
3
4
5
6
Vgl. Otto Dann, Die Region als Gegenstand der Geschichtswissenschaft. In: AfS, 23
(1983), S. 652–661, hier 658; Ulrike Albrecht, Zum Stellenwert der historischen Regionalforschung heute. In: Hans-Jürgen Gerhard, Struktur und Dimension. Festschrift
für Karl-Heinrich Kaufhold zum 65. Geburtstag, Band 2: Neunzehntes und Zwanzigstes Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 597–608, hier 598; zu unterschiedlichen Raumdefinitionen siehe Gerd Schwerhoff, Historische Raumpflege. Der „spatial turn“ und die
Praxis der Geschichtswissenschaft. In: Wilfried Reininghaus/Bernd Walter (Hg.), Räume – Grenzen – Identitäten. Westfalen als Gegenstand landes- und regionalgeschichtlicher Forschung, Paderborn 2013, S. 11–27; zum Abgrenzungs- und Methodenstreit
zwischen Landes- und Regionalhistorikern vgl. Bernd Walter, Geschichtsforschung und
Geschichtsschreibung aus regionaler Perspektive. Bilanz und neue Herausforderungen.
In: Reininghaus/Walter (Hg.), Räume, S. 29–52, hier 43–45.
Vgl. Dann, Region, S. 659; Kurt Düwell, Die regionale Geschichte des NS-Staates zwischen Mikro- und Makroanalyse. Forschungsaufgaben zur „Praxis im kleinen Bereich“.
In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, 9 (1983), S. 287–344, hier 291–294;
Ulrich von Hehl, Nationalsozialismus und Region. Bedeutung und Probleme einer regionalen und lokalen Erforschung des Dritten Reiches. In: Zeitschrift für bayerische
Landesgeschichte, 56 (1993), S. 111–129, hier 125–128.
Von Hehl, Nationalsozialismus, S. 117.
Ebd.
Vgl. Jürgen Reulecke, Von der Landesgeschichte zur Regionalgeschichte. In: Geschichte
im Westen, 6 (1991), S. 202–208, hier 205 f.; Werner K. Blessing, Diskussionsbeitrag.
Nationalsozialismus unter „regionalem Blick“. In: Möller/Wirsching/Ziegler (Hg.), Nationalsozialismus, S. 47–56, hier 47 f.
Vgl. Axel Flügel, Chancen der Regionalgeschichte. In: Dillmann (Hg.), Prisma, S. 25–47,
hier 26.
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26
1.
Die Region Chemnitz
Abgrenzung und Binnenstruktur
Ziel der Studie ist es, die Umsetzung der Arbeitseinsatzpolitik des NS-Regimes
durch die unteren Verwaltungsinstanzen am Beispiel einer Region zu analysieren und damit einen Beitrag zur Herrschaftsgeschichte des NS-Regimes zu leisten. Daher liegt es nahe, sich bei der Wahl der Untersuchungsregion an den
dafür zuständigen administrativen Einheiten zu orientieren.
Definiert man in einem ersten Zugriff den Regierungsbezirk Chemnitz als
Untersuchungsregion und prüft die geografische Zuständigkeit der wichtigsten
mit der Arbeitskräfteverteilung in diesem Gebiet befassten Institutionen und
Behörden, so ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Die Bezirke der Arbeitsämter waren offenbar von anderen administrativen Einheiten unabhängig strukturiert worden. 1939 befanden sich sechs Arbeitsamtsbezirke im Gebiet des
Regierungsbezirks, nämlich Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und
Olbernhau, deren Grenzen sich aber nicht mit den Kreisgrenzen deckten. Bei
zwei weiteren, nämlich Burgstädt und Freiberg, gehörten Randgebiete ebenfalls
zum Regierungsbezirk Chemnitz.7
Das für die Arbeitskräftelenkung zentrale Rüstungskommando Chemnitz
war für ein sehr viel größeres Gebiet als das des Regierungsbezirks Chemnitz
zuständig. Es betreute die Rüstungsunternehmen in den Regierungsbezirken
Chemnitz und Zwickau sowie bis 1942 auch im Kreis Freiberg.8 Bei der Industrie- und Handelskammer Chemnitz, der im Verlauf des Krieges eine wichtige
Rolle in der Arbeitskräftelenkung zuwuchs, deckte sich die geografische Zuständigkeit im Wesentlichen mit dem Regierungsbezirk Chemnitz, allerdings zuzüglich der zum Regierungsbezirk Leipzig gehörenden Landkreise Döbeln und
Rochlitz einschließlich der Stadtkreise Döbeln und Mittweida.9
Weitere für die Arbeitskräftelenkung von Fall zu Fall wichtige Behörden
und Institutionen wiesen wiederum andere geografische Zuständigkeiten auf:
Bei den Wehrersatzbehörden zum Beispiel, die die Musterung und Einberufung von Soldaten für die Front durchführten, betreuten die Wehrmeldeämter
jeweils ein bis zwei Stadt- oder Landkreise. Sie unterstanden den Wehrbezirkskommandos, von denen vier das Gebiet des Regierungsbezirks Chemnitz abdeckten. Diese gehörten wiederum zur Wehrersatzinspektion Chemnitz, deren
7
8
9
Vgl. die Karte zur Arbeitslosigkeit im Bezirke des Landesarbeitsamts Sachsen am
31.3.1939. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, 18 (1939), ungez. Blatt zwischen S. 44
und 45.
Vgl. Gebietseinteilung W In IV. Karte. Stand 31.8.1938 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/27,
Bl. 24). Die Rüstungskommandos hießen bis zum November 1939 Wehrwirtschaftsstellen und die Rüstungsinspektionen Wehrwirtschaftsinspektionen. Zur Ausgliederung des
Kreises Freiberg siehe RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse
vom 1.7.–30.9.1942 (RW 21–11/12, Bl. 4RS-19, hier 17RS).
IHK Chemnitz am 31.12.1940, Die wirtschaftsgeographische und die wirtschaftliche
Struktur des Chemnitzer Kammerbezirks (BA Berlin, R 3101/9454, Bl. 23–32, hier 23).
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Abgrenzung und Binnenstruktur
27
Wehrersatzbezirk ganz Südwestsachsen sowie Teile des angrenzenden Sudetenlandes umfasste.10
Lediglich die Organisation der NSDAP-Kreisleitungen orientierte sich weitgehend am gängigen administrativen Muster, indem die Parteikreise im Wesentlichen den Verwaltungskreisen entsprachen. Freilich umfassten die Parteikreise,
anders als die Verwaltungskreise, auch die kreisfreien Städte, mit Ausnahme
von Chemnitz, das eine eigene NSDAP-Kreisleitung besaß.11
Angesichts einer Vielzahl von Behörden und Institutionen mit je unterschiedlichen Zuständigkeitsgebieten lässt sich also die Untersuchungsregion nur annäherungsweise abgrenzen. Gleich welchen Zuschnitt man wählt, müssen bei
Forschungsergebnissen immer wieder Ausfransungen über den eigentlichen
Untersuchungsraum hinaus in Kauf genommen werden. Das folgende Porträt
des Regierungsbezirks Chemnitz, bis 1939 als Kreishauptmannschaft Chemnitz
bezeichnet,12 zeigt, warum dieser als Untersuchungsgebiet für eine Studie über
die NS-Arbeitskräftelenkung von besonderem Interesse ist.
Das Gebiet mit seinen rund 2 000 Quadratkilometern lag zwischen dem Freiberger Raum im Osten und der tschechoslowakischen Grenze im Süden. Es
grenzte im Westen an den Regierungsbezirk Zwickau und im Nordosten an das
Land Thüringen. Im Norden verlief die Grenze südlich der Städte Burgstädt
und Mittweida, die zum Regierungsbezirk Leipzig zählten. Dem Regierungsbezirk Chemnitz nachgeordnet waren sechs Kreise, bis 1939 als Amtshauptmannschaften bezeichnet. Die beiden südlich gelegenen Kreise Annaberg und Marienberg erstreckten sich entlang des Erzgebirgskammes, der hier eine natürliche
geografische Grenze zur Tschechoslowakei bzw. nach deren Zerschlagung und
teilweisen Einverleibung ins Deutsche Reich zum Reichsgau Sudetenland bildete. Nördlich von ihnen lagen die Kreise Stollberg, Chemnitz-Land und Flöha.
