Ausschreibungstext für interessierte Theatermacher, Institutionen und Multiplikatoren. (Männer und Frauen sind gleichermaßen angesprochen, dieser Text enthält der Einfachheit halber männliche Bezeichnungen.) Berliner Festspiele Internationales Forum Theatertreffen 2008 Das Internationale Forum ist ein zweiwöchiges, international ausgeschriebenes Programm für professionelle Theatermacher, die künstlerisch im Bereich Schauspiel arbeiten. In Kooperation mit dem Goethe-Institut München und der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Unterstützt durch den Deutschen Bühnenverein und durch Kulturministerien der deutschen Bundesländer. Projektleitung: Uwe Gössel Das Internationale Forum ist Teil von tt Talente, der Plattform, auf der das Theatertreffen den künstlerischen Nachwuchs umfassend fördert: Rund 80 Theater-Talente aus der ganzen Welt folgen der Einladung nach Berlin innerhalb des Stückemarktes, dem Internationalen Forum und der Festivalzeitung. Neu hinzugekommen seit 2006 ist das Talentetreffen mit Impulsen, Messe und Diskussionen. Seite 1 Internationales Forum Ziel des Internationalen Forums ist die gezielte Förderung junger Theatermacher durch ein eigenständiges Programm beim Theatertreffen der Berliner Festspiele: Praktische Weiterbildung in Workshops Besuch der zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen Seminare, Lectures, Diskussionen Talentetreffen und Theatermachermesse Das Workshop-Programm 2008 steht unter dem Motto „Gesellschaftsspiele: Theater als kollektive Kunst“ und dreht sich um Methoden, Arbeitsmodelle und Spielweisen einer gegenwärtigen Theaterarbeit, die aus dem Kollektiv heraus forscht, spielt und praktiziert. Die Auseinandersetzung mit diesem Schwerpunkt verbindet die praktische Weiterbildung in den Workshops mit den theoretischen Veranstaltungen. 1. Zeiten Das Theatertreffen findet statt vom 2. – 18. Mai 2008. Das Internationale Forum eröffnet am Sonntag, 4. Mai 2008 gegen 14.00 Uhr und endet am Sonntag, 18. Mai 2008 (Abreisetag 19. Mai 2008). 2. Teilnehmer Das Programm wird weltweit ausgeschrieben. Theatermacher bewerben sich um die Teilnahme. Die ausgewählten Teilnehmer erhalten ein Stipendium. Insgesamt werden 43 Stipendien vergeben. 3. Programm - Teilnahme an einem der vier parallel angebotenen Workshops, täglich vier Stunden (siehe Anlage 2). - Der Besuch aller zum Theatertreffen eingeladenen Aufführungen, die vom 4. bis zum 18. Mai gezeigt werden sowie die Veranstaltungen des Stückemarktes. - Vorträge der Teilnehmer, Diskussionen mit Künstlern, die zum Theatertreffen eingeladen sind, Juroren des Theatertreffens sowie Gespräche mit Experten zu gezielten Fragestellungen. - Teilnehme am Talentetreffen - Partys, Premierenfeiern und Publikumsgespräche im Rahmen des Theatertreffens. Seite 2 Workshops „Gesellschaftsspiele: Theater als kollektive Kunst“ so lautet das Motto mit dem sich alle vier Workshops auseinandersetzten. Dabei verfolgen die Künstler mit ihrem jeweiligen Workshop unterschiedliche methodische Ansätze und Perspektiven. Alle Workshops richten sich an Künstler aus allen Bereichen, seien es Regisseure, Bühnen- oder Kostümbildner, Schauspieler, Dramaturgen, Autoren oder weitere künstlerisch Tätigen. Zum Motto „Gesellschaftsspiele: Theater als kollektive Kunst“ siehe Anlage 1 Workshop 1 - Theater, Text, Diskurs: „René Pollesch als René Pollesch“ (AT). Geleitet von René Pollesch Der Theatermacher René Pollesch verbindet Texte, Ereigenisse und die Beteiligten zu einem theatralen Hier und Jetzt: Berlin im Mai 08. Workshop 2 – Theater, Diskurs, Konzept: „Das offene Kollektiv. Theater als sozialer Forschungsprozess“. Geleitet von Sibylle Peters & Matthias Anton in Zusammenarbeit mit der geheimagentur Die PerfomancekünstlerInnen und WissenschaftlerInnen Sibylle Peters und Matthias Anton untersuchen theoretisch und praktisch gegenwärtige Performances zwischen Kollaboration, Intervention und Partizipation (in Zusammenarbeit mit der geheimagentur). Workshop 3 – Körper, Kunst, Kontext: „Verwandte Gesten. Sich neben Antigone bewegen“. Geleitet von deufert + plischke Die Choreografen und Konzeptkünstler Kattrin Deufert und Thomas Plischke entwickeln körpersprachliche Muster, Gesten und Abläufe durch die Übersetzung von Materialien. In einem gemeinsamen Prozess mit den Beteiligten entsteht eine kollektive Autorenschaft. Workshop 4 - Spiel: “Theater als Chaos-Factory”. Geleitet von Bruno Cathomas Der Schweizer Schauspieler und Regisseur Bruno Cathomas entwickelt, erprobt und erschließt Spielweisen aus dem kreativen Chaos der Gruppe genauso wie aus abseitigen Ideen jedes Einzelnen, einerlei ob Schauspieler, ob Regisseur oder ob … Hinweis zur Teilnahme an den Workshops: Jeder Teilnehmer belegt einen Workshop über den gesamten Zeitraum. Ein Wechsel ist nicht möglich. Bitte nennen Sie die Workshops, an denen Sie bevorzugt teilnehmen möchten. Die Projektleitung versucht, ihre Wünsche zu berücksichtigen. Gegen Ende des Internationalen Forums findet eine Präsentation der Arbeitsweisen der einzelnen Workshops statt (nicht öffentlich). Einzelheiten zu den Workshops siehe Anlage 2 Seite 3 4. Leistungen Die ausgewählten Teilnehmer erhalten ein Stipendium. Es umfasst in der Regel (!) die Reisekosten (günstigste Reisemöglichkeit - Herkunftslandabhängig) die Unterkunft im Hotel mit Frühstück (in Doppelzimmern) sämtliche Kosten für die Teilnahme an den Workshops und am Teilnehmerprogramm die Eintrittskarten für die Theatervorstellungen ein Tagegeld in Höhe von cirka 20,- Euro (abhängig vom Herkunftsland) 5. Bedingungen Theatermacher, die sich bewerben, sollten nicht älter als 35 Jahre sein, dauerhaft professionell künstlerisch im Schauspielbereich arbeiten und über den gesamten Zeitraum vom 4. – 18. Mai 2008 teilnehmen können. ausreichende Kenntnisse in der deutschen Sprache 6. Bewerbung Künstler in festen Engangements Theater und Institutionen schlagen Kandidaten zur Teilnahme vor. Die inhaltlich begründeten Vorschläge enthalten alle relevanten Daten des Künstlers: Künstlerischer Lebenslauf, Kritiken, Berichte u.