Psychosomatische Aspekte an der Schnittstelle Hausarzt

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TECHNISCHE UNIVERSITÄT MÜNCHEN
Institut für Allgemeinmedizin
Klinikum rechts der Isar
(Direktor: Univ.-Prof. Dr. Antonius Schneider)
Psychosomatische Aspekte an der
Schnittstelle Hausarzt – Spezialist:
eine Überweisungsstudie
Bernadett Maria Hilbert
Vollständiger Abdruck der von der Fakultät für Medizin der Technischen Universität
München zur Erlangung des akademischen Grades eines
Doktors der Medizin
genehmigten Dissertation.
Vorsitzender:
Univ.-Prof. Dr. Ernst J. Rummeny
Prüfer der Dissertation:
1. Univ.-Prof. Dr. Antonius Schneider
2. apl. Prof. Dr. Claas Lahmann
Die Dissertation wurde am 06.05.2015 bei der Technischen Universität München
eingereicht und durch die Fakultät für Medizin am 14.10.2015 angenommen.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ......................................................................... V
Abbildungsverzeichnis ......................................................................... VI
Tabellenverzeichnis ............................................................................. VII
1 EINLEITUNG ...................................................................... 1
1.1 Versorgungssteuerung im deutschen Gesundheitswesen .......... 1
1.1.1 Die Position des Hausarztes in Deutschland ........................ 1
1.1.2 Das deutsche Überweisungssystem ..................................... 3
1.2 Psychische Erkrankungen in der Hausarztpraxis......................... 8
1.2.1 Epidemiologie ....................................................................... 8
1.2.2 Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ..................... 9
1.3 Entwicklung des Studienkonzepts ............................................... 11
1.3.1 Beschreibung des Vorläuferprojekts – die Erststudie .......... 11
1.3.2 Theoretische Herleitung der Hypothesen ............................ 13
1.4 Zielsetzungen und Hypothesen .................................................... 17
2 MATERIAL UND METHODIK ........................................... 19
2.1 Beschreibung des Studiendesigns .............................................. 19
2.1.1 Das Vorläuferprojekt – die Erststudie .................................. 19
2.1.2 Die Überweisungsstudie ..................................................... 20
2.2 Aufbau des Fragebogens .............................................................. 23
2.2.1 Soziodemographische Fragen ............................................ 23
2.2.2 Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D).................. 23
2.2.3 Autonomie-Präferenz-Index (API) ....................................... 25
2.2.4 Fragebogen zu Körper und Gesundheit (FKG) ................... 26
2.2.5 Fragebogen zur Erhebung von Kontrollüberzeugungen
zu Krankheit und Gesundheit (KKG) ................................... 28
2.3 Angewandte statistische Methoden ............................................. 29
2.3.1 Fallzahlschätzung ............................................................... 29
2.3.2 Statistische Analyse ............................................................ 30
2.3.3 Umgang mit fehlenden Werten ........................................... 31
II
3 ERGEBNISSE ................................................................... 32
3.1 Vergleich von Patienten aus der regulären Sprechstunde mit
Patienten, die Überweisungen am Tresen erhalten .................... 32
3.1.1 Beschreibung der Stichprobe .............................................. 32
3.1.2 Psychische Komorbidität ..................................................... 33
3.1.3 Dauerdiagnosen .................................................................. 36
3.1.4 Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ................... 39
3.1.5 Partizipations- und Informationspräferenz........................... 41
3.1.6 Analyse der Non-Responder ............................................... 42
3.2 Patienten mit sinnvollen Überweisungen im Vergleich zu
Patienten mit mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung 44
3.2.1 Beschreibung der Stichprobe .............................................. 44
3.2.2 Psychische Komorbidität ..................................................... 45
3.2.3 Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ................... 47
3.2.4 Dysfunktionale Kognitionen................................................. 47
3.2.5 Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und Gesundheit ........ 48
3.3 Analyse der Überweisungsvorgänge ........................................... 49
3.3.1 Dokumentation der Überweisungen .................................... 49
3.3.2 Fachgebiete und Anteil nicht sinnvoller Überweisungen ..... 49
3.3.3 Angaben zum Grund der Überweisung ............................... 51
4 DISKUSSION .................................................................... 53
4.1 Diskussion der Methoden ............................................................. 53
4.1.1 Datenerhebung und Auswertung ........................................ 53
4.1.2 Verwendete Fragebögen..................................................... 59
4.2 Diskussion der Ergebnisse ........................................................... 62
4.2.1 Vergleich von Patienten aus der regulären Sprechstunde
mit Patienten, die Überweisungen am Tresen erhalten....... 62
4.2.2 Patienten mit sinnvollen Überweisungen im Vergleich zu
Patienten mit mindestens einer nicht sinnvollen
Überweisung ....................................................................... 69
4.2.3 Dokumentierte Überweisungsvorgänge .............................. 71
4.3 Schlussfolgerungen und Ausblick ............................................... 75
5 ZUSAMMENFASSUNG .................................................... 77
III
6 ANHANG .......................................................................... 79
6.1 Einverständniserklärung ............................................................... 79
6.2 Patientenfragebogen ..................................................................... 82
6.3 Auszahlung von Probandenentgelt.............................................. 92
7 LITERATURVERZEICHNIS .............................................. 93
8 DANKSAGUNG .............................................................. 105
9 LEBENSLAUF ................................................................ 106
IV
Abkürzungsverzeichnis
API
Autonomie-Präferenz-Index
FKG
Fragebogen zu Körper und Gesundheit
GAD-7
Generalized Anxiety Disorder-7-Fragebogen
ICD-10-GM
International Statistical Classification of Diseases and Related
Health Problems, Release 10, German modification
KKG
Fragebogen zur Erhebung von Kontrollüberzeugungen zu
Krankheit und Gesundheit
OR
Odds Ratio
PHQ-D
Gesundheitsfragebogen für Patienten
TU München
Technische Universität München
V
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ablauf von Erststudie und Überweisungsstudie ..................................... 13
Abbildung 2: Rekrutierung von Patienten für die Erststudie und
Überweisungsstudie .................................................................................................... 32
Abbildung 3: Prävalenz der nach PHQ-D diagnostizierten psychischen
Komorbidität .............................................................................................................. 35
Abbildung 4: Rekrutierung von Patienten mit sinnvollen Überweisungen und von
Patienten mit mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung .................................... 44
Abbildung 5: Am Tresen und in der Sprechstunde ausgestellte Überweisungen ........ 49
VI
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Umgang mit fehlenden Werten ................................................................... 31
Tabelle 2: Soziodemographischer Hintergrund ........................................................... 33
Tabelle 3: Summenwerte der PHQ-D-Module Depression, Panik, Andere
Angststörungen und Somatoforme Syndrome ............................................................ 34
Tabelle 4: Nach PHQ-D diagnostizierte psychische Störungen (Module
Depression, Panik, Andere Angststörungen und Somatoforme Syndrome) ................ 34
Tabelle 5: Anzahl der vom Hausarzt dokumentierten Dauerdiagnosen pro Patient ..... 36
Tabelle 6: Diagnosen................................................................................................... 37
Tabelle 7: Erkrankungsklassen ................................................................................... 38
Tabelle 8: Inanspruchnahmeverhalten während der letzten zwölf Monate .................. 39
Tabelle 9: Prädiktoren für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ............. 40
Tabelle 10: Beurteilung der Partizipationspräferenz der Patienten durch den
Hausarzt...................................................................................................................... 42
Tabelle 11: Mittelwerte des Autonomie-Präferenz-Index (API) .................................... 42
Tabelle 12: Non-Responder-Analyse der Erststudie und der Überweisungsstudie ..... 43
Tabelle 13: Non-Responder-Analyse der Überweisungsstudie ................................... 43
Tabelle 14: Soziodemographischer Hintergrund und Anzahl der vom Hausarzt
dokumentierten Dauerdiagnosen pro Patient .............................................................. 45
Tabelle 15: Summenwerte der PHQ-D-Module Depression, Panik, Andere
Angststörungen und Somatoforme Syndrome ............................................................ 46
Tabelle 16: Ängstlichkeits-Schweregrade gemäß dem Generalized Anxiety
Disorder-7-Fragebogen (GAD-7) ................................................................................ 46
VII
Tabelle 17: Inanspruchnahmeverhalten während der letzten zwölf Monate ................ 47
Tabelle 18: Summenwerte des Fragebogens zu Körper und Gesundheit (FKG) ....... 48
Tabelle 19: Summenwerte des Fragebogens zur Erhebung von
Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und Gesundheit (KKG) ..................................... 48
Tabelle 20: Häufigkeit und Sinnhaftigkeit von Tresen-Überweisungen (beurteilt
durch die an der Studie mitwirkenden Hausärzte) ...................................................... 50
Tabelle 21: Fachgebiet und Anteil nicht sinnvoller Überweisungen ............................. 51
Tabelle 22: Angaben zum Grund der Überweisung ..................................................... 52
VIII
Vorbemerkung:
Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung, wie zum Beispiel Ärzte und Ärztinnen, verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung für beide Geschlechter.
IX
1
EINLEITUNG
1.1 Versorgungssteuerung im deutschen Gesundheitswesen
1.1.1 Die Position des Hausarztes in Deutschland
Die Position des Hausarztes im Gesundheitswesen ist in den verschiedenen Ländern
dieser Welt ganz unterschiedlich definiert. Während dem Hausarzt im Primärarztsystem eine bedeutende Funktion bei der Koordination seiner Patienten zukommt, ist er
in anderen Staaten nur eine von vielen alternativen Anlaufstellen für Patienten im medizinischen System. In der bis heute grundlegenden Alma-Ata-Deklaration der World
Health Organization wurde die Primärversorgung im Jahr 1978 wie folgt definiert:
„Primary health care […] is the first level of contact of individuals, the family and community with the national health system bringing health care as close as possible to
where people live and work, and constitutes the first element of a continuing health
care process.” (World Health Organization 1978, S. 3-4).
Ein Primärarztkonzept ist unter anderem in Großbritannien, Finnland oder den Niederlanden umgesetzt worden. In diesem Versorgungsmodell muss der Hausarzt grundsätzlich zuerst konsultiert werden. Dieser prüft dann, ob er selbst für die Behandlung
zuständig ist oder ob er den Patienten zu einem anderen Facharzt weiterleitet. In diesem System können Spezialisten nur mit einer Überweisung aufgesucht werden. Folglich sind Hausärzte hier die „Gatekeeper des Medizinwesens“, denn sie steuern den
Zugang der Patienten zu den Leistungen im Gesundheitssystem. In Deutschland haben die Patienten hingegen zum aktuellen Zeitpunkt freien Zugang zum Arzt ihrer
Wahl. Nur bei gesetzlich Versicherten gilt die Einschränkung, dass ein an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmender Arzt aufgesucht werden muss.
Die Einführung des Rechts auf freie Arztwahl war in Deutschland im Jahr 1931 Resultat ärztlicher Proteste gegen deren Abhängigkeit von den Krankenkassen (Kunstmann
2002). Unter Bismarck war 1883 die Krankenversicherung, als erste Leistung aus dem
Bereich der Sozialversicherungen, eingeführt worden. Nun waren erstmals Teile der
Arbeiterschaft pflichtversichert. Im Erkrankungsfall konnten die Versicherten von der
Krankenkasse zugewiesene Ärzte aufsuchen. Diese Kassenärzte waren weitestgehend den Krankenkassen unterstellt, mit denen sie Einzelverträge abschlossen und
die ihr Honorar und ihre Arbeitsbedingungen diktierten.
1
Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der praktizierenden Ärzte rasch an. Forderungen nach Kollektivverträgen, freier Arztwahl und dem Einzelleistungsprinzip wurden laut. Um diese besser vertreten zu können, wurde im Jahr 1900 der Leipziger
Verband (der spätere Hartmannbund) gegründet. Es folgten 30 Jahre voller Unruhen
und Streiks durch die Ärzteschaft. Schließlich übertrug die Regierung im Jahr 1931 die
Interessenvertretung der Kassenärzte gegenüber den Krankenkassen einer Körperschaft des öffentliches Rechts: der Kassenärztlichen Vereinigung. Nur zwei Jahre später wurden die regionalen Vereinigungen jedoch im Zuge der Gleichschaltungsgesetze
von den Nationalsozialisten aufgelöst und durch die autoritär-zentralistische Organisation Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands ersetzt. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 wurde auch die Krankenversicherung neu geordnet und die ärztliche Selbstverwaltung wieder aufgebaut (Vogt 1998; Jütte 1997).
Der „Kostenexplosion“ und „Ärzteschwemme“ in den 60er und 70er Jahren wurde in
der nachfolgenden Zeit eine Vielzahl von Gesundheitsreformen entgegengesetzt. Diese dienten zumeist der Sicherstellung der Finanzierung des Gesundheitssystems. Das
2004 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung befasste sich unter anderem mit der Rolle des Hausarztes in Deutschland. Dieses Gesetz verpflichtete die Krankenkassen, bis spätestens Ende Juni 2009 eine flächendeckende hausarztzentrierte Versorgung anzubieten. Gesetzlich Versicherte
können freiwillig an dieser Versorgungsform teilnehmen, indem sie einen Hausarzt
wählen, bei dem sie sich für ein Jahr einschreiben. In diesem Hausarztmodell haben
die Patienten verschiedene Vorteile. Beispiele sind eine reduzierte Zuzahlung in der
Apotheke oder die Möglichkeit bestimmte Sondersprechstunden in der Hausarztpraxis
zu besuchen. Im Gegenzug willigen die Teilnehmer ein, bei gesundheitlichen Problemen immer zuerst ihren Hausarzt aufzusuchen. Dieser prüft dann, ob er selbst den
Beratungsanlass abklären kann oder ob er den Patienten zu einem anderen Arzt
überweisen muss. Ein direktes Aufsuchen von Spezialisten ist in Notfallsituationen
und bei der Konsultation von Frauen-, Augen-, Kinder- oder Zahnärzten möglich. Dem
Hausarzt kommt in diesem Versorgungsmodell eine zentrale Position in der Behandlung seiner Patienten zu. Er wahrt den Gesamtüberblick über die Krankengeschichte
und koordiniert sämtliche Untersuchungs- und Therapieschritte. Die derzeitige Situation der hausarztzentrierten Versorgung gestaltet sich noch unübersichtlich. Während
das Modell von einigen Krankenkassen erfolgreich angeboten wird, bereiten andere
2
Kassen die Umsetzung noch vor oder haben laufende Verträge schon wieder gekündigt (Lehr 2010; Korzilius 2012).
Die hausarztzentrierte Versorgung engt das Recht auf eine freie Arztwahl ein (Linden
2004). Ob diese Einschränkung auch zu einer effizienteren Verteilung der begrenzten
Gesundheitsressourcen führt, wird derzeit kontrovers in Politik, Ärzteschaft und Medien diskutiert. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
(DEGAM) tritt für eine Stärkung der Position des Hausarztes im Gesundheitswesen
ein. In den 2012 verabschiedeten DEGAM-Zukunftspositionen wird die gewünschte
Funktion des Hausarztes wie folgt beschrieben: „Hausärztinnen und Hausärzte stellen
eine qualifizierte Grundversorgung sicher und organisieren darüber hinaus die Zusammenarbeit mit Fachspezialisten […]. Sie nehmen eine zentrale Position als verantwortliche Koordinatorinnen und Koordinatoren ein und behalten den Überblick über
die Gesamtversorgung des Patienten.“ (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin
und Familienmedizin e.V. 2012, S. 9).
Andere Parteien sprechen sich jedoch resolut gegen eine Veränderung der Stellung
des Hausarztes in Deutschland aus. Der NAV-Virchow-Bund (Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e.V.) vertrat im Deutschen Ärzteblatt zum Beispiel folgende Meinung: „Ein Primärarztsystem sei durch neue Kooperations- und Versorgungsstrukturen überholt. Es würde den qualifizierten Hausarzt zum Patientenverteiler
degradieren, die spezialärztliche Versorgung gefährden und die freie Arztwahl beschneiden.“ (Kloppenborg 1998, S. 36). Es bleibt abzuwarten, welches Lager sich in
der Debatte um die Bedeutung des Hausarztes in Deutschland durchsetzt und ob ein
Primärarztsystem bei der Planung künftiger Gesundheitsreformen eine Rolle spielen