Sie umfassten die Ausläufer des Erzgebirges sowie Teile des Chemnitz-Zwickauer Beckens. Der nordwestlich des Kreises Stollberg gelegene Kreis Glauchau
markiert den allmählichen Übergang des Hügellandes in die Leipziger Tieflandbucht. Die Großstadt Chemnitz im Norden der Kreishauptmannschaft besaß
ebenso wie die Mittelstädte Glauchau und Meerane den Sonderstatus einer
kreisfreien Stadt.13
10 Vgl. OKW am 9.11.1938 betr. Wehrbezirkseinteilung für das Deutsche Reich, gültig ab
10.11.1938 (BA-MA Freiburg, RH 15, Bl. 3–37, hier 9 f.); VO über die Wehrbezirkseinteilung für das Deutsche Reich vom 15.9.1939. In: RGBl. I (1939), S. 1777–1820, hier
1785 f.; VO über die Wehrbezirkseinteilung für das Deutsche Reich vom 17.7.1941. In:
RGBl. I (1941), S. 391–434, hier 399.
11 Vgl. Organisationsbuch der NSDAP. Hg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP,
München 1936, S. 130, 218.
12 In Sachsen wurden bis 1939 die Regierungsbezirke als Kreishauptmannschaften und die
Kreise als Amtshauptmannschaften bezeichnet. Da der Untersuchungszeitraum dieser
Studie im Wesentlichen die Zeit ab 1939 umfasst, wird im Folgenden die Bezeichnung
Kreis- bzw. Amtshauptmannschaft nur dann verwendet, wenn sich eine Aussage ausschließlich auf die Zeit vor 1939 bezieht.
13 Vgl. Grundriss zur Deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945. Hg. vom Johann-Gottfried-Herder-Institut, Reihe B, Band 14: Sachsen. Bearb. von Thomas Klein, Marburg/
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Die Region Chemnitz
Die vergleichsweise dominante Stellung von Industrie und Handwerk in der
Region Chemnitz lässt sich an den Ergebnissen der Volks- und Betriebszählung
1925 ablesen. Diese Zählung wird als Grundlage des Porträts der Region verwendet, weil sie ihre gewachsenen Strukturen besser abbildet als die Zählungen
von 1933 und 1939, bei denen verzerrende Effekte der Wirtschaftskrise bzw.
der vom NS-Regime forcierten Aufrüstung zu erwarten sind.
Während 1925 im Deutschen Reich etwa 40 Prozent aller Erwerbstätigen
ihren Lebensunterhalt in Industrie und Handwerk erwirtschafteten,14 waren es
in Sachsen, das sich in der NS-Zeit mit dem Beinamen „Die Werkstatt Deutschlands“ schmückte,15 gut 60 Prozent. In der Kreishauptmannschaft Chemnitz
erfuhr dieser Prozentsatz nochmals eine Steigerung: Dort gaben bei der Volkszählung im Jahr 1925 mehr als 70 Prozent aller Erwerbstätigen an, hauptberuflich in Industrie und Handwerk tätig zu sein. Ähnliche Werte fanden sich in
Sachsen nur in der benachbarten Kreishauptmannschaft Zwickau. Die Struktur
der übrigen Regierungsbezirke war etwas ausgeglichener: In Leipzig und Dresden spielten Handel und Verkehr, in Bautzen die Landwirtschaft eine größere
Rolle.16 Daher eignet sich der Regierungsbezirk Chemnitz besonders gut, um
das Vorgehen und die Auswirkungen der NS-Arbeitskräftelenkung hinsichtlich
des industriellen Sektors zu untersuchen.
Es war charakteristisch für die skizzierte Wirtschaftsstruktur, dass 1925 der
Anteil der Arbeiter an allen Erwerbstätigen im Chemnitzer Raum höher lag als
überall sonst in Sachsen, die Kreishauptmannschaft Zwickau ausgenommen:
Fast 60 Prozent waren Arbeiter, dazu kamen weitere fünf Prozent, die sich als
Hausgewerbetreibende oder Heimarbeiter in einem prekären Zwischenstatus
zwischen unternehmerischer Selbstständigkeit und abhängiger Arbeit befanden.17 Die Gesellschaft der Chemnitzer und auch der Zwickauer Region war
damit, rein quantitativ gesehen, proletarischer geprägt als in Sachsen insgesamt, wo Arbeiter und Hausgewerbetreibende zusammen nur 57 Prozent der
14
15
16
17
Lahn 1982, S. 287–311 sowie die Karte im hinteren Umschlag: Ravensteins Bürokarte
Nr. 14: Das Land Sachsen, o. J. Siehe auch Lutz Maerker/Helge Paulig, Kleine Sächsische Landeskunde, Dresden 1993, S. 25 sowie geografische Karte im hinteren Umschlag.
Eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48 (1929), S.
21 f. (hauptberuflich Erwerbstätige nach Wirtschaftszweigen: Abteilung B sowie Abteilungen A–F insgesamt).
Vgl. Max Selbach, Die Werkstatt Deutschlands, Berlin 1940.
Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, Heft 10, S. 2–5,
80, 86, 92, 99, 110 (hauptberuflich Erwerbstätige der Abteilungen A–F; Zahlen für
Sachsen bzw. die Amtshauptmannschaften). Die Volkszählung von 1925 zählte die
Hausangestellten, die im Haushalt ihres Arbeitgebers lebten, nicht als hauptberuflich
Erwerbstätige, sondern wie die Familienangehörigen als Berufszugehörige. Sie sind in
diesen und den nachfolgenden Berechnungen daher nicht enthalten.
Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, Heft 10, S. 2–5,
S. 80, 86, 92, 99, 110 (hauptberuflich Erwerbstätige der Abteilungen A–F mit der Bezeichnung Arbeiter [Kürzel c] bzw. mit der Bezeichnung Hausgewerbetreibende [Kürzel
afr]).
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Abgrenzung und Binnenstruktur
29
Erwerbstätigen stellten.18 Im gesamten Deutschen Reich umfasste diese Gruppe
sogar weniger als die Hälfte aller Erwerbstätigen.19
Ein Drittel der Erwerbstätigen der Kreishauptmannschaft Chemnitz verdiente 1925 seinen Lebensunterhalt in der Textilindustrie, dem nach Beschäftigten
gerechnet größten Industriezweig der Region.20 Die Kreishauptmannschaft stellte zu dieser Zeit mit gut 180 000 Berufstätigen fast die Hälfte aller sächsischen
Textilbeschäftigten. Sie gehörte zum großen südwestsächsischen Textilbezirk,
der neben Chemnitz und dem Erzgebirge auch die Gegend um Zwickau, Plauen und das Vogtland umfasste.21 In der benachbarten Kreishauptmannschaft
Zwickau war daher mit einem Viertel aller Berufstätigen ein ähnlich hoher Erwerbstätigenanteil in der Textilindustrie zu verzeichnen wie in Chemnitz.22 In
den übrigen Landesteilen spielte dieser Wirtschaftszweig mit Ausnahme der
Lausitz eine deutlich geringere Rolle.23
Am Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau des Freistaates hatte die Kreishauptmannschaft Chemnitz ebenfalls starken Anteil: Hier arbeitete mehr als
ein Viertel aller sächsischen Beschäftigten in dieser Branche. Ein Zehntel der
Erwerbstätigen in der Kreishauptmannschaft Chemnitz verdiente damit seinen
Lebensunterhalt. Wie in Sachsen insgesamt, so war auch in der Kreishauptmannschaft Chemnitz der Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau, nach Beschäftigten gerechnet, der zweitgrößte Industriezweig.24
Damit stellten allein zwei Branchen, die Textilfertigung und der Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau, fast die Hälfte aller Erwerbstätigen der Region. Während die Textilindustrie als klassische Konsumgüterindustrie in der
18 Eigene Berechnungen nach ebd., S. 2–5.
19 Eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48 (1929), S.
24 f. (Erwerbstätige im Deutschen Reich, Stellung im Beruf, c: Arbeiter, afr: mithelfende
Familienangehörige). Obwohl in der Tabelle nicht erwähnt, handelt es sich bei diesen
Zahlen ebenfalls um die hauptberuflich Erwerbstätigen.
20 Eigene Berechnung nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, H. 10, S. 92, 94
(hauptberuflich Erwerbstätige, Kreishauptmannschaft Chemnitz insgesamt [A–F] und
Wirtschaftsgruppe X. Textilindustrie).
