Nepos - Atticus

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Nepos - Atticus
1. T. Pomponius Atticus stammte aus einem der ältesten römischen Geschlechter und
behielt sein Leben lang die von den Vorfahren ererbte ritterliche Würde bei. Er hatte
einen Vater, der sich sorgfältig um seine Ausbildung kümmerte und auch den
damaligen Verhältnissen entsprechend reich war. Selbst literarisch interessiert, ließ er
den Sohn in allen Bildungsfächern unterrichten, die sich für das Jugendalter gehören.
Der Knabe besaß neben hervorragender Auffassungsgabe eine wohlklingende Stimme
und auch sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Gelerntes nahm er daher nicht nur schnell
auf, sondern vermochte es auch ausgezeichnet wiederzugeben. So fiel er unter seinen
Altersgenossen auf und tat sich zu sehr hervor, als daß es seine vornehmen Mitschüler
gleichgültig hätten hinnehmen können: Sein Eifer stachelte sie alle an, unter ihnen L.
Torquatus, C. Marius, den Sohn des Feldherrn, und M. Cicero. Sie alle fesselte er
durch die Vertrautheit täglichen Umgangs eng an sich; ihr Leben lang hatten sie
niemand lieber als ihn.
2. Der Vater starb früh. Er selbst blieb in jungen Jahren wegen seiner Verwandtschaft
mit dem als Volkstribun ermordeten P. Sulpicius von dessen Schwierigkeiten nicht
unberührt; denn seine Base Anicia war mit M. Servius, dem Bruder des Sulpicius,
verheiratet. Daher begab er sich nach dem Mord an Sulpicius nach Athen, weil er
erkannte, daß jetzt die beste Zeit sei, Studien zu betreiben. Überdies war, wie er
erkennen mußte, durch den von Cinna inszenierten Tumult im Staat alles
durcheinandergebracht, und es bestand kaum die Möglichkeit, mit Anstand zu leben,
ohne sich eine der beiden politischen Parteien zum Feind zu machen: Die Gemüter des
Volkes hatten sich nämlich entzweit, wobei die einen mit den Sullanern und die
anderen mit den Cinnanern sympathisierten. Nichtsdestoweniger aber unterstützte er
den zum Staatsfeind erklärten jungen Marius mit seinen Mitteln und finanzierte dessen
Flucht. Um aber während seiner Abwesenheit von Rom keine finanzielle Einbuße zu
erleiden, nahm er einen großen Teil seines Vermögens mit nach Athen, wo er ein
Verhalten an den Tag legte, das ihm mit Recht die Sympathie der Athener gewann.
Abgesehen von seinem schon in der Jugendzeit auffallend angenehmen Wesen
nämlich half er ihnen mit seinen Geldmitteln aus, wenn ihr Staatssäckel leer war.
Erwies es sich aber notig, eine staatliche Anleihe aufzunehmen, ohne daß sie [d. h. die
Athener] hierfür günstige Bedingungen bieten konnten, so sprang er ein, allerdings so,
daß er zwar keine ungerechtfertigten Zinsen nahm, andererseits aber auch nicht
duldete, daß man die Rückzahlung des Darlehens länger hinausschob, als vereinbart
war. Dies brachte in verschiedener Hinsicht Nutzen, verhinderte er doch auf diese
Weise, daß durch zu langes Stehenlassen ihre Schulden zur Selbstverständlichkeit
wurden und obendrein durch Vervielfachung der Zinsen noch anwuchsen. Zu einer
solchen Form des Wohlwollens kam noch eine weitere Großzügigkeit; er beschenkte
nämlich die Bürgerschaft mit Getreide, und zwar so, daß jedem einzelnen von ihnen
sechs Scheffel Weizen zugeteilt wurden, ein Maß, welches man den athenischen
Scheffel nennt.
3. Sein Auftreten war so, daß er einerseits ein Freund der Ärmsten und Niedrigsten war,
andererseits aber an Ansehen den Ersten im Staat gleich schien. Daher kam es, daß sie
ihm alle öffentlichen Ehren erwiesen, die sie zu vergeben hatten, und danach strebten,
ihn zum athenischen Bürger zu machen. Diese Auszeichnung jedoch lehnte er ab.
Einige legen dies so aus, daß man die römische Bürgerschaft durch Annahme einer
anderen verlöre. Auch widersetzte er sich, solange er in Athen lebte, dem Plan, ihm
ein Denkmal aufzustellen, was er freilich nicht mehr verhindern konnte, als er die
Stadt verlassen hatte. Weil er in allen Staatsgeschäften ihr Ratgeber und Sachwalter
gewesen war, setzten sie ihm zusammen mit Pheidias mehrere Statuen an besonders
ehrenvollen Plätzen. Es mochte für ihn ein Geschenk des Schicksals sein, daß er in
einer Stadt geboren wurde, die den Mittelpunkt eines Weltreiches darstellt, so daß
diese ihm Heimat und Wohnsitz zugleich sein konnte; ein Zeichen seiner Klugheit
aber ist es, daß er sich in eine andere begab, die an Alter, Kultur und Bildung alle
anderen überragt, und dort solchermaßen geliebt und verehrt wurde.