wird.
1.1.2 Das deutsche Überweisungssystem
In Deutschland kann ein behandelnder Arzt seine Patienten zu anderen Fachrichtungen überweisen, wenn eine Auftragsleistung, Konsiliaruntersuchung oder Mit- bzw.
Weiterbehandlung indiziert ist. Im Sinne der freien Arztwahl darf der überweisende
Arzt auf dem Vordruck keinen bestimmten Kollegen vermerken, sondern muss sich
auf die Fachrichtung beschränken, an die sich die Überweisung richtet. Im Jahr 2011
wurde der Überweisungsschein überarbeitet. Auf dem neuen Formular können in separaten Feldern Informationen zur gestellten Diagnose bzw. Verdachtsdiagnose, zum
3
erhobenen Befund, zur Medikation und zur geforderten Auftragsleistung vermerkt
werden (Kochen 2012).
Grundsätzlich sollte ein Hausarzt genau prüfen, ob die Ausstellung einer Überweisung
zu einem Kollegen notwendig ist. Im alltäglichen Praxisablauf wird der Arzt aber nicht
immer in diese Entscheidungsfindung eingebunden. In einem Teil der Praxen können
die Patienten per Email oder Telefon gewünschte Überweisungen anfordern und diese
dann in den nächsten Tagen abholen. In anderen Praxen erscheinen die Patienten
ohne Termin und warten bis der Hausarzt zwischen seinen Konsultationen Zeit findet,
die Überweisungen zu unterschreiben. Insbesondere am Quartalsanfang, wenn Patienten besonders viele Überweisungen anfordern, werden deshalb in einigen Praxen
für ein effektiveres Zeitmanagement vom Arzt vorunterschriebene Überweisungen am
Tresen der Praxis platziert. Wenn der Patient in der Praxis vorstellig wird, müssen die
Mitarbeiter auf dem Überweisungsschein nur noch die Patientendaten und geforderte
Fachrichtung eintragen.
Bis heute widmeten sich nur wenige Studien der Frage, wie viele Überweisungen von
den medizinischen Fachangestellten außerhalb der regulären Sprechstunde ohne direkten Arztkontakt ausgegeben werden (Tresen-Überweisung). Eine Erhebung aus
den USA zeigte, dass der Hausarzt insgesamt 86 Prozent der Überweisungsvorgänge
veranlasste. Die übrigen Überweisungen wurden von den Praxismitarbeitern erstellt:
davon 11 Prozent mit und 3 Prozent ohne ärztliche Beratung (Forrest 2002). Aufgrund
der Unterschiede zwischen dem amerikanischen und deutschen Gesundheitssystem
lassen sich diese Ergebnisse aber nur mit Einschränkung auf die hiesige Versorgungslandschaft übertragen.
Hausärzte unterzeichnen Tresen-Überweisungen mit gewisser Ambivalenz. Einerseits
muss der Hausarzt nicht immer für Routine-Überweisungen konsultiert werden, wie
zum Beispiel bei der jährlichen Vorstellung des Diabetikers beim Augenarzt. Andererseits erfolgen aber zu viele Überweisungsvorgänge als Routine. Bei genauer Prüfung
zeigt sich dann, dass ein Teil der Überweisungen gar nicht indiziert ist, zum Beispiel
wenn der Hausarzt selbst die geschilderten Beschwerden abklären oder die geforderte Untersuchung durchführen könnte. Einer effizienten hausärztlichen Lotsenfunktion
stehen jedoch zeitliche Gründe entgegen. So ist es für den Hausarzt in der kurzen
Kontaktzeit nur schwer möglich, die Notwendigkeit aller angegebenen Überweisungsanlässe zu überprüfen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn Patienten mehr als eine
4
Überweisung verlangen. Darüber hinaus behalten sich Patienten im Sinne der freien
Arztwahl das Recht vor, den gewünschten Spezialisten in Anspruch zu nehmen. Bei
Restriktionen, wie sie im Sinne eines funktionierenden "Gatekeeper-Systems" zu erwarten wären, wird jedoch mit einem Arztwechsel gedroht. Ohnehin können Patienten
wegen der fehlenden Zugangsbeschränkung bei den meisten Spezialisten auch ohne
Überweisung vorstellig werden. Es liegt also letztendlich in der Entscheidung des Patienten, ob Hausärzte als Lotsen wirksam werden können.
Die Einführung der Praxisgebühr im Jahr 2004 diente nicht nur der finanziellen Entlastung der Krankenkassen, sondern auch der Stärkung dieser hausärztlichen Lotsenfunktion. Mit Verabschiedung des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen
Krankenversicherung mussten gesetzlich Versicherte beim ersten Arzt-, Zahnarztoder Psychotherapeutenbesuch im Quartal eine Gebühr in Höhe von zehn Euro entrichten. Das Aufsuchen weiterer Ärzte stand den Patienten frei, wobei aber nochmals
zehn Euro fällig wurden, wenn keine Überweisung durch den zuerst konsultierten Arzt
vorgelegt werden konnte. Dieser finanzielle Anreiz sollte Patienten motivieren, zunächst den Hausarzt aufzusuchen, der dann bei begründeter Notwendigkeit Überweisungen zu Spezialisten ausstellte.
Konstruktionsfehler der Praxisgebühr bewirkten jedoch, dass der Hausarzt dieser Lotsenfunktion nicht immer nachgehen konnte. Ein Teil der Patienten konsultierte, unter
Umgehung des Hausarztes, direkt einen Spezialisten. Dieser stellte dann Überweisungen zu weiteren Fachärzten aus. Da dem Spezialist aber nur im Ausnahmefall die
gesamte Krankenakte vorliegt, kann er, im Vergleich zum Hausarzt, die Plausibilität
von Überweisungen nur unzureichend beurteilen. Andere Patienten suchten die gewünschten Ärzte weiterhin in der ihnen beliebigen Reihenfolge auf, da für sie entweder das wiederholte Entrichten von zehn Euro keine Barriere darstellte oder sie von
der Zahlung der Praxisgebühr befreit waren. Eine Befreiung war für all jene Patienten
möglich, die pro Jahr mehr als zwei Prozent ihres Bruttoeinkommens für Zuzahlungen
aufwenden mussten. Bei chronisch Kranken galt eine reduzierte Einkommensschwelle
von nur einem Prozent, sodass diese Patienten häufig eine Befreiung von der Gebühr
erzielten. Insbesondere in diesen Fällen kommt aber der hausärztlichen Steuerung
eine große Bedeutung zu. So suchen chronisch kranke Patienten aufgrund der
Schwere der Erkrankung, der Notwendigkeit von Kontrolluntersuchungen und der oft
bestehenden Multimorbidität viele Spezialisten auf. Wiederholt führen diese Ärzte diagnostische Maßnahmen durch, stellen neue Diagnosen und verändern die Medikati5
on des Patienten. Bei diesen komplexen Krankheitsgeschichten ist ein zentraler Ansprechpartner, bei dem alle Befunde zusammenfließen, von großer Wichtigkeit.
Die Praxisgebühr wurde seit der Einführung im Jahr 2004 von den verschiedensten
Seiten kritisiert. Die unzureichende Erfüllung der erhofften Steuerungsfunktion stellte
dabei nur einen der vielen bemängelten Punkte dar. Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, brachte in einem Interview seine ablehnende Haltung gegenüber der Praxisgebühr zum Ausdruck: „Die funktioniert nicht, weil gerade
diejenigen, die sehr oft zum Arzt gehen, davon befreit sind, und für die anderen hat die
Gebühr den Gegenwert von zwei Schachteln Zigaretten.“ (Borstel 2011, ¶ 20).
Schlussendlich reagierte die Regierungskoalition im November 2012 auf die anhaltenden Proteste, indem die Abschaffung der Praxisgebühr beschlossen wurde.
Während nach der Einführung der Praxisgebühr im Jahr 2004 ein dramatischer Anstieg der Überweisungszahlen beobachtet wurde (Brenner 2005), zeigte sich nach
deren Abschaffung ein gegenläufiger Trend. Zum aktuellen Zeitpunkt existieren noch
keine belastbaren Zahlen. Schätzungen zufolge wurden aber im hausärztlichen Bereich im ersten Quartal des Jahres 2013 nur etwa halb so viele Überweisungen ausgestellt (Ollenschläger 2013). Erst in den nächsten Jahren werden alle Folgen der Abschaffung der Gebühr ersichtlich werden. Eine schon jetzt spürbare Konsequenz ist
der reduzierte Informationsfluss zwischen Hausarzt und Spezialist. Während Spezialisten nun zum Teil ohne die erklärenden Informationen des Überweisungsscheins
agieren müssen, erhalten Hausärzte weniger Berichte zu den Facharztbesuchen ihrer
Patienten (Medical Tribune 2013). Auswirkungen dessen sind auch für die Forschung
zu erwarten. So wird es in Zukunft weitaus schwieriger werden, Studien zu den Patientenströmen zwischen Hausarzt und Spezialist durchzuführen.
Ohnehin gestaltet sich die Datenlage zum deutschen Überweisungssystem zum jetzigen Zeitpunkt unzureichend. So war die Thematik bis heute nur selten Gegenstand
wissenschaftlicher Forschung. Ein Beispiel ist eine im Jahr 2012 in Deutschland
durchgeführte Untersuchung von fast 4000 Überweisungsvorgängen. Ziel der Studie
war die Identifikation von verschiedenen Überweisungstypen. Die Clusteranalyse ermittelte folgende drei Gruppen: die Weiterleitung des Patienten aufgrund einer klinischen Fragestellung, wegen einer gemeinsamen Dauerbehandlung oder auf Patientenwunsch. Gemäß dem Urteil der Autoren könnte die Stärkung der hausärztlichen
Kompetenzen, wie zum Beispiel im Umgang mit chronisch Kranken, zu einer Redukti6
on der Überweisungsströme führen (Hirsch 2012). In einer anderen deutschen Studie
wurde die Zufriedenheit von Patienten nach deren Überweisung zu einem Facharzt
untersucht. Das für die Autoren überraschende Ergebnis zeigte eine größere Zufriedenheit, wenn der Hausarzt und nicht der Patient die Überweisung initiiert hatte. Darüber hinaus beurteilten die Spezialisten 91 Prozent der an sie gerichteten Überweisungen als gerechtfertigt (Rosemann 2006). Dieser komplexen Frage der Sinnhaftigkeit von Überweisungen widmeten sich bisher nur äußerst wenige Untersuchungen
(Mehrotra 2011). Ein Beispiel ist eine Anfang der 1990er Jahre in Großbritannien
durchgeführte Überprüfung des Überweisungsverhaltens der Hausärzte. Hier entsprachen 15,9 Prozent der 308 analysierten Überweisungsvorgänge nicht den Leitlinien
und wurden somit als „possibly inappropriate“ eingestuft (Fertig 1993).
Die Gesundheitssysteme der einzelnen Länder sind unterschiedlich strukturiert. Ergebnisse der Versorgungsforschung aus anderen Staaten können aus diesem Grund
auch nicht ohne Weiteres auf das deutsche Gesundheitswesen übertragen werden. In
einer internationalen Vergleichsstudie unterschieden sich zum Beispiel die Überweisungsraten verschiedener europäischer Staaten stark voneinander, obgleich hier nur
ähnliche Gesundheitssysteme und ein einziges Erkrankungsbild betrachtet wurden.
Unter anderem zeigte der Vergleich der Primärarztsysteme Spaniens und Großbritanniens, dass 45,6 Prozent der spanischen, aber nur 26,6 Prozent der britischen Patienten innerhalb eines Jahres aufgrund ihres Diabetes mellitus vom Hausarzt zum Augenarzt überwiesen wurden (Donker 2004). Auch Anfang der 1990er Jahre wurde die
starke Variation der Überweisungszahlen von Hausärzten aus verschiedenen Ländern
bestätigt. In Deutschland stellten die Hausärzte durchschnittlich 55,6 Überweisungen
in 1000 Konsultationen aus, im Vergleich zu 81,7 bzw. 44,8 Überweisungen in den
Primärarztsystemen Norwegens bzw. der Niederlande (Fleming 1993).
Die genannten Studienergebnisse verdeutlichen, dass ein Informationsgewinn zum
hiesigen Überweisungsgeschehen nur möglich ist, indem Untersuchungen vor Ort in
Deutschland durchgeführt werden. Als Beispiel kann die Auswertung aller Überweisungen genannt werden, die im Jahr 2008 mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg abgerechnet wurden. Demnach wurden 56,1 Prozent aller Überweisungen von Spezialisten ausgestellt, während die Hausärzte lediglich 43,9 Prozent
der Überweisungsvorgänge veranlassten. Am häufigsten überwiesen die Hausärzte
an die internistischen Fachgebiete Kardiologie, Hämato-/Onkologie und Pneumologie,
die Spezialisten zur Anästhesie und Radiologie. Pädiater, Kinderpsychiater, Internisten
7
ohne Schwerpunkt und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen behandelten den größten Anteil derjenigen Patienten, die sich ohne Überweisung direkt beim Facharzt vorstellten.
Die Autoren des Artikels empfehlen die Durchführung weiterer Studien, um eine detaillierte Aufschlüsselung der Überweisungsströme vornehmen zu können (Gröber-Grätz
2011).
Die Überweisungsströme zwischen Hausarzt und Spezialist wurden in Deutschland
bisher nur selten in wissenschaftlicher Forschung thematisiert. Die vorliegende Untersuchung möchte einen Beitrag zur besseren Charakterisierung des deutschen Überweisungswesens leisten. Schwerpunkte der Arbeit sind die Analyse der Sinnhaftigkeit
von Überweisungen und die Beschreibung der Gründe für das Überweisen eines Patienten zum Facharzt. Die vorliegende Studie bearbeitet darüber hinaus aber noch ein
zweites bedeutendes hausärztliches Themengebiet. Dieses soll im Folgenden vorgestellt werden.
1.2 Psychische Erkrankungen in der Hausarztpraxis
1.2.1 Epidemiologie
Rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung leidet im Laufe eines Jahres an einer
psychischen Störung. Angststörungen, Depressionen und somatoforme Störungen
stellen dabei, neben Suchterkrankungen und Schlafstörungen, die am weitverbreitetsten Erkrankungen dar (Wittchen 2011). Im Rahmen der „Studie zur Gesundheit
Erwachsener in Deutschland“ wurde in den Jahren 2008 bis 2011 der psychische Zustand einer gesamtdeutschen, repräsentativen und zufällig ausgewählten Stichprobe
evaluiert. Das Modul „Psychische Gesundheit“ untersuchte insgesamt 5318 Erwachsene mittels Screening-Fragen (Composite International Diagnostic-Screener) und
gegebenenfalls
vertieftem
psychiatrischem
Interview
(Composite
International
Diagnostic Interview). Auf diese Weise wurde bei 15,3 Prozent der Befragten eine
Angststörung, bei 7,7 Prozent eine Depression und bei 3,5 Prozent eine somatoforme
Störung festgestellt (Jacobi 2014).
Der erste Ansprechpartner für Patienten mit psychischen Störungen ist im Allgemeinen der Hausarzt, dem eine zentrale Position bei der Detektion, Prävention und Behandlungsplanung dieser Erkrankungsbilder zukommt. Es ist demnach anzunehmen,
dass sich im Patientengut der Hausarztpraxis noch mehr psychisch Kranke finden als
8
in der Gesamtbevölkerung. Verschiedene Studien bestätigen diese Vermutung. Ein
Beispiel ist eine im Jahr 2009 veröffentlichte Untersuchung einer weitgehend unselektierten Stichprobe von 1751 Patienten aus 32 Hausarztpraxen in Baden-Württemberg.
Das Screening mittels Whiteley-7-Index und zwei Modulen des Gesundheitsfragebogens für Patienten (PHQ-D) ergab, dass 9,8 Prozent der Studienteilnehmer die Kriterien für eine Angststörung, 10,7 Prozent für eine Depression und 27,0 Prozent für eine
somatoforme Störung erfüllten. Ein Anteil von 9,7 Prozent der Patienten litt an einer
Kombination der genannten Erkrankungen (Hanel 2009). Zahlen ähnlicher Größenordnung ergab auch die Untersuchung von 394 Patienten aus 18 allgemeinärztlichen
Praxen im Raum Nürnberg. Psychische Störungen wurden hier mittels der ScreeningInstrumente WBI-5 (World Health Organization-Five Well-Being Index) sowie GHQ-12
(General Health Questionnaire-12) erfasst. Darüber hinaus erfolgte bei jedem Studienteilnehmer ein CIDI (Composite International Diagnostic Interview). Von den Befragten
litten 15,8 Prozent an Angststörungen, 22,9 Prozent an Depressionen und 26,6 Prozent an somatoformen Störungen. Eine Kombination dieser Erkrankungen war hier bei
insgesamt 17,3 Prozent der Studienteilnehmer vorhanden (Mergl 2007).
Ärzte und Medien gehen sogar soweit, psychische Erkrankungen als neue „Volkskrankheit“ (Hibbeler 2011, S. 442) oder „Epidemie des 21. Jahrhunderts“ (Weber
2006, S. 169) zu bezeichnen. Unbestreitbar können psychisch kranke Patienten den
Hausarzt vor eine Herausforderung stellen. Erkrankte werden häufiger als „schwierig“
erlebt und können sogar Abneigung beim behandelnden Arzt provozieren (Hahn
1994). Darüber hinaus nehmen Konsultationen, bei denen psychische Probleme als
Hauptbefund oder im Hintergrund eine Rolle spielen, einen unverhältnismäßig großen
Anteil der Arbeitszeit eines Hausarztes ein (Zantinge 2005). Verstärkend wirkt sich
aus, dass Erkrankte die hausärztliche Praxis überproportional häufig aufsuchen. Auch
andere Gesundheitsleistungen werden von diesem Patientenkollektiv vermehrt in Anspruch genommen (Jacobi 2004) – eine Thematik, die im Folgenden näher beleuchtet
wird.
1.2.2 Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen
Psychische Erkrankungen sind mit der verstärkten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen assoziiert. Patienten mit aktueller psychischer Störung sind über eine
längere Zeit im Jahr krankgeschrieben. Sie suchen häufiger Hausärzte und Spezialis-
9
ten auf, werden öfter hospitalisiert und nehmen mehr Notdienstleistungen in Anspruch.
Folglich verursachen sie höhere Kosten im medizinischen System als psychisch gesunde Patienten (Jacobi 2004; Barsky 2006; Schneider 2011). Die Fehlallokation der
begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems ist aber nur eine Folge der übermäßigen Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Da wiederholte diagnostische
und therapeutische Maßnahmen mit Risiken behaftet sind, stellt dieses Verhalten
auch eine Gefahr für den Patienten selbst dar. Jede weitere Röntgenaufnahme verursacht eine Strahlenbelastung, jedes zusätzliche Medikament birgt ein Risiko für Nebenwirkungen und jede einzelne Biopsie kann zu Blutungen oder Verletzungen von
Organstrukturen führen. Zu ihrem Schutz sollten Patienten mit einem unverhältnismäßigen Inanspruchnahmeverhalten folglich frühzeitig identifiziert werden (Fink 1992;
Kouyanou 1997). Diese „high utilizer“ leiden im Umkehrschluss auch häufiger an psychischen Erkrankungen als das Vergleichskollektiv der „mid-range utilizer“ (Ford 2004;
den Boer-Wolters 2010; Schmitz 2002). Patienten, die in dieser Hinsicht auffällig werden, müssen die Aufmerksamkeit des Hausarztes wecken. Während der folgenden
Konsultationen sollte der Arzt überprüfen, ob beim Patienten weitere Hinweise für eine
psychische Störung bestehen.
Damit die Einordnung des Inanspruchnahmeverhaltens der einzelnen Patienten gelingt, müssen die betreffenden Durchschnittswerte in Studien ermittelt werden. Untersuchungsergebnisse aus anderen Ländern können dabei nicht ohne Weiteres auf die