21 Vgl. Friedrich H. Walter, Die sächsische Textilindustrie. Dargestellt auf Grund der Betriebszählung vom 16. Juni 1925. In: Sächs. St. LA Z, 74/75 (1928/1929), S. 248–279,
hier 255 f.; zur Konstanz der Gebiete von der Vorindustrialisierung bis ins frühe 20.
Jahrhundert vgl. Karin Zachmann, Die Kraft traditioneller Strukturen. Sächsische Textilregionen im Industrialisierungsprozeß. In: Uwe John/Josef Mazerath (Hg.), Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag,
Stuttgart 1997, S. 509–535, hier 410 f., 534 f.
22 Eigene Berechnung nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, H. 10, S. 99, 101
(hauptberuflich Erwerbstätige, Kreishauptmannschaft Zwickau insgesamt [A–F] und
Wirtschaftsgruppe X. Textilindustrie).
23 Vgl. Walter, Textilindustrie, S. 255 f.
24 Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, Heft 10, S. 8, 94
(hauptberuflich Erwerbstätige, Wirtschaftsgruppe VII. Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau, für Sachsen und die Kreishauptmannschaft Chemnitz) sowie S. 4, 92 (hauptberuflich Erwerbstätige insgesamt [A–F] für Sachsen und die Kreishauptmannschaft
Chemnitz).
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Die Region Chemnitz
­ riegszeit eher das Ziel von Arbeitskräfteabzügen und FertigungseinschränkunK
gen war, hatte der Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau eher die Möglichkeit, sich in die Rüstungsfertigung einzuschalten und sich damit Arbeitskräftezuweisungen zu sichern. Die Frage nach dem Ausmaß der Verschiebung von
Arbeitskräften von der Konsumgüter- zur Rüstungsindustrie lässt sich wegen
der Dominanz dieser beiden Branchen im Regierungsbezirk Chemnitz daher
besonders gut verfolgen.
Über 60 Prozent der Berufstätigen in der Textilindustrie waren weiblich,25
daher erklärt die zentrale Rolle der Textilindustrie den hohen Frauenanteil an
den Berufstätigen in der Industrie des Chemnitzer Raums insgesamt: 38 Prozent aller Erwerbstätigen in Industrie und Handwerk waren Frauen,26 auf ganz
Sachsen bezogen betrug dieser Anteil lediglich 33 Prozent, im Gesamtreich gar
nur 22 Prozent.27
Auch bezogen auf die Wohnbevölkerung war die Zahl der erwerbstätigen
Frauen in der Kreishauptmannschaft Chemnitz traditionell besonders hoch: Die
allgemeine Erwerbsquote lag 1925 mit 43 Prozent deutlich über dem sächsischen Durchschnitt von 39 Prozent. Nur in der Kreishauptmannschaft Bautzen
war mit 44 Prozent ein noch höherer Wert zu verzeichnen.28 Im Reich betrug er
dagegen nur 36 Prozent.29 Dieser hohe Frauenanteil unter der erwerbstätigen
Bevölkerung ist bei der Behandlung der in der Forschung stark diskutierten
Frage zu berücksichtigen, inwieweit Frauen als Arbeitskräftepotenzial für die
Kriegswirtschaft durch das Regime mobilisiert werden konnten.
Die bisherige Schilderung der Kreishauptmannschaft Chemnitz verdeutlichte wesentliche Unterschiede ihrer Wirtschafts- und Sozialstruktur zu den
Kreishauptmannschaften Leipzig, Dresden und Bautzen, außerdem ergab sich
daraus eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit mit der Kreishauptmannschaft
Zwickau, die allerdings aus arbeitstechnischen Gründen nur punktuell berücksichtigt werden kann.
25 Eigene Berechnung nach Statistik des Deutschen Reiches, Band 403, Heft 10, S. 94
(hauptberuflich Erwerbstätige, Kreishauptmannschaft Chemnitz, Wirtschaftsgruppe X.
Textilindustrie).
26 Ebd., S. 92 (hauptberuflich Erwerbstätige der Wirtschaftsabteilung B [Industrie und
Handwerk], Kreishauptmannschaft Chemnitz).
27 Ebd., S. 2 (hauptberuflich Erwerbstätige der Wirtschaftsabteilung B [Industrie und
Handwerk]), Land Sachsen; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48 (1929),
S. 24 f. (hauptberuflich Erwerbstätige, Wirtschaftsabteilung B).
28 Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reiches, Band 403, Heft 10, S. 4,
80, 86, 92, 99, 110 (hauptberuflich Erwerbstätige, Wirtschaftsabteilungen A-F, Sachsen und Kreishauptmannschaften); Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48
(1929), S. 5 f. (Wohnbevölkerung Sachsen und Kreishauptmannschaften); vgl. auch
Georg Lommatzsch, Die Ergebnisse der Volkszählungen im Freistaat Sachsen in den
Jahren 1834 bis 1925. In: Sächs. St. LA Z, 72/73 (1926/27), S. 2–62, hier 61.
29 Eigene Berechnung nach Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48 (1929), S.
5 (Wohnbevölkerung) und 25 (hauptberuflich Erwerbstätige, Wirtschaftsabteilungen
A–F).
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Abgrenzung und Binnenstruktur
31
Für die Untersuchung von Bedeutung sind darüber hinaus einige Merkmale
der Binnenstruktur der Region Chemnitz, die auf der Ebene der Amtshauptmannschaften bzw. Kreise hervortreten. Dabei fällt erstens die für die Kreishauptmannschaft relativ untypische Struktur der Amtshauptmannschaft Marienberg auf: Anders als in allen anderen Teilgebieten der Region spielte hier
die Textilindustrie keine überragende Rolle. Ihr Erwerbstätigenanteil lag mit
knapp 14 Prozent weit unter dem Durchschnitt des Erwerbstätigenanteils der
Textilindustrie der gesamten Kreishauptmannschaft. Überdies musste sie ihre
Vorrangstellung mit dem Holz- und Schnittstoffgewerbe teilen, das rund 12 Prozent aller Erwerbstätigen in der Amtshauptmannschaft beschäftigte.30
Zweitens wird eine extreme räumliche Konzentration des Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbaus in der Stadt Chemnitz und dem unmittelbaren Umland
sichtbar: In Chemnitz verdiente ein knappes Fünftel aller Erwerbstätigen sein
Brot in diesem Wirtschaftszweig, in der umliegenden gleichnamigen Amtshauptmannschaft immerhin mehr als ein Zehntel. Zusammen stellten die Stadt und
die sie umgebende Amtshauptmannschaft mehr als 80 Prozent aller Beschäftigten der Kreishauptmannschaft in dieser Branche.31 In den drei unmittelbar
benachbarten Orten Chemnitz, Siegmar und Schönau konzentrierten sich die
wichtigsten Betriebe: Zu nennen sind hier beispielsweise die Wanderer-Werke
AG sowie die Audi AG Rasmussen, die 1932 mit Teilen der Wanderer-Werke,
DKW und Horch zur Auto Union verschmolzen wurde.32
Im Gegensatz zum Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau verteilte sich
das Textilgewerbe eher flächig über Kreishauptmannschaft und besaß Standorte nicht nur in den Städten, sondern auch in vielen kleinen Siedlungen, sodass
die Region eine Ansammlung von Industriedörfern bildete.33 Dabei lassen sich
jedoch, und dies ist ein drittes wesentliches Merkmal der Binnenstruktur der
Chemnitzer Region, Zonen mit sehr unterschiedlich geprägter Textilfertigung
unterscheiden. In Chemnitz selbst und seinem unmittelbaren Umland herrschte
neben der Textilveredelungsindustrie34 vor allem die Strickerei und Wirkerei
30 Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, Heft 10, S. 98,
100 (hauptberuflich Erwerbstätige insgesamt (A–F), Wirtschaftsgruppe X. Textilindustrie und XIV. Holz- und Schnittstoffgewerbe; Amtshauptmannschaft Marienberg und
Stadtgemeinde Olbernhau).
31 Eigene Berechnungen nach ebd., S. 92 f. (hauptberuflich Erwerbstätige insgesamt,
Kreishauptmannschaft Chemnitz, Stadt Chemnitz, Amtshauptmannschaft Chemnitz
[eingerechnet Landgemeinden Limbach und Siegmar]) sowie S. 94 f. (hauptberuflich
Erwerbstätige in der Wirtschaftsgruppe VII. Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau,
Kreishauptmannschaft Chemnitz, Stadt Chemnitz und Amtshauptmannschaft Chemnitz
[eingerechnet Landgemeinden Limbach und Siegmar]).