ä., Alter, Beruf, Anschriften (auch email), Telefonnummern einen Text über die Motivation des Bewerbers am Internationalen Forum teilzunehmen (nicht länger als eine DINA 4 Seite). Der Bewerber gibt außerdem an, welchen Workshop er belegen möchte (einschließlich der drei Alternativen). Der Vorschlag durch die Leitung des Theaters besagt auch, dass der Bewerber für die Teilnahme über den gesamten Zeitraum des Internationalen Forums freigestellt wird. Freischaffende Künstler Theatermacher ohne festes Engagement bewerben sich mit allen aussagekräftigen Unterlagen initiativ: Künstlerischer Lebenslauf, Kritiken, Berichte u.ä., Alter, Beruf, Anschriften (auch email), Telefonnummern einen Text über die Motivation des Bewerbers am Internationalen Forum teilzunehmen (nicht länger als eine DINA 4 Seite). Der Bewerber gibt außerdem an, welchen Workshop er belegen möchte (einschließlich der drei Alternativen). Empfehlungsschreiben Seite 4 Bewerber aus Deutschland und Österreich Bewerbungsunterlagen von Bewerbern, Theatern und Institutionen aus Deutschland und Österreich sollten bis spätestens Freitag, 29. Feburar 2008 eingegangen sein bei: Uwe Gössel, Internationales Forum, Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, 10719 Berlin. Bewerber aus der Schweiz Bewerber aus der Schweiz schicken ihre Bewerbungsunterlagen bis 30. Januar 2008 an Kirsten Barkey, Pro Helvetia, Hirschengraben 22, CH 8024 Zürich. Weitere Informationenen unter www.prohelvetia.ch. Bewerber aus allen übrigen, nicht deutschsprachigen Ländern Bewerber aus allen nicht deutschsprachigen Ländern schicken ihre Unterlagen bis 14. Januar 2008 an die Goethe-Institute ihres Herkunftslandes. Weitere Informationen unter www.goethe.de/internationalesforum. Eine digitale Version des Lebenslaufs, der Motivation und des Fotos senden Sie zusätzlich an: [email protected] 7. Informationen und Kontakt: Internationales Forum Leitung: Uwe Gössel Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin GmbH Geschäftsbereich Berliner Festspiele Theatertreffen Schaperstraße 24 10719 Berlin Deutschland email: [email protected] www.berlinerfestspiele.de www.theatertreffen-berlin.de www.internationales-forum.de Tel. +49 (0) 30 25 489 128 Fax +49 (0) 30 25 489 245 Berlin, November 2007 Seite 5 Anlage 1: Zum Motto „Gesellschaftsspiele: Theater als kollektive Kunst“ Gesellschaftsspiele Theater als kollektive Kunst Kollektive Projekte haben Konjunktur. Von Hollywood bis Wikipedia. Für alle Lebensbereiche lassen sich Beispiele finden, in denen der Einzelne zugunsten der Gemeinschaft zurücktritt. Kein erfolgreicher Film aus Amerika wird noch von einem einzelnen Drehbuchautor geschrieben und Großprojekte, wie das kollektive Internet-Lexikon Wikipedia werden durch die Kollaboration einer Masse überhaupt erst möglich. Auch in der Wirtschaft kommt dem so genannten Peer-to-PeerZusammenschluss von Einzelnen auf Augenhöhe immer mehr Bedeutung zu. Dieser sich immer schneller verbreitende Kollektivismus hat weder mit einem besonders demokratischen Menschenbild zu tun, noch mit einer sozialen Ideologie. Vielmehr sind immer mehr Unternehmen davon überzeugt, dass sie in Zukunft mit Mitarbeitern, die in der Lage sind, innerhalb eines amorphes Netzwerkes ihren individuellen Mehrwert beizusteuern, den herkömmlichen hierarchischen Methoden des Industriezeitalters viele Nasenlängen voraus sind und sich damit schlichtweg die bessere Rendite erzielen lässt. Auch die Naturwissenschaft setzt auf den Geist der Gemeinschaft. Immer mehr Publikationen werden von mehreren Autoren verfasst und Solisten gelten dort zunehmend als aussterbende Spezies. Nicht zuletzt die Politik, allen voran der Schwarm von Europaabgeordneten in Brüssel, beschwört die Potenz der Vielheit. Und welche Bedeutung hat die kollektive Kreativität im Theater? Ist es doch die Kunstform, die ausschließlich aus der Zusammenarbeit mehrer Künstler entsteht. Gleichzeitig ist das Theater der Ort, an dem gesellschaftliche Rollenmuster reflektiert werden, wo Formen der Gesellschaft erprobt und durchgespielt werden können: Theater als kollektives Gesellschaftsspiel. Klingt simpel, ist es aber nicht. Regisseure, Schauspieler und alle übrigen arbeiten zwar gemeinsam am Kunstwerk Theater. Doch erhält sich innerhalb und außerhalb des Theaters die romantische Idee vom Genie des einzelnen Künstlers weiter und wird am stärksten am Begriff des sogenannten Regietheaters deutlich. Der Regisseur oder die Regisseurin verwirklicht dabei einen konzeptionellen Zugriff und alle anderen Seite 6 sind Zuarbeiter, heißt es. Aber selbst wenn die regieführende Persönlichkeit an diesem Image überhaupt kein Interesse hat, in der Öffentlichkeit werden meist einzelne Namen gehandelt und Regiehandschriften in den Mittelpunkt gestellt. Doch das Interesse an der Kollaboration wächst und findet in den unterschiedlichsten Ausformungen seinen Niederschlag bis hin zur aktiven Partizipation des Publikums, das seine angestammten Plätze verlassen darf und aufgerufen ist, sich ins kollektive Spiel einzumischen. Das Internationale Forum 2007 stand unter dem Motto „politische Dimensionen gegenwärtiger Theaterarbeit“. Die Diskussionen zielten dabei immer wieder auf die Frage ab, welche Bedeutung Arbeitsweisen für das Produzieren haben. Ja, die politische Dimension einer Theaterarbeit zeige sich zu vorderst in den Formen des Produzierens hieß es. Die politische Relevanz liege in den Strukturen und zwar unabhängig davon, ob die Inhalte