4. Als aber Sulla auf der Rückkehr aus Asien nach Athen kam, suchte er stets die
Gesellschaft des Pomponius, von Bildung und Kenntnissen des jungen Mannes
begeistert. Sprach dieser doch so gut griechisch, daß er für einen geborenen Athener
gelten konnte. Andererseits war seine Art, das Lateinische auszusprechen so, daß eine
gewisse natürliche, keineswegs angelernte Anmut der Muttersprache deutlich wurde.
Daher kam es, daß Sulla ihn nicht von sich lassen, sondern mit nach Rom nehmen
wollte. Aber als er ihn zu überreden suchte, mit ihm zu reisen, wehrte Pomponius ab
und sagte: Bitte, versuche mich nicht gegen die zu führen, um derentwillen ich Italien
verlassen habe, nur um nicht auf ihrer Seite gegen dich kämpfen zu müssen! Da lobte
Sulla die Gewissensentscheidung des Jünglings und ließ ihm alle Geschenke, die er in
Athen erhalten hatte, übergeben. Atticus verlebte mehrere Jahre in Athen, wobei er
sich um sein Vermögen kümmerte, wie es sich für einen guten Hausvater geziemt,
seine übrige Zeit aber den Studien und der Teilnahme am athenischen Staatsleben frei
hielt. Daneben jedoch stand er auch seinen Freunden in der Hauptstadt Rom zur
Verfügung, wenn sie seine Dienste benötigten, besuchte ihre Wahlversammlungen und
fehlte auch sonst nicht, wenn es um wichtige Dinge ging. So erwies er dem Cicero
besondere Freundestreue; denn als dieser aus der Stadt fliehen mußte, schenkte er ihm
250000 Sesterzen. Nachdem sich in Rom die Verhältnisse wieder beruhigt hatten,
kehrte er zurück, wie ich glaube, unter dem Consulat des L. Cotta und des L.
Torquatus. Als er schied, gab ihm die ganze Bürgerschaft von Athen das Geleit und
zeigte durch Tränen, wie schwer man seinen Verlust empfand.
5. Er hatte einen Onkel, Q. Caecilius, einen römischen Ritter, der dem L. Lucullus
nahestand, reich, aber schwer zugänglich. Gegen ihn in seiner Menschenfeindlichkeit
vcrhielt sich Atticus so rücksichtsvoll und ehrerbietig, daß er sich bis zu dessen Tod
das höchste Wohlwollen erhielt. Außer ihm litt Caecilitts niemand um sich. Die
Früchte eines solchen Verhaltens blieben nicht aus; Caecilius namlich adoptierte ihn in
seinem Testament und vermachte ihm Dreiviertel seines Vermögens, eine Erbschaft,
die etwa 10 Millionen Sesterzen betrug. Die Schwester des Atticus war mit Q. Tullius
Cicero verheiratet. Diese Ehe hatte M. Cicero vermittelt, mit dem er seit der Schulzcit
eng befreundet war, enger noch als mit Quintus, und man kann hieraus ersehen, daß in
der Freundschaft die Verwandtschaft der Charaktere mehr bcdeutet als die bloße
Verschwägerung. Sehr befreundet war er auch mit Q. Hortensius, der in jenen Zeiten
als der bedeutendste Redner galt, und es war schwer zu erkennen, wer ihn mehr liebte,
Cicero oder jener. Was aber das Schwierigste war, er bewirkte, daß es zwischen
beiden, trotz ihres großen Wettstreites um Ansehen und Bedeutung, keine
Gehässigkeit gab, vielmehr er selbst ein Band zwischen beiden darstellte.
6. In politischen Dingen verhielt er sich so, daß er stets zur Optimatenpartei gehörte und
auch niemand anders von ihm dachte. Dennoch hielt er sich von politischen
Strömungen fern, weil er der Ansicht war, daß die, die sich ihnen verschrieben,
ebensowenig nach eigenem Willen zu handeln vermochten wie die, welche sich von
den Störmen des Meeres umherwerfen ließen. Um Ämter bewarb er sich nicht, obwohl
er ihrer würdig genug gewesen wäre und ihm auch die allgemeine Volksgunst dazu
nicht fehlte; seiner Ansicht nach bestand bei der jetzt üblichen Schwierigkeit der
Bewerbungsmethoden, die auf allgemeine Amtserschleiehung hinausliefen, keine
Möglichkeit mehr, sich nach alter Sitte zu bewerben oder ein Amt in der
gesetzmäßigen Form zu erhalten. Auch könne man ein solches bei der allgemeinen
Verderbtheit ohne Lebensgefahr gar nicht mehr zum Nutzen des Staates führen.