32 Zu den Wanderer-Werken siehe Schneider, Unternehmensstrategien; zur Auto Union
vgl. Kukowski, Einführung; Feldkamp (Hg.), 75 Jahre Auto Union; Kukowski/Boch,
Kriegswirtschaft.
33 Vgl. Walter, Textilindustrie, S. 256.
34 Vgl. ebd., S. 271 f.
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32
Die Region Chemnitz
vor. Dieses Gebiet reichte im Westen, wo vor allem Strickhandschuhe und Trikotagen produziert wurden, mit den Orten Hohenstein-Ernstthal, Oberlungwitz
und Lichtenstein-Callnberg in die Amtshauptmannschaft Glauchau hinein. Mit
der Strumpfwarenfertigung im Süden umfasste es große Teile der Amtshauptmannschaft Stollberg und stieß, beispielsweise mit den Orten Thum, Gelenau
und Geyer, in die nördlichen Randgebiete der Amtshauptmannschaft Annaberg
vor. Nördlich von Chemnitz lagen die Zentren Limbach, Oberfrohna und Burgstädt, die hauptsächlich Stoffhandschuhe und Trikotagen herstellten. Die Stadt
Burgstädt befand sich bereits in der Kreishauptmannschaft Leipzig, sodass hier
die politisch-administrativen Grenzen der Kreishauptmannschaft ein historisch
gewachsenes Wirtschaftsgebiet durchschnitten.35
Eine grenzübergreifende Lage besaß auch das Wollspinnerei- und Wollwebereigebiet, zu dem große Teile der Amtshauptmannschaft Glauchau einschließlich ihrer kreisfreien Städte Meerane und Glauchau gehörten. Es erstreckte sich
über Crimmitschau in die Zwickauer Kreishauptmannschaft hinein; mitunter
wird sogar das sächsisch-thüringische Grenzgebiet um Reichenbach und Greiz
sowie der Geraer Raum dazugerechnet und die Region als sächsisch-thüringischer Wollindustriebezirk bezeichnet.36 Die Beziehung der Glauchauer und
Meeraner Textilunternehmer dürfte nach Thüringen und in den Zwickauer Raum hinein ähnlich intensiv oder sogar intensiver gewesen sein als nach
Chemnitz. Zumindest sprachen sie sich im August 1945 dafür aus, den von
den amerikanischen Besatzern in den vergangenen Monaten neu geschaffenen
Handelskammerbezirk Zwickau beizubehalten. Die Unternehmer begründeten
das damit, „dass um den Mittelpunkt Zwickau herum die Städte Glauchau,
Meerane, Crimmitschau, Werdau, Kirchberg, Reichenbach, Mylau, Netzschkau
und der große Mülsengrund, der zwischen Glauchau und Zwickau liegt, ein
geschlossenes Textilzentrum bilden, und zwar ein Textilzentrum, welchem die
Weberei, Spinnerei, Kämmerei den Stempel als Textilzentrum aufdrückt“.37
Die Baumwollweberei war innerhalb der Kreishauptmannschaft Chemnitz
ebenfalls vor allem in der Amtshauptmannschaft Glauchau, daneben in der
Stadt Chemnitz und der Amtshauptmannschaft Flöha vertreten, allerdings überall von geringerer Bedeutung als andere Zweige der Textilproduktion.38 Wich-
35 Vgl. ebd., S. 264–267; Gerhard Röllig, Die Wirtschaft Sachsens. Eine geographische Studie, Leipzig 1928, S. 129–132; Gerhard Große, Die Wirtschaftsgeographische Struktur
des Mittelsächsischen Hügellandes, Zwickau, Univ. Diss. Leipzig 1938, S. 34–38.
36 Vgl. Röllig, Wirtschaft, S. 123; W. Klein, Die Überwindung der Arbeitslosigkeit in Sachsen. In: Sächs. St. LA Z, 83/84 (1937/38), S. 145–222, hier 149 f.; Walter, Textilindustrie, S. 257.
37 Ernst Funke, Privatkontor, an Wirtschaftskammer Sachsen am 2.8.1945, ohne Betreff
(StAC, Fa. Bößneck & Meyer und Nachf., 22, unpag.).
38 Vgl. Walter, Textilindustrie, S. 259, 262.
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Abgrenzung und Binnenstruktur
33
tiger ist, dass die Amtshauptmannschaft Flöha den Beschäftigten nach eines
der wichtigsten Zentren der sächsischen Baumwollspinnerei darstellte.39 Die
Stickerei-, Spitzen-, Tüll- und Gardinenindustrie, deren Zentrum im Vogtland
lag, spielte in der Kreishauptmannschaft Chemnitz dagegen keine große Rolle.
Hier entsprachen die Grenzen des Produktionsgebietes im Großen und Ganzen
den politisch-administrativen Grenzen zwischen den Kreishauptmannschaften
Chemnitz und Zwickau.40
Insgesamt verdichteten sich in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht im Regierungsbezirk Chemnitz jene Charakteristika, die gemeinhin als typisch für
ganz Sachsen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten:41 erstens die
Dominanz der Industrie gegenüber dem Handels- und Dienstleistungsbereich
sowie der Landwirtschaft und damit eine zahlenmäßig große Arbeiterschaft,
zweitens die zentrale Rolle der Textilindustrie, eines klassischen Konsumgüter­
industriezweiges, der als traditionell weiblicher Beschäftigungszweig zu hohen
Frauenanteilen unter den Berufstätigen in Industrie und Handwerk führte, und
drittens die im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands überdurchschnittlich hohe Beschäftigtenzahl im Maschinenbau, dem nach der Textilbranche
zweitgrößten Industriezweig Sachsens, der im Verlauf des Krieges besonders
wichtig für die Rüstungsfertigung wurde.
Damit kann der Regierungsbezirk Chemnitz als ein Modellfall für die sächsische Entwicklung studiert werden. Besondere Aufmerksamkeit widmet die
Studie dem industriellen Kernraum des Regierungsbezirks, der in etwa die
Grenzen des Arbeitsamtsbezirks Chemnitz umfasst und in dem die Stadt Chemnitz sowie das damals noch selbstständige, später von Chemnitz eingemeindete
Siegmar-Schönau liegen. Der Blick auf das ländlichere und stärker durch die
Textilindustrie geprägte Umland ist zum einen durch die größeren regionalen
Zuständigkeitsbereiche von IHK und Rüstungskommando gegeben, ermöglicht
aber auch interessante Vergleichsperspektiven innerhalb der Untersuchungsregion. Quantitative Auswertungen werden darüber hinaus mitunter auch auf den
gesamten südwestsächsischen Raum bezogen, bestehend aus den Regierungsbezirken Chemnitz und Zwickau, wenn das Handeln von Behörden wie dem
Rüstungskommando diesen Raum so konstituiert.
39 Vgl. ebd., S. 259.
40 Vgl. ebd., S. 268–270.
41 Vgl. z. B. Ulrich Heß, Rüstungs- und Kriegswirtschaft in Sachsen (1935–1945). In: Werner Bramke/Ulrich Heß (Hg.), Sachsen und Mitteldeutschland. Politische, wirtschaftliche und soziale Wandlungen im 20. Jahrhundert, Weimar 1995, S. 73–91, hier 82.