dezidiert politischen Inhalts sind. Am Beispiel der Shakespeare-Komödie „Viel Lärm um nichts“ wurde das anschaulich. Die Beteiligten der Produktion betonten zwar im Gespräch, dass die Darsteller ausgesprochen selbstständig an ihren Rollen gearbeitet hätten, aber wirklich nachvollziehbar wurde diese Behauptung für die Zuschauer erst, als sie beispielsweise die Figur der Beatrice auf der Bühne erlebt hatten: als wahrhaft glaubhaft emanzipiert. Weiter verfolgt wurden die Fragen nach der erfolgreichen Zusammenarbeit von Regie, Dramaturgie und Ensemble. Welche Möglichkeiten bietet das traditionelle, deutschsprachige Stadttheater, um von den die Kreativität hemmenden Produktionsformen abzuweichen? In welchem Verhältnis stehen inhaltliche Aussagen auf der Bühne zu den Enstehungsbedingungen? So könnte der Begriff des Regietheaters auch bedeuten, dass die überzeugende Kraft des Theaters durch die Bündelungen verschiedenster einzelner Künstler überhaupt erst zustande kommt. Das gilt besonders für Regisseure, die das Miteinander nicht als Mangel an Autorität sehen. Kann man das als Zuschauer erkennen? Und wenn ja, wie schlagen sich die jeweiligen Arbeitsweisen formal und inhaltlich auf der Bühne nieder? Das Internationale Forum 2008 steht unter dem Motto „Gesellschaftsspiele. Theater als kollektive Kunst“. Es wird verschiedene Formen der kollektiven Kreativität in den Mittelpunkt stellen. So werden in den vier Workshops völlig Seite 7 unterschiedliche Zugriffe praktisch erprobt, trainiert oder untersucht. In allen Gruppen wird es um Methoden gehen, wie künstlerische, zivile oder produzierende Gemeinschaften funktionieren. Wie gehen Gesellschaften miteinander um, welche Gesellschaftsspiele werden betrieben und wie organisiert sich das moderne Miteinander? Workshop 1 - Theater, Text, Diskurs: „René Pollesch als René Pollesch“ (AT). Geleitet von René Pollesch René Pollesch könnte als sein eigenes Kollektiv gelten, denn als Regisseur inszeniert er fast ausschließlich eigene Stücke. Doch der Kreis seiner Mitstreiter ist wesentlich größer. Seit Jahren arbeitet er kontinuierlich mit den selben Schauspielern, selbst wenn diese an verschiedenen deutschen Stadttheatern engagiert sind. Gemeinsam mit ihnen hat er Spielweisen entwickelt, um die Texte zu transportieren. Als Autor richtet René Pollesch dabei immer wieder den Fokus auf das Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und Kollektiv und betont die offenen Fragen: Wie kann das private Leben in einer modernen Gesellschaft gelingen, die droht, die Privatheit auszubeuten? Welchen Zwängen unterliegt der Einzelne in der Gemeinschaft? Wenn überhaupt, wie sind die Widersprüche zwischen Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Anforderungen zu überwinden? Wie können die zum Teil gegensätzlichen Bedürfnisse der Gruppe und des Individuums produktiv gemacht werden? Als künstlerischer Leiter des Praters, einer Nebenspielstätte der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, macht René Pollesch gleichzeitig neugierig auf die Produktionsprozesse hinter der Bühne. Spiegeln sich die inhaltlichen Fragen, die auf der Bühne verhandelt werden in der Kollektivität der Theaterarbeit wieder? Wie gelingt es der um Pollesch assoziierten künstlerischen Gemeinschaft den hierarchischen Theaterbetrieb für ihre Arbeitsweisen nutzbar zu machen? Workshop 2 – Theater, Diskurs, Konzept: „Das offene Kollektiv. Theater als sozialer Forschungsprozess“. Geleitet von Sibylle Peters & Matthias Anton in Zusammenarbeit mit der Geheimagentur Die Performerin und Theaterwissenschaftlerin Sibylle Peters nutzt das Theater als Ausgangspunkt und Drehscheibe für künstlerische Projekte zwischen Diskurs, Seite 8 Happening, Performance und versteckter Kollaboration bis hin zur politischen Performance. Zusammen mit Matthias Anton und einer Reihe von weiteren assoziierten Künstlern sind sie Mitglieder der geheimagentur. In theatraler Anspielung auf die Welt von Geheimdienst und Agenten bildet eine unbekannte Zahl von Künstlern diese Geheimgesellschaft mit dem Ziel, die Kunst vom Zwang zur persönlichen Identifikation zu befreien und der eindeutigen Zuschreibung zu bestimmten Künstlern zu entziehen. Obwohl Einzelpersonen bei ihrer kollektiven, künstlerischen Arbeit nicht hervorgehoben werden, agiert die geheimagentur dennoch mitten im gegenwärtigen Kunstbetrieb, in den Theatern und Festivals. Gleichzeitig unterwandern die Beteiligten den Kommerzialisierungszwang indem sie immer wieder lustvoll ihre Gage mit aufs Spiel setzen: Am Hamburger Schauspielhaus konnte das Publikum rituell und kollektiv echte Geldscheine verbrennen und erfuhr so den Mehrwert des Geldes in dem sie es vernichteten. Die performativ theatralen Veranstaltungen von Sibylle Peters und Matthias Anton sind subversiv, konspirativ und interaktiv und begreifen die Institution Theater als Raum der praktischen gesellschaftlichen Forschung. Unter dem Titel „Das offene Kollektiv. Theater als sozialer Forschungsprozess“ setzen sie ihre Arbeit mit den Teilnehmern fort. Workshop 3 – Körper, Kunst, Kontext: „Verwandte Gesten. Sich neben Antigone bewegen“. Geleitet von deufert + plischke Eine völlig andere Formation der Zusammenarbeit ist der sogenannte Künstlerzwilling deufert + plischke. Die beiden Konzeptkünstler und Choreografen Kattrin Deufert und Thomas Plischke haben sich für ihre künstlerische Zusammenarbeit das besondere Verwandtschaftsverhältnis der Zwillinge als Idee für ihre Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zu Grunde gelegt. Seit 2001 nutzen sie das Konstrukt Zwilling als Metapher der engstmöglichen Beziehung für ihre künstlerische Symbiose. Deufert und Plischke erkunden ihre Verwandtschaft, projizieren sich aufeinander und erzeugen dabei Performances, die