„Bühne frei für Mick Levčik!“ (pdf aus dem Schauspielhaus

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„DIESER SATZ –
DU WEISST SCHON
WELCHER –
HAT GESCHICHTE
GEBUNKERT.“
René Polleschs Stücke entstehen parallel zu den Proben, in denn man sich viel Zeit für
Gespräche und gemeinsame Lektüre nimmt. Die Texte verfasst Pollesch dann aus der
Beschäftigung mit Theorie und dem Bühnenbild, sie enthalten aber auch Zitate, Anekdoten oder Gedanken aus den vorangegangenen Gesprächen. Dabei entstehen Skripte,
massgeschneidert für jeden Spieler, die kaum nachgespielt werden können.
von Karolin Trachte
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Am Anfang steht das Gespräch. René Pollesch
wie auch die SpielerInnen bringen ein, was sie
aus den vorherigen Gesprächen beschäftigt
hat – jemand hat einen Film gesehen, eine
Zeitungsmeldung oder vielleicht einen Tweet
gelesen, der eine Verbindung zum Stoff hat.
Der einzige Filter ist das Interesse der Beteiligten. Sophie Rois hat heute ein Antigone-Buch
von Judith Butler im Gepäck, das sie in den
vergangenen Tagen gelesen hat. Und ein Gedanke hat sie nicht losgelassen: Wenn Jacques
Lacan und Hegel „Antigone“ lesen, dann
schlussfolgern sie: Sophokles’ „Antigone“ ist
die Geschichte zweier widerstrebender Ordnungen, jener der Familie und jener des
Staates. Das gehört zum „common sense“ der
„Antigone“-Lektüre. Antigone steht für das Prinzip der Familie, weil sie ihren Bruder begraben
will. Ihr Onkel Kreon, als Nachrücker soeben
König von Theben geworden, steht für den
Staat. Er will Antigones Bruder als Verräter
unbestattet lassen, weil er sich – Neffe hin
oder her – gegen Theben gewandt hat. Sophie
Rois geht es wie Judith Butler, die schreibt, sie
sei „auf etwas perverse Art [beeindruckt] von
der Blindheit dieser Auslegungen“, weil sie
übersehen, dass doch Antigone als Tochter
des Ödipus selbst aus einer inzestuösen Beziehung stammt. Sie ist die Schwester ihres
Vaters und wird dennoch gelesen als das
Sinnbild gesunder Familienverhältnisse?
Für die Produktion „Bühne frei für Mick Levčik!“
war ein wichtiger Ausgangspunkt der Bühnenbildentwurf von Bert Neumann, nach dem das
Bühnenbild einer „Antigone“-Inszenierung von
Bertolt Brecht als Readymade auf die Zürcher
Pfauenbühne zurückkehrt. Barbara Steiner
setzt das bühnenbildnerische Brecht-NeherZitat von 1948 für Zürich um. Caspar Neher
Neumanns Räume und
Polleschs Theater setzen
die Unterscheidung zwischen
‚auf der Bühne‘ und ‚jenseits
der Bühne‘ ausser Kraft.“
1948
2016
Fotos: Matthias Horn; © Erbengemeinschaft Stoll-Neher
Antigones Sprache ist die
des Staates, es ist die männliche
Sprache Kreons.“
brach mit diesem Bühnenbild bewusst mit klassischen Ansätzen, die etwa besagten, dass die
Mittel des Theaters der Illusion dienen und dass
eine Antiken-Inszenierung ohne griechische Säulen undenkbar sei. Brechts Theateridee war ein
antiillusionistisches Konzept, das epische Theater war ein Theater des Zeigens statt des Verwandelns. Die wenigen Requisiten und Bühnenmöbel,
die Caspar Neher einsetzte, mussten daher „gut
gebaut“ sein, sie sollten „schöne Gegenstände“
sein, er wollte, dass sie benutzbar sind. So wie
Bert Neumann immer wieder sagte, er ziele darauf ab, dass seine Räume für die Spieler bewohnbar seien – womit die Grenzen zwischen Bühnenund Lebensraum fliessend werden. Neumanns
Räume und Polleschs Theater setzen die Unterscheidung zwischen „auf der Bühne“ und „jenseits
der Bühne“ ausser Kraft. Die Zeit auf der Bühne
wird als Lebenszeit ernst genommen. Wenn in
John Cassavetes’ Film „Opening Night“ die Hauptfigur Myrtle Gordon hinter den Kulissen völlig betrunken ist und dann auf der Bühne plötzlich nüchtern, dann heisst das also nicht, dass eines von
beidem „authentischer“ ist, sondern dass Myrtle
Gordon auf der Bühne etwas leben kann, bei dem
ihr aus irgendeinem Grund hinter den Kulissen
der „Boden unter den Füssen weggezogen wird“,
beschreibt René Pollesch die Situation.
