6 Das griechische Drama Die Komödie Nach der Mitte des 5. Jhdts. v. Chr. erscheint die Alte Komödie als Sprachrohr der Volksmeinung, die in einer Art politischen Kabaretts ihren Ausdruck findet. Aristophanes (ca. 445nach 388 v. Chr.) führt diese Gattung ab der Zeit des Peloponnesischen Kriegs auf ihren Höhepunkt, wobei sowohl missverstandene Gesellschaftsphänomene (Sokrates als Zerrbild des Sophisten in den Wolken, vgl. Texte S. 68-73) als auch der Niedergang der attischen Demokratie zur Ochlokratie in derb-satirischer Weise aufs Korn genommen werden (Ritter u.a.; die Stücke haben die Bezeichnung des kostümierten Chors zum Titel). Letztendlich scheitert auch der komische „Held“ an seinem naiv-utopischen Versuch, eine als drückend empfundene gesellschaftliche Realität zu bekämpfen; der Zuschauer ist amüsiert, erkennt jedoch im Schicksal des charakterlich unter ihm stehenden „Helden“ einen alltäglichen Kern (vgl. modernes Kabarett wie Roland Düringers Programm „Hinterholz 8“ über die Tendenz zum Zweitwohnsitz). Die Alte Komödie verliert ihre Bedeutung mit dem Verfall der Demokratie und weicht schließlich dem bürgerlichen Lustspiel Menanders, das hier keine Aufnahme finden konnte. Aufführungspraxis und Theaterbauten Theateraufführungen im klassischen Athen waren auf die Feste der Lenäen (Komödie) sowie der Großen und Kleinen Dionysien (hauptsächlich Tragödie und Satyrspiel) von Jänner bis März beschränkt und hatten bis zuletzt kultischen Charakter. Der ἄρχων βασιλεύς wählte für die aktuellen Stücke einen Privatmann als „Produzenten“ (Choregen) aus, der den teuren Chor und die Berufsschauspieler ab der Probenzeit aus eigener Tasche zu bezahlen hatte. Meist gelangten an fünf Tagen je eine Trilogie aus drei zusammenhängenden Tragödien und einem Satyrspiel desselben Autors zur Aufführung (Ausnahme: Sophokles?), wonach in einem komplizierten Verfahren mit Hilfe des Publikums ein Sieger ermittelt wurde (Autor und Chorege). Ein Choregensieg hatte auch politische Bedeutung, die als Preis verliehenen Dreifuß-Kessel wurden später in einer Art Ehren-Allee ausgestellt (heute οδὸς τριπόδων und Lysikrates-Monument in Athen). Komödien wurden üblicherweise als Einzelstücke aufgeführt, der Prämierungs-Modus war entsprechend. Die meisten Dramen waren für eine einmalige Aufführung konzipiert. Da nie mehr als drei (in der Komödie bis zu fünf) Einzel-Schauspieler zum Einsatz gelangten (ausschließlich Männer), mussten die Rollen über ein kompliziertes System der „Rollenbrechung“ aufgeteilt und durch das Tragen von Masken (nicht zuletzt auch zur Darstellung weiblicher Charaktere) kenntlich gemacht werden. Das bedeutete oft, dass unterschiedliche Schauspieler Teile ein und derselben Rolle übernahmen, und andererseits ein Schauspieler in unterschiedlichen Rollen auftrat. Eine vierte Person durfte allenfalls stumm auf der Bühne agieren (κωφὸν πρόσωπον). Die Kostüme waren durchgehend weiß gehalten, ausgestopft zur Verbesserung der Sicht von den Rängen, und dazu trugen die Schauspieler oft Schuhe mit Plateau-Sohlen. In der Komödie war der Chor in für das Stück charakteristischer Weise kostümiert: z.B. Wolken – meteorologische Quasi-Götter, die dem Philosophen Sokrates erscheinen; Wespen – prozesssüchtige attische Kleinbürger. Das griechische Theater bedient sich natürlicher