versuchen, jene Anpassungsbereitschaft, die in der Kunst so geschätzt wird, zu hinterfragen. In ihrem Workshop unter dem Titel „Verwandte Gesten“ werden sie körpersprachliche Muster, Gesten und Abläufe untersuchen, die dann in einem gemeinsamen Prozess mit den Teilnehmern weiter entwickelt werden. Kern ihrer Seite 9 Arbeit ist ein körperliches Training, in dem sie die Aufmerksamkeit auf die nicht zu unterdrückende, spezifische Lust und Unlust des eigenen Körpers lenken. Gegenstand sind häufig alltägliche Situationen des Alltags eines Einzelnen, die von anderen fortgesetzt werden können, um so zu kollektiven Formen der Darstellung zu führen. Mit ihrem körperlichen Arbeitsprozess gelten sie, „nicht zuletzt aus einem politischen Blickwinkel, als die wichtigsten Tanz-Künstler in Europa“ (Pieter T´Jonck im Jahrbuch ballettanz 2006). Workshop 4. Spiel: “Theater als Chaos-Factory”. Geleitet von Bruno Cathomas Der Schweizer Schauspieler Bruno Cathomas arbeitet seit Jahren immer wieder mit Regisseuren, die das Miteinander-Spielen in den Vordergrund ihrer Inszenierungen stellen und damit die Ensembleleistung betonen. Christoph Marthalers choreografische Inszenierung „Murx der Europäer, murx ihn ...“ gilt dafür als herausragendes Beispiel in der Bruno Cathomas über dreizehn Jahre mitgespielt hat. Auch in der Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Luk Perceval oder Sebastian Nübling wird das Arbeiten im Kollektiv unterstrichen. Als Schauspieler fragt Cathomas danach, welche Probenarbeit zu welcher Spielweise führt. Wie kann gemeinschaftlich sinnstiftend probiert werden? Können die Ergebnisse auch gemeinsam ausgewertet werden? Welche Bedeutung hat das Federballspiel für die Textarbeit? Als Regisseur entwickelte er Methoden des Spielens weiter und radikalisierte dieses Zusammenspiel aller in dem Projekt „Die Bibel“. Über fünf Monate hinweg wurde das Studio des Maxim Gorki Theaters Berlin eine Theaterfabrik. Alle am Projekt Beteiligten probten, spielten und feierten dort gemeinsam, auch mit dem Publikum, das selbst zu den Proben nicht gänzlich ausgeschlossen wurde. Die Ordnung des Theaters geriet ebenso durcheinander wie die Grenzen zwischen Bar und Rampe undeutlich wurde. Davon inspiriert nennt Bruno Cathomas seinen Workshop „Theater als Chaos-Factory“. Es geht beim Internationalen Forum 2008 um Methoden, Arbeitsmodelle und Spielweisen einer gegenwärtigen Theaterarbeit, die aus dem Kollektiv heraus forscht, spielt und praktiziert. Es geht um die Suche nach Gesellschaftsspielen in der Kunst, die mit ihrem utopischen Ansatz experimentierten. Der Philosoph Vilém Flusser unterstrich in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen Seite 10 Nullsummenspielen und Plussummenspielen. Ein Nullsummenspiel ist eins, worin ein Spieler gewinnt, der andere verliert und dabei die Gesamtsumme gleich bleibt. Ein Plussummenspiel ist eins, in dem alle Spieler gewinnen können. Damit rief er auf: „Künstlergruppen und Gesellschaftsspiele sollen Plussummenspiele werden“. Uwe Gössel Leiter Internationales Forum Seite 11 Anlage 2: Einzelheiten zu den Workshops Workshop 1 - Theater, Text, Diskurs: „René Pollesch als René Pollesch“ (AT). Geleitet von René Pollesch Über fünfzig Stücke schrieb und inszenierte der Theatermacher René Pollesch seit 1999. Zuvor hatte er Angewandte Theaterwissenschaften an der Universität in Giessen studiert und mit einem eigenen Ensemble im hessischen Frankenthal erste Stücke entwickelt, die er am TAT, einer experimentellen Spielstätte in Frankfurt am Main, inszenierte. Seine Stücke erzählen seither von Menschen, die sich in ihren modernen Lebensverhältnissen gewollt oder ungewollt wiederfinden. Sie kämpfen, lieben und suchen in all den Auseinandersetzungen den Sinn ihres Tuns. Pollesch verbindet seine in der Welt zusammen gesammelten Geschichten mit theoretischen Texten aus Philosophie oder Sozialwissenschaft, lehnt sie mitunter an bekannte Filme an und gibt sie als Theaterabende getarnte Aufklärung seinem großstädtischen Publikum zurück. Einem Markenzeichen glichen die von den Schauspielerinnen herausgeschleuderten und geschrieenen Tiraden im Stil von Fachtexten aus wissenschaftlichen Magazinen. Sie verhinderten fast jegliche Form der Psychologisierung der Figuren und unterstrichen lustvoll die Differenz zwischen Sprechenden und Besprochenen. Die Darstellerinnen wurden leidenschaftliche Diskursträger der Pollesch-Theater-Maschine, die ausgeklügelte Zitatcollagen produzierte. Häufig sind die Namen der DarstellerInnen identisch mit den Namen der Figuren. In den jüngsten Arbeiten wie „Diktatorgattinnen I“ sieht der Zuschauer neuerdings ein traditionelles Rollenspiel mit Figuren wie in nacherzählbaren Handlungen, was bislang in Polleschs Arbeiten nicht möglich schien. Der Autor Pollesch fungiert weiter als Durchlauferhitzer für die Themen, die ihn umtreiben: Das Ausgeliefertsein des Einzelnen in einer normierenden Welt, Sexismus, Rassismus, Kapitalismus, Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Das Personal seiner Stücke umfasst die schrille Bandbreite zwischen Filmhelden und Politikschurken sowie die vom urbanen Leben gestressten und ausgebeuteten Angestellten über Schauspieler bis hin zu Sexsklaven. Sie sind entwurzelt, paranoid, hysterisch und immer auf der Suche nach der sinnstiftenden Reflexion des Ganzen wovon die Liste der Stücktitel einen ersten Eindruck geben kann: Seite 12 Java in a box 1-10. Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr. JavaTM zeigt Gefühle. www-slums 1-7. Frau unter Einfluss. Heidi Hoh 3 - Die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat. Stadt als Beute. Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheisshotels. smarthouse. 