deutsche Versorgungslandschaft übertragen werden. Bereits Kapitel 1.1.1 verdeutlichte, wie stark zum Beispiel die Funktion des Hausarztes in den verschiedenen medizinischen Systemen variiert. In diesem Zusammenhang ergibt auch der Vergleich hausärztlicher Praxiskontaktraten große Unterschiede. Während die primärärztliche Praxis
in den USA durchschnittlich 3,7 Mal pro Jahr aufgesucht wird (Barsky 2005), zeigten
Studien aus Deutschland deutlich höhere Kontaktzahlen auf. Gemäß der Publikationsreihe „Gesundheitswesen aktuell“ der Barmer GEK aus dem Jahr 2010 wurden gesetzlich Versicherte innerhalb eines Jahres durchschnittlich zehn Mal beim Hausarzt
vorstellig (Maydell 2010). Die Schlussfolgerung, dass deutsche Patienten mehr Zeit
beim Hausarzt verbringen, kann aber nicht ohne Weiteres gezogen werden. Während
ein Hausarzt-Patienten-Kontakt in den USA im Mittel 22,5 Minuten dauert, wurde für
Deutschland ein Durchschnittswert von lediglich 9,1 Minuten ermittelt (Koch 2011). Die
aufgezeigten Beispiele verdeutlichen, aus welchem Grund Untersuchungsergebnisse
10
zum Inanspruchnahmeverhalten möglichst durch deutsche Studien bestätigt werden
sollten.
Ein Beispiel ist eine im Raum München durchgeführte Erhebung des Inanspruchnahmeverhaltens eines hausärztlichen Patientenkollektivs. Psychische Dauerdiagnosen
waren hier mit einer größeren Zahl von Überweisungen (Odds Ratio – OR 3,6), Arbeitsunfähigkeitstagen (OR 5,0) und Kontakten zur Hausarztpraxis (OR 20,0) assoziiert (Schneider 2011). Die dieser Publikation zugrunde liegende Erhebung (Erststudie)
stellt die Vorläuferuntersuchung der vorliegenden Arbeit (Überweisungsstudie) dar. Im
Folgenden werden die Überlegungen aufgezeigt, die nach dem Abschluss dieser Erststudie dazu führten, dass die Durchführung einer weiteren projektbezogenen Untersuchung für notwendig erachtet wurde.
1.3 Entwicklung des Studienkonzepts
1.3.1 Beschreibung des Vorläuferprojekts – die Erststudie
Im Jahr 2010 führte das Institut für Allgemeinmedizin der Technischen Universität
München (TU München) eine Querschnittbefragung eines weitgehend unselektierten
Patientenkollektivs der Hausarztpraxis durch. Diese Erststudie verfolgte drei Hauptanliegen. Zum einen sollte die Prävalenz von somatoformen Störungen, Depressionen
und Angststörungen im allgemeinärztlichen Patientengut festgestellt werden. Des Weiteren erfasste die Untersuchung die Partizipationspräferenz und das Informationsbedürfnis von Patienten mit den genannten Erkrankungen, im Vergleich zu anderen in
dieser Hinsicht gesunden Patienten. Und drittens sollte der Einfluss psychischer Komorbidität auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen analysiert werden.
Diese Erhebung wurde unter Anleitung von Prof. Antonius Schneider von den Doktorandinnen Elisabeth Angela Hörlein und Eva Maria Wartner durchgeführt.
Diese Erststudie untersuchte insgesamt 1011 Patienten. 985 dieser Patienten besuchten die reguläre Sprechstunde, während lediglich 26 Patienten mit Tresen-Überweisungen rekrutiert werden konnten. Bisher war die Frage, wie viele Überweisungen
in Deutschland außerhalb der Sprechstunde ausgegeben werden, nur selten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Gemäß der Einschätzung von vor Studienbeginn
befragten Hausärzten ist die Ausstellung von Tresen-Überweisungen jedoch ein häufiges Ereignis im Praxisalltag. Demnach liegt die Vermutung nahe, dass Patienten mit
11
Tresen-Überweisungen weitaus seltener zur Teilnahme an der Erststudie bereit waren
als Patienten der regulären Sprechstunde.
Die Erklärung für diese fehlende Bereitschaft findet sich bei Betrachtung des Rekrutierungsprozesses. Alle Patienten mussten für die Teilnahme an der Studie einen Fragebogen ausfüllen. Dies nahm etwa 15 Minuten Zeit in Anspruch. Für die Patienten mit
einem Sprechstundentermin stellte dies kein großes Hindernis dar. Sie konnten den
Fragebogen meist schon während der Wartezeit auf den Arzttermin beantworten. Patienten mit Tresen-Überweisungen suchen die Praxis hingegen mit der Erwartung auf,
dort nur wenige Minuten zu verbringen. So gehört das Ausstellen von Überweisungen
zu den Routineaufgaben der Praxismitarbeiter: das Formular wird bedruckt, der Arzt
unterschreibt und nach kurzer Zeit kann der Patient die Praxis wieder verlassen. Zudem besteht in einem Teil der Praxen die Möglichkeit der Vorbestellung von Überweisungen per Email oder Telefon oder vom Arzt vorunterschriebene Überweisungen
werden am Tresen der Praxis platziert. In diesen Fällen verkürzt sich das Prozedere
für den Patienten noch weiter. Somit wird verständlich, warum die Stichprobe nur eine
geringe Zahl von Patienten mit Tresen-Überweisungen enthielt. Diese konnten nur
selten überzeugt werden, länger als geplant in der Praxis zu bleiben, um für eine Studie einen Fragebogen auszufüllen.
Trotz dieser beschriebenen Rekrutierungshindernisse sollte die Erststudie eigentlich
auch Patienten mit Tresen-Überweisungen untersuchen. Befragte Hausärzte hatten
vor Erhebungsbeginn den Verdacht geäußert, dass vor allem Patienten mit erhöhter
psychischer Komorbidität besonders viele Überweisungen außerhalb der Sprechstunde einfordern. Weil in Deutschland bisher keine systematischen Untersuchungen zu
dieser Thematik existieren, konnte dieser Verdacht weder untermauert noch widerlegt
werden. Die Stichprobe der Erststudie enthielt jedoch nur eine sehr geringe Zahl von
Patienten mit Tresen-Überweisungen, deren psychische Komorbidität dennoch ausgewertet wurde. Der Vergleich mit dem Kollektiv aus der regulären Sprechstunde zeigte eine im Durchschnitt höhere Somatisierungsneigung dieser Patientengruppe. Dieses Ergebnis gab den Ausschlag zur Durchführung eines Folgeprojekts, in das
ausschließlich Patienten mit Tresen-Überweisungen eingeschlossen werden sollten.
In der Auswertung dieser Überweisungsstudie diente das in der Erststudie rekrutierte
Kollektiv der regulären Sprechstunde als hausärztliches Vergleichskollektiv. Die gewonnenen Erkenntnisse werden in der vorliegenden Arbeit vorgestellt. Abbildung 1
12
verschafft einen Überblick über die Durchführung der Erststudie und der nachfolgenden Überweisungsstudie.
Im Jahr 2010
Im Jahr 2011
Erststudie
Überweisungsstudie
Befragung eines weitgehend
unselektierten Patientenkollektivs
Befragung von Patienten mit
Tresen-Überweisungen
1011 Patienten rekrutiert
Vergleich der zwei Kollektive:
26 Patienten
mit TresenÜberweisungen
985 Patienten
aus der
Sprechstunde
Patienten
aus der
Sprechstunde
Rekrutiert in
Inanspruchnahmestudie
Verdacht:
Patienten mit TresenÜberweisungen haben im
Vergleich höhere psychische
Komorbidität
Patienten mit
TresenÜberweisungen
Rekrutiert in
Überweisungsstudie
Vorstellung der Ergebnisse in der
vorliegenden Arbeit
Abbildung 1: Ablauf von Erststudie und Überweisungsstudie
1.3.2 Theoretische Herleitung der Hypothesen
Verschiedene Studien konnten den Zusammenhang zwischen psychischen Störungen
und einer erhöhten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen herstellen. Patienten, die Tresen-Überweisungen einfordern, könnten demnach eine höhere psychische
Komorbidität aufweisen als Patienten der regulären Sprechstunde. Mithilfe der entsprechenden Module des Gesundheitsfragebogens für Patienten wurde in der vorliegenden Erhebung überprüft, ob beim Studienteilnehmer eine somatoforme Störung,
Depression, Angst- oder Panikstörung besteht (Details siehe Kapitel 2.2.2). Zur Quantifizierung des Inanspruchnahmeverhaltens dienten die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage, Überweisungen und Praxiskontakte der vergangenen zwölf Monate.
Darüber hinaus beeinflusst aber auch die somatische Morbidität das Inanspruchnahmeverhalten der Patienten. In der Erststudie übten körperliche Erkrankungen auf die
jährliche Überweisungszahl sogar einen noch größeren Einfluss aus als bestehende
psychische Störungen (Schneider 2011). Womöglich ist die somatische Morbidität von
13
Patienten mit Tresen-Überweisungen demnach stärker ausgeprägt als von Patienten
aus der regulären Sprechstunde. Zur Erfassung dieses Zusammenhangs wurden die
Dauerdiagnosen der Patienten dokumentiert. Dauerdiagnosen sind mindestens schon
ein Quartal lang diagnostizierte Erkrankungen, für die der Arzt auch im aktuellen Quartal diagnostische oder therapeutische Maßnahmen zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse erbringt. Sie dienen dem Arzt als Gedächtnisstütze, müssen von ihm aber
auch aus abrechnungstechnischen Gründen vermerkt und nach der ICD-10-GM (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Release 10, German modification) verschlüsselt werden. Das Kürzel I10.00 übersetzt sich
beispielsweise als benigne essentielle Hypertonie ohne Angabe einer hypertensiven
Krise (Graubner 2012).
Patienten fordern Überweisungen außerhalb der Sprechstunde an, wenn sie zu der
Auffassung gelangt sind, dass ihre Vorstellung bei einem anderen Facharzt vonnöten
ist. Vermutlich hat das Patientenkollektiv mit Tresen-Überweisungen demnach ein hohes Bedürfnis, an medizinischen Entscheidungen beteiligt zu werden. Um diese Hypothese zu überprüfen, wurde das Partizipations- und Informationsbedürfnis der Patienten mithilfe des Autonomie-Präferenz-Index bestimmt (Details siehe Kapitel 2.2.3).
Darüber hinaus wurden auch die an der vorliegenden Studie beteiligten Hausärzte um
Beurteilung der Partizipationspräferenz ihrer Patienten gebeten. Mit Partizipationspräferenz wird der vom Patienten bevorzugte Interaktionsstil in der Patient-ArztBeziehung bezeichnet. Im paternalistischen Modell wird dem Patienten eine passive,
abhängige Rolle zugewiesen, während der Arzt die Anordnungen trifft, von denen der
Patient seiner Meinung nach am besten profitiert. Im Gegensatz dazu ist der ärztliche
Aufgabenbereich im autonomen Interaktionsstil (informed decision-making model) auf
die genaue Aufklärung des Patienten beschränkt. Nachdem der Patient alle benötigten
Informationen erhalten hat, entscheidet er eigenständig über anstehende medizinische Maßnahmen. Das partnerschaftliche Modell (shared decision-making, partizipative Entscheidungsfindung) bietet einen Mittelweg zwischen paternalistischer und autonomer Vorgehensweise. Arzt und Patient partizipieren gleichermaßen im Entscheidungsprozess, nachdem ein wechselseitiger Informationsaustausch stattgefunden hat
(Charles 1997). Laut dem Meinungsbild vor Studienbeginn befragter Hausärzte bestehe bei Patienten mit Tresen-Überweisungen überwiegend eine partnerschaftliche oder
sogar autonome Partizipationspräferenz. Eine paternalistische Vorgehensweise sei
bei diesen Patienten hingegen nur selten geeignet.
14
Ein weiteres zentrales Thema der Studie ist die Sinnhaftigkeit von Überweisungen. In
der vorliegenden Erhebung wurden die beteiligten Hausärzte um Einschätzung jedes
dokumentierten Überweisungsvorgangs gebeten. Dies ermöglichte die Zuteilung der
Patienten zu zwei Gruppen, je nachdem ob diese am Erhebungstag sinnvolle oder
mindestens eine nicht sinnvolle Überweisung erhalten hatten. Der Vergleich dieser
beiden Kollektive soll offen legen, ob bestimmte Patientencharakteristika mit der Einforderung von nicht unbedingt erforderlichen Überweisungen einhergehen. Des Weiteren konnte auf diese Weise überprüft werden, ob sich nicht sinnvolle Überweisungen
tendenziell an andere Fachdisziplinen richten als sinnvolle Überweisungen und ob
Tresen-Überweisungen öfter nicht sinnvoll sind als in der Sprechstunde ausgestellte
Überweisungen.
Viele Patienten mit somatoformen Störungen sind der Überzeugung, ihre Symptomatik werde durch eine körperliche Erkrankung verursacht (Barsky 1999). Im Krankheitsverlauf werden die von den Patienten geschilderten Beschwerden immer wieder diagnostisch abgeklärt (Barsky 2006). Einerseits fordern die Patienten selbst diese Maßnahmen ein. Andererseits fühlen sich aber auch die Ärzte zur wiederholten Abklärung
gezwungen, da sie sich durch die wortreich vorgetragene, schwer erklärbare Symptomatik unter Druck gesetzt fühlen (Ring 2004). Es liegt demnach die Vermutung nahe, dass das Kollektiv mit nicht sinnvollen Überweisungen mehr Patienten mit psychischen Erkrankungen enthält und Gesundheitsleistungen stärker in Anspruch nimmt als
die Vergleichsgruppe mit sinnvollen Überweisungen. Zur Überprüfung dieser Hypothesen wurde die psychische Komorbidität durch den PHQ-D und das Inanspruchnahmeverhalten mithilfe der Parameter Überweisungszahl, Arbeitsunfähigkeitsdauer
und Praxiskontaktrate erfasst.
Zur Beantwortung der Frage, aus welchem Grund Patienten somatoforme Körperbeschwerden entwickeln, wurden verschiedene ätiopathogenetische Modelle entwickelt.
Demnach sollen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von somatoformen Störungen mehrere Faktoren in komplexer Weise zusammenwirken. Eine bedeutende Rolle
scheinen dabei dysfunktionale Kognitionen zu spielen. Dazu gehört die Neigung körperliche Empfindungen in unangenehmer Weise wahrzunehmen und diese anschließend katastrophisierend zu bewerten. Zur Erfassung dieser spezifischen Gedankenmuster entwickelten Rief et al. Ende der 1990er Jahre den Fragebogen zu Körper und
Gesundheit (Details siehe Kapitel 2.2.4) (Rief 1998). Dieser diente in der vorliegenden
15
Erhebung der Überprüfung der Hypothese, dass Patienten mit nicht sinnvollen Überweisungen vermehrt dysfunktionale Kognitionsmuster aufweisen.
Entgegen der Einschätzung des Hausarztes sind Patienten mit nicht sinnvollen Überweisungen überzeugt, dass ihre Vorstellung bei einem anderen Facharzt vonnöten ist.
Vermutlich verfolgt dieses Kollektiv zum Erhalt der eigenen Gesundheit andere Strategien als die Patientengruppe mit sinnvollen Überweisungen. Die gesundheitspsychologische Forschung beschäftigt sich schon lange mit der Frage, warum sich einige
Menschen gesundheitsbewusst verhalten, während sich andere durch Rauchen, Inaktivität, hyperkalorische Ernährung oder dem exzessiven Konsum von Alkohol selbst
Schaden zufügen. Im Laufe der Zeit konnten verschiedene Faktoren identifiziert werden, die eine Rolle bei der Entwicklung des individuellen Gesundheitsverhaltens spielen. Besonders bedeutsam scheint hierbei zu sein, ob die jeweilige Person das Gefühl
hat selbst Einfluss auf den eigenen Gesundheitszustand nehmen zu können.
Basierend auf dieser Erkenntnis wurden mehrere Erklärungsmodelle konstruiert. Ein
Beispiel ist das in den 1960er Jahren von Julian Rotter entwickelte Konzept. Er teilte
die Menschen in zwei Gruppen ein, je nachdem ob diese glaubten, das Auftreten von
Lebensereignissen kontrollieren zu können. Personen mit internaler Kontrollüberzeugung (internal locus of control) erleben Veränderungen als Konsequenz ihres eigenen
Verhaltens. Besteht dagegen externale Kontrollüberzeugung (external locus of control)
scheint die Person, keinen Einfluss auf die Geschehnisse im eigenen Leben nehmen
zu können (Rotter 1966). Mit dem Ziel das Ausmaß dieser Vorstellungen zu quantifizieren, entwickelte Rotter einen Fragebogen, der unter anderem durch Hanna
Levenson weiterentwickelt wurde. Sie ersetzte das zwei- durch ein dreidimensionales
Konzept, indem sie die externale Kontrollüberzeugung weiter unterteilte. Demnach
besteht fatalistische Externalität (chance locus of control), wenn dem Zufall oder dem
Schicksal die Kontrolle zugeschrieben wird, und soziale Externalität (powerful others
locus of control), wenn es so scheint, als würden andere Menschen das eigene Leben
lenken (Levenson 1974). Diese drei Dimensionen waren wiederum Ausgangspunkt für
weiterführende Forschung und finden sich auch in dem von Lohaus et al. entwickelten
Fragebogen zur Erhebung von Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und Gesundheit
wieder (Lohaus 1989). Dieser Fragebogen wurde in der vorliegenden Erhebung verwendet, um die Hypothese zu überprüfen, dass Patienten mit nicht sinnvollen Überweisungen hohe externale Kontrollüberzeugungen besitzen. So erhoffen sich diese
16
Patienten, entgegen der Beurteilung des behandelnden Hausarztes, medizinische Hilfe von anderen Fachärzten und somit von einer externen Wissensquelle.
Auf dem Überweisungsschein können Angaben zur gestellten Diagnose bzw. Verdachtsdiagnose, zum erhobenen Befund, zur Medikation und zur geforderten Auftragsleistung vermerkt werden. Auf diese Weise sollte der Hausarzt dem fachärztlichen Kollegen wichtige Informationen übermitteln, sodass eine effektive und sichere
Behandlung des Patienten gewährleistet wird. Dennoch weisen nicht alle Überweisungen einen ausreichenden Informationsgehalt auf. Die Autoren einer Studie aus
den Vereinigten Staaten gehen sogar so weit, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass
die Kommunikation zwischen Hausärzten und Spezialisten mittlerweile zusammengebrochen sei (Gandhi 2000). Auch in einer in Deutschland durchgeführten Untersuchung erhielten die Ärzte auf lediglich 61 Prozent der Überweisungen angemessene
Angaben zur Krankengeschichte des Patienten (Rosemann 2006). Tresen-Überweisungen werden von Praxismitarbeitern erstellt, ohne dass der Arzt immer in diesen
Entscheidungsprozess eingebunden wird. Vermutlich weist demnach ein großer Teil
diese Überweisungen einen nur unzureichenden Informationsgehalt auf. Um diese
Hypothese zu überprüfen, wurden die auf der Überweisung vermerkten Angaben zum
Grund der Überweisung dokumentiert.
1.4 Zielsetzungen und Hypothesen
Die Ziele der vorliegenden Studie wurden ausführlich im vorangegangenen Kapitel
1.3.2 diskutiert. An dieser Stelle folgt eine übersichtliche Zusammenstellung aller untersuchten Hypothesen.
Fragenkomplex 1) Bei Patienten mit Tresen-Überweisungen besteht im Vergleich zu
Patienten aus der regulären Sprechstunde:

höhere psychische und somatische Komorbidität

verstärkte Inanspruchnahme der Leistungen des Gesundheitssystems (höhere
Zahl an Arbeitsunfähigkeitstagen, Überweisungen und Praxiskontakten)

höhere Informations- und Partizipationspräferenz
17
Fragenkomplex 2) Bei Patienten mit mindestens einer nicht-sinnvollen Überweisung
besteht im Vergleich zu Patienten mit sinnvollen Überweisungen:

höhere psychische Komorbidität

verstärkte Inanspruchnahme der Leistungen des Gesundheitssystems (höhere
Zahl an Arbeitsunfähigkeitstagen, Überweisungen und Praxiskontakten)

dysfunktionale Kognitionen zu Körper und Gesundheit

niedrigere internale und höhere externale Kontrollüberzeugung zu Krankheit und
Gesundheit
Fragenkomplex 3) Die in der Studie dokumentierten Überweisungsvorgänge:

sind bei Patienten mit Tresen-Überweisungen häufiger nicht sinnvoll als bei Patienten aus der regulären Sprechstunde

richten sich bei Patienten mit Tresen-Überweisungen an andere Fachdisziplinen
als bei Patienten aus der regulären Sprechstunde

enthalten regelmäßig nur unzureichende Angaben zum Grund der Überweisung,
wenn sie durch Patienten am Tresen in Anspruch genommen werden
18
2
MATERIAL UND METHODIK
2.1 Beschreibung des Studiendesigns
2.1.1 Das Vorläuferprojekt – die Erststudie
Die Erststudie wurde von der Ethikkommission der Fakultät für Medizin der TU München genehmigt und im Zeitraum von April bis August 2010 realisiert. Die Untersuchung war als Querschnittserhebung angelegt, mit dem Ziel über 1000 Patienten zu
befragen. Die Doktorandinnen Elisabeth Angela Hörlein und Eva Maria Wartner rekrutierten die Patienten in München, Augsburg und dem bayerischem Umland in 13 allgemeinärztlichen Lehrpraxen der TU München.
Die Erststudie lieferte die Idee zur Durchführung der hier vorgestellten Überweisungsstudie. Darüber hinaus diente die dort rekrutierte Stichprobe in der vorliegenden Arbeit
als hausärztliches Vergleichskollektiv. Aus diesem Grund wird an dieser Stelle das
Studiendesign der Erststudie vorgestellt. Weitere Details zum Entwicklungsprozess
der zwei Erhebungen können dem Kapitel 1.3 entnommen werden.
Die Doktoranden rekrutierten die Patienten vor Ort in den Hausarztpraxen. Sie sprachen geeignete Patienten an, informierten diese über die Durchführung der Studie und
überprüften die folgenden Einschlusskriterien:

Alter: mindestens 18 Jahre

Ausreichende Deutschkenntnisse für die Beantwortung des Fragebogens

Aufsuchen der Praxis am Erhebungstag, um die Sprechstunde des Hausarztes
zu besuchen oder um eine Überweisung abzuholen
Patienten, die diese Kriterien erfüllten, wurden gebeten eine Einverständniserklärung
zu unterschreiben und den Fragebogen zu beantworten. Diejenigen, die daraufhin die
Studienteilnahme verweigerten, wurden um Angabe von Alter und Geschlecht gebeten
und der Gruppe der Non-Responder zugeordnet. Patienten, die hingegen die Einverständniserklärung und den Fragebogen ausfüllten, wurden in die Untersuchung aufgenommen. Von diesen Patienten wurden dann folgende Daten aus den elektronischen Behandlungsunterlagen erhoben:
19

Alter und Geschlecht

Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage, Überweisungen und Kontakte zur Hausarztpraxis während der vorausgegangenen zwölf Monate

Dokumentation, ob eine Überweisung ausgestellt wurde und Fachgebiet, an
welches sich diese richtete

Anzahl und Art der vom Hausarzt dokumentierten Dauerdiagnosen (Definition
siehe Kapitel 1.3.2, Seite 14)
Um die Auswertung der großen Zahl an einzelnen Dauerdiagnosen zu ermöglichen,
wurden diese zu 27 Diagnosen, wie zum Beispiel maligner Erkrankung oder schwerer
Herzerkrankung, zugeordnet.
Des Weiteren wurde der Hausarzt des jeweiligen Studienteilnehmers gebeten, zwei
Fragestellungen zu beantworten. Hierbei war es dem Arzt erlaubt die elektronischen
Patientenakten zu Rate zu ziehen, in denen unter anderem die Dauerdiagnosen und
das Überweisungsverhalten des Patienten in der Vergangenheit aufgezeichnet sind.

