Weltliteratur Antigone (Jean Anouilh) Jean Anouilh (1910-1987) schrieb 1941/42 das Theaterstück Antigone (Uraufführung 1944). Er greift den antiken Stoff von Sophokles Antigone aus dem Jahre 442 vor Christus auf und überträgt das Werk in die Moderne.1 Sein Theater zielt auf eine antiillusionistische und wirklichkeitsabbildende Darstellung der Realität aus.2 Antigone ist ein junges Mädchen,3 das sich bewusst für den eigenen Tod entscheidet, indem sie ihren Bruder heimlich des Nachts beerdigt. Der König Kreon hat diese Beerdigung nicht nur verboten, sondern auf eine solche Handlung die Todesstrafe ausgesetzt. Antigone wird festgenommen und nimmt sich schließlich in ihrer Gefängniszelle das Leben. Anouilh zeichnete dabei keine starke politische, aber eine tragische Heldin: Antigone verkörpert eine Rolle, die den Sinn der ganzen Welt in Frage stellt und nicht nur ihr eigenes Schicksal präsentiert, sondern der Menschheit einen Spiegel vorhält.4 Antigone ist dabei also nicht nur eine Tragödie, sondern ebenso ein psychologisches Drama der Relation zwischen einem Selbst und der Gesellschaft.5 Jean Anouilh gestaltet das antike Stück der Antigone durch die Veränderung des Königs Kreon neu: Antigone wird zur taktischen Siegerin (für sich selbst) und Kreon, obwohl er seiner Verantwortung nachgegangen ist, wird zum Verlierer dieses revolutionären Protestes. Obwohl die Antigone von Jean Anouilh immer in Verbindung zur Resistance-Bewegung in Frankreich (1944) gebracht wird, hat es das Stück geschafft, sich aus der geschichtlichen Beziehung zu lösen, als Klassiker des Dramas zu gelten und eine scheinbar immerwährende Aktualität zu bewahren, die sich auf vielerlei denkbare Konflikte anwenden lässt. Es ist immer eine Entscheidung zwischen Gehorsam und Auflehnung gegen Ungerechtigkeiten und die Frage um welchen Preis der moderne Mensch die Religion (oder Göttlichkeit der Antike) aufgibt. Gerade im Bezug auf einen Literaturkanon für die Schule, ist der Konflikt zwischen Kindheit und naivem Glück im Gegensatz zum Erwachsensein und dem scheinbar verfälschten Glück, bedeutsam. 1 Vgl. K. Roeske: Antigones tödlicher Ungehorsam. Würzburg 2009, S. 12. Vgl. J. Theisen: Köpfe des XX. Jahrhunderts. Jean Anouilh. Berlin 1972, S. 6f. 3 Vgl. Jean Salvard/Helma Flessa (Hrsg.): Jean Anouilh. Dramen. Erster Band. München 1960, S. 23-87, hier S. 71. 4 Vgl. Wolfgang Schrank: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Jean Anouilh. Antigone. 5 Frankfurt am Main 1983, S. 43. 5 Vgl. Wolfgang Schrank: Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Jean Anouilh. Antigone. 5 Frankfurt am Main 1983, S. 43. 2 Weltliteratur, als eine der großen Ideen des 19. Jahrhunderts, ist der Stoff der Antigone, sei es nun bei Jean Anouilh oder anderen Schriftstellern, allemal. Weltliteratur ist der Schmelztiegel internationaler kultureller Erfahrung, indem jeder weitere Schriftsteller bei seinen Vorgängern Ideen und Anregungen sammelt.6 Ebenso wichtig ist eine gewisse Rückkehr zur Antike, die auch bei Jean Anouilhs Anlehnung an Sophokles Antigone gegeben ist. Weltliteratur soll die Grenzen des eigenen Denkens überwinden und selbst zur Kommunikation zwischen Schriftstellern, Völkern und Kulturen werden. Das geschieht, wenn der Zuschauer den Prozess der Rebellion der tragischen Heldin Antigone, um ihre Pureté zu wahren, reflektiert und bewertet. Antigone wird dabei zu einer Geschichte, die bis in die Moderne reicht und durch ihre Allgegenwärtigkeit in der Gesellschaft fast zeitlos erscheint. Svenja Neumann 6 Vgl. Manfred Schmeling (Hrsg.): „Saarbrückener Beiträge zur vergleichenden Literatur-/Kultur-wissenschaft“, in: Weltliteratur heute – Konzepte und Perspektiven. Band 1. Würzburg 1995, S. 153-178.