24 Stunden sind kein Tag. freedom, beauty, truth & love - Das revolutionäre Unternehmen. Människor på skithotell (Stockholm). Sex (Sao Paulo). Svetlana in a Favela. Pablo in der Plusfiliale. Hallo Hotel...! Prater-Saga. Stadt ohne Eigenschaften. Der okkulte Charme der Bourgeoisie bei der Erzeugung von Reichtum. Häuser gegen Etuis. Cappuccetto Rosso. Schändet eure neoliberalen Biographien! Notti senza cuore Life is the new hard! Soylent green is money (Tokyo). Wann kann ich endlich in einen Supermarkt gehn und kaufen was ich brauche allein mit meinem guten Aussehen? L'affaire Martin! Das purpurne Muttermal. Tod eines Praktikanten. Solidarität ist Selbstmord. Ragazzo dell'Europa (Warszawa). РРШ/RRS (Sofia). Liebe ist kälter als das Kapital. Diktatorgattinnen I. René Pollesch betreibt zusammen mit den Schauspielern, Ausstattern, Dramaturgen und allen übrigen ein durch die zahlreichen gemeinsam erarbeiteten Produktionen an Erfahrungen reiches Theaterkombinat zur Umsetzung der mit dem Autor Pollesch gemeinsam entwickelten Texte. Zu seinem Workshop notiert René Pollesch: „Mich interessiert Theater, das spontan auf das reagiert, was um uns herum passiert, sei es hier in der Stadt oder sonst irgendwo. Mich interessieren die Leute um mich herum, was sie denken, machen oder fühlen. Mich interessiert, wie beides zusammen gehen kann: die Menschen und die Gegenwart. Und dann fragen wir uns, wie wir daraus Theater machen können, ein Theater, das mit uns, mit dem hier und jetzt zu tun hat. Wie dieses Theater aussehen kann? Wenn wir im Mai 2008 in Berlin zusammen kommen, werden wir sehen, was uns interessiert und was wir miteinander anfangen wollen.“ René Pollesch ist seit 2001 künstlerischer Leiter des Praters, der Nebenspielstätte der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Die dort in einer Wohnbühne von Bert Neumann eingerichteten Produktionen „Stadt als Beute“, Insourcing Seite 13 zuhause – Menschen in Scheißhotels“ und „Sex“ wurden zum Theatertreffen eingeladen. 2001 und 2006 erhielt er den Mülheimer Dramatikerpreis. Neben seiner Theaterhomebase Prater inszeniert er als Theaternomade seine Stücke auch in Wien, Warschau, Tokio, Santiago de Chile, Sao Paulo oder Sofia. Workshop 2 – Theater, Diskurs, Konzept: „Das offene Kollektiv. Theater als sozialer Forschungsprozess“. Geleitet von Sibylle Peters & Matthias Anton in Zusammenarbeit mit der geheimagentur In ihrem Projekt "Respekt: geben was man nicht hat" (im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Go create resistance“ am Hamburger Schauspielhaus 2003) kaufte die geheimagentur sämtliche Eintrittskarten zu ihrer eigenen Vorstellung auf und verteilte sie kostenlos an die Zuschauer. Aus Zuschauern wurden Beteiligte, die sich im Laufe des Abends gegenseitig ihren Respekt aussprachen. Seitdem geht es der geheimagentur immer wieder darum, Kollektive mit ihrem Publikum zu bilden: Im Rahmen der RuhrTrienale wuchs ein Kollektiv aus Wundersuchern und Wundersamen ("Die Wunder von Bochum", 2005). In Kroatien bildete sich ein Kollektiv der Trickster im "Casino of Tricks" (Urbanfestival Zagreb 2007). Gegenwärtig entsteht in Hamburg ein Kollektiv der Zukunftsforscher in einem Orakel-Projekt (Kampnagel Spielzeit 2007/2008) und parallel das Kollektiv derer, die sich ein Alibi geben wie in "Alibi: wir sind nicht da.“ am Thalia Theater Hamburg 2008. Zu ihrem Workshop schreiben Sibylle Peters und Matthias Anton: „Wir werden Projekte untersuchen, die die Institution Theater als Forum für soziale Prozesse mit künstlerischen Mitteln neu entdecken: Mit den sozialen Strukturen auf und hinter der Bühne ist immer wieder experimentiert worden. Manchmal waren es aufregende Experimente zu sozialen Dynamiken und zu Fragen der Hierarchie. Heute wird das Publikum häufiger noch mehr in die szenischen Forschungsprozessen einbezogen wodurch die sozialen Strukturen auf, hinter und vor der Bühne ineinander geschoben werden und eins verwandelt sich in das andere. Dadurch wird sich das 'Publikum' auf neue Weise selbst zum Schauspiel, Seite 14 und das Experiment mit den sozialen Strukturen, in denen Theater entsteht, erhält neue Impulse. Theatermachen wird zu einer Probe auf neue Formen des Kollektiven und damit zu einer Probe auf die Konstitution von Öffentlichkeiten und ihre Wirkungsmacht. Auch die deutschsprachigen Stadt- und Staatstheater beziehen ihr Publikum verstärkt in szenische Prozesse mit ein. Die Formen dieser Partizipation sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von der Beteiligung theaterfremder Darsteller in Inszenierungen (Rimini Protokoll) über die Kollektiv-Performances wie „King Kong Club“ der Gruppe Gob Squad, (www.gobsquad.com ) bis hin zu den Radioballetten der Gruppe LIGNA. Gleichzeitig verschwimmen bei diesen Interventionen und Perfomances die Grenzen zwischen (politischer) Kunstform, die die Beziehung zwischen Zuschauen und Agieren neu definiert, und zeitgenössischen Methoden der kulturellen Bildung. Was ermöglicht partizipatorische Arbeit? Wie verbindet sich Partizipation mit Professionalität? Welche Interessen stehen dahinter? Wie fügen sich partizipatorische Projekte in die gegebenen Produktionsstrukturen von Theatern ein? Wo erzeugen sie Reibung und Probleme, wo führen sie vielleicht zu Veränderungen? Wie können Kollektive entstehen? Und gibt es so etwas wie eine "Virtuosität des Kollektiven"? Um Antworten zu finden, untersuchen wir verschiede Projekte. Willkommen sind auch Erfahrungen, Beispiele und Projektskizzen der TeilnehmerInnen. Im weiteren Verlauf des Workshops wird die geheimagentur die TeilnehmerInnen in praktische Recherchen zu ihrem aktuellen Orakel-Projekt mit einbeziehen, das sich um kollektive Formen der Zukunftsvorhersage dreht. Präsentiert wird das Projekt wenige Wochen nach Ende des Workshops auf dem internationalen