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Die Region Chemnitz
2. Wirtschaftliche Entwicklung bis zum Kriegsbeginn
Die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1933 traf Sachsen besonders hart:
Schon Zeitgenossen sahen kleine Betriebsgrößen, die weite Entfernung der Unternehmen von Rohstofflagern sowie von internationalen Seehäfen, steigende
Löhne und die enorme Exportabhängigkeit der sächsischen Unternehmen als
Ursachen dafür an.42 In der Region Chemnitz mit ihren Arbeitsamtsbezirken
Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau, Olbernhau und Thalheim stieg
die Zahl der Arbeitssuchenden von knapp 34 000 im März 1929 bis zum Höhepunkt der Krise im Mai 1932 auf über 150 000.43
Besonders stark litt das industrielle Zentrum der Region mit den Orten
Chemnitz, Siegmar und Schönau. „Die Not ist zur Katastrophe geworden“, charakterisierte das Chemnitzer Jugend- und Wohlfahrtsamt bereits Anfang 1931
die Situation.44 Im Mai 1932 suchten im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz 185 von
1 000 Einwohnern Arbeit. Das entsprach der höchsten Arbeitslosenrate in ganz
Sachsen.45 Hintergrund dafür war die besonders hohe Krisenanfälligkeit des in
diesem Bezirk stark konzentrierten Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbaus:
Allein in der Stadt Chemnitz gingen zwischen 1928 und 1932 zwei Drittel aller
Arbeitsplätze in dieser Branche verloren, während die Textilindustrie knapp die
Hälfte ihrer Arbeitnehmer einbüßte. Insgesamt verlor die Stadt bis 1932 rund
60 000 Industriearbeitsplätze, davon allein 22 000 im Maschinen-, Apparateund Fahrzeugbau.46
Auch die meisten anderen Arbeitsamtsbezirke der Region lagen deutlich
oberhalb des sächsischen Durchschnitts von 142 Arbeitssuchenden je 1 000 Einwohnern. Lediglich der Arbeitsamtsbezirk Lugau mit seiner international auch
während der Krise noch vergleichsweise konkurrenzfähigen Strumpfindustrie
verzeichnete Arbeitslosenzahlen unter dem sächsischen Durchschnitt.47
42 Vgl. Michael C. Schneider, Die Wirtschaftsentwicklung von der Wirtschaftskrise bis
zum Kriegsende. In: Vollnhals (Hg.), Sachsen in der NS-Zeit, S. 72–84, hier 73; Rainer
Karlsch/Michael Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter, Leipzig
2006, S. 182–184.
43 Eigene Berechnungen nach Der Arbeitsmarkt in Sachsen, 8 (1929), S. 68; sowie ebd.,
11 (1932), S. 56. Zusammengerechnet wurden die Arbeitssuchendenzahlen der Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau, Olbernhau und Thalheim,
die grob der Kreishauptmannschaft Chemnitz entsprechen.
44 Die Katastrophe, o. V. In: Blätter des Jugend- und Wohlfahrtsamts der Stadt Chemnitz,
(1931) 19, S. 257–259, hier 257 (Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 7002, Bl. 6 f.,
hier 6).
45 Der Arbeitsmarkt in Sachsen, 11 (1932), S. 48; vgl. auch Karlheinz Schaller, Arbeitslosigkeit und Arbeitsverwaltung in Chemnitz von 1890 bis 1933, Chemnitz 1993, S. 79 f.
46 Die Industrie der Stadt Chemnitz nach den Arbeitnehmerzählungen am 1. August 1928
und 1932, o. D. (Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1524, Band 2, Bl. 89); vgl. auch
Helmut Bräuer und Gert Richter (Leitung des Autorenkollektivs), Karl-Marx-Stadt, Berlin 1988, S. 165.
47 Vgl. Der Arbeitsmarkt in Sachsen, 11 (1932), S. 48.
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Wirtschaftliche Entwicklung bis Kriegsbeginn
35
Der Höhepunkt der Krise war in der Region, gemessen an den Arbeitslosenzahlen, bereits im Sommer 1932 überschritten.48 Trotz des propagandistischen
Getöses um die nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ab
1933 waren weltwirtschaftliche Erholung und nationalsozialistische Rüstungspolitik die eigentlich ausschlaggebenden Faktoren für den wirtschaftlichen Aufschwung im Deutschen Reich während der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre.49
Freilich war Sachsen und insbesondere die Region Chemnitz dadurch besonders benachteiligt, dass das NS-Regime die hier vorherrschende Textilindustrie
systematisch deckelte, um die knappen Devisen in die Rüstungsindustrie umzulenken. Die Überwachung der Preisbildung, Einkaufsverbote oder -beschränkungen für Rohstoffe, Investitionseinschränkungen und die Kontingentierung
der Verarbeitungsmengen bremsten die wirtschaftliche Erholung dieses Industriezweiges während der gesamten 1930er-Jahre.50
Besonders die staatlich angeordnete Kurzarbeit im Gefolge der Faserstoffverordnung von September 1934 löste in Sachsen allgemeine Empörung aus: Die
Faserstoffverordnung finde weder bei Unternehmern noch bei den Arbeitern
Anklang, berichtete die sächsische Gestapo, die Stimmung sei insbesondere bei
den Arbeitern wegen der mit der Kurzarbeit verbundenen Lohnkürzungen sehr
gedrückt.51 Die Betriebe klagten darüber, nicht rentabel produzieren zu können, die Arbeiter seien der Meinung, dass die Löhne bei einer Obergrenze von
36 Wochenstunden den Lebensunterhalt nicht sichern könnten.52
Ende August 1935 waren im Reichsdurchschnitt noch 26 von 1 000 Einwohnern arbeitslos, im sächsischen Durchschnitt 49 und in den Arbeitsamtsbezirken Annaberg, Chemnitz, Glauchau und Olbernhau jeweils zwischen 54 und 62
je 1 000 Einwohner ohne Arbeit.53 Den Bezirken Flöha, Lugau und Thalheim
ging es allerdings erheblich besser. Dort lag die Arbeitslosenrate dagegen sogar
unter dem sächsischen Wert.
Vor allem der Arbeitsamtsbezirk Chemnitz litt noch lange unter der Krise.
Während sachsenweit und im ländlicheren Umland von Chemnitz die Zahl der
48 Vgl. Die Arbeitsmarktlage in Sachsen im Jahre 1932, o. V. In: Der Arbeitsmarkt in Sachsen, 12 (1933), S. 5 f.; Schaller, Arbeitslosigkeit, S. 83.
49 Vgl. Adam Tooze, Ökonomie des Terrors. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, S. 59–200; Michael C. Schneider, Rüstung, „Arisierung“,
Expansion. Wirtschaft und Unternehmen. In: Süß/Süß (Hg.), Das „Dritte Reich“, S.
185–203, hier 186 f.
50 Vgl. Gerd Höschle, Die deutsche Textilindustrie zwischen 1933 und 1939. Staatsinterventionismus und ökonomische Rationalität, Stuttgart 2004, S. 34–66.
51 Sächsisches Ministerium des Innern an Wirtschaftsministerium am 31.8.1934, auszugsweise Abschrift aus dem Monatsbericht Juli 1934 des Geheimen Staatspolizeiamts Sachsen (SächsHStAD, Sächsisches Arbeits- und Wirtschaftsministerium, 1557 Film, Bl. 4).
52 Sächsisches Ministerium des Innern am 18.9.1934, auszugsweise Abschrift. Lagebericht
im Freistaat Sachsen für den Monat August 1934 (SächsHStAD, Sächsisches Arbeitsund Wirtschaftsministerium, 1557 Film, Bl. 12–14, hier 13).
53 Mitteilungsblatt des Landesarbeitsamtes Sachsen, 14 (1935), ungez. Bl. zwischen S. 89
und 90.
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Die Region Chemnitz
Arbeitslosen sich langsam wieder der Vorkrisenzeit näherte, lag sie im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz im Sommer 1935 mit fast 28 000 noch immer fast dreimal
so hoch wie im Frühjahr 1929.54 Dementsprechend besserte sich die Stimmung
auch nur langsam: Viele Rentner seien verzweifelt, so berichtete die NS-Frauenschaft aus dem Kreis Chemnitz im September 1935, weil sie mit ihrer Rente
nicht auskämen. Auch bei den Erwerbslosen könne man noch viel Elend sehen.
An Schuhwerk, Kleidung und Feuerung fehle es überall. Überdies klagten die
Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter darüber, dass der Kurzarbeiterausgleich
zu spät gezahlt würde. Auch die Kurzarbeiter „hätten gern vom Winterhilfswerk
etwas an alten Kleidungsstücken oder Esswaren, damit ihre Not etwas gelindert
würde“.55 Mit dem Spinnstoffgesetz von Ende 1935 wurde zwar die verordnete
Kurzarbeit aufgehoben, die immer weiter um sich greifende Kontingentierung
von Verarbeitungsmengen behinderte die unternehmerische Entfaltung und damit die Erhöhung der Arbeiterverdienste jedoch weiterhin.56 Die Entwicklung
der Region zeigt, dass die forcierte Aufrüstung den Lebensstandard der Verbraucher überall im Reich senkte. Dabei verlangte sie denjenigen Regionen, in
denen vor allem Konsumgüter produziert wurden, einen besonders hohen Preis
ab, weil diese in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung stark benachteiligt wurden.