Niemals nahm er teil, wenn die Güter der Geächteten versteigert wurden, und trat auch
bei keiner Gelegenheit als Bürge oder Unternehmer bei öffentlichen Verpachtungen
auf. Niemand klagte er an, sei es als Hauptkläger, sei es, daß er als Nebenkläger seine
Unterschrift gab. Nie auch ging er in eigener Sache vor Gericht, noch übte er je selbst
das Richteramt aus. Präfektenstellen bei vielen Consuln oder Prätoren nahm er,
nachdem sie ihm übertragen worden waren, so an, daß er niemandem in die Provinz
folgte und sich mit der bloßen Ehre begnügte, wobei er auch auf mögliche finanzielle
Vorteil verzichtete. Ja, nicht einmal mit Q. Cicero wollte er nach Asien gehen, als er
bei diesem eine Legatenstelle hätte erhalten können. Denn er hielt es für unwürdig, als
Untergebener eines Prätors zu fungieren, nachdem er selbst hätte Prätor werden
können und dies abgelehnt hatte. Dadurch vermehrte er nicht nur sein Ansehen,
sondern bewahrte sich auch vor Scherereien, weil er den Verdacht ungesetzmäßiger
Handlungen von vornherein vermied. Durch diese Zurückhaltung wurde er allgemein
noch beliebter, weil man sah, daß diese einer Grundeinstellung, nicht aber
irgendwelcher Furcht oder Hoffnung entsprang.
7. Es hrach der Bürgerkrieg aus, den Caesar begonncn hatte. Da er damals ungefähr 60
Jahre zählte, war er von jeglicher Dienstleistung befreit und blieb in der Stadt, gab
jedoch seinen Freunden, die zum Heer des Pompeius abgingen, aus seinem
Privatvermögen, was sie brauchten. Pompeius selbst, mit dem er befreundet war,
beleidigte er durch sein Zurückbleiben nicht, hatte er doch auch keine
Auszeichnungen erhalten wie die anderen, die durch ihn zu Ämtern und Reichtümern
gelangt waren, ihm nun aber teils widerwillig, teils üherhaupt nicht ins Feld folgten
und ihn auf diese Weise schwer kränkten. Caesar aber war so erfreut, weil sich Atticus
aus den Auseinandersetztingen heraushielt, daß er zwar von anderen Privatleuten
durch schriftliche Forderungen Geld eintrieb, ihn selbst aber nicht nur nicht belästigte,
sondern auch den Sohn seiner Schwester und Q. Cicero begnadigte, die im Heer des
Pompeius standen. So blieb Atticus seinen alten Grundsätzen treu und entging auf
diese Weise neu auftauchenden Gefahren.
8. Es folgte die Zeit, da nach der Ermordung Caesars alle Macht des Staates in Händen
von Leuten wie Brutus und Cassius zu sein und das Volk zu diesen aufzublicken
schien. Atticus war mit M. Brutus eng befreundet, ja, der Jüngling stand keinem seiner
Altersgenossen näher als diesem alten Mann, in welchem er nicht nur den ersten
Berater in allen seinen politischen Plänen sondern auch in den privaten Dingen des
täglichen Lebens hatte. Da kamen einige auf den Gedanken, es solle den
Caesarmördern von der römischen Ritterschaft ein Sonderfonds eingerichtet werden,
und man war der Ansicht, dies werde keine Schwierigkeiten haben, wenn die
vornehmsten Vertreter dieses Standes erst für eine entsprechende Spende gewonnen
seien. C. Flavius, ein Vertrauter des Brutus, forderte ihn daher auf, die Sache zu
organisieren. Aber er, der es stets für seine Pflicht hielt, seinen Freunden, gleich
welcher Partei sie angehörten, zu helfen, sich aber noch nie auf solche Abmachungen
eingelassen hatte, antwortete, falls Brutus etwas aus seinem Vermögen zu
persönlichem Gebrauch wünsche, könne er haben, was immer dieses hergebe. Aber
deshalb werde er mit niemandem Besprechungen abhalten oder gar einen Verein
gründen. Und so zerschlug sich die Interessengemeinschaft wieder, weil einer anderer
Meinung war. Bald darauf bekam Antonius die Oberhand, Brutus und Cassius mußten
die Provinzen verlassen, die ihnen zum Anschein des Rechts vom Consul übertragen
worden waren. Sie gaben auf und gingen ins Exil. Atticus aber, der es abgelehnt hatte,
zusammen mit anderen Geld zu stiften, als ihre Partei an der Macht war, schickte dem
Brutus 100000 Sesterzen als Geschenk, als sich alles für ihn zerschlagen hatte und er
aus Italien weichen mußte. Selbst abwesend in Epirus, ließ er ihm nochmals 300000
auszahlen. Dem Antonius, der jetzt obenauf war, schmeichelte er ebensowenig, wie er
die im Stich ließ, die am Boden lagen.
9. Darauf folgte der Krieg bei Mutina. Wollte ich Atticus im Zusammenhang damit nur
klug nennen, dann würde ich ihn nicht so loben, wie es sich eigentlich gehört, nein,
sein Verhalten muß geradezu als hellseherisch bezeichnet werden, sofern mit dem
Begriff überhaupt eine fortwährende, in der Natur des Menschen liegende Güte
umschrieben werden kann, die durch äußerliche Schicksalsschläge weder gesteigert
noch verringert wird. Antonius war zum Staatsfeind erklärt worden und hatte Italien
verlassen. Darauf, daß er wieder seine alte Machtstellung erlangen würde, bestand so
gut wie keine Hoffnung. Und es waren nicht nur seine gerade jetzt besonders
zahlreichen und mächtigen persönlichen Feinde, sondern auch die Mitläufer seiner
politischen Gegner, welche nun hofften, dadurch zu Vorteilen zu gelangen, daß sie
ihm zusetzten und die Absicht kundtaten, seine Gattin Fulvia völlig auszuplündern. Ja,
man wollte sogar seine Kinder umbringen. Atticus war nun zwar der beste Freund des
Cicero und der engste Vertraute des Brutus, dennoch erlaubte er diesen beiden nicht,
auf solche Weise gegen Antonius vorzugehen, sondern schützte im Gegenteil dessen
Anhänger soweit wie möglich, als diese aus der Stadt fliehen mußten, und unterstützte
sie mit den Mitteln, welche sie benötigten. Zum Beispiel stellte er P. Volumnius so
viel zur Verfügung, daß dieser vom eigenen Vater nicht mehr hätte erhalten können.