Einstufung der Überweisungen: sinnvoll oder nicht sinnvoll

Einschätzung der Partizipationspräferenz des Patienten: autonom, partnerschaftlich oder paternalistisch (Definitionen siehe Kapitel 1.3.2, Seite 14)
2.1.2 Die Überweisungsstudie
Die Genehmigung zur Durchführung der vorliegenden Überweisungsstudie wurde am
11.01.2011 von der Ethikkommission der Fakultät für Medizin der TU München erteilt.
Die Rekrutierung der Patienten mit Tresen-Überweisungen erfolgte im Zeitraum von
März bis Dezember 2011 in München, Augsburg und bayerischen Umland in zwölf
hausärztlichen Lehrpraxen der TU München.
Bevor Patienten für die vorliegende Untersuchung rekrutiert wurden, sollten die beteiligten Hausärzte folgende zwei allgemeine Fragestellungen beurteilen (Antworten jeweils in Prozent):

„Was schätzen Sie, wie viele der Überweisungen im Quartal werden außerhalb
der regulären Sprechstunde am Tresen der Praxis ausgestellt (sogenannte Tresen-Überweisung)?“
20

„Was denken Sie, wie viel Prozent dieser Tresen-Überweisungen sind als nicht
sinnvoll einzustufen?“
Anschließend folgte die Rekrutierungsphase in den Hausarztpraxen. Da sich die Rekrutierung von Patienten mit Tresen-Überweisungen in der vorausgegangenen Erststudie problematisch gestaltete, musste für die vorliegende Erhebung ein abweichendes
Konzept entwickelt werden. Um die Vergleichbarkeit der beiden Untersuchungen zu
gewährleisten, mussten aber gleichzeitig Unterschiede im Studienablauf möglichst
gering gehalten werden.
In beiden Erhebungen erfolgte die Rekrutierung vor Ort in den Hausarztpraxen, indem
geeignete Patienten durch die Doktoranden angesprochen wurden. Die Rekrutierungsorte waren dabei nahezu identisch. Nur eine der 13 hausärztlichen Praxen der
Erststudie konnte nicht an der nachfolgenden Überweisungsstudie teilnehmen. In dieser einen Praxis war keine vollständige Datenerhebung möglich, da noch per Karteikarte und nicht in der heute üblichen elektronischen Form dokumentiert wurde.
Die Fragebögen der Erststudie und der Überweisungsstudie enthielten jeweils den API
und die PHQ-D-Module Depression, Panik, Andere Angststörungen und Somatoforme
Syndrome. Des Weiteren wurden in beiden Untersuchungen soziodemographische
Daten abgefragt. GAD-7, FKG und KKG wurden nur in der vorliegenden Überweisungsstudie eingesetzt (gesamter Fragebogen siehe Anhang). Angaben zu den Parametern, die hingegen nur in der Erststudie erhoben wurden, können den Dissertationen von Elisabeth Angela Hörlein und Eva Maria Wartner und den zugehörigen
Publikationen entnommen werden (Hörlein 2013; Wartner 2013; Schneider 2011; Hamann 2012; Schneider 2013).
Während die Patienten der Erststudie den Fragebogen direkt vor Ort in der Hausarztpraxis beantworteten, wurde in der nachfolgenden Überweisungsstudie ein anderes
Konzept verfolgt. Hier erhielten Patienten, die Tresen-Überweisungen erhielten, ein
vorfrankiertes Kuvert mit dem Fragebogen und der Einverständniserklärung, sodass
diese nicht länger als geplant in der Praxis bleiben mussten. Stattdessen konnten sie
die Studienmaterialien zu Hause ausfüllen und dann dem Institut per Post zukommen
lassen. Um die Rücklaufquote zu erhöhen, wurde bei Eintreffen der Dokumente eine
Aufwandsentschädigung in Höhe von zehn Euro gezahlt. Im Vergleich dazu konnte bei
der Erststudie auf die Zahlung eines Probandenentgelts verzichtet werden, da auch
21
ohne finanziellen Anreiz eine ausreichende Zahl von Patienten rekrutiert werden konnte.
Wie auch bei der Erststudie war die Patientenrekrutierung Aufgabe eines Doktoranden. Für die Überweisungsstudie wurden folgende Einschlusskriterien festgelegt:

Alter: mindestens 18 Jahre

Ausreichende Deutschkenntnisse für die Beantwortung des Fragebogens

Abholung mindestens einer Tresen-Überweisung am Erhebungstag

Kein Besuch der hausärztlichen Sprechstunde am Erhebungstag
Patienten, die diese Kriterien erfüllten, wurden umfassend über die Erhebung informiert. Diejenigen, die bereit waren an der Studie teilzunehmen, erhielten die Studienmaterialien im vorfrankierten Kuvert. Ein Teil der Patienten lehnte von Vorherein ab,
an der Studie teilzunehmen, und weitere Patienten sendeten den ausgehändigten
Fragebogen nicht an das Institut zurück. Diese Patienten bildeten das Kollektiv der
Non-Responder, von denen jeweils die Parameter Alter, Geschlecht und Überweisungszahl der letzten zwölf Monate dokumentiert wurden.
Weitere Daten wurden nur von den Patienten erfasst, deren unterschriebene Einverständniserklärung und ausgefüllter Fragebogen im Institut eingingen. Für die Datenerhebung entnahm die Doktorandin den elektronischen Behandlungsunterlagen des
Hausarztes folgende Informationen:

Alter und Geschlecht

Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage, Überweisungen und Kontakte zur Hausarztpraxis während der vorausgegangenen zwölf Monate

Fachgebiet, an welches sich die Überweisung richtete

Angaben zum Grund der Überweisung: die Diagnose bzw. Verdachtsdiagnose,
der erhobene Befund, die Medikation des Patienten oder der Auftrag des Hausarztes an den fachärztlichen Kollegen

Anzahl und Art der vom Hausarzt dokumentierten Dauerdiagnosen (Definition
siehe Kapitel 1.3.2, Seite 14)
Analog zur Erststudie wurde der Hausarzt um Einschätzung der Partizipationspräferenz des Patienten gebeten und am Erhebungstag ausgestellte Überweisungen sollten als sinnvoll oder nicht sinnvoll bewertet werden.
22
In der Überweisungsstudie wurde auch der Informationsgehalt der Überweisungen
analysiert. In gemeinsamer Arbeit beurteilten die Doktorandin und der Dissertationsbetreuer die auf dem Überweisungsschein angegebenen Informationen zum Grund der
Überweisung. Der genaue Wortlaut wurde hierbei als vage oder exakt formuliert eingestuft.
2.2 Aufbau des Fragebogens
2.2.1 Soziodemographische Fragen
Um den soziodemographischen Hintergrund der Patienten zu erfassen, widmete sich
ein Teil der Fragen dem Familienstand, dem höchstem Schulabschluss, der Berufsausbildung und dem Erwerbstätigkeitsstatus. Darüber hinaus wurden Alter und Geschlecht der Befragten erfasst.
2.2.2 Gesundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D)
Der Patient Health Questionnaire ist ein in Amerika entwickeltes Selbstbeurteilungsinstrument zum Erkennen der häufigsten psychischen Erkrankungen im primärärztlichen
Bereich (Spitzer 1999). Eine deutsche Version wurde von der Arbeitsgruppe um Bernd
Löwe in Kooperation mit den Originalautoren entwickelt und „Gesundheitsfragebogen
für Patienten“ (PHQ-D, Patient Health Questionnaire-deutsche Version) genannt (Löwe 2001). Dieser Original-PHQ-D wurde inzwischen überarbeitet. Die zweite Fassung
besteht aus 16 Modulen, die je der Erfassung einer psychischen Störung dienen (Löwe 2002). Für die vorliegende Überweisungsstudie wurden insgesamt vier Module
ausgewählt: Depression, Panik, Somatoforme Syndrome und der Generalized Anxiety
Disorder-7-Fragebogen (GAD-7). Da die vorher durchgeführte Erststudie (Einzelheiten
siehe Kapitel 1.3.1 und 2.1.1) noch die Originalversion des PHQ-D verwendete, musste noch zusätzlich das Modul zu den Anderen Angststörungen in den Fragekatalog der
Überweisungsstudie aufgenommen werden. Das Modul Andere Angststörungen wurde
in der zweiten Fassung des PHQ-D durch den GAD-7 mit verbesserten psychometrischen Testeigenschaften ersetzt. Die in der vorliegenden Untersuchung verwendeten
Module werden im Folgenden vorgestellt.
23
Panikmodul:

15 Items: erstes Item fragt nach dem Auftreten einer Angstattacke in den letzten
vier Wochen; bei Antwort „Nein“ muss der Patient die weiteren Fragen des Panikmoduls nicht beantworten, bei Antwort „Ja“ folgen weitere Fragen zu stattgefundenen Angstattacken mit dichotomer Antwortmöglichkeit von „Ja“ oder „Nein“

Auswertung ist dimensional (Summenwert von 0 bis 15, d.h. keine bis maximale
Panik) und kategorial (Diagnose Panikstörung) möglich
Depressionsmodul (PHQ-9):

9 Items: Überprüfung der Beeinträchtigung durch Beschwerden, wie zum Beispiel „wenig Interesse oder Freude an Ihren Tätigkeiten“, innerhalb der letzten
zwei Wochen

vierstufige Antwortskala von „überhaupt nicht“ bis „beinahe jeden Tag“

Auswertung ist dimensional (Summenwert von 0 bis 27, d.h. keine bis maximale
Depressivität) und kategorial (Diagnose Major Depression oder Andere Depressive Störung) möglich
Modul zu Anderen Angststörungen (aus der Originalversion des PHQ-D):

7 Items: Überprüfung der Beeinträchtigung durch Beschwerden, wie zum Beispiel „Nervosität, Ängstlichkeit oder Anspannung“, innerhalb der letzten zwei
Wochen

dreistufige Antwortskala von „überhaupt nicht“ bis „an mehr als der Hälfte der
Tage“

Auswertung ist dimensional (Summenwert von 0 bis 14, d.h. keine bis maximale
Ängstlichkeit) und kategorial (Diagnose Andere Angststörung) möglich
GAD-7 (aus der zweiten Version des PHQ-D):

7 Items: Überprüfung der Beeinträchtigung durch Beschwerden, wie zum Beispiel „übermäßige Sorgen bezüglich verschiedener Angelegenheiten“, innerhalb
der letzten zwei Wochen

vierstufige Antwortskala von „überhaupt nicht“ bis „beinahe jeden Tag“

Auswertung ist dimensional (Summenwert von 0 bis 21, d.h. keine bis maximale
Ängstlichkeit) und kategorial (minimale, geringe, mittelgradige und schwere
Ängstlichkeit) möglich
24
Modul zu Somatoformen Syndromen (PHQ-15):

13 Items: Überprüfung der Beeinträchtigung durch Beschwerden, wie zum Beispiel „Verstopfung, nervöser Darm oder Durchfall“, innerhalb der letzten vier
Wochen

dreistufige Antwortskala von „nicht beeinträchtigt“ bis „stark beeinträchtigt“

Auswertung ist dimensional (unter Einbeziehung von zwei Fragen aus dem Depressionsmodul ergibt sich Summenwert von 0 bis 30, d.h. keine bis maximale
Somatisierung) und kategorial (Diagnose Somatoforme Störung) möglich
Die verschiedenen Module des PHQ-D wurden in mehreren Studien in Amerika,
Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt validiert. In einer in Deutschland
durchgeführten Untersuchung mit 501 Patienten zeigte das Depressionsmodul, im
Vergleich zu etablierten Depressionsfragebögen und der Detektion durch einen Arzt,
die besten Testeigenschaften. Je nach Cut-Off-Wert lag die Sensitivität bei bis zu 98
Prozent und die Spezifität bei bis zu 80 Prozent. Auch die interne Konsistenz erwies
sich als sehr gut mit einem Wert von Cronbachs α bei 0,88 (Löwe 2004a). Weitere
Validierungsstudien bestätigten auch für das Modul Panik (Löwe 2003), Somatoforme
Syndrome (van Ravesteijn 2009) und den GAD-7 (Löwe 2008) eine gute diagnostische Leistung. Der PHQ-D ist aufgrund dieser diagnostischen Eigenschaften, der
Praktikabilität und internationalen Verfügbarkeit zu einem weltweit führenden Instrument bei der Diagnosestellung psychischer Störungen geworden.
2.2.3 Autonomie-Präferenz-Index (API)
Seit den 1980er Jahren vollzog sich in der Patient-Arzt-Interaktion ein stetiger Wandel
vom bis dahin dominierenden paternalistischen Modell hin zur partizipativen Entscheidungsfindung (Definitionen siehe Kapitel 1.3.2, Seite 14). Im Laufe dieser Entwicklung
wurden verschiedene Messinstrumente für diesen neuen und bis dahin noch wenig
erforschten Ansatz ausgearbeitet (Charles 1997). Ein Beispiel ist der von Ende et al.
erstellte Autonomie-Präferenz-Index (Ende 1989). Dieser Fragebogen misst das Informationsbedürfnis der Patienten und Ihren Wunsch an medizinischen Entscheidungen beteiligt zu werden. Zur Einschätzung dieser beiden Charakteristika ist der API in
zwei Subskalen gegliedert, die im Folgenden vorgestellt werden.
25
Informationspräferenz-Skala:

8 Aussagen: zum Beispiel „Sie sollten vollständig verstehen, was infolge der
Krankheit in Ihrem Körper vor sich geht.“

Beurteilung mit „sehr dafür“ bis „sehr dagegen“
Partizipationspräferenz-Skala:

6 Aussagen: zum Beispiel „Wichtige medizinische Entscheidungen sollten von
Ihrem Arzt getroffen werden und nicht von Ihnen.“

Beurteilung mit „sehr dafür“ bis „sehr dagegen“

Komplettfassung der Partizipationspräferenz-Skala beinhaltet darüber hinaus
Fallvignetten zu drei Krankheitsschweregraden, die aber nicht in den Fragekatalog der vorliegenden Arbeit aufgenommen wurden
Die Auswertung beider Subskalen ergibt je Werte zwischen 0 und 100, wobei 0 für
kein und 100 für ein sehr hohes Informations- bzw. Partizipationsbedürfnis des Patienten steht. Die Reliabilitätsprüfung, die von der Arbeitsgruppe um Jack Ende in Amerika
durchgeführt wurde, ergab eine gute interne Konsistenz mit einem Wert von Cronbachs α bei 0,82 und eine Retest-Reliabilität von 0,83 bzw. 0,84 für die Informationsbzw. Partizipationspräferenz-Skala (Ende 1989). Die Originalfassung wurde mit Unterstützung vom Bundesministerium für Gesundheit ins Deutsche übersetzt und indikationsübergreifend an einer Gruppe von fast 1592 Patienten validiert. Laufende Forschungsprojekte widmen sich dem Versuch, die Testeigenschaften durch Elimination
oder Umpolung einzelner Items noch weiter zu verbessern (Simon 2010).
2.2.4 Fragebogen zu Körper und Gesundheit (FKG)
Dysfunktionale Kognitionen sollen bei der Entwicklung einer somatoformen Störung
eine bedeutende Rolle spielen. Zur Erfassung dieser spezifischen Kognitionsmuster
entwickelten Rief et al. Ende der 1990er Jahre den Fragebogen zu Körper und Gesundheit. Die zunächst erstellte Vorversion bestand aus insgesamt 68 Items. Der
Großteil dieser Items wurde von den Autoren selbst formuliert, weitere neun wurden
aus Barskys Somatosensory Amplification Scale übernommen. Die Vorversion wurde
an einer Stichprobe von 493 Patienten einer psychosomatischen Klinik validiert, was
die Auswahl der 31 aussagekräftigsten Items für die endgültige Fassung ermöglichte.
Die einzelnen Aussagen des FKG sind mittels vierstufiger Antwortskala von „stimmt
26
nicht“ bis „stimmt voll und ganz“ zu bewerten und lassen sich einer von fünf Kategorien zuordnen, die im Folgenden mit je einem Beispielitem vorgestellt werden.
Skala Katastrophisierende Bewertung:

14 Aussagen, wie zum Beispiel: „Bei Verstopfung sollte man umgehend einen
Facharzt aufsuchen, um sicherzugehen, dass man keinen Darmkrebs hat.“

Auswertung ergibt Werte zwischen 0 und 42, d.h. niedrige bzw. hohe Neigung
zu katastrophisierender Bewertung von körperlichen Empfindungen
Skala Vegetative Missempfindungen:

4 Aussagen, wie zum Beispiel: „Ich kann meinen Herzschlag oft im Ohr pulsieren hören.“

Auswertung ergibt Werte zwischen 0 und 12, d.h. niedrige bzw. hohe Tendenz
körperliche Empfindungen in unangenehmer Weise wahrzunehmen
Skala Körperliche Schwäche:

6 Aussagen, wie zum Beispiel: „Nach körperlicher Anstrengung habe ich sehr oft
ein Schwächegefühl.“

Auswertung ergibt Werte zwischen 0 und 18, d.h. niedrige bzw. hohe Neigung
sich schwach und erschöpft zu fühlen und nicht mit Stress umgehen zu können
Skala Intoleranz:

4 Aussagen, wie zum Beispiel: „Bei körperlichen Beschwerden hole ich möglichst sofort einen ärztlichen Rat ein.“

Auswertung ergibt Werte zwischen 0 und 12, d.h. niedrige bzw. hohe Tendenz
körperliche Empfindungen nur schlecht ertragen zu können
Skala Gesundheitsverhalten:

3 Aussagen, wie zum Beispiel: „Ich bin immer darum bemüht, richtig gesund zu
leben.“

Auswertung ergibt Werte zwischen 0 und 9, d.h. niedrige bzw. hohe Motivation
sich so zu verhalten, dass es der eigenen Gesundheit zugutekommt
Die Validierung der endgültigen FKG-Version erfolgte an einer Stichprobe, die aus
zwei verschiedenen Gruppen gebildet wurde: einerseits 124 Personen mit diagnosti27
zierter somatoformer Störung oder einer anderen psychischen Erkrankung und andererseits 101 in dieser Hinsicht gesunde Kontrollpersonen. Die Reliabilitätsprüfung
ergab eine interne Konsistenz mit Werten von Cronbachs α zwischen 0,49 und 0,89,
wobei die niedrigsten Werte bei Testung der Skala Intoleranz und bei Befragung der
Kontrollgruppe registriert wurden. In der Auswertung erzielten Patienten mit somatoformen Störungen in vier der fünf Kategorien signifikant höhere Punktwerte als das
Vergleichskollektiv. Nur bezüglich der Skala „Gesundheitsverhalten“ ließ sich kein Unterschied zwischen den Gruppen feststellen. Der FKG ist demzufolge ein geeignetes
diagnostisches Hilfsmittel, um dysfunktionale Kognitionen aufzudecken, wie sie bei
einer somatoformen Störung beobachtbar sind (Rief 1998). Ebenso kann der FKG zur
Verlaufskontrolle eingesetzt werden. Eine zweite Studie zeigte, dass eine stationäre
Verhaltenstherapie zur signifikanten Verbesserung der Werte der Skalen Katastrophisierende Bewertung, Körperliche Schwäche und Intoleranz führte (Hiller 1997).
2.2.5 Fragebogen zur Erhebung von Kontrollüberzeugungen zu Krankheit
und Gesundheit (KKG)
Für die Entwicklung des individuellen Gesundheitsverhaltens scheint von Bedeutung
zu sein, ob die jeweilige Person das Gefühl hat, selbst Einfluss auf den eigenen
Gesundheitszustand nehmen zu können. Zur Quantifizierung dieser Vorstellungen
wurden verschiedene Fragebögen entwickelt. Ein Beispiel ist der von Lohaus et al.
entwickelte Fragebogen zur Erhebung von Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und
Gesundheit. Der KKG überprüft drei Dimensionen mit jeweils sieben Aussagen. Diese
werden im Folgenden mit je einem Beispielitem vorgestellt (Definitionen siehe Kapitel
1.3.2, Seite 16).

Internalität:
„Wenn ich mich körperlich nicht wohl fühle, dann habe ich mir das selbst zuzuschreiben.“

fatalistische Externalität:
„Ich bin der Meinung, dass Glück und Zufall eine große Rolle für mein körperliches Befinden spielen.“