Die Metallindustrie einschließlich des Maschinen-, Apparate und Fahrzeugbaus erholte sich schneller von der Krise als die Textilindustrie und verzeichnete
bereits 1936 „reichlich Aufträge“.57 Gestützt von hohen Exportsubventionen
des Reichs, stiegen die Ausfuhren etwa von Büromaschinen und Werkzeugmaschinen, wie sie die Wanderer-Werke in Chemnitz produzierten, aus dem Reich
ab 1934 wieder an und erreichten 1937 wieder Vorkrisenniveau. Auch der
Binnenmarkt entwickelte sich positiv. Bei den Büromaschinen wurde er durch
besondere Abschreibungsmöglichkeiten gestützt, die Werkzeugmaschinen waren wiederum für die Ausweitung der Produktionsanlagen für die Rüstungsfertigung wichtig.58
54 Ebd., S. 93.
55 Stimmungsbericht der NS-Frauenschaft, Kreis Chemnitz, für Monat September 1935
(Sonderarchiv Moskau 519–4-99, unpag.). Den Hinweis auf dieses Dokument verdanke
ich Michael C. Schneider.
56 Vgl. z. B. Gendarmerie-Inspektor [Name unbekannt] an Amtshauptmann zu Flöha am
24.7.1936, Bericht über die innenpolitischen Verhältnisse im Bezirke der Amtshauptmannschaft Flöha im Juli 1936 (SächsHStAD, Amtshauptmannschaft Flöha 2373, Bl.
10); sowie Gendarmerie-Inspektor [Name unbekannt] an Amtshauptmann zu Flöha am
24.9.1936, Bericht über die innenpolitischen Verhältnisse im Bezirke der Amtshauptmannschaft Flöha im September 1936 (SächsHStAD, Amtshauptmannschaft Flöha
2373, Bl. 33–35, hier 34); Amtshauptmann zu Flöha an Kreishauptmann in Chemnitz
am 1.9.1936, Bericht über den Monat August 1936 (SächsHStAD, Amtshauptmannschaft Flöha 2373, Bl. 27 f., hier 27).
57 Bericht der W In IV an Reichskriegsministerium vom 16.5.1936 (BA-MA Freiburg, RW
19/13, Bl. 48–54, hier 50).
58 Vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, S. 98–101, 128–136.
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Wirtschaftliche Entwicklung bis Kriegsbeginn
37
Erst seit 1938, und damit deutlich später als andere Regionen, profitierten
auch Chemnitz und das Umland spürbar vom nationalsozialistischen Rüstungsaufschwung.59 Das Arbeitsamt Chemnitz notierte im April 1938 die geringste
Erwerbslosenzahl seit zehn Jahren.60 Ein Jahr später erreichte diese mit 1 540
Arbeitslosen einen Tiefststand, „wie er im hiesigen Bezirk noch nie zu verzeichnen war“.61 Mehr als die Hälfte der in den Jahren 1938 und 1939 noch regis­
trierten Arbeitslosen galt als „nicht voll einsatzfähig“.62 Die Arbeitslosigkeit ging
in der gesamten Region in einen Arbeitskräftemangel über, von dem insbesondere die Bezirke Flöha und Chemnitz betroffen waren.63 Die einzige Ausnahme
bildete das Gebiet um Burgstädt, Limbach Hartmannsdorf und Mühlau, das
sehr einseitig von der Stoffhandschuhindustrie geprägt war. Es galt auch 1938
noch als schwer betroffenes Notstandsgebiet mit hoher Arbeitslosigkeit, da die
Stoffhandschuhindustrie im Verlauf der 1930er-Jahre einen „vollkommenen
Verlust des Exportes“ 64 zu erleiden hatte. Erst 1939 besserte sich dort die Lage.
In der übrigen Region bestand ab 1938 ein permanenter Mangel an Textilfachkräften,65 für den die verbesserte Wirtschaftslage, das neu eingeführte Pflichtjahr
in der Land- und Hauswirtschaft sowie insbesondere im Gebiet des Arbeitsamtes
Chemnitz die Konkurrenz zwischen Metall- und Textilindustrie verantwortlich
waren. So konnte etwa die Chemnitzer Textilindustrie im Frühjahr 1938 lediglich 40 Prozent der von ihr angebotenen 850 Lehrlings- oder Anlernplätze besetzen, und zwar in der Regel mit solchen Mädchen, die das Arbeitsamt wegen ihrer
körperlichen Schwäche vom Pflichtjahr befreit oder zurückgestellt hatte, die also
auch im industriellen Bereich weniger belastbar waren.66
59 Vgl. auch Bräuer/Richter, Karl-Marx-Stadt, S. 181.
60 AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im April 1938 (SächsHStAD,
IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).
61 Ebd.
62 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Bezirk im Mai und
Juni 1938 sowie April 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).
63 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit 1938 und 1939, passim
(SächsHStAD, IHK Chemnitz 3, unpag.); AA Flöha, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit 1938 und 1939, passim (ebd.); für Glauchau sind entsprechende Bemerkungen
in der Berichten des AA seit März 1939 überliefert; vgl. AA Glauchau, Berichte über
Arbeit und Arbeitslosigkeit im März, April und Mai und Juni 1939 (SächsHStAD, IHK
Chemnitz, Berichte 4, unpag.).
64 IHK Chemnitz an die Wirtschaftskammer Sachsen am 2.6.1938 betr. neue gewerbliche
Anlagen in Notstandsgebieten (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 1, unpag.);
vgl. auch W In IV an das OKW am 18.10.1938 betr. Wirtschaftsbericht der W.In. (BAMA Freiburg, RW 19/38, Bl. 39–49, hier 39).
65 Vgl. etwa AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Februar 1938
(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Lugau, Bericht über Arbeit und
Arbeitslosigkeit im Juli 1938 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.).
66 AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im April 1938 sowie ­Januar
1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); entsprechend auch AA
Glauchau, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im März 1939 (SächsHStAD, IHK
Chemnitz, Berichte 4, unpag.).
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Die Region Chemnitz
Gleichzeitig entbrannte zwischen Textil- und Metallbetrieben bis zum Kriegsbeginn ein zäher Kampf um die besonders begehrten jüngeren Arbeitskräfte. Dieser
betraf nicht nur männliche Textilfacharbeiter. Vielmehr stellten die Metallbetriebe angesichts des Arbeitskräftemangels immer häufiger auch junge Arbeiterinnen
ein. Ebenso wie für viele Männer war für kräftige Frauen, die eine vorwiegend
im Stehen zu verrichtende und meist mit einseitigen körperlichen Belastungen
verbundene Arbeit nicht scheuten, eine Tätigkeit im Metallbereich attraktiver als
in der Textilindustrie, weil die Stundenlöhne höher waren. Überdies hatten sie
hier häufiger die Gelegenheit, durch Überstunden hinzuzuverdienen, da die Metallindustrie weniger unter Materialmangel und stockender Rohstoffanlieferung
litt als das Textilgewerbe.67 Selbst in männerdominierten Branchen wie dem Maschinenbau kam es deshalb in den Jahren 1938 und 1939 zu einer Erhöhung des
Frauenanteils in der Arbeiterbelegschaft: Er stieg beispielsweise beim Siegmarer
Werkzeugmaschinenbaubetrieb Niles zwischen Februar 1938 und Juli 1939 von
0,8 auf 2 Prozent,68 bei den Wanderer-Werken in Siegmar-Schönau zwischen Dezember 1938 und August 1939 von 15,2 auf 17,2 Prozent.69
Unter diesen Umständen nimmt es nicht Wunder, dass die Chemnitzer Textilunternehmer bereits im November 1938 die Sicherung des Arbeiternachwuchses als „eine der brennendsten Fragen“70 ihres Industriezweiges empfanden. Die
reichsrechtliche Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels
im März 1939, die eine nicht einvernehmliche Lösung von Arbeitsverhältnissen
in bestimmten Branchen von einer Zustimmung des Arbeitsamtes abhängig
machte,71 brachten sie weiter ins Hintertreffen. Das Textilgewerbe gehörte im
Gegensatz zur Metallindustrie nicht zu den begünstigten Industriezweigen.