Und selbst Fulvia, als sie vor Prozessen nicht mehr zur Besinnung kam, wobei man sie
auch noch durch Drohungen ängstigte, stand er mit so großer Selbstlosigkeit zur Seite,
daß sie nie ohne ihn vor Gericht zu erscheinen brauchte, ja daß Atticus in allen Fällen
als ihr Bürge auftrat. Und noch mehr: Da sie in glücklicheren Zeiten ein Stück Land
auf Raten gekauft hatte, nun nach der Katastrophe aber den Wechsel nicht einlösen
konnte, schaltete er sich ein und lieh ihr die benötigte Summe zinslos und ohne
Schuldschein, weil er es für den größten Gewinn hielt, als dankbar und hilfsbereit zu
gelten und zugleich zeigen zu können, daß es ihm nicht auf die äußeren Umstände,
sondern auf die Menschen selbst ankomme. Zu dieser Zeit konnte niemandem der
Gedanke kommen, er nütze die augenblicklichen Verhältnisse aus, glaubte doch kein
Mensch daran, daß Antonius je wieder die Macht ergreifen werde, ja, langsam begann
man Atticus von seiten einiger Optimaten zu tadeln, weil er die schlechten Bürger
zuwenig hasse. Er selbst freilich wußte, was er wollte, und richtete sich nach dem, was
seiner würdig war, aber nicht nach dem, was andere loben würden.
10. Sehr schnell änderte sich alles. Als Antonius nach Italien zurückkehrte, da glaubte
man allgemein, daß Atticus wegen seiner Freundschaft mit Cicero und Brutus in
großer Gefahr sei, und er selbst ließ sich, als die drei Feldherren ankamen, nicht mehr
auf dem Forum sehen, weil er fürchten mußte, geächtet zu werden, sondern hielt sich
bei P. Volumnius verborgen, dem er, wie oben gezeigt wurde, kurz vorher noch selbst
geholfen hatte. So wechselhaft war damals das politische Leben, daß bald die einen,
bald die anderen an der Spitze des Staates standen oder auch in höchster Gcfahr
waren. Bei sich hatte er Q. Gellius Canus, einen Altersgenossen, der mit
seinenpolitischen Anschauungen völlig übereinstimmte, und auch das ist ein Zeichen
für die menschlichen Qualitäten des Atticus, daß er mit einem Schulfreund aus
frühester Kindheit ein Leben lang verbunden blieb, ja daß ihre Freundschaft bis zum
höchsten Alter ständig wuchs. Antonius nun raste zwar in höchstem Zorn gegen
Cicero und fühlte sich nicht nur als dessen Feind, sondern auch als Feind aller derer,
die ihm irgendwie nahestanden. Seine Absicht war, sie zu ächten. Aber trotz der
Tatsache, daß ihn viele dazu drängten, vergaß er dabei nicht, welche Dienste ihm
Atticus geleistet hatte, sondern ließ nachforschen, wo er sich aufhalte, und schrieb
ihm, er möge nichts fürchten und sofort zu ihm kommen. Er habe nämlich ihn und
wegen jener Verdienste auch Canus von der Liste der Geächteten gestrichen. Und
damit ihm nichts zustoße, schickte er ihm eine Wache; denn der Besuch fand nachts
statt. So war Atticus zu einer Zeit, da alles in höchster Furcht lebte, nicht nur sich
selbst, sondern auch seinem engsten Freund ein Schutz - hatte er doch niemand um
Schutz oder Rettung gebeten, ohne auch für seinen Freund mitzubitten - und wollte
offensichtlich nicht, daß dessen Schicksal ein anderes sei als das seine. Wenn man
aber einen Steuermann lobt, der sein Schiff aus Sturm und klippenreichem Meer sicher
zurückbringt, muß dann nicht auch die Klugheit eines Mannes für einzigartig gelten,
der aus vielen und schweren Stürmen des Bürgerkrieges auf solche Weise in
Sicherheit gelangte?