Für sein Theater verfassten Bertolt Brecht und
seine Spieler während den Proben sogenannte
Brückenverse, Sätze mit denen die Schauspieler
beim Proben ihre Handlungen zwischen den Repliken beschrieben. Sie wurden bei den Proben laut
mitgesprochen. Pollesch gefällt die Idee, Brecht
hier zu benutzen, um das Private, das Handeln im
„Off“ zu beschreiben. Das Reden auf und hinter
der Bühne unterscheidet sich dann nicht prinzipiell, entscheidend ist, auf welche Sprechkonventionen sich das Sprechen beruft.
Wenn wir wieder Antigones Beispiel betrachten, so
ist ihr Verdienst kein einfacher Widerstand, nicht
einfach Protest. Sie ruft nicht nach Hilfe beim
Staat – wer das tut, markiert sein Reden als die
Klage des Unterlegenen, denn der Staat legt ja
fest, welche Konstruktion „Familie“ heisst und wird
von der Konstruktion Familie wechselseitig gestärkt. Antigone ruft nicht nach der Macht des
Staates, sondern macht stattdessen seine Mittel
zu ihren eigenen. Ihre Sprache ist die des Staates,
es ist die männliche Sprache Kreons. Durch ihre
Tat gelangt Antigone zu einem sprachlichen Handeln. Und das gelingt ihr nicht, indem sie ihre Sprache mit ihrem „Selbst“ auflädt, ihr Befinden kundtut oder Selbstdarstellung betreibt, sondern indem
sie sich an der herrschenden Sprache bedient.
Das Originelle an sich hat keine Wirksamkeit –
höchstens wenn die Konvention von Originalität
eine eigene Wirkung entwickelt. Im Gegenteil, das
Originelle wird missverstanden oder überhört. So
war der berühmte „Brechtstil“ noch vor Brechts
Ankunft in Zürich zu einem Label von politischem
Theater auf der Höhe der Zeit geworden – eben
jener „Brechtstil“ war aber in Brechts Augen ein
grosses Missverständnis. So werden auch Brechts
Modellbücher intuitiv als strenge Schablonen verstanden, dabei schrieb Brecht im Vorwort: „Es
steht ihm [dem Schauspieler] frei, Abänderungen
des Modells zu erfinden, solche nämlich, die das
Wirklichkeitsabbild, das er zu geben hat, wahrheitsgetreuer und aufschlussreicher oder artistisch befriedigender machen.“ Und „gerade,
dass seine Mängel [des Modells] nach Verbesserungen schreien, sollte die Theater einladen,
es zu benutzen“. Und so setzen René Pollesch
und die Spieler ihre Arbeit fort, schlagen das
kleine schwarze Buch „Antigonemodell 1948“
auf und lesen.
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BÜHNE FREI FÜR MICK LEVČIK!
von René Pollesch
Uraufführung
Regie René Pollesch
Mit Nils Kahnwald, Sophie Rois,
Marie Rosa Tietjen, Jirka Zett und
einem Sprechchor
Seit 1. April, Pfauen
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