Außerdem wurde in diesem Zusammenhang die seit Herbst 1938 in Sachsen
unter anderem für Textilunternehmen bestehende dreimonatige Kündigungsfrist aufgehoben, sodass wechselwillige Textilarbeiter und -arbeiterinnen ihre
Unternehmen noch schneller verlassen konnten als vorher.72 Da die Landes67 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Mai, Juli und August 1938 sowie im Februar, März und Mai 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).
68 Ohne Lehrlinge. Eigene Berechnungen nach Gefolgschaftsentwicklung 1938 und 1939,
o. D. (StAC, Deutsche Niles Werke AG, Werk Siegmar, 127, unpag.).
69 Ohne Lehrlinge. Eigene Berechungen nach Belegschaftsstärke am 15.12.1938 (StAC,
Wanderer-Werke AG, Abgabe 3, 417/1, unpag.) und Belegschaftsstärke am 15.8.1939
(StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe 3, 417, unpag.).
70 AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im November 1938 (SächsHStAD,
IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); vgl. auch Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit
im Februar 1939 (ebd.).
71 Zweite Durchführungsanordnung zur VO zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für
Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung (Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels). Vom 10.3.1939. In: RGBl. I (1939), S. 444–448; vgl. auch Rüdiger Hachtmann, Industriearbeit im „Dritten Reich“, Göttingen 1989, S. 47.
72 Vgl. Dreimonatige Kündigungsfrist aufgehoben. Übergangsregelung für bestimmte Berufsgruppen. In: Dresdner Anzeiger vom 16.3.1939, o. V. (SächsHStAD, Staatskanzlei,
NachrSt, ZAS, 1208, unpag.); Dreimonatige Kündigung in Sachsen wieder aufgehoben,
o. V. In: Der Freiheitskampf vom 17.3.1939 (ebd.).
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Wirtschaftliche Entwicklung bis Kriegsbeginn
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arbeitsämter die Möglichkeit besaßen, über die von der Verordnung über den
Arbeitsplatzwechsel begünstigten Branchen hinaus weitere Betriebe in deren
Bestimmungen einzubeziehen,73 überschütteten die Textilunternehmer unter
Hinweis auf die Wichtigkeit ihrer Produktion für den Export die örtlichen
Arbeitsämter mit entsprechenden Anträgen, denen zumindest teilweise auch
stattgegeben wurde.
Verschärft wurde die Situation schließlich dadurch, dass die Region bis zum
Kriegsbeginn ständig Arbeitskräfte an andere Bezirke abgab, sehr häufig auch
in Gebiete außerhalb Sachsens. Seit Jahren schon vermittelten die Arbeitsämter Arbeitskräfte an Werkstätten innerhalb und außerhalb Sachsens, in denen
diese zu Metallarbeitern umgeschult wurden. Das war nicht nur der Notwendigkeit geschuldet, Arbeitslose oder Kurzarbeiter in Vollzeitbeschäftigungen
zu bringen. Dahinter stand auch das Bestreben des Regimes, möglichst viele
Arbeitskräfte in rüstungsrelevante Arbeitsstellen zu vermitteln.74 Zu weiteren
Abwanderungen aus der Region kam es, weil die Bereitwilligkeit der Metallunternehmen zu wünschen übrig ließ, die meist nicht voll einsatzfähigen Umgeschulten einzustellen.75
Überdies wurde die Region ab Sommer 1938 intensiv zu den Dienstverpflichtungen76 für den Westwallbau und andere als staatspolitisch bedeutend
angesehene Aufgaben herangezogen. Besonders problematisch war dabei aus
Sicht der Arbeitgeber die Tatsache, dass es sich dabei durchwegs um junge,
besonders belastbare und daher sehr begehrte Arbeitskräfte handelte, während
ältere und kränkere der örtlichen Industrie erhalten blieben.77 Im Jahr 1939
konnte den oft voll ausgelasteten Firmen immer häufiger gar kein Ersatz mehr
für die bei ihnen abgezogenen Arbeitskräfte gestellt werden,78 ein kleiner Vorgeschmack auf das, was die Unternehmen während des Krieges erwartete.
73 Zweite Durchführungsanordnung zur VO zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für
Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung (Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels). Vom 10.3.1939, § 10, S. 445.
74 Vgl. Höschle, Textilindustrie, S. 59.
75 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im August 1938 sowie
Januar, Februar und März 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.);
Glauchauer Arbeitslose werden Metallwerker, o. V. In: Glauchauer Zeitung vom
23.7.1937 (SächsHStAD, NachrSt, ZAS 298, unpag.).
76 Vgl. VO zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung. Vom 22.6.1938. In: RGBl. I (1938), S. 652; sowie die sie ersetzende
gleichnamige Verordnung vom 13.2.1939. In: RGBl. I (1938), S. 206 f.; vgl. auch Hachtmann, Industriearbeit, S. 46 f.
77 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juli, August und September 1938 sowie im April und Mai 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3,
unpag.). Vgl. auch AA Glauchau, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juli 1938
sowie März und April 1939, (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.).
78 Vgl. z. B. AA Flöha, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juni 1939 (SächsHStAD,
IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); vgl. AA Olbernhau, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juli und August 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.).
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Die Region Chemnitz
Sobald der Arbeitskräftemangel als neues Problem erkennbar wurde, begannen die Arbeitsämter der Region mit Maßnahmen, die der Industrie zusätzliche
Arbeitnehmer zuführen sollten: Ab 1938 überprüften sie, zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Gewerbeaufsichtsamt, immer wieder Besitzer von Wandergewerbe- und Stadthausierscheinen, um sie zu einer Arbeitnehmertätigkeit in
einem Industriebetrieb zu bewegen.79 Auch unter den wenigen noch verbliebenen Kurzarbeitern, die es 1938 noch gab, versuchten die Arbeitsämter Arbeitskräftereserven auszumachen.80 Mittels der Drohung, die Kurzarbeiterunterstützung zu streichen, veranlasste etwa das Arbeitsamt Chemnitz ab Herbst
1938 Kurzarbeiter dazu, von kurz arbeitenden zu voll arbeitenden Betrieben zu
wechseln.81 Wie verzweifelt die Arbeitsämter nach Arbeitskräften suchten, lässt
sich an dem Versuch erkennen, durch sogenannte Herbergskontrollen durchreisenden Arbeitslosen habhaft zu werden und sie Chemnitzer Firmen zuzuweisen.82 Schließlich gingen die Ämter gezielt ihre Arbeitsbuchkarteien durch, um
im Augenblick nicht aktive Arbeitsbuchinhaber ansprechen zu können.83
Verheiratete Frauen, die das Regime in der Krisenzeit mittels der Doppelverdienerkampagne aus dem Arbeitsprozess auszusondern versucht hatte,84
wurden wieder gesuchte Arbeitskräfte. Mittels Anzeigenkampagnen in den Tageszeitungen versuchten die Arbeitsämter seit 1938 sie für eine Berufstätigkeit
in der Industrie zu werben.85 Das Arbeitsamt Glauchau registrierte seit 1938
einen Zustrom verheirateter Frauen aus der unsichtbaren Arbeitslosigkeit insbesondere auf die Textilarbeitsplätze.86 Auch das Arbeitsamt Chemnitz machte
79 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juli, August, September, Oktober und November 1938 sowie im Januar, Februar, März und Juli 1939
(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Berichte über Arbeit
und Arbeitslosigkeit im Dezember 1938 und Januar 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz Berichte 4, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1939
(ebd.); AA Flöha, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Januar und Juni 1939
(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).
80 Vgl. AA Glauchau, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Oktober 1939
(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.).
81 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Oktober 1939
(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).
82 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September, Oktober
und November 1938 sowie im August 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); vgl. AA Flöha, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juni 1939
(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).
83 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im August 1939
(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).
84 Vgl. für Sachsen Silke Schumann, „Die Frau aus dem Erwerbsleben wieder herausnehmen“. NS-Propaganda und Arbeitsmarktpolitik in Sachsen 1933–1939, Dresden 2000.
85 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1938
(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); vgl. auch AA Flöha, Bericht über
Arbeit und Arbeitslosigkeit im März 1939 (ebd.).
86 AA Glauchau, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im März 1938 und Mai 1939
(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.).