Gegebenheiten (Hanglage) für den Zuschauerraum, der meist in drei Ränge (διαζώματα) gegliedert ist und etwa zwei Drittel eines Kreises einnimmt. Die kreisrunde ὀρχήστρα ist den Bewegungen des Chors vorbehalten; die Bühne war ursprünglich nur ein steinernes Podest, auf dem die Theatertruppe ihr Requisiten-Zelt als Bühnenwand aufbaute (daher der Begriff σκηνή, wörtl. „Zelt“). Später wurden ad hoc- Das griechische Drama 7 Bauten errichtet, um eine gewisse Mindestkulisse für Auf- und Abtritte zu gewährleisten, fallweise wurde ein Obergeschoß für Götter-Erscheinungen eingezogen, das sog. θεολογεῖον; mit Hilfe von Drehvorrichtungen – ἐγκύκλημα bzw. ἐκκύκλημα – konnte so der „deus ex machina“ zum Vorschein gebracht oder Sokrates in der Komödie beim Betrachten meteorologischer Phänomene vorgeführt werden. Klassische Beispiele für diese Bauform sind das Theater von Epidauros (Peloponnes) und das Dionysos-Theater am Fuß der Akropolis in Athen (ohne Aufbauten). In römischer Zeit wurden freistehende Theater mit aufwändigen Substrukturen gebaut, die Orchestra halbiert und für Sitzreihen verwendet (infolge des Wegfalls handlungsrelevanter Chor-Partien) sowie eine mehrstöckige, oft kunstvoll verzierte Bühnenwand bis zur Höhe des Zuschauerraums hochgezogen (vgl. das „Odeion des Herodes Atticus“, ebenfalls in Athen). Odeion des Herodes Atticus, Athen. Das Theater wurde zwischen 160 – 170 n. Chr. vom griechisch-römischen Rhetor und Politiker (143 n. Chr. römischer Konsul!) Herodes Atticus errichtet. Die Marmorsitze wurden im 20. Jhdt. rekonstruiert, so dass das Odeion heute wieder in seiner ursprünglichen Verwendung genutzt werden kann. 8 Aufbau und Metrik Aufbau und Metrik Die klassische Tragödie besteht aus Monolog- und Dialogpartien in iambischen Trimetern sowie dem Chor vorbehaltenen Passagen in unterschiedlichen Versmaßen (Auf- und Abtritt meist anapästisch, „Standlieder“ in freien lyrischen Metren). Die äußere Abfolge der Bestandteile war üblicherweise die folgende: • Prolog – Einführung in die aktuelle Situation der Handlung durch einen Schauspieler („Held“ oder Nebenrolle) • Parodos – Auftritt des Chors: im Zusammenhang mit „Held“ und Handlung stehendes Personenkollektiv, ein bis zwei „Chorführer“ für Dialog-Passagen • fünf Epeisodia – eigentliche Dramenhandlung und Auseinandersetzung der Charaktere, quasi „Akte“ • dazwischen Stasima oder „Standlieder“ (der Chor reflektiert den Stand der Handlung, vergleicht mit mythologischen Beispielen, bringt seine Gefühle zum Ausdruck oder zieht Schlussfolgerungen) und Kommoi (Partien erregter Unterhaltung zwischen Schauspielern oder unter Beteiligung des Chors, in unterschiedlichen Metren in die Einzelauftritte (Epeisodia) eingelegt • Exodos – der Chor zieht das Schluss-Resümee und tritt mit den Schauspielern ab (Länge höchst unterschiedlich) Der innere Aufbau der Epeisodia („Akte“) folgte etwa diesem Schema: – 1. Akt: der tragische Charakter verstrickt sich in eine kritische Situation – 2. Akt: Auseinandersetzungen mit anderen Charakteren, die den vom tragischen Charakter bezogenen Standpunkt noch verschärfen – 3. Akt: die eigene Position beginnt sich aufgrund äußerer Entwicklungen oder neuer Erkenntnisse als tragischer Irrtum herauszustellen, für den „Helden“ steht der Umschwung bevor (Peripetie) – 4. Akt: aus dem Irrtum resultieren grauenhafte Folgen bzw. Folgehandlungen (Katastrophé) – 5. Akt: Aufarbeitung des Geschehenen durch den tragischen Charakter oder Personen seines Umfelds, Einsicht und innere Läuterung (Lysis) Metrik Der iambische Trimeter besteht aus sechs einzelnen Versfüßen, die in drei Metren à zwei Füßen zusammengefasst sind: A!