Kongress "Prognosen über Bewegungen" (künstlerische Leitung: Sibylle Peters). Während des Workshops richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Theatertreffen selbst. Worum geht es bei diesem Festival? Welche aktuellen Strömungen lassen sich in den Inszenierungen, Gesprächen und Partys erkennen? Was lässt sich über ihren weiteren Verlauf prognostizieren? Inwieweit ist man selbst Teil des Ganzen? Unter dem Motto "as if these were the early days of a better society" werden wir daher inmitten des Theatertreffens nach Vorzeichen suchen – und zwar nicht nur Seite 15 auf der Bühne: Welche neuen Kollektive machen das Theater der Zukunft? Zwischen Wunsch und Wirklichkeit interessieren uns vor allem die inoffiziellen Auftritte, die Geheimnisse, die Komplizenschaften, die Unentscheidbarkeiten, die Details am Rande. Denn durch sie erkennen wir, was wir zu hoffen wagen. Vielleicht entsteht aus den von den TeilnehmerInnen zusammengetragenen Vorzeichen am Ende eine Art Orakel, das sich auch öffentlich befragen lässt?“ Dr. Sibylle Peters, Projektemacherin und Performerin zwischen Theater und Wissenschaft, ist künstlerische Leiterin des Forschungsprojekts "Prognosen über Bewegungen" (in Kooperation mit dem Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin, der Freien Universität Berlin und der Kulturstiftung des Bundes). Ihr Forschungstheater im Fundus Theater Hamburg (www.fundus-theater.de) widmet sich der Erprobung neuer Formen von Performance und Partizipation im Kindertheater. Gegenwärtig habilitiert sie sich zum Thema "Der Vortrag als Performance". Sie hat zum Gebrauch der Zeit, zur Theorie des Unwahrscheinlichkeitsdrives und zur Figuration von Evidenz publiziert und ist mit Lecture Performances auf Bühnen in Deutschland, Großbritannien, Kroatien und der Schweiz zu sehen. Matthias Anton war Einparker, Sexshop-Verkäufer, Übersetzer und Sinologe bevor er freier Künstler und Performer wurde. China nicht zu verstehen, ist ein wichtiges Anliegen seiner Arbeiten. In Zusammenarbeit mit der geheimagentur hat er zahlreiche partizipatorische Projekte entworfen und realisiert. Heute ist er als Wundersucher, autonomer Astronaut, Zauberer, Casino-Betreiber und Zukunftsforscher tätig. Die geheimagentur führt Forschungen im Bereich des Irregulären, Außergewöhnlichen oder strikt Absonderlichen durch: in Bochum suchte sie nach Wundern ("Die Wunder von Bochum", RuhrTrienale 2005), auf der Erde nach dem Weltraum („Club der Autonomen Astronauten“, Fundus Theater Hamburg 2006), in Zagreb nach Trickstern (TRICK-CASINO OF ZAGREB, UrbanFestival Zagreb, Kroatien 2007 sowie auf Kampnagel, Hamburg 2007), in Zürich nach einem Alibi für den Abend ihres Auftritts („Alibi“ im Rahmen des Projekts „Komplizenschaft – Arbeit in Zukunft“, Hochschule für Gestaltung und Kunst, 2007). Und überhaupt Seite 16 nach Passagen von einer Wirklichkeit zur anderen. Situationen und Techniken, die wie Fiktionen erscheinen und dann überraschenderweise doch die Realitätsprüfung bestehen – das sind die Momente, nach denen die geheimagentur sucht. Politische Performance ist für die geheimagentur dann interessant, wenn sie die Grenzen von Aufklärung und symbolischer Politik in Richtung auf 'instant pleasure' überschreitet. Ihre Strategien wollen eine andere Realität im Kleinen entstehen lassen und nicht in kritischer Geste die alte Welt bestätigen. www.geheimagentur.net Workshop 3 – Körper, Kunst, Kontext: „Verwandte Gesten. Sich neben Antigone bewegen“. Geleitet von deufert + plischke Zwillinge setzen sich von Geburt an miteinander auseinander. Nähe, Distanz und die Grenzen der Individualität müssen geklärt, erstritten und verteidigt werden. In ihrer Gemeinsamkeit sind sie mehr als zwei. Die beiden Konzeptkünstler und Choreografen Kattrin Deufert und Thomas Plischke haben sich für ihre künstlerische Zusammenarbeit das besondere Verwandtschaftsverhältnis der Zwillinge als Idee für ihre Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zu Grunde gelegt. Seit 2001 nutzen sie das Konstrukt Zwilling als Metapher der engst möglichen Beziehung für ihre künstlerische Symbiose. Sie unterlaufen mit ihrem Modell die gängige Normierung heterosexueller Paare, um diese ausdrücklich für ihre Arbeiten zu nutzen. Durch diese besondere Form der Zusammenarbeit als „Zwilling“ entwickelten sie seither sowohl eine klare Bewegungssprache, als auch eine experimentelle choreographische Praxis, die ihnen Übersetzungen von inhaltlichen Themen und visuellen Medien in Bewegung ermöglicht. Ihre Performances integrieren Körper ebenso wie Klang, Raum, Kunstfilm und dokumentarisches Material und kreisen inhaltlich um biografische Prägungen wie besondere Erfahrungen, Verlust und Vergangenheit. Choreographie fängt für sie deshalb nicht erst im Probenraum an, sondern jedes ihrer Projekte ist geprägt durch einen jeweils ganz eigenen Forschungsprozess, dessen Gegenstand die Dauer der Auseinandersetzung formuliert. Er erfolgt in verschiedenen sozialen Seite 17 Räumen und seine künstlerische Umsetzung findet in den unterschiedlichsten Medien seinen Niederschlag. „Kattrin Deufert und Thomas Plischke gelten, nicht zu letzt aus einem politischen Blickwinkel, als die wichtigsten Tanzkünstler in Europa“ (Pieter T’Jonck im Jahrbuch balletanz 2006) und Helmut Ploebst sieht im Künstlerzwilling deufert + plischke „heute eine der wichtigsten Positionen der deutschsprachigen Choreografie repräsentiert“ (Jahrbuch ballettanz 2007). Parallel zu ihren künstlerischen Projekten sind Workshops, Seminare und Training zentraler Bestandteil ihrer Arbeit. Im Mittelpunkt stehen dabei Techniken der Aufund Weitergabe von Ideen und Interessen. Die Teilnehmer erfahren durch die Aufgabe ihrer alleinigen Autorenschaft – und damit die Zurücknahme der eigenen Person – zugunsten einer gemeinsam geteilten Projektskizze die Dynamik von kollektiven ästhetischen Prozessen. Kern ihrer Arbeit ist ein körperliches Training, das sie eigens für diese Auseinandersetzung entwickelt haben. Sie lenken darin die Aufmerksamkeit auf die körperlich nicht zu unterdrückende, spezifische körpereigene Lust und Unlust. Alltägliche Situationen können so als Material zur Grundlage der Frage nach dem Unterschied zwischen „etwas tun“ und dem „so tun, als ob“ werden. Zu ihrem Workshop „Verwandte Gesten. Sich neben Antigone bewegen“ schreiben Kattrin Deufert und Thomas Plischke: „Ausgangspunkt ist Antigone aus der Tragödie von Sophokles. Schon der Name Antigone steht für die Grenzen des Verstehbaren, das an den Grenzen der Verwandtschaft sichtbar wird: Antigone ist im Griechischen konstruiert als AntiGeneration / Anti-Geschlecht / Anti-Geschlechtlichkeit. Das "Antigoneische Subjekt" (Marcus Steinweg) ist ein Subjekt der Entscheidung, ein Subjekt der Kunst, ein Subjekt der Selbstbeschleunigung, ein Subjekt der Übertreibung und der Verwundbarkeit. Ihr "ich sage, ich habe es getan und leugne es nicht" zeugt von einer möglichen Sprache der Kunst, die sich selbst an den Rändern eines Rückzugs von der Aktion formuliert und politisch bleibt, indem sie resistent ihr Todesbegehren lebt. Seite 18 Die Lektüre der Antigone erlaubt es, sich ihr individuell anzunähern. Antigone spricht sowohl die Sprache der Verwandtschaft, der des Staates als auch die der Konfrontation mit Liebe und Moral. Hartnäckig verkörpert sie ein Selbstbewusstsein, das sich immer an der Grenze von Dualismen (Familie-Staat, Kultur-Religion, Mann-Frau, Leben-Tod, Frieden-Krieg) formuliert. Damit entblößt sie binäre Modelle selbst als Monster. Um sich den verschiedenen Aspekten des Antigone-Stoffes zu nähern und dabei die unterschiedlichen Hintergründe der Teilnehmer mit einbeziehen zu können, arbeiten wir unter dem Motto "Formulierung/Reformulierung": Mit dieser Schreibmethode entstehen kurze Texte, die sich nach und nach zu einem gemeinsam erarbeiteten Schriftstück formen. Elementarer Bestandteil des Workshops ist ein körperliches Training. Wichtiger Aspekt unserer Bewegungsarbeit sind dabei die eigenen Bewegungsmöglichkeiten sowie die persönliche Präsenz jedes Einzelnen. Wir arbeiten mit der Unmöglichkeit, mit sich im eigenen Körper identisch zu sein – vor allem auf der Bühne. Dieses Paradox des Körpers nimmt heute eine zentrale Fragestellung ein. Erst im Verlauf wird sich die Frage nach dem künstlerischen Medium stellen, in das die Gedanken, Worte und Texte einfließen können. Wird das, was wir vielleicht als Textkorpus am Ende in Händen halten, ein Buch, ein Film, ein Bild, eine Musik oder eine Choreografie sein? Diese Methode bietet die Möglichkeit, die Suche nach künstlerischen Methoden, das Denken der anderen, den Aufbau des erstens Gedankens und seiner Kontextualisierung und Strukturierung kennen zu lernen. Jeder Teilnehmer stiftet mit seiner Art sich zu bewegen, mit seiner Sprechweise und seinem Vokabular einen Teil am gemeinsamen Textkörper, der wiederum als Material dient. Es entstehen so völlig eigenständige Gesten, die durch den gemeinsamen Prozess einander verwandt zu sein scheinen. Für den Workshop sind alle möglichen Vorkenntnisse nützlich aber keine werden zwingend vorausgesetzt. Im Gegenteil. Entscheidend ist das Interesse, sich auch jenseits der Grenze des reinen Sprechtheaters bewegen zu wollen. Eine kindliche Bewegungsneugierde und Lust am Schreiben sowie bequeme Kleidung sind erwünscht.“ Seite 19 Kattrin Deufert (*1973) ist Gründungsmitglied von Breakthrough, der Diskursiven Poliklinik (DPK) Berlin sowie der frankfurter küche. In dieser arbeitet Kattrin Deufert seit 2003 mit Thomas Plischke als Künstlerzwilling "deufert + plischke" an verschiedenen Theaterprojekten, Dia- und Video-Installationen, sowie Text- und Video-Publikationen. Im Jahr 2000 promovierte sie sich an der FU Berlin mit ihrer Dissertationschrift „John Cages Theater der Präsenz“. In den 90ern studierte sie Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Frankfurt, London und Brüssel, erarbeitete zahlreiche Live-Sendeaktionen am Hessischen Rundfunk im Bereich Neue Musik sowie musikalische und poetische Aktionen im öffentlichen Raum. Thomas Plischke (*1971) Gründungsmitglied von B.D.C. sowie der frankfurter küche. In dieser arbeitet Thomas Plischke seit 2003 mit Kattrin Deufert als Künstlerzwilling "deufert + plischke" an verschiedenen Theaterprojekten, Dia- und Video-Installationen, sowie Text- und Video-Publikationen. Thomas Plischke erhielt im Jahr 1998 die Phillip Morris Scholarship als "most outstanding Performer" und 2000 den Tanz Förderpreis der Stadt München. In den 90ern choreographierte Thomas Plischke die drei Solostücke "Fleur", "Demgegenüber Borniertheit" und "l'homme A SORTIR AVEC son corps" sowie u.a. das Gruppenstück "Events for Television (again)". deufert + plischke leben und arbeiten in Hamburg. Im Herbst 2007 gründeten sie gemeinsam die „Gemeinschaftspraxis e.V.“. Seit 2001 entstanden die Bühnenstücke "inexhaustible (RW)" (2003), "Sofia Sp – science is fiction" (2004), "As if (it was beautiful)" (2004), „Ich lebe selbst in (diese Stadt)“ (2007), die Trilogie "Directories" (2003-6) sowie „Reportable Portraits“ (2007). Als Künstlerzwilling unterrichten sie regelmäßig Komposition, Ästhetik und Dramaturgie an der Universität Hamburg sowie an europäischen Kunsthochschulen. Im Jahr 2006 waren sie Gastprofessoren im Studiengang Performance Studies (Universität Hamburg), im Jahr 2008 übernehmen sie die Gastprofessur am Institut für angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen. Seite 20 Workshop 4 - Spiel: “Theater als Chaos-Factory”. Geleitet von Bruno Cathomas Seit über fünfzehn Jahren ist der in der Schweiz geborene Schauspieler in großen Rollen auf deutschsprachigen Bühnen zu sehen. Er spielte Richard III an der Berliner Volksbühne (Regie Martin Kusej), König Artus am Theater Basel (Regie Stefan Bachmann), Franz Moor ebenfalls in Basel (Regie Lars Ole Walburg), Woyzeck an der Berliner Schaubühne (Regie Thomas Ostermeier) oder Edward II bei den Salzburger Festspielen (Regie Sebastian Nübling). Daneben ist er in Inszenierungen zu entdecken, in denen das Ensemble im Vordergrund steht wie beispielsweise in der legendären Aufführung „Murx den Europäer, murx ihn ...