11. Sobald er sich von allen diesen Übeln befreit hatte, war sein ganzes Handeln darauf
gerichtet, möglichst vielen, und so gut er konnte, zu helfen. Als der Pöbel, durch
Kopfprämien von den Machthabern dazu verleitet, auf die Geächteten Jagd machte,
ging niemand nach Epirus, der dort nicht durch ihn alles erhalten hätte, was er
benötigte, und jeder konnte sich in diesem Land aufhalten, solange er wollte. Ja, auch
nach der Schlacht von Philippi, als Brutus und Cassius gefallen waren, unternahm er
es, den ehemaligen Prätor L. Iulius Mocilla und dessen Sohn sowie Aulus Torquatus
und andere, die das gleiche Schicksal geschlagen hatte, zu schützen, und ließ ihnen
aus Epirus alles Notwendige nach Samothrake senden. Es wäre zu langwierig und
auch gar nicht nötig, alles aufzuzählen: Nur das eine soll deutlich werden, daß seine
Freigebigkeit weder durch die äußeren Umstände noch durch gewisse Absichten
bestimmt war. Das läßt sich seiner Gesamthaltung und den allgemeinen Verhältnissen
selbst entnehmen, weil er sich den gerade Mächtigen nicht verkaufte, sondern stets
den Darniederliegenden zu Hilfe kam. So sorgte er für Servilia, die Mutter des Brutus,
nach dessen Tod nicht weniger als in der Zeit seines höchsten Glanzes. Bei all dieser
Großzügigkeit gab es für ihn keine Feindschaften; denn er beleidigte niemand und zog
es vor, zu vergessen, anstatt sich zu rächen, wann immer man ihm selbst Übles
zugefügt hatte. Niemals aber vergaß er, wenn ihm selbst eine Wohltat erwiesen
worden war. Hatte er dagegen selbst einem Menschen Gutes getan, so erinnerte er sich
daran nur, solange der Empfänger selbst dankbar war, und solcherart beweist er die
Wahrheit des Satzes: "Das Schicksal jedes Menschen wird durch seinen Charakter
bestimmt." Mehr noch als sein Schicksal aber hat er seine eigene Persönlichkeit
geformt, indem er sich hütete, es soweit kommen zu lassen, daß er mit Recht über sich
selbst jammern müsse.
12. Dies alles war der Grund, daß M. Vipsanius Agrippa, mit dem jungen Caesar eng
befreundet, danach strebte, mit ihm verwandt zu werden, und die Tochter dieses
römischen Ritters als Gattin einer Frau aus altadeligem Geschlecht vorzog, obwohl
ihm wegen seines Ansehens und der Macht Caesars alle Häuser offenstanden.
Vermittelt wurde diese Ehe, das läßt sich nicht leugnen, durch M. Antonius, den
Triumvir des Staates. Durch ihn hätte Atticus seinen Besitz vermehren können, war
aber so weit von jeglicher Habsucht entfernt, daß er sich damit begnügte, dessen
Einfluß nur dann zu verwenden, wenn es darum ging, für Freunde zu bitten, die in
Gefahr waren oder Schaden erlitten hatten. Das zeigte sich besonders deutlich beiden
Proskriptionen: L. Saufeius, ein römischer Ritter und Altersgenosse des Atticus, lebte
zu Studien mehrere Jahre in Athen. Als aber nach den damals üblichen Methoden die
Triumvirn dessen wertvolle italische Besitzungen verkauften, bewirkte Atticus, indem
er alle Mittel anwandte und keine Mühe scheute, daß Saufeius durch die gleiche
Nachricht von Verlust und Wiedergewinnung seiner Güter in Kenntnis gesetzt werden
konnte. Ebenso rettete er L. Iulius Calidus, von dem glaube ich mit Recht behaupten
zu können, daß er nach dem Tod eines Lukrez und eines Catull die feinste
Dichtergestalt ist, die unser Zeitalter hervorgebracht hat. Ihn nämlich hatte P.
Volumnius, welcher unter Antonius die Pioniereinheiten befehligte, wegen seiner
Besitzungen in Afrika noch nach der Ächtung der Ritter in Abwesenheit auf die Liste
der Geächteten setzen lassen. Atticus setzte durch, daß dieser Name wieder gestrichen
wurde. Ob unter den damaligen Verhältnissen der Ruhm einer solchen Haltung der
aufgewandten Mühe immer entsprach, ist schwer zu beurteilen, aber man erkennt, daß
in Gefahren Atticus sich um seine Freunde kümmerte, gleichgültig, ob sie anwesend
waren oder nicht.
13. Der Ruf, den er als guter Hausvater genoß, entsprach dem seines politischen
Verhaltens, und trotz seines großen Reichtums war niemand weniger kauflustig,
weniger bauwütig als er. Nichtsdestoweniger legte er Wert auf besondere Wohnkultur
und eine Einrichtung, die das Beste vom Besten darstellte. Als Wohnung selbst hatte
er die Tamphilianische Villa auf dem Quirinal, die ihm sein Onkel vererbt hatte und
deren Reiz nicht so sehr im Gebäude selbst als in dem sie umgebenden Park bestand.