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Wirtschaftliche Entwicklung bis Kriegsbeginn
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zwischen Juni 1938 und Mai 1939 einen Zuwachs von 4 800 weiblichen Arbeitsbuchinhabern aus und prognostizierte daraufhin, dass künftig wohl keine
verheirateten Frauen mehr zu gewinnen seien.87
Betrachtet man den gegenüber dem Jahr 1925 nur leicht in seinem Zuschnitt
veränderten Regierungsbezirk Chemnitz im Spiegel der Volkszählung vom Sommer 1939, so fällt auf, dass die wirtschafts- und sozialstrukturellen Rahmendaten denen von 1925 auffällig gleichen: Der im sächsischen und Reichsvergleich
hohe Anteil von Erwerbstätigen in Industrie- und Handwerk, einhergehend mit
einem vergleichsweise hohen Arbeiteranteil, prägte weiterhin die Region.88 Die
Branchenverteilung zwischen Textilindustrie sowie Maschinen-, Apparate- und
Fahrzeugbau ähnelte 1939 stark der von 1925: Ein Drittel des Personals gewerblicher Niederlassungen beschäftigte die Textilindustrie, ein Zehntel der
Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau. 89 Auch wenn diese Zahlen wegen der
etwas unterschiedlichen Erhebungsgrundlagen nicht vollständig vergleichbar
sind,90 so bestätigen sie doch das Bild einer soziostrukturellen Konstanz. Erhalten geblieben war ebenfalls die regionale Strukturierung mit dem industriellen
Mittelpunkt Chemnitz-Siegmar-Schönau und seinem Schwerpunkt im Maschinen-, Fahrzeug- und Apparatebau.91 Die weibliche Erwerbsquote lag leicht unter
derjenigen von 1925, was aber möglicherweise auf die Nichtzählung der sich
im Reichsarbeitsdienst (RAD) befindlichen Mädchen zurückging.92 Auch 1939
lag sie wie 1925 rund 3 Prozent über der sächsischen und der Reichsquote.93
87 AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im März, Mai sowie August
1938 sowie im Februar und Mai 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).
88 Die Prozentzahlen entsprachen fast denjenigen von 1925: 68 % der Erwerbspersonen
arbeiteten hauptberuflich 1939 in Industrie- und Handwerk, 64 % waren Arbeiter. Kleinere Abweichungen können mit geringen Änderungen der Erhebungsgrundlagen zusammenhängen. Z. B. wurden anders als 1925 die Hausangestellten 1939 zu den Erwerbstätigen und nicht zu den Familienzugehörigen gerechnet. Vgl. eigene Berechnungen nach
Statistik des Deutschen Reichs, Band 557, Heft 7, S. 2 (Summe der Erwerbspersonen in
Beziehung gesetzt zur Summe der Erwerbspersonen der Wirtschaftsabteilung 2/4 sowie
der Summe der Arbeiter aller Wirtschaftsabteilungen).
89 Für 1925 eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 415, Heft 4b,
S. 31, 35, 37 (Personal der gewerblichen Niederlassungen, technische Betriebseinheiten,
gesamt und Gruppen VII und X) sowie für 1939 eigene Berechnungen nach Statistik
des Deutschen Reichs, Band 568, Heft 6, S. 6 (Personal der nichtlandwirtschaftlichen
Arbeitsstätten, technische Betriebseinheiten, insgesamt sowie in den Gruppen 08.00.00
und 12.00.00).
90 Zur Vergleichbarkeit der Zählung der gewerblichen Niederlassungen 1925 mit der nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstättenzählung 1939 vgl. Statistik des Deutschen Reichs,
Band 566, S. 16–18.
91 Vgl. Statistik des Deutschen Reichs, Band 568, Heft 6, S. 17–22.
92 Die Volkszählung 1939 ging für alle regionsbezogenen Zahlen allein von der ständigen
Bevölkerung (Wohnbevölkerung ohne Soldaten sowie Frauen und Männer im RAD)
aus. Auch für die Untersuchung der Zahl der Erwerbspersonen wurde die ständige Bevölkerung zugrunde gelegt. Das hatte für 1939 das „Verschwinden“ ganzer RAD-Jahrgänge aus der Statistik zufolge. Vgl. St DR 552, Heft 1, S. 15 f.
93 Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 552, Heft 2, S. 112
(Ständige Bevölkerung Reich insgesamt/Frauen) und S. 166 (Ständige Bevölkerung
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Die Region Chemnitz
Dies alles spricht für die Beharrungskraft regionaler Strukturen auch angesichts
wirtschaftlicher Erschütterungen wie der Weltwirtschaftskrise und politischer
Eingriffe wie der NS-Privilegierung der Rüstungswirtschaft. Dieses Beharrungsvermögen ist bei der Analyse des Erfolgs oder Misserfolgs der nationalsozialistischen Arbeitskräftelenkung in der Region im Blick zu behalten.
Reg.-Bez. Chemnitz/Frauen); Statistik des Deutschen Reichs, Band 556, Heft 1, S. 2 f.
(ständige Bevölkerung nach der Erwerbstätigkeit Reich insgesamt/Frauen); sowie Statistik des Deutschen Reichs, Band 557, Heft 7, S. 2 f., 58 (Ständige Bevölkerung nach der
Erwerbstätigkeit Sachsen, Erwerbspersonen Reg.-Bez. Chemnitz/jeweils Frauen).
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III. Für die Arbeitskräftelenkung zuständige regionale
Institutionen und Behörden
Das nationalsozialistische Regime verwandelte den freien Arbeitsmarkt der
Weimarer Republik, in dem Nachfrage und Angebot das Geschehen bestimmten, im Verlauf der 1930er-Jahre in den „Arbeitseinsatz“. Nach einer Definition
von 1939 handelte es sich dabei um „die planmäßige Lenkung der Arbeitskräfte des Volkes nach den übergeordneten Gesichtspunkten der Staatspolitik“.1
Der NS-Staat schränkte die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sukzessive ein und
erhob schließlich den Anspruch, alle Arbeitskräfte planmäßig auf bestimmte
Wirtschaftszweige oder sogar bestimmte Unternehmen zu verteilen.2 Waren in
der Weimarer Republik vor allem die Arbeitsämter für die Vermittlung von Arbeitern und Angestellten zuständig, so beschäftigte sich im Zweiten Weltkrieg
ein ganzes Bündel von Behörden und Institutionen damit, zusätzliche Arbeitskräfte ausfindig zu machen sowie vorhandene den Unternehmen zu entziehen
oder zuzuweisen.
Bei der Darstellung der Arbeitskräftelenkung lässt sich eine untere und
eine mittlere Verwaltungsebene unterscheiden. Zur unteren Verwaltungsebene werden in dieser Studie alle jene Behörden und Institutionen gezählt, die
keinen weiteren Verwaltungsunterbau besaßen. Geografisch gesehen konnten
sie je nach Aufgabenzuschnitt lokale oder regionale Zuständigkeit besitzen.
Zur mittleren Ebene werden alle Behörden und Institutionen gerechnet, deren
Zuständigkeit sich auf das Land Sachsen oder den Wehrkreis IV/IVa bezog.
Gemeinsam ist allen Behörden und Institutionen, dass sich ihre Zuordnung zu
einzelnen Instanzensträngen aufgrund der polykratischen Struktur des Regimes
immer wieder veränderte.
Die für die Alltagspraxis der Arbeitskräftelenkung in der Region Chemnitz
wichtigsten Behörden und Institutionen waren die Arbeitsämter, das Rüstungskommando Chemnitz und die IHK Chemnitz. Das folgende Kapitel gibt deshalb
einen Überblick über ihre organisatorische Entwicklung während des Krieges
sowie über die in der Arbeitskräftelenkung handelnden Abteilungen und Personen. Da auch die Mittelinstanz dafür zum Teil von erheblicher Bedeutung war,
wird diese Ebene bei der Darstellung mit berücksichtigt. Eine Vielzahl weiterer
Behörden und Institutionen, die in die praktische Arbeit von Fall zu Fall involviert waren, wird in den Kapiteln zur Arbeitskräftelenkung zum gegebenen
Zeitpunkt vorgestellt.
1
2
Der nationalsozialistische Arbeitseinsatz, bearbeitet von Oberregierungsrat Dr. Letsch.
In: W. Sommer (Hg.), Die Praxis des Arbeitsamtes. Eine Gemeinschaftsarbeit von Angehörigen der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Berlin
1939, S. 35–44, hier 35.
Vgl. ebd.
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