“ an der Berliner Volksbühne (Regie Christoph Marthaler), in „Shoppen und Ficken“ an der Baracke des Deutschen Theaters in Berlin (Regie Thomas Ostermeier) oder in „Turista“ an der Berliner Schaubühne (Regie Luk Perceval). Als Schauspieler interssiert ihn das gemeinsame Entwickeln der Spielweisen, wie es Regisseure wie Sebastian Nübling, Christoph Marthaler oder Luk Perceval pflegen. Die spielerisch angelegten Arbeitsweisen bieten ihm die Freiheit für Improvisationen ohne vorher festgelegtes Ziel. Im Spiel – das kann auch das Federballspielen sein - nach gemeinsam entwickelten Regeln ergeben sich ihm Wege und Erfindungen für die Rollenarbeit, die mit einem psychologischen Zugang zur Figur nicht zu finden wären. Luc Perceval versucht dabei das psychologische Rollendenken hinter sich zu lassen und betont in diesem Zusammenhang: „Wir sind durch die Stanislaswki-Methode deformiert. Die Erotik der Kunst liegt im Geheimnis. Das Leben ist nicht konsequent und logisch. Im Gegenteil, es ist widersprüchlich und komplex. Wir leben aus der Intuition und entscheiden instinktiv. Aber obwohl in der instinktiven Arbeit eine wahnsinnige Kraft steckt, sind wir als Schauspieler nicht darauf trainiert, damit zu arbeiten, das ist sehr schade.“ Bruno Cathomas findet Wege, um genau diese Kraft aus Improvisationen heraus zu entwickeln. Über die Jahre ist so eine umfangreiche Spiele-Sammlung entstanden, die er in seinen eigenen Regiearbeiten erweitert. Am Berliner Maxim Gorki Theater sind seit 2004 auf diese Weise insgesamt drei Inszenierungen entstanden. Die radikalste Umsetzung seiner Spielideen vollzog sich im Projekt „Die Bibel“: Für die Dauer von fünf Monaten verwandelte er zusammen mit seinen Schauspielern das Studio in eine Spielfabrik. Geprobt wurde zum Teil öffentlich, alle zwei Wochen fanden Seite 21 Premieren statt und die sonst übliche Trennung zwischen Publikum und Schauspielern wurde ebenso häufig aufgelöst wie die Trennung zwischen Probebühne und Bar. Es wurde zusammen gekocht, es wurden Partys gefeiert und es wurde intensiv am Stoff gearbeitet. Sämtliche Texte der insgesamt fünf Stücke wurden mit den Schauspielern in Improvisationen entwickelt. Sein Regiekonzept, das er während der Proben weiter entwickelte, war geprägt von seiner Sicht als Schauspieler was auch von der Kritik hervorgehoben wurde: „Man erkennt Cathomas´ exaltierte, körperbetonte Spielweise, dieses Bis-an-dieGrenze-Gehen, auch bei der Regie, die stark auf das Ensemble setzt.“ Bruno Cathomas notiert zu seinem Workshop: „Macbeth“ von Shakespeare wird unsere Textgrundlage und Spielvorlage sein. Beginnen werden wir zunächst mit einfachen, bekannten Spielen, Kinderspielen beispielsweise, Ballspielen oder Gesellschaftsspielen, die die Teilnehmer aus ihrer Heimat mitbringen. Das mag harmlos klingen, ist es auch, doch genau darin liegt der Reiz. Aus diesen Spielen entsteht ein Rhythmus, Musik wird dazu kommen, dann Töne, Stimme und Klänge wie nackte Füße auf dem Boden. Einzelne Wörter werden hinzu formuliert und Sätze entstehen. Möglicherweise noch völlig ohne erkennbaren Zusammenhang: Chaos? Unbedingt. Wie aber kann daraus eine Szene werden? Eine gute Szene. Großer Ehrgeiz allein nützt nichts, im Gegenteil, daran scheitert selbst Macbeth. Womit sonst? Was ist überhaupt eine gute Szene? Shakespears Drama um die sich selbst bewahrheitende Prophezeiung bietet unterschiedlichste Lesarten an und ebenso viele Spielideen können daraus entstehen. Letztlich entscheidend ist die Frage, wohin man mit einer Szene kommen möchte. Doch zuvor stellt sich eine andere Frage: Wo beginnt Theater, noch in der Pause, beim Essen? Braucht Theater zwingend Schauspieler, Publikum oder nur eine gemeinsame Verabredung? Das werden wir versuchen, heraus zu finden. Und zwar spielend im wahrsten, doppelten Wortsinn. Ideal für diese Chaos-Fabrik zwischen Wahn und Wirklichkeit sind Theatermacher mit und ohne Spielerfahrung, einerlei ob Regisseur, Bühnenbildner oder Dramaturg, natürlich auch Schauspieler.“ Seite 22 Bruno Cathomas, 1965 in Graubünden, Schweiz geboren, studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater in Zürich, Schweiz. Engagement an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin von 1992 - 1997, am Theater Basel in der Schweiz sowie an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin seit 2004. Darüber hinaus arbeitete er am Deutschen Theater / Baracke in Berlin, den Münchner Kammerspielen sowie beim Festival Steirischer Herbst in Graz und bei den Salzburger Festspielen, beide Österreich. Als Schauspieler Zusammenarbeit u.a. mit folgenden Regisseuren: Stefan Bachmann, Frank Castorf, Johann Kresnik, Andreas Kriegenburg, Tom Kühnel, Martin Kusej, Christoph Marthaler, Sebastian Nübling, Thomas Ostermeier, Luk Perceval, Falk Richter, Rafael Sanchez und Lars Ole Walburg. Darüber hinaus war er in zahlreichen Kino- und TV-Produktionen zu sehen. Als Regisseur inszenierte er am Theater Basel und am Maxim Gorki Theater in Berlin. Lehraufträge führten ihn an die Hochschule für Musik und Theater, Zürich sowie an die Universität der Künste in Berlin. Stand November 2007 www.internationales-forum.de Seite 23