Da sie mehr mit Geschmack als mit Aufwand erbaut war, nahm er an ihr
Veränderungen nur vor, wenn er aus Gründen der Baufälligkeit dazu gezwungen
wurde. Seine Dienerschaft war, vom Standpunkt ihrer Verwendbarkeit aus betrachtet,
hervorragend, dem Aussehen nach kaum mittelmäßig, denn sie umfaßte auch
hochgelehrte Sklaven, ausgezeichnete Vorleser und eine große Zahl von Schreibern,
ja, er hatte kaum einen Dienstboten, der nicht wenigstens eines dieser Gebiete gut
beherrsehte. Gleicherweise waren auch die übrigen Angestellten, die er in seinem
Hauswesen beschäftigte, in ihrem Fach ausgezeichnet. Und dabei gab es keinen, der
nicht schon in diesem Haus geboren und erzogen worden war, ein Zeichen nicht nur
für die Sparsamkeit, sondern auch für die Sorgfalt, die Atticus in diesen Dingen an den
Tag legte. Denn nicht allzusehr begehren, was man hei andern sieht, beweist die
innere Unabhängigkeit eines Menschen, und es gehört größter Fleiß dazu, sich durch
eigenes Bemühen zu verschaffen, was andere durch hohe Preise erwerben. Sein
Lebensstil war geschmackvoll, nicht prächtig, glänzend, aber nicht verschwenderisch,
und sein ganzes Streben war auf Sauberkeit, nicht auf Prunk gerichtet. So war auch
seine Einrichtung bescheiden, nicht überladen und konnte weder als reich noch als
ärmlich gelten.
Und obwohl man es als unwichtig ansehen könnte, so soll doch nicht unterlassen
werden, zu erwähnen, daß er als einer der reichsten römischen Ritter zwar großzügig
Menschen aller Stände in sein Haus einlud, sein Ausgabenbuch jedoch nicht mehr als
3000 Sesterzen für den laufenden Monat an Lebenshaltungskosten verzeichnete. Diese
Tatsache berichte ich nicht nur dem Hörensagen nach, sondern ich konnte sie selbst
nachprüfen, da ich in private Dinge dieser Art wegen unserer engen Freundschaft
guten Einblick besaß.
14. Niemals genoß man auf seinen Einladungen einen anderen Ohrenschmaus als den des
Vorlesers, was mir persönlich stets ein besonderes Vergnügen bereitete, und ohne eine
Lesung speiste man nie bei ihm, so daß Kopf und Magen der Gäste gleicherweise
erfreut wurden. Allerdings lud er nur Leute ein, die sich in ihrer Lebensart nicht von
ihm unterschieden. Und wenn auch sein Reichtum gewaltig anwuchs, an seinen
Lebensgewohnheiten und Lebensformen änderte sich nichts. Er blieb bescheiden und
gab sich weder mit den von seinem Vater ererbten zwei Millionen Sesterzen zu
einfach, noch zur Zeit, da er das Fünffache besaß, allzu großspurig im Vergleich zu
früheren Zeiten. Die Art, wie er sein Leben gestaltete, blieb in beiden Vermögenslagen
die gleiche. Er besaß keine Gärten, keine prunkvollen Villen vor der Stadt oder am
Meer, auch kein Landgut in Italien außer dem in Arretium und Nomentum, und seine
Einkünfte kamen aus Besitzungen in Rom und in Epirus. Aus allem dem ist zu
entnehmen, daß er den Wert des Geldes nicht nach der Menge, sondern nach der Art
und Weise, wie es verwendet wurde, beurteilte.
15. Er selbst log nie und duldete Unwahrheit auch bei anderen nicht. So war seine
Freundlichkeit nicht ohne sittlichen Frnst, anderseits sein Ernst nicht ohne gewisse
Freundlichkeit, und es läßt sich schwer erkennen, ob bei seinen Freunden die Liebe
oder Scheu und Ehrfurcht gegen ihn überwogen. Er sagte nie ohne weiteres zu, wenn
et um etwas gebeten wurde, und hielt es weniger für ein Zeichen von Großzügigkeit
als von Leichtfertigkeit, etwas zu versprechen, was man nicht halten könne. Um aber
zu halten, was er einmal versprochen hatte, gab er sich solche Mühe, daß es schien, als
handle er nicht im Auftrag, sondern in eigener Sache. Niemals verdroß ihn eine
übernommene Aufgabe, war er doch der Meinung, es gehe hier stets um seinen guten
Ruf, der ihm über alles wichtig war, und so kam es, daß ihn die Brüder Cicero, M.
Cato, Q. Hortensius, A. Torquatus und viele römische Ritter zum Sachwalter in allen
ihren Geschäften nahmen. Man kann hieraus ersehen, daß es nicht Trägheit war,
sondern klare Überlegung, wenn er die Übernahme eines politischen Amtes ablehnte.
16. Für seine menschlichen Vorzüge läßt sich kein besseres Beispiel anführen als die
Tatsache, daß der Umgang des Jünglings wohltuend auf den greisen Sulla wirkte, der
des alten Mannes aber ebenso auf den jungen Brutus. Mit seinen Altersgenossen Q.