|?!║A!|?!║A!|?! N.B. Im 2., 4. und 6. Fuß darf die unbetonte Silbe im regulären Metrum nicht lang sein. Die häufigste Unregelmäßigkeit – besonders im komischen Trimeter - ist die Auflösung, d.h. der Ersatz einer langen betonten Silbe durch zwei kurze, von denen die erste zu betonen ist: A!|?!║Ak|A!║A!|?! (Auflösung in ungeraden Versfüßen) z.B. ῎Ανδρες, τὰ μὲν δὴ πόλεως ἀσφαλῶς θεοί (Soph., Ant. 162) Anapäste treten hauptsächlich als Dimeter und Tetrameter auf (vier bzw. acht Versfüße; auch katalektisch: ohne Schlusssilbe); der Einfachheit halber hier nur die regelmäßige Grundform: i!|i!║i!|i! (Dimeter) i!|i!║i!|i!║i!|i!║i!|i! (Tetrameter) z.B. λευκῆς χιόνος πτέρυγι στεγανός (Soph., Ant. 114) Metrik • Nachwirkung & Tipps 9 Lyrische Verse sind aus verschiedenen Elementen frei zusammengesetzt; die häufigsten sind Creticus !?!, Choriambus !??! und Baccheus ?!!. Zur leichteren Lesbarkeit wurden lyrische Partien durch Unterstreichung der betonten Vokale (Diphthonge) kenntlich gemacht. Die Sprache der Chorpartien ist ein bereinigter dorischer Dialekt, dessen wesentlichstes Merkmal im Erhalt von altem langem ᾱ besteht (das attisch-ionisch zu η geworden ist): z.B. ἔστας für ἔστης (Soph., Öd. 1202) Nachwirkung & Tipps zum Weiterlesen Anouilh, Jean: Antigone. Drama. – 24. Aufl. – München [u.a.]: Langen Müller, 2003. Flashar, Hellmut: Sophokles: Dichter im demokratischen Athen. – München: Beck, 2000. – 220 S. Hamburger, Käte: Von Sophokles zu Sartre: Griechische Dramenfiguren antik und modern. – 2., verb. Aufl. - Stuttgart: Kohlhammer, 1962. – 221 S. Sartre, Jean-Paul: Die Fliegen. Die schmutzigen Hände. Zwei Dramen / Jean-Paul Sartre. – Hamburg: Rowohlt, 1984. - 188 S. (rororo-Taschenbuch; 418) Seeck, Gustav Adolf: Die griechische Tragödie. – Stuttgart: Reclam, 2000. – 271 S. (Reclams Universal-Bibliothek 17621) Wolf, Christa: Medea. Stimmen. Roman. – 7. Aufl. – München: dtv, 2003. – 217 S. (dtv 12444) Zimmermann, Bernhard: Die Griechische Komödie. - Düsseldorf [u.a.]: Artemis und Winkler, 1998. - 273 S. Zimmermann, Bernhard: Die Griechische Tragödie: Eine Einführung. – 2., durchges. u. erw. Aufl.. - München [u.a.] : Artemis und Winkler, 1992. – 150 S. Aus einer modernen Inszenierung von Sophokles’ „Antigone“ (Bühnenbild und Regie: Irene Papas. Teatro Greco di Siracusa, 2005). Die Skulpturen im Hintergrund erinnern an vorgriechisch-archaische Kykladen-Idole, die die stumme Macht der Tradition verkörpern. 10 Soph., Antigone • Prolog I (1-10; 49-68) DIE „ANTIGONE“ DES SOPHOKLES Prolog I (1-10; 49-68) Antigone und ihre Schwester Ismene begegnen einander kurz nach dem Sieg Thebens über das Heer der sieben Angreifer (ihre verfeindeten Brüder Eteokles und Polyneikes haben einander gegenseitig getötet). ΑΝ. ῏Ω κοινὸν αὐτάδελφον ᾽Ισμήνης κάρα,1 ἆρ᾽ οἶσθ᾽, ὅ τι Ζεὺς τῶν ἀπ᾽ Οἰδίπου κακῶν ὁποῖον2 οὐχὶ νῷν3 ἔτι ζώσαιν4 τελεῖ; Οὐδὲν γὰρ οὔτ᾽ ἀλγεινὸν οὔτ᾽ ἄτης ἄτερ οὔτ᾽ αἰσχρὸν οὔτ᾽ ἄτιμόν ἐσθ᾽, ὁποῖον οὐ τῶν σῶν τε κἀμῶν