04.06.24

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Einführung in die Literaturwissenschaft, Teil II. SS 2004
Dozent: Dr. Fritz Heuer
Protokoll der Sitzung von 24.06.2004
Protokollant: Adnan Sehovic
Die Sitzung begann mit der Protokollvergabe. Es folgte eine kurze Wiederholung der in der
letzten Sitzung eingeführten Begriffe. Wir haben uns dann wieder mit der Poetik des
Aristoteles beschäftigt. an Hand von Beispielen aus Antigone und Medeia und den mehr als
zweitausend Jahre späteren Dramen Minna von Barnhelm und Wilhelm Tell. Was zeigt die
Frage nach Anfang, Mitte und Ende einer in der dramatischen (und epischen) Dichtung
dargestellten Handlung? Eine in sich abgeschlossene (teleion) Handlung erscheint als ein
Ganzes mit Anfang, Mitte und Ende.
Aristoteles definiert analytisch: Anfang ist, was weder Mitte noch Ende, Ende, was weder
Anfang noch Mitte, Mitte, was weder Anfang noch Ende ist, und paraphrasiert: Anfang ist,
was nicht mit Notwendigkeit aus anderem hervorgeht, aus dem selbst aber notwendigerweise
etwas erfolgen muss. Ende ist, was notwendigerweise aus dem Vorausgehenden folgt, dies
aber so (endgültig) abschließt, dass aus ihm nichts weiteres mehr hervorgehen muss. Mitte:
Sie steht mit Notwendigkeit zwischen einem Vorausgehenden und dem zunächst Folgenden.
Die Stellung von Anfang, Mitte und Ende zueinander bezeichnet also die Notwendigkeit der
Abfolge der einzelnen Begebenheiten, die Funktionalität in der Zusammenstellung der
Begebenheiten. Das lässt sich auch an Wilhelm Tell von Schiller und Minna von Barnhelm
von Lessing zeigen. Und da in beiden Dramen, in Schillers Schauspiel und in Lessings
Lustspiel das Ringen um eine wichtige Sache Eifer und Zorn erregt (spoudaion), wären beide,
jedenfalls nach den Kriterien von Aristoteles, Tragödien.
Aber wie kann man einen Anfang als Anfang evident machen? Dr. Heuer erwähnte einen der
synthetischen Grundsätze a priori aus der Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant:
Alles was geschieht, hat eine Ursache, aus der es nach einer Regel folgt. Dann ließe sich das,
was Aristoteles als Anfang definiert, doch gar nicht darstellen – oder doch?
Der Streit, mit dem Sophokles die erste Szene (Prolog) der Antigone beginnt – ein Drama, das
in der Zeit entstand, wo das griechische Theater seinen Höhepunkt erreichte –, zeigt, wie
Antigone etwas anfängt, was ihre Schwester Ismene in der gleichen Lage nicht beginnen will.
Am Anfang von Wilhelm Tell steht Tells mutige Rettungstat, die der kundige Fährmann nicht
wagen will. In Lessings Lustspiel führt der Zufall zu einem Zusammentreffen, aus dem dann
mit Notwendigkeit etwas folgen muss. Es wurde die Frage gestellt, wie Kreons Gesetz zum
Anfang von Antigone steht. Wir diskutierten über seinen Entschluss, Eteokles eine anständige
Beerdigung zu geben, Polyneikes aber nicht.
Was der dramatische Dichter als Anfang zeigt, macht etwas Einzigartiges und Neues deutlich.
Die Übersetzung von Mimesis mit imitatio, Nachahmung, erschließt nicht den vollen Sinn von
künstlerischer Darstellung. Sie lässt nicht verstehen, was ursprünglich und ausschließlich,
einzig und allein nur die Kunst, hier als Dichtung, zu leisten vermag. Im Verständnis von
Aristoteles erschließt die Mimesis einer Handlung (mimesis praxeos) durch die Tragödie für
unser Fragen und Verstehen mehr, als die Darstellung, die ein vom Vermessen der Erfahrung
ausgehender Wissenschaftler, etwa ein Geschichtswissenschaftler, ein Soziologe oder ein
Psychoanalytiker anzubieten vermag. Die Mimesis des Dichters ist also der Wahrheit näher.
Dr. Heuer verdeutlichte die wichtigen Begriffe Prolog, Dialog (Stichomythie), Monolog.
Am Anfang von Antigone haben wir eine Zwiespalt zwischen Ismene und Antigone (was ein
Beispiel für einen Dialog ist) , weil Ismene sich weigert, bei Antigones Plan mitzumachen.
Die Kritik der praktischen Vernunft wurde auch von Dr. Heuer erwähnt, um uns einige
Sachen deutlicher zu machen (Der Mensch kann vieles verfügen bestimmen, aber seine
Geburt und sein Sterben und seine Möglichkeit, aus Freiheit zu handeln, nicht). Wir kamen
wieder auf spoudaion, und wiederholten: Etwas so Bedeutendes, dass es den Eifer edler
Menschen erregt – Eifer und das sich Ereifern. Dr. Heuer gab uns eine weitere Referenz für
ein noch besseres Verstehen des griechischen Theaters (Wolfgang Janke. Anagnorisis und
Peripetie. Phil. Diss. Köln 1952.). Die Dynamik des Handelns in den Handlungsbewegungen
der Handelnden erregt phobos (den Affekt oder die Gemütsbewegung des Schauderns, der
zurückschreckenden Furcht) und eleos (Mitleid als Affekt, pity, pitié). Die Interpreten des
Aristoteles verstehen das gern von der Wirkung der Theaterdarstellung auf die Zuschauer
her. Ist mit der Katharsis die Reinigung von den im menschlichen Gemüt erregten Affekten
phobos und eleos, also das Freiwerden von dergleichen, oder ist eine Reinigung in dem
Sinne gemeint, wie auch Tanz und Musik, gerade indem sie die reine Kontur von Ton und
Bewegung hervorbringen, zugleich die Empfindung von Freude und Leid steigern und
vertiefen, und damit auch die offene Empfänglichkeit für das Menschliche des Menschen
freisetzen und lösen, also sühnen und versöhnen können?
In der Vorlesung würde Begriff Philanthropie (Menschenliebe) kurz erklärt. Die Agnoia
(Unwissen) unterscheidet die Stücke Antigone und Wilhelm Tell. Pathos, Peripetie und
Anagnorisis tauchen auch im modernen Drama auf, wie zum Beispiel in Wilhelm Tell und
Minna von Barnhelm.
Pathos rückt die Bewegung des Handelns in den Schatten des
herandrohenden Todes, stellt das Tun in die Spannung zwischen Gelingen und endgültigem,
tödlichem Misslingen. Peripetie bezeichnet die Bewegung des Herausgedrehtwerdens aus
den die Richtung des Handelns sichernden Orientierungen; bedeutet also mehr als einen nur
statischen Wendepunkt. Anagnorisis bezeichnet die spannungsvolle Bewegung der Umkehr
von Unvernehmen in Vernehmen. Sie kann wie im König Oidipus von Sophokles mit der
Peripetie zusammenfallen.
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