Hortensins und M. Cicero war er so eng befreundet, daß es schwer ist, zu entscheiden,
zu welchem Lebensalter er am besten paßte. Vor allem aber schätzte ihn Cicero, dem
er mehr bedeutete als der eigene Bruder. Beweis hierfür sind außer den
unveröffentliehten Werken, in denen er ihn erwähnt, 11 Bücher Briefe an Atticus, die
von der Zeit seines Consulats bis in die letzten Tage seines Lebens datieren. Wer diese
liest, wird fast eine vollständige Geschichte jener Zeiten aufgezeichnet finden, so
deutlich sind in ihnen die Bestrebungen der Machthaber, die Laster der Volksführer
und die politischen Umwälzungen beschrieben. Es gibt nichts Wichtiges, was man
ihnen nicht entnehmen könnte, und darüber hinaus gelangt man zur Erkenntnis, daß
alle Klugheit in einer gewissen Vorahnung des Kommenden besteht; denn wie ein
Seher hat Cicero nicht nur Dinge vorhergesagt, die sich noch zu seinen Lebzeiten
ereigneten, sondern auch vorausgeahnt, wie sich jetzt, in unseren Tagen, alles
entwickeln werde.
17. Was soll man noch vom Verhalten des Atticus gegen seine Angehörigen sagen? Habe
ich doch selbst gehört, wie er sich bei den Leichenfeierlichkeiten für seine Mutter diese begrub er mit 90 Jahren, als er selbst schon 67 Jahre war - rühmte, daß er sich
niemals mit ihr habe versöhnen müssen und auch nie mit seiner ungefähr
gleichalterigen Schwester Streit gehabt habe. All dies deutet entweder darauf hin, daß
niemals Grund zu derlei Ärgernis bestanden hat, oder aber darauf, daß er gegen die
Seinen von besonderer Rücksichtnahme gewesen ist und es für Frevel hielt, denen zu
zürnen, die er zu lieben verpflichtet war. Eine solche Haltung aber entstammt nicht
allein der natürlichen Veranlagung, der wir alle unterworfen sind, sondern auch seiner
Beschäftigung mit der Philosophie. Denn er hatte die Lehren der Philosophen so in
sich atifgenommen, daß diese ihm wirklich als Richtschnur für sein Leben dienten,
nicht etwa nur als Schaustücke zur Prahlerei.
18. Eifrig bestrebt, den Sitten der Alten nachzuleben, war er ein großer Verehrer
vergangener Zeiten. Seine genauen Kenntnisse auf diesem Gebiet beweist er in einem
Werk, in welchem er eine Liste der Beamten aufstellt und in welchem es keine
Gesetzgebung, keinen Friedensscluß, keinen Krieg und keine andere wichtige Sache
gibt, die nicht dort eingeordnet wäre, wo sie zeitlich hingehört. Aber das
Komplizierteste daran: Er verwob mit diesen Ereignissen auch die Ursprünge
einzelner Familien, so daß wir dem Buch auch die Familiengeschichte bedeutender
Persönlichkeiten entnehmen können. Einer ähnlichen Arbeit unterzog er sich übrigens
auch in anderen Werken; so schrieb er zum Beispiel auf Bitten des Brutus die
Familiengeschichte der Iunier vom Ursprung bis auf unsere Zeit und verzeichnete für
jedes Mitglied Abstammung, Ämter und Amtszeit. Das gleiche tat er auf Bitte des M.
Marcellus für die Marceller und auf Wunsch von Cornelius Scipio und Fabius
Maximus für die Fabier und die Aemilier, Werke, welche allen höchstes Vergnügen
bereiten, die an einem Lebensbild bedeutender Männer Interesse haben. Auch
beschäftigte er sich mit der Dichtkunst, wie ich glaube, in der Absicht, auch an dem
Vergnügen teilzuhaben, das sie bereitet. So charakterisierte er in Versen einzelne
Persönlichkeiten, die an Bedeutung und Tatenruhm die anderen Römer übertrafen,
wobei er unter dem Bild eines jeden dessen Taten in nicht mehr als vier bis fünf
Versen beschrieb. Man hätte kaum glauben können, daß solche Leistungen in derart
wenigen Versen zu umreißen seien. Auch existiert von ihm ein griechisch
geschriebenes Werk über das Consulat Ciceros.
19. Alles bisher Dargelegte hatte ich schon bei Lebzeiten des Atticus niedergeschrieben
und ihm gewidmet. Weil nun das Schicksal gewollt hat, daß ich ihn überlebe, soll auch
das übrige berichtet und, soweit moglich, die Leser durch das Beispiel von unserem
oben erwähnten Grundsatz überzeugt werden, daß fast immer die Persönlichkeit sich
selbst ihr Schicksal schafft. Mit dem Ritterstand, aus dem er stammte, zufrieden, war
Atticus zum Verwandten des Herrschers, des Sohnes jenes vergöttlichten Caesar,
geworden, nachdem dieser sich mit ihm schon vorher angefreundet hatte, und dies
allein wegen der inneren Vornehmheit seiner Lebensart. Durch sie hatte er bereits
früher andere bezaubert, die zur Führung des Staates jenem an Würdigkeit gleich, vom
Glück aber weniger begünstigt waren. Denn das Glück war Caesar Octavianus so
hold, daß es ihm schenkte, was es anderen angeboten hatte, und ihm darüber hinaus
noch zuteilte, was vorher noch kein Römer hatte erlangen künnen. Von seiner Tochter,
die mit Agrippa verheiratet war, wurde Atticus eine Enkelin geboren, welche Caesar
Octavianus, kaum daß sie ein Jahr alt war, mit Tib. Claudius Nero verlobte, dem Sohn
der Drusilla, seinem Stiefsohn. Diese Verbindung festigte ihre Verwandtschaft und
gestaltete ihre Freundschaft noch enger.