οὐκ ὄπωπ᾽5 ἐγὼ κακῶν. Καὶ νῦν τί τοῦτ᾽ αὖ φασι πανδήμῳ6 πόλει κήρυγμα θεῖναι τὸν στρατηγὸν7 ἀρτίως; ῎Εχεις τι κεἰσήκουσας;8 Ἤ σε λανθάνει πρὸς τοὺς φίλους στείχοντα τῶν ἐχθρῶν κακά; 5 10 Antigone berichtet von der Anordnung des neuen Machthabers – ihres Onkels Kreon –, dass die Leiche des für Theben kämpfenden Bruders Eteokles mit allen Ehren bestattet werden, der Angreifer Polyneikes hingegen den wilden Tieren zum Fraß überlassen bleiben soll. Sie aber will auch ihm die letzte Ehre erweisen und ihre Schwester für diesen Plan gewinnen. Ismene antwortet: ΙΣ. Οἴμοι· φρόνησον, ὦ κασιγνήτη, πατὴρ ὡς νῷν3 ἀπεχθὴς9 δυσκλεής τ᾽ ἀπώλετο, πρὸς αὐτοφώρων ἀμπλακημάτων10 διπλᾶς ὄψεις ἀράξας αὐτὸς αὐτουργῷ11 χερί· ἔπειτα μήτηρ καὶ γυνή,12 διπλοῦν ἔπος, πλεκταῖσιν ἀρτάναισι13 λωβᾶται βίον· τρίτον δ᾽ ἀδελφὼ14 δύο μίαν καθ᾽ ἡμέραν αὐτοκτονοῦντε15 τὼ ταλαιπώρω16 μόρον κοινὸν κατειργάσαντ᾽ ἐπαλλήλοιν χεροῖν. αὐτάδελφον κάρα „oh Haupt meiner Schwester“ (umschreibender Ausdruck) 2 ὁποῖον nimmt ὅ τι wieder auf: „welches … von den Leiden ... noch nicht“ 3 νώ od. νῴ (Nom./Akk.), νῷν (Gen./Dat.) wir beide (Dual) 4 ζώσαιν Part.Präs.A.Dat.Dual f. 5 ὄπωπα (nur Perf.) ich habe gesehen 6 πάνδημος 2 das ganze Volk umfassend 7 ὁ στρατηγός Oberbefehlshaber (= Kreon; Anklang an höchste Beamte der att. Demokratie) 1 50 55 = καὶ εἰσήκουσας (Krasis) ἀπεχθής 2 verhasst 10 τὸ ἀμπλάκημα Verfehlung, Verirrung 11 αὐτουργός 2 eigenhändig 12 gemeint ist Iokaste, zugleich Mutter und Gattin des Ödipus 13 ἡ ἀρτάνη πλεκτή gedrehte Schlinge 14 ἀδελφώ Nom.Dual m. 15 αὐτοκτονοῦντε Part.Präs.A.Nom.Dual m.v. αὐτοκτονέω eigenhändig töten 16 ταλαίπωρος 2 elend, unglücklich 8 9 11 Prolog I (1-10; 49-68) • Soph., Antigone Νῦν δ᾽ αὖ μόνα δὴ νὼ λελειμμένα17 σκόπει,18 ὅσῳ κάκιστ᾽ ὀλούμεθ᾽, εἰ νόμου βίᾳ ψῆφον τυράννων ἢ κράτη παρέξιμεν. ᾽Αλλ᾽ ἐννοεῖν χρὴ τοῦτο μέν, γυναῖχ᾽19 ὅτι ἔφυμεν, ὡς πρὸς ἄνδρας οὐ μαχουμένα· ἔπειτα, δ᾽ οὕνεκ᾽ ἀρχόμεσθ᾽ ἐκ κρεισσόνων καὶ ταῦτ᾽ ἀκούειν20 κἄτι21 τῶνδ᾽ ἀλγίονα. ᾽Εγὼ μὲν οὖν αἰτοῦσα τοὺς ὑπὸ χθονὸς ξύγγνοιαν ἴσχειν, ὡς βιάζομαι τάδε, τοῖς ἐν τέλει βεβῶσι22 πείσομαι· τὸ γὰρ περισσὰ πράσσειν οὐκ ἔχει νοῦν οὐδένα. μόνα … λελειμμένα Akk.Dual f. Reihenfolge: σκόπει, ὅσῳ … μόνα … ὀλούμεθ(α) 19 γυναῖχ’ = γυναῖκε (Akk.Dual f.) 17 18 60 65 kons.Inf.abh.v. κρεισσόνων: „sodass sie uns … lassen können“ 21 = καὶ ἔτι (Krasis) 22 βεβῶσι Part.Wurzelperf.Dat.Pl.m.v. βαίνω hier: einnehmen 20 ῥήματα ἀλγεινός 3 ἡ ἄτη ἄτερ (Präp. +Gen.) τὸ κήρυγμα ἄρτιος 3 στείχω ἡ κασιγνήτη δυσκλεής 2 αὐτόφωρος 2 διπλοῦς, -ῆ, -οῦν ἀράττω λωβάομαι DM leidvoll Unheil ohne Kundmachung kürzlich schreiten; betreffen Schwester verfemt selbst verschuldet zweifach; Pl. zwei (aus-)kratzen entstellen; vernichten ὁ μόρος κατεργάζομαι DM (ἐπ)άλληλος 2 βίᾳ (adv.Dat.) ἡ ψῆφος παρεξέρχομαι ἐννοέω ἀλγίων (Komp.) ἡ ξύγγνοια βιάζομαι DM τὸ τέλος, -ους περισσός 3 Schicksal zu Ende (zum Tod) bringen gegenseitig gegen (+Gen.) Urteil; Befehl übertreten bedenken schmerzlicher Verzeihung zwingen (hier: Pass.!) (Macht-) Stellung verkehrt, dumm ζητήματα – εὑρήματα • Welche Erwartung erweckt Antigone bei Schwester und Publikum durch die Bezugnahme auf Ödipus’ Schicksal? • Wie wird Antigones Charakter durch die Gegenüberstellung mit der Schwester gekennzeichnet? • Welche Konsequenzen haben die Schicksale der Eltern für Ismene?