20. Schon vor dieser Verlobung nämlich hatte Octavianus die Gewohnheit, sooft er
abwesend war, nie an einen der Seinen zu schreiben, ohne auch Atticus zu
benachrichtigen, was er treibe, besonders, was er läse, an welchen Orten und wie lange
er verweile. War er in der Stadt und konnte wegen der Fülle seiner Aufgaben nicht so
oft mit Atticus zusammensein, wie er wollte, so verging kein Tag, ohne daß er ihm
schrieb, ihn etwas über das Altertum fragte, ihm eine Frage vorlegte, welche die
Dichtkunst betraf, oder ihm durch witzige Bemerkungen ein umfangreiches
Antwortschreihen zu entlocken suchte. Als zum Beispiel der Tempel des luppiter
Feretrius auf dem Kapitol, den bereits Romulus erbaut hatte, wegen seines Alters und
durch die mangelnde Sorgfalt abgedeckt wurde und fast schon zusammenstürzte, da
war es der Mahnung durch Atticus zu verdanken, daß Augustus seine
Wiederherstellung veranlaßte. Nicht weniger aber verehrte ihn Antonius, auch
nachdem er Rom verlassen hatte, und berichtete ihm mit großem Eifer von seiner
Tätigkeit aus den entlegensten Teilen der Erde. Was das heißt, wird der am ehesten
ermessen, der zu beurteilen vermag, welche Klugheit es erfordert, sich die
Freundschaft zweier Männer zu erhalten, zwischen denen eine solche Gegnerschaft, ja
solcher Haß besteht, wie er sich notwendigerweise zwischen Antonius und Octavianus
entwickeln mußte. Begehrte doch jeder von beiden nicht nur der Herr Roms, sondern
der ganzen Welt zu sein.
21. So hatte er 77 Jahre vollendet. Mit seinem Ansehen waren auch Einfluß und
Vermögen gewachsen, und viele Erbschaften wurden ihm nur wegen seiner großen
menschlichen Güte vermacht. Zeitlebens war er so gesund gewesen, daß er 30 Jahre
hindurch keine Medizin benötigt hatte. Da befiel ihn eine Krankheit. Er selbst und die
Ärzte waren anfangs unbesorgt; man nahm Darmreizung an und verschrieb leichte,
schnellwirkende Heilmittel. Nachdem er drei Monate ohne Schmerzen - außer denen
der Heilbehandlung natürlich - verbracht hatte, griff die Krankheit plötzlich mit aller
Kraft auf die Eingeweide über, und zuletzt brachen am Unterleib eitrige Geschwüre
hervor. Aber bereits vorher, als er fühlte, daß die Schmerzen wuchsen und Fieber
hinzutrat, hatte er seinen Schwiegersohn Agrippa, dazu L. Cornelius Balbus und 5.
Peducaeus zu sich rufen lassen. Sobald er sah, daß sie gekommen waren, stützte er
sich auf den Ellenbogen auf und sprach: "Da ihr alle Zeugen seid, brauche ich nicht
eigens hervorzuheben, welche Sorge ich in der letzten Zeit darauf verwendet habe,
meine Gesundheit zu erhalten. Nachdem ich, wie ich hoffe, alles getan habe, was zu
meiner Wiederherstellung dient, bleibt mir nun nichts mehr übrig, als daß ich selbst
nach einer Lösung für mich suche. Ich wollte euch darüber nicht im Zweifel lassen: Es
ist meine Absicht, nicht länger die Krankheit zu nähren, nachdem ich mit all den
Speisen, die ich in den letzten Tagen zu mir nahm, lediglich das Leben hinausgezögert
und die Schmerzen vermehrt habe, ohne Hoffnung auf Rettung zu gewinnen. Euch
aber bitte ich, meinen Plan zu billigen, fernerhin, mich nicht durch sinnloses Mahnen
an meinem Vorhaben zu hindern."
Diese Worte sprach er mit fester Stimme und entschlossener Miene, gleichsam als
wolle er nicht aus dem Leben scheiden, sondern nur die Wohnung wechseln, und von
da ab ignorierte er alle Bitten des Agrippa mit schweigender Hartnäckigkeit. Dieser
bat ihn unter Tränen und Umarmungen, er möge doch nicht den Lauf der Natur
beschleunigen und sich den Seinen erhalten, sein augenblicklicher Zustand werde sich
sicherlich überwinden lassen. Zwei Tage nachdem er sich jeder Nahrung enthalten
hatte, wich plötzlich das Fieber, und es trat eine leichte Besserung ein. Er selbst aber
blieb bei seinem Vorsatz und starb fünf Tage, nachdem er seinen Entschluß gefaßt
hatte, am 31. März unter dem Consulat des Cn. Domitius und des C. Sosus. Wie er es
selbst angeordnet hatte, bestattete man ihn auf einer einfachen Bahre und ohne Prunk.
Alle vornehmen Bürger und eine große Volksmenge folgten dem Leichenzug. Neben
der Via Appia, beim fünften Meilenstein, im Grabmal seines Onkels Q. Caecilius,
wurde er beigesetzt.
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