soziale Externalität:
„Wenn ich mich unwohl fühle, wissen andere am besten, was mir fehlt.“
28
Die einzelnen Fragen werden je mittels sechsstufiger Antwortskala von „trifft sehr zu“
bis „trifft gar nicht zu“ beurteilt. So ergibt sich für die drei Dimensionen jeweils ein Wert
zwischen 7 und 42, was für eine niedrige bzw. hohe Kontrollüberzeugung steht. Laut
der Forschungsgruppe um Lohaus erreicht der KKG mittlere Reliabilitätskoeffizienten.
Bei der Überprüfung der Testgütekriterien lag die Retest-Reliabilität bei Werten zwischen 0,66 und 0,78 und die interne Konsistenz mit einem Wert von Cronbachs α zwischen 0,64 und 0,77, jeweils abhängig davon, welche Altersklasse befragt bzw. welche der drei Dimensionen überprüft wurde. Konstruktvalidität des Fragebogens wurde
durch zwei Methoden bestätigt. So zeigte die Faktorenanalyse eine dreifaktorielle Lösung und die Interkorrelation der drei Skalen eine adäquate Unabhängigkeit dieser
voneinander. Auch kriterienbezogene Validität konnte durch Korrelationen mit Außenkriterien und Gruppenvergleichen bewiesen werden (Lohaus 1989). Der KKG und
verwandte Fragebögen finden bis heute in zahlreichen Themengebieten Anwendung.
Beispiele sind die Erforschung der interindividuellen Unterschiede bezüglich der
Compliance bei der Medikamenteneinnahme oder dem Ausführen krankheitspräventiver Maßnahmen. Die Untersuchung der Auswirkung einer chronischen Erkrankung auf
die psychische und physische Gesundheit und die verschiedenartige Interaktionsweise von Patienten mit dem medizinischen Versorgungssystem stellen weitere Einsatzmöglichkeiten dar (Lohaus 1989; Otto 2011).
2.3 Angewandte statistische Methoden
2.3.1 Fallzahlschätzung
Die Fallzahlschätzung der vorliegenden Untersuchung basiert auf den Erkenntnissen
der vorausgegangenen Erststudie. Hier ergab die Auswertung des PHQ-D-Moduls zu
Somatoformen Syndromen für die 23 Patienten mit vom Hausarzt als nicht sinnvoll
eingestuften Überweisungen einen Summenwert von 6,3. Die 182 Patienten mit sinnvollen Überweisungen wiesen im Vergleich dazu eine niedrigere Somatisierungstendenz von 5,8 auf. Bei einer mittleren Standardabweichung von 2,0 müssten insgesamt
446 Patienten eingeschlossen werden, um einen Unterschied auf einem Signifikanzniveau von 5 Prozent mit 80 prozentiger Power nachweisen zu können (einseitige Testung, Berechnung mit G-Power). Die bereits in der Erststudie dokumentierten 182 Patienten mit sinnvolle Überweisungsvorgängen konnten mit dem Kollektiv verrechnet
werden, sodass insgesamt 270 weitere Patienten in die vorliegende Studie einge-
29
schlossen werden mussten. Bei einer geschätzten drop-out-Rate von 10 Prozent
ergab sich eine geforderte Stichgrößenzahl von 300 Patienten.
2.3.2 Statistische Analyse
Die Analyse der Studienergebnisse wurde mithilfe der Statistiksoftware SPSS Statistics (Version 20) realisiert. Zunächst wurde das Datenmaterial einer deskriptiven Analyse unterzogen. Hier wurden die Häufigkeitsverteilungen der einzelnen Variablen
dargestellt und je nach Datentyp Mittelwerte und Standardabweichungen, Mediane
und Quartile bzw. Prozentangaben ermittelt. Als nächstes wurden die zu vergleichenden Subgruppen definiert und dann auf Gruppenunterschiede hin analysiert. Für den
Vergleich kontinuierlicher Variablen wurden der Wilcoxon-Mann-Whitney-Test bzw. bei
Normalverteilung der Daten der t-Test für unabhängige Stichproben verwendet. Bei
kategorialen Variablen kamen der Chi-Quadrat-Test zum Einsatz bzw. der exakte Test
nach Fisher, wenn nur zwei Variablen mit je zwei Kategorien betrachtet wurden. Als
Signifikanzniveau α wurde ein Wert von 5 Prozent festgelegt. Den Tabellen des Ergebnisteils kann je entnommen werden, welcher statistische Test für die Berechnung
des jeweiligen p-Werts herangezogen wurde.
Zur Ermittlung von Prädiktoren für das Inanspruchnahmeverhalten wurde eine binär
logistische Regression durchgeführt. Praxiskontakte, Überweisungszahl und Arbeitsunfähigkeitstage dienten als abhängige Variablen und wurden anhand des jeweiligen
Medians dichotomisiert. Es wurde festgelegt, dass eine erhöhte Inanspruchnahme von
Gesundheitsleistungen vorliegt (sogenannte „high utilizer“), wenn der jeweilige Median
der abhängigen Variable überschritten wird. Als erklärende Variable wurde die nach
PHQ-D diagnostizierte psychische Komorbidität in das Regressionsmodell aufgenommen. Des Weiteren wurde untersucht, ob die Zugehörigkeit zur Patientengruppe
mit Tresen-Überweisungen und das Vorliegen von definierten Erkrankungsklassen
einen Einfluss auf das Inanspruchnahmeverhalten ausübt. Die erklärenden Variablen
wurden nach Alter, Geschlecht, Schulbildung und – zur Kontrolle von Zentrumseffekten – auch nach der Praxiszugehörigkeit adjustiert. Für alle PHQ-D-Diagnosen wurden
Interaktionseffekte mit der somatischen Morbidität durch Bildung von Interaktionstermen („Vorliegen der jeweiligen PHQ-D-Diagnose x Vorliegen von somatischer Morbidität“) berücksichtigt, da bei bestehender hoher somatischer Morbidität auch von einer
erhöhten psychischen Komorbidität ausgegangen werden muss.
30
2.3.3 Umgang mit fehlenden Werten
Bei nur unvollständig ausgefüllten Fragebögen erfolgte die Auswertung so, wie von
den Autoren angegeben. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Anzahl der Items, die
der Patient ankreuzen musste, damit eine Auswertung möglich war. In den Tabellen
des Ergebnisteils zeigt jeweils die Spalte „N (%)“, bei welchem Anteil der Fragebögen
eine Auswertung vorgenommen werden konnte.
Tabelle 1: Umgang mit fehlenden Werten
Fragebogen
Gesamtzahl Items
Auswertung ab Itemzahl
PHQ-D
Depression
9
7
Panik
15
12
Andere Angststörungen
7
6
GAD-7
7
5
Somatoforme Syndrome
12
9
Informationspräferenz
6
4
Partizipationspräferenz
6
4
API
FKG
KKG
Katastrophisierende Bewertung 14
11
Vegetative Missempfindungen
4
4
Körperliche Schwäche
6
6
Intoleranz
4
4
Gesundheitsverhalten
3
3
Internalität
7
7
Fatalistische Externalität
7
7
Soziale Externalität
7
7
Abkürzungen: API – Autonomie-Präferenz-Index, FKG – Fragebogen für Körper und Gesundheit,
GAD-7 – Generalized Anxiety Disorder-7-Fragebogen, KKG – Fragebogen zur Erhebung von
Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und Gesundheit, PHQ-D – Gesundheitsfragebogen für Patienten
Eine Auswertung des Depressionsmoduls des PHQ-D ist zum Beispiel möglich, insofern mindestens sieben der neun Fragen beantwortet sind. Im Falle von ein oder zwei
fehlenden Angaben wird der Durchschnittswert der restlichen Werte ermittelt und dieser anstelle der fehlenden Werte in der Berechnung eingesetzt. Im Falle von mehr als
zwei fehlenden Werten kann dieses Modul nicht mehr ausgewertet werden.
31
3
ERGEBNISSE
3.1 Vergleich von Patienten aus der regulären Sprechstunde mit
Patienten, die Überweisungen am Tresen erhalten
3.1.1 Beschreibung der Stichprobe
In der vorliegenden Überweisungsstudie wurden 281 Patienten rekrutiert, die Überweisungen am Tresen der Praxis ohne direkten Arztkontakt erhielten. Darüber hinaus
konnten die Daten von 1011 Patienten der zuvor durchgeführten Erststudie für die
Auswertung herangezogen werden. 985 dieser Patienten besuchten die reguläre
Sprechstunde, die übrigen 26 hatten Tresen-Überweisungen erhalten. Abbildung 2
gibt wieder, wie sich die rekrutierten Patientengruppen zusammensetzten.
Überweisungsstudie
Erststudie
602 Patienten wurde
Fragebogen überreicht
1185 Patienten erfüllten
Einschlusskriterien
11 ausgeschlossen:
- 3 besuchten Sprechstunde
- 2 ohne Überweisung
- 6 Fragebögen ausgefüllt
von der falschen Person
174 Non-Responder:
- 174 hatten von Vornherein
kein Interesse
591 Patienten erfüllten
Einschlusskriterien
1011 Responder in die
Studie eingeschlossen
310 Non-Responder:
- 38 hatten von Vornherein
kein Interesse
- 272 sendeten Fragebogen
nicht zurück
281 Responder in die
Studie eingeschlossen
Davon 26 Patienten mit
Tresen-Überweisungen
Insgesamt 307 Patienten
mit Tresen-Überweisungen
Davon 985 Patienten aus
der Sprechstunde
Abbildung 2: Rekrutierung von Patienten für die Erststudie und Überweisungsstudie
In der Tabelle 2 ist der Vergleich des soziodemographischen Hintergrunds der zwei
Kollektive dargestellt. Die Patientengruppe mit Tresen-Überweisungen enthielt mehr
Frauen (66 % vs. 58 %) und verheiratete oder in fester Partnerschaft lebende Personen als das Kollektiv der regulären Sprechstunde (76 % vs. 67 %). In den Bereichen
32
Alter, Schulbildung, Studium und Erwerbstätigkeitsstatus fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Gruppen.
Tabelle 2: Soziodemographischer Hintergrund
Patienten aus der
Sprechstunde (N=985)
N (%)
n (%)
Alter in Jahren; mw (sd)
985 (100)
Weiblich
+
Patienten mit TresenÜberweisung (N=307)
p-Wert
+
N (%)
n (%)
49,3 (17,8)
307 (100)
51,4 (17,5)
0,066
985 (100)
575 (58)
307 (100)
201 (66)
0,028
Verheiratet oder fester Partner
956 (97)
637 (67)
303 (99)
230 (76)
0,002
Fachabitur oder Abitur
949 (96)
296 (31)
303 (99)
93 (31)
0,887
Fach- oder Hochschulstudium
941 (96)
224 (24)
302 (98)
64 (21)
0,389
In Erwerbstätigkeit
953 (97)
544 (57)
303 (99)
159 (53)
0,164
Fragen zur Person:
Testverfahren: t-Test (Alter), Exakter Test nach Fisher (Geschlecht), Chi-Quadrat-Test (Fragen zur
Person)
p-Wert bezogen auf n (%) bzw. mw (sd)
+ wenn nicht anders angegeben
Abkürzungen: mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung), n (%) – Anzahl von Patienten mit soziodemographischem Kriterium (Anteil an Gesamtzahl), N (%) – Anzahl auswertbarer Fragebögen (Anteil an Gesamtzahl)
3.1.2 Psychische Komorbidität
Tabelle 3 zeigt den Vergleich der beiden Kollektive hinsichtlich der Summenwerte der
in der Studie verwendeten PHQ-D-Module. Patienten mit Tresen-Überweisungen wiesen eine leicht geringere Depressivität auf als Patienten der regulären Sprechstunde
(Mittelwert 5,1 vs. 5,6). Hinsichtlich Panik, Ängstlichkeit und Somatisierung ergaben
sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den zwei Gruppen.
33
Tabelle 3: Summenwerte der PHQ-D-Module Depression, Panik, Andere
Angststörungen und Somatoforme Syndrome
Patienten aus der
Sprechstunde (N=985)
Patienten mit TresenÜberweisung (N=307)
N (%)
mw (sd)
N (%)
mw (sd)
Depressivität
949 (96)
5,6 (4,8)
296 (96)
5,1 (4,9)
0,015
Panik
967 (98)
1,2 (3,2)
299 (97)
1,3 (3,5)
0,917
Ängstlichkeit
938 (95)
4,5 (3,2)
300 (98)
4,6 (3,6)
0,902
Somatisierung
896 (91)
7,6 (4,8)
293 (95)
7,1 (4,7)
0,074
p-Wert
Testverfahren: Wilcoxon-Mann-Whitney-Test
p-Wert bezogen auf mw (sd)
Abkürzungen: mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung), N (%) – Anzahl auswertbarer Fragebögen (Anteil an
Gesamtzahl), PHQ-D – Gesundheitsfragebogen für Patienten
Neben dieser dimensionalen Analyse ist auch eine kategoriale Auswertung der PHQD-Module möglich. Tabelle 4 zeigt die Prävalenz der auf diese Weise diagnostizierten
psychischen Störungen. Es konnten keine signifikanten Unterschiede zwischen den
zwei Gruppen ermittelt werden.
Tabelle 4: Nach PHQ-D diagnostizierte psychische Störungen
(Module Depression, Panik, Andere Angststörungen und Somatoforme Syndrome)
Patienten aus der
Sprechstunde (N=985)
Patienten mit TresenÜberweisung (N=307)
N (%)
n (%)
N (%)
n (%)
Major Depression
956 (97)
67 (7,0)
299 (97)
23 (7,7)
0,700
Andere Depressive Störung
957 (97)
86 (9,0)
300 (98)
19 (6,3)
0,188
Panikstörung
973 (99)
48 (4,9)
300 (98)
21 (7,0)
0,189
Andere Angststörung
950 (96)
54 (5,7)
299 (97)
23 (7,7)
0,216
Somatoforme Störung
930 (94)
169 (18,2)
299 (97)
42 (14,0)
0,112
p-Wert
Testverfahren: Exakter Test nach Fisher
p-Wert bezogen auf n (%)
Abkürzungen: n (%) – Anzahl von Patienten mit psychischer Störung (Anteil an Gesamtzahl), N (%) – Anzahl
auswertbarer Fragebögen (Anteil an Gesamtzahl), PHQ-D – Gesundheitsfragebogen für Patienten
Es folgt Abbildung 3, die die psychische Komorbidität der beiden Patientengruppen
vergleicht. Patienten, die nach PHQ-D die Diagnose einer Major Depression oder anderen depressiven Störung erhielten, wurden in der Grafik der Kategorie „Depression“
zugeordnet. Bestand beim Patienten eine andere Angststörung oder eine Panikstö34
rung, erfolgte die Zuteilung zur Fraktion „Angststörung“. In der Gruppe „Somatoforme
Störung“ finden sich Patienten mit nach PHQ-D diagnostizierter somatoformer Störung. Bei 24,0 Prozent der Patienten mit Tresen-Überweisungen bestand eine psychische Störung, bei den Patienten der regulären Sprechstunde waren es sogar 28,3
Prozent, wobei dieser Unterschied jedoch keine statistische Signifikanz erreichte.
Patienten aus der Sprechstunde
Depression
2.1%
Patienten mit Tresen-Überweisung
Angststörung
6.6%
Depression
Angststörung
5.1%
1.4%
2.1%
3.5%
3.8%
Somatoforme Störung
Somatoforme Störung
8.7%
2.1%
3.1%
1.6%
4.4%
2.4%
p-Wert = 0.153
Patienten ohne psychische
Komorbidität: 71.7%
5.5%
Patienten ohne psychische
Komorbidität: 76.0%
Abbildung 3: Prävalenz der nach PHQ-D diagnostizierten psychischen Komorbidität
Testverfahren: Chi-Quadrat-Test
Abkürzungen: PHQ-D – Gesundheitsfragebogen für Patienten
35
3.1.3 Dauerdiagnosen
Der Vergleich der zwei Kollektive in Bezug auf die Dauerdiagnosenzahl pro Patient ist
in Tabelle 5 dargestellt. Es konnte kein signifikanter Unterschied ermittelt werden. Bei
jedem Patienten waren im Mittel etwa vier bis fünf Dauerdiagnosen in den elektronischen Behandlungsunterlagen des Hausarztes vermerkt.
Tabelle 5: Anzahl der vom Hausarzt dokumentierten Dauerdiagnosen pro Patient
Patienten aus der Sprechstunde
(N=985)
Patienten mit Tresen-Überweisung
(N=307)
N (%)
mw (sd)
N (%)
mw (sd)
973 (99)
4,4 (4,2)
306 (99)
4,5 (3,9)
p-Wert
0,190
Testverfahren: Wilcoxon-Mann-Whitney-Test
p-Wert bezogen auf mw (sd)
Abkürzungen: mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung), N (%) – Anzahl auswertbarer Fragebögen (Anteil an
Gesamtzahl)
Um die Analyse der Vielzahl an einzelnen Dauerdiagnosen zu ermöglichen, wurden
diese zu 27 Diagnosen zusammengefasst, die in Tabelle 6 dargestellt sind. Bei den
Patienten mit Tresen-Überweisungen wurden am häufigsten sonstige internistische
Erkrankungen (31,6 %), eine arterielle Hypertonie (29,0 %) und Rückenschmerzerkrankungen (19,2 %) diagnostiziert. Auch bei 29,0 Prozent der Patienten aus der
Sprechstunde bestand eine arterielle Hypertonie, bei 23,5 Prozent Rückenschmerzerkrankungen und bei 14,7 Prozent eine Depression. Zwischen beiden Gruppen bestanden signifikante Unterschiede in Hinblick auf die Häufigkeit von malignen, sonstigen internistischen, sonstigen neurologischen, sonstigen psychischen Erkrankungen
und Suchterkrankungen.
36
Tabelle 6: Diagnosen
Patienten aus
der Sprechstunde
(N=985)
Patienten mit
Tresen-Überweisung
(N=307)
p-Wert
Angststörung
38 (3,9)
11 (3,6)
1,000
Arterielle Hypertonie
283 (28,7)
89 (29,0)
0,943
Asthma/COPD
91 (9,2)
27 (8,8)
0,910
Chronische Schmerzstörung/Fibromyalgie
36 (3,7)
6 (2,0)
0,195
Chronisch-entzündliche Darmerkrankung
3 (0,3)
3 (1,0)
0,150
Depression
144 (14,6)
40 (13,0)
0,514
Diabetes
95 (9,6)
28 (9,1)
0,825
Epicondylitis
6 (0,6)
2 (0,7)
1,000
Erkrankung des atopischen Formenkreises
93 (9,4)
41 (13,4)
0,054
Halswirbelsäulen-Syndrom
73 (7,4)
16 (5,2)
0,199
Knie-/Hüftschmerzerkrankung
93 (9,4)
34 (11,1)
0,442
Kopfschmerzerkrankung
48 (4,9)
15 (4,9)
1,000
Maligne Erkrankung
75 (7,6)
41 (13,4)
0,003
Marcumartherapie/Vorhofflimmern
48 (4,9)
15 (4,9)
1,000
Morbus Parkinson
7 (0,7)
2 (0,7)
1,000
Multiple Sklerose
4 (0,4)
1 (0,3)
1,000
Psychosomatische Erkrankung
62 (6,3)
20 (6,5)
0,894
Rheumatoide Arthritis
21 (2,1)
7 (2,3)
0,825
Rückenschmerzerkrankung
230 (23,4)
59 (19,2)
0,137
Schizophrenie
2 (0,2)
1 (0,3)
0,557
Schulter-Arm-Syndrom
19 (1,9)
5 (1,6)
1,000
Schwere Herzerkrankung
112 (11,4)
38 (12,4)
0,611
Sonstige internistische Erkrankung
143 (14,5)
97 (31,6)
<0,001
Sonstige neurologische Erkrankung
26 (2,6)
16 (5,2)
0,040
Sonstige psychische Erkrankung
78 (7,9)
11 (3,6)
0,009
Suchterkrankung
64 (6,5)
4 (1,3)
<0,001
Zustand nach Apoplex
21 (2,1)
6 (2,0)
1,000
Testverfahren: Chi-Quadrat-Test
Werte sind n (%)
Abkürzungen: COPD – chronisch obstruktive Lungenerkrankung
37
Tabelle 7 zeigt die Häufigkeit von sieben Erkrankungsklassen, die durch weiteres Zusammenfassen der in Tabelle 6 vorgestellten Diagnosen gebildet wurden. Patienten
mit Tresen-Überweisungen litten im Vergleich zu den Patienten der Sprechstunde
häufiger an malignen (13,4 % vs. 7,6 %) und chronisch internistischen Erkrankungen
(57,7 % vs. 46,3 %). Suchterkrankungen waren in diesem Kollektiv hingegen seltener
(1,3 % vs. 6,5 %). In Bezug auf die anderen Erkrankungsklassen fanden sich keine
weiteren signifikanten Unterschiede.
Tabelle 7: Erkrankungsklassen
Patienten aus
der Sprechstunde
(N=985)
Patienten mit
Tresen-Überweisung
(N=307)
p-Wert
Chronisch internistische Erkrankung
456 (46,3)
177 (57,7)
0,001
Erkrankung des atopischen Formenkreises
93 (9,4)
41 (13,4)
0,054
Erkrankung des Bewegungsapparats
338 (34,3)
91 (29,6)
0,145
Maligne Erkrankung
75 (7,6)
41 (13,4)
0,003
Neurologische Erkrankung
101 (10,3)
35 (11,4)
0,594
Psychosomatische/psychische Erkrankung
237 (24,1)
61 (19,9)
0,140
Suchterkrankung
64 (6,5)
4 (1,3)
<0,001
Testverfahren: Chi-Quadrat-Test
Werte sind n (%)
Die Erkrankungsklassen wurden durch Zusammenfassen der folgenden Diagnosen gebildet:
- Chronisch internistische Erkrankung: Arterielle Hypertonie, Asthma/Chronisch obstruktive Lungenerkrankung,
Chronisch-entzündliche Darmerkrankung, Diabetes, Marcumartherapie/Vorhofflimmern, Schwere Herzerkrankung oder Sonstige internistische Erkrankung
- Erkrankung des Bewegungsapparats: Chronische Schmerzstörung/Fibromyalgie, Epicondylitis, Halswirbelsäulen-Syndrom, Knie/Hüftschmerzerkrankung, Rheumatoide Arthritis, Rückenschmerzerkrankung oder SchulterArm-Syndrom
- Neurologische Erkrankung: Kopfschmerzerkrankung, Morbus Parkinson, Multiple Sklerose, Sonstige neurologische Erkrankung oder Zustand nach Apoplex
- Psychosomatische oder psychische Erkrankung: Angststörung, Depression, Psychosomatische Erkrankung,
Schizophrenie oder Sonstige psychische Erkrankung
38
3.1.4 Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen
In Tabelle 8 ist der Vergleich der Parameter für das Inanspruchnahmeverhalten während der letzten zwölf Monate dargestellt. Das Patientenkollektiv mit Tresen-Überweisungen nahm im Vergleich zu der Patientengruppe der regulären Sprechstunde mehr
Überweisungen in Anspruch (Mittelwert 6,6 vs. 3,7), suchte aber die hausärztliche
Praxis seltener auf (Mittelwert 13,9 vs. 15,2). Für die Arbeitsunfähigkeitsdauer konnte
kein signifikanter Unterschied ermittelt werden. Im Durchschnitt schrieb der Hausarzt
die Patienten etwa sieben bis acht Tage im Jahr krank.
Tabelle 8: Inanspruchnahmeverhalten während der letzten zwölf Monate
Patienten aus der
Patienten mit TresenSprechstunde (N=985) Überweisung (N=307)
p-Wert
N (%)
mw (sd)
N (%)
mw (sd)
Anzahl Überweisungen
980 (99)
3,7 (4,1)
307 (100)
6,6 (4,4)
<0,001
Hausärztliche Praxiskontaktzahl
981 (99)
15,2 (16,4)
307 (100)
13,9 (9,3)
0,024
Anzahl Arbeitsunfähigkeitstage
907 (92)
7,5 (23,2)
306 (99)
7,6 (24,7)
0,445
Testverfahren: Wilcoxon-Mann-Whitney-Test
p-Wert bezogen auf mw (sd)
Abkürzungen: mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung), N (%) – Anzahl auswertbarer Fragebögen (Anteil an
Gesamtzahl)
Tabelle 9 zeigt die Ergebnisse der binär logistischen Regressionsanalyse, die der Ermittlung von Prädiktoren für das Inanspruchnahmeverhalten diente. Die abhängigen
Variablen wurden dabei anhand des jeweiligen Medians dichotomisiert. Als sogenannte „high utilizer“ wurden auf diese Weise all jene Patienten definiert, die in den letzten
zwölf Monaten öfter als elf Mal die hausärztliche Praxis aufsuchten, mehr als drei
Überweisungen in Anspruch nahmen oder länger als zehn Tage krankgeschrieben
waren. Weitere Details zur statistischen Auswertung können dem Kapitel 2.3 entnommen werden.
39
Tabelle 9: Prädiktoren für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen
Praxiskontakte
> 11 pro Jahr
Überweisungszahl
> 3 pro Jahr
Arbeitsunfähigkeit
> 10 Tage pro Jahr
OR (95%KI)
p-Wert
OR (95%KI)
p-Wert
OR (95%KI)
p-Wert
1,3 (0,7-2,5)
0,430
2,1 (1,1-4,0)
0,022
2,5 (1,2-4,8)
0,009
Angststörung
1,8 (0,8-4,4)
0,166
4,1 (1,8-9,6)
0,001
4,2 (1,7-10,5)
0,002
Panikstörung
1,4 (0,5-3,8)
0,500
5,9 (2,1-16,4)
0,001
2,8 (0,9-8,1)
0,064
Somatoforme Störung
2,4 (1,4-4,3)
0,003
2,2 (1,2-4,0)
0,008
2,2 (1,2-4,2)
0,011
Maligne Erkrankung
2,2 (1,4-3,6)
0,001
4,0 (2,3-7,0)
<0,001
0,9 (0,4-1,8)
0,724
Neurologisch
2,6 (1,4-4,7)
0,002
3,4 (1,8-6,6)
<0,001
1,3 (0,6-3,1)
0,551
Bewegungsapparat
1,3 (1,0-1,7)
0,092
1,3 (1,0-1,7)
0,097
1,4 (1,0-2,1)
0,081
Chronisch internistisch
2,5 (1,9-3,3)
<0,001
2,0 (1,5-2,7)
<0,001
1,1 (0,7-1,5)
0,724
Psychosom,/Psychisch
2,9 (2,1-3,8)
<0,001
2,4 (1,8-3,3)
<0,001
1,9 (1,3-2,7)
<0,001
1,1 (0,8-1,5)
0,640
4,4 (3,1-6,0)
<0,001
1,2 (0,8-1,8)
0,286
Diagnose nach PHQ-D:
Depression
+
Erkrankungsklasse
liegt vor:
Am Erhebungstag:
Mit Tresen-Überweisung
Testverfahren: binär logistische Regression, jeweils separat gerechnet für Gesamtstichprobe (n=1292)
Adjustierung der abhängigen Variablen für Alter, Geschlecht, Schulbildung und Praxiszugehörigkeit
> 11 hausärztliche Praxiskontakte, > 3 Überweisungen und > 10 Tage in Arbeitsunfähigkeit pro Jahr wurde als
verstärkte Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen definiert (Dichotomisierung am Median)
+ Vorliegen von Depression bei Diagnose einer Major Depression oder anderen Depressiven Störung
Abkürzungen: KI – Konfidenzintervall, OR – Odds Ratio, PHQ-D – Gesundheitsfragebogen für Patienten,
Psychosom. – psychosomatisch
Alle vier der untersuchten psychischen Störungen waren Risikofaktoren für eine vermehrte Inanspruchnahme von Überweisungen, wobei eine bestehende Panikstörung
mit einem Odds Ratio von 5,9 den größten Einfluss ausübte. Das Vorliegen einer somatoformen Störung, Depression oder Angststörung vergrößerte die Wahrscheinlichkeit für eine lange Krankschreibung (OR 2,2 bzw. OR 2,5 bzw. OR 4,2), während sich
für Panikstörungen kein statistischer Zusammenhang ergab. Eine somatoforme Störung stellte sich mit einem Odds Ratio von 2,4 als Prädiktor für ein vermehrtes Aufsuchen der hausärztlichen Praxis heraus. Eine nach PHQ-D diagnostizierte Depression,
Panik- oder Angststörung zeigte dagegen keinen Einfluss auf die Praxiskontaktrate.
Die Betrachtung der beim Patienten diagnostizierten Erkrankungsklassen ergab für
maligne, neurologische, chronisch-internistische und psychosomatisch/psychische
40
Dauerdiagnosen eine Assoziation mit einer erhöhten Inanspruchnahme von Überweisungen und einem vermehrten Aufsuchen der hausärztlichen Praxis. Mit einem Odds
Ratio von 4,0 stellten sich dabei bestehende maligne Erkrankungen als stärkster Prädiktor für die Überweisungszahl heraus, während vorliegende psychosomatische oder
psychische Störungen den größten Einfluss auf die Praxiskontaktzahl ausübten (OR
2,9). Ein Zusammenhang zu einer verlängerten Krankschreibung konnte lediglich für
psychosomatisch/psychische Erkrankungsbilder mit einem Odds Ratio von 1,9 ermittelt werden. Für Erkrankungen des Bewegungsapparats ergab sich kein statistischer
Zusammenhang zu einer erhöhten Inanspruchnahme der Leistungen des Gesundheitswesens.
Darüber hinaus hatten Patienten mit Tresen-Überweisungen, im Vergleich zu den Patienten aus der Sprechstunde, eine 4,4fach erhöhte Wahrscheinlichkeit, mehr als drei
Überweisungen pro Jahr in Anspruch zu nehmen. Für die hausärztliche Praxiskontaktzahl und die Arbeitsunfähigkeitsdauer ergaben sich dagegen keine statistischen Zusammenhänge.
3.1.5 Partizipations- und Informationspräferenz
Die an der Untersuchung beteiligten Hausärzte wurden gebeten, jedem Studienteilnehmer den bevorzugten Interaktionsstil in der Patient-Arzt-Beziehung zuzuordnen.
Gemäß der Tabelle 10 ergab die Auswertung einen signifikanten Unterschied zwischen beiden Gruppen. Die Partizipationspräferenz der Patienten mit Tresen-Überweisungen wurde am häufigsten als autonom (41 %) oder partnerschaftlich (51 %)
beurteilt, während nur eine geringe Zahl als paternalistisch beschrieben wurde (8 %).
Auch für die meisten Patienten der Sprechstunde erfolgte die Zuordnung zum partnerschaftlichen Modell (65 %). Im Vergleich zum Kollektiv mit Tresen-Überweisungen war
hier aber der Anteil der Patienten mit autonomer Partizipationspräferenz kleiner (17 %)
und mehr Patienten wurden als paternalistisch eingestuft (18 %).
41
Tabelle 10: Beurteilung der Partizipationspräferenz der Patienten durch den Hausarzt
Patienten aus der
Sprechstunde (N=985)
Patienten mit TresenÜberweisung (N=307)
N (%)
N (%)
Autonom
Partnerschaftlich
n (%)
168 (17)
975 (99)
Paternalistisch
630 (65)
p-Wert
n (%)
126 (41)
305 (99)
177 (18)
156 (51)
<0,001
23 (8)
Testverfahren: Chi-Quadrat-Test
p-Wert bezogen auf n (%)
Abkürzungen: n (%) – Anzahl von Patienten mit dieser Partizipationspräferenz (Anteil an Gesamtzahl),
N (%) – Anzahl auswertbarer Fragebögen (Anteil an Gesamtzahl)
Die nachfolgende Tabelle 11 zeigt die Auswertung des Autonomie-Präferenz-Index,
der eine Selbsteinschätzung der Patienten ermöglicht. Patienten mit TresenÜberweisungen hatten ein höheres Informationsbedürfnis als Patienten aus der
Sprechstunde (Mittelwert 93,2 vs. 91,4). In Bezug auf die Partizipationspräferenz
ergab sich kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen.
Tabelle 11: Mittelwerte des Autonomie-Präferenz-Index (API)
Patienten aus der
Sprechstunde (N=985)
Patienten mit TresenÜberweisung (N=307)
N (%)
mw (sd)
N (%)
mw (sd)
Informationspräferenz
958 (97)
91,4 (9,5)
304 (99)
93,2 (8,1)
0,002
Partizipationspräferenz
960 (97)
46,4 (19,3)
304 (99)
46,9 (19,5)
0,694
p-Wert
Testverfahren: Wilcoxon-Mann-Whitney-Test (Informationspräferenz), t-Test (Partizipationspräferenz)
p-Wert bezogen auf mw (sd)
Abkürzungen: mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung), N (%) – Anzahl auswertbarer Fragebögen (Anteil an
Gesamtzahl)
3.1.6 Analyse der Non-Responder
In der Überweisungsstudie wurden 591 Patienten und in der Erststudie 1185 Patienten
dokumentiert, die die Kriterien zur Studienteilnahme erfüllten. Von dieser Gesamtstichprobe konnte ein Anteil von 72,7 Prozent für die Untersuchung rekrutiert werden.
Die übrigen Patienten (27,3 %) lehnten entweder eine Studienmitwirkung von Beginn
an ab oder sendeten den ausgehändigten Fragebogen nicht an das Institut zurück.
Diese 484 Non-Responder werden in Tabelle 12 mit den 1292 Patienten verglichen,
42
die an der Befragung teilnahmen. Das durchschnittliche Alter der Responder war geringer als das der Non-Responder (49,8 vs. 55,7 Jahre). Bezüglich der Geschlechterverteilung bestand kein signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen. Weitere
Details zum Ablauf der Patientenrekrutierung können der Abbildung 1 auf Seite 13
entnommen werden.
Tabelle 12: Non-Responder-Analyse der Erststudie und der Überweisungsstudie
Responder
Non-Responder
p-Wert
Anzahl; N (%)
1292 (72,7)
484 (27,3)
Alter in Jahren; mw (sd)
49,8 (17,8)
55,7 (16,7)
<0,001
Weiblich; n (%)
776 (60,1)
312 (64,5)
0,101
Testverfahren: t-Test (Alter), Exakter Test nach Fisher (Geschlecht)
Abkürzungen: mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung)
Die im Rahmen der Überweisungsstudie dokumentierten Responder und NonResponder wurden einer separaten Analyse unterzogen. Hier wurde von Patienten,
die die Kriterien zur Studienteilnahme erfüllten, auch die Überweisungszahl der letzten
zwölf Monate dokumentiert. Gemäß der Tabelle 13 zeigten sich keine signifikanten
Unterschiede zwischen den zwei Gruppen. Im Vergleich zu der vorausgegangenen
Erststudie konnte für die Überweisungsstudie nur ein geringerer Anteil der insgesamt
angesprochenen Patienten rekrutiert werden (85,3 % vs. 47,5 %).
Tabelle 13: Non-Responder-Analyse der Überweisungsstudie
Responder
Non-Responder
p-Wert
Anzahl; N (%)
281 (47,5)
310 (52,5)
Alter in Jahren; mw (sd)
51,6 (17,5)
53,8 (16,5)
0,107
Weiblich; n (%)
183 (65,1)
206 (66,5)
0,795
Überweisungszahl letzte 12 M; mw (sd)
6,65 (4,30)
6,72 (5,10)
0,489
Testverfahren: t-Test (Alter), Exakter Test nach Fisher (Geschlecht), Wilcoxon-Mann-Whitney-Test (Überweisungen)
Abkürzungen: M – Monate, mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung)
43
3.2 Patienten mit sinnvollen Überweisungen im Vergleich zu
Patienten mit mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung
3.2.1 Beschreibung der Stichprobe
In die Erststudie und die Überweisungsstudie wurden 486 Patienten eingeschlossen,
die am Erhebungstag eine oder mehrere Überweisungen in Anspruch nahmen. Jeder
Überweisungsvorgang wurde von den beteiligten Hausärzten als sinnvoll oder nicht
sinnvoll beurteilt. Gemäß dieser hausärztlichen Einschätzung erhielten 414 Patienten
ausschließlich sinnvolle und 72 Patienten mindestens eine nicht sinnvolle Überweisung. Abbildung 4 zeigt die beschriebenen Kollektive. Darüber hinaus ist dargestellt,
wie viele Patienten im Rahmen der vorliegenden Überweisungsstudie rekrutiert wurden.
Im Rahmen der Erststudie oder der Überweisungsstudie rekrutiert:
486 Patienten mit Überweisungen
414 Patienten mit sinnvollen
Überweisungen
72 Patienten mit mindestens einer nicht
sinnvollen Überweisung
Davon im Rahmen der Überweisungsstudie rekrutiert:
281 Patienten mit Überweisungen
232 Patienten mit sinnvollen
Überweisungen
49 Patienten mit mindestens einer nicht
sinnvollen Überweisung
Abbildung 4: Rekrutierung von Patienten mit sinnvollen Überweisungen und von
Patienten mit mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung
Tabelle 14 zeigt den Vergleich der beiden Gruppen in Bezug auf den soziodemographischen Hintergrund und die vom Hausarzt dokumentierte Dauerdiagnosenzahl. Patienten, die mindestens eine nicht sinnvolle Überweisung erhielten, hatten häufiger
Abitur oder Fachabitur als Patienten mit sinnvollen Überweisungen (44 % vs. 31 %). In
Bezug auf Alter, Geschlecht, Familienstand, Studium, Erwerbstätigkeitsstatus und
Dauerdiagnosenzahl zeigten sich keine weiteren signifikanten Unterschiede.
44
Tabelle 14: Soziodemographischer Hintergrund und Anzahl der vom Hausarzt
dokumentierten Dauerdiagnosen pro Patient
Patienten mit mind. einer
nicht sinnvollen Ü. (N=72)
N (%)
n (%)
Alter in Jahren; mw (sd)
72 (100)
Weiblich
+
Patienten mit sinnvollen
Überweisungen (N=414)
p-Wert
+
N (%)
n (%)
50,6 (18,2)
414 (100)
51,2 (16,9)
0,756
72 (100)
49 (68)
414 (100)
260 (63)
0,428
Verheiratet oder fester Partner
72 (100)
56 (78)
406 (98)
297 (73)
0,469
Fachabitur oder Abitur
71 (99)
31 (44)
406 (98)
124 (31)
0,039
Fach- oder Hochschulstudium
71 (99)
20 (28)
403 (97)
97 (24)
0,458
In Erwerbstätigkeit
72 (100)
41 (57)
405 (98)
216 (53)
0,609
Anzahl Dauerdiagnosen; mw (sd)
71 (99)
4,1 (3,7)
413 (99)
4,5 (4,0)
0,511
Fragen zur Person:
Testverfahren: t-Test (Alter), Exakter Test nach Fisher (Geschlecht), Chi-Quadrat-Test (Fragen zur Person), Wilcoxon-Mann-Whitney-Test (Dauerdiagnosen)
p-Wert bezogen n (%) bzw. mw (sd)
+ wenn nicht anders angegeben
Abkürzungen: mind. – mindestens, mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung), n (%) – Anzahl von Patienten
mit soziodemographischem Kriterium (Anteil an Gesamtzahl), N (%) – Anzahl auswertbarer Fragebögen (Anteil
an Gesamtzahl), Ü. – Überweisung
3.2.2 Psychische Komorbidität
In Tabelle 15 ist der Vergleich der beiden Gruppen in Bezug auf die Summenwerte der
in der Studie eingesetzten PHQ-D-Module dargestellt. Patienten, die mindestens eine
nicht sinnvolle Überweisung erhielten, wiesen eine leicht höhere Ängstlichkeit auf als
Patienten mit sinnvollen Überweisungen (Mittelwert 5,2 vs. 4,4). Hinsichtlich Depressivität, Panik und Somatisierung ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den zwei Kollektiven.
45
Tabelle 15: Summenwerte der PHQ-D-Module Depression, Panik, Andere
Angststörungen und Somatoforme Syndrome
Patienten mit mind. einer nicht
sinnvollen Überweisung (N=72)
Patienten mit sinnvollen
Überweisungen (N=414)
N (%)
mw (sd)
N (%)
mw (sd)
Depressivität
70 (97)
5,4 (4,3)
398 (96)
5,2 (4,9)
0,338
Panik
71 (99)
1,3 (3,7)
403 (97)
1,3 (3,5)
0,721
Ängstlichkeit
70 (97)
5,2 (3,4)
401 (97)
4,4 (3,5)
0,043
Somatisierung
69 (96)
7,8 (4,5)
392 (95)
7,2 (4,9)
0,240
p-Wert
Testverfahren: Wilcoxon-Mann-Whitney-Test
p-Wert bezogen auf mw (sd)
Abkürzungen: mind. – mindestens, mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung), N (%) – Anzahl auswertbarer
Fragebögen (Anteil an Gesamtzahl), PHQ-D – Gesundheitsfragebogen für Patienten
Tabelle 16 zeigt die Ergebnisse des nur in der Überweisungsstudie eingesetzten GAD7-Fragebogens. Die kategoriale Analyse ergab für die Gruppe mit mindestens einer
nicht sinnvollen Überweisung häufiger die Schweregrade geringe (34 % vs. 23 %) und
mittelgradige Ängstlichkeit (13 % vs. 5 %). In diesem Kollektiv bestand im Vergleich zu
den Patienten mit sinnvollen Überweisungen aber seltener eine minimale Ängstlichkeit
(47 % vs. 65 %). Das Signifikanzniveau erreichten diese dargestellten Unterschiede
jedoch nicht.
Tabelle 16: Ängstlichkeits-Schweregrade gemäß dem Generalized Anxiety Disorder-7Fragebogen (GAD-7)
Patienten mit mind. einer
nicht sinnvollen Ü. (N=49)
Patienten mit sinnvollen
Überweisungen (N=232)
N (%)
N (%)
Minimal
Gering
Mittelgradig
n (%)
22 (47)
47 (96)
Schwer
p-Wert
n (%)
149 (65)
16 (34)
228 (98)
6 (13)
3 (6)
52 (23)
12 (5)
0,058
15 (7)
Testverfahren: Chi-Quadrat-Test
p-Wert bezogen auf n (%)
Abkürzungen: mind. – mindestens, n (%) – Anzahl von Patienten mit Ängstlichkeitsschweregrad (Anteil an
Gesamtzahl), N (%) – Anzahl auswertbarer Fragebögen (Anteil an Gesamtzahl), Ü. – Überweisung
46
3.2.3 Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen
Der Vergleich der zwei Patientenkollektive in Bezug auf das Inanspruchnahmeverhalten ist in Tabelle 17 abgebildet. In der Gruppe mit mindestens einer nicht sinnvollen
Überweisung war die jährliche Überweisungszahl höher als bei Patienten mit sinnvollen Überweisungen (Mittelwert 7,7 vs. 5,7). In Bezug auf die hausärztlichen Praxiskontakte und die Arbeitsunfähigkeitstage der letzten zwölf Monate ergaben sich keine weiteren signifikanten Unterschiede.
Tabelle 17: Inanspruchnahmeverhalten während der letzten zwölf Monate
Patienten mit mind.
einer nicht sinnvollen
Überweisung (N=72)
Patienten mit
sinnvollen Überweisungen (N=414)
N (%)
mw (sd)
N (%)
mw (sd)
Anzahl Überweisungen
72 (100)
7,7 (5,5)
414 (100)
5,7 (3,9)
0,013
Hausärztliche Praxiskontaktzahl
72 (100)
13,0 (9,6)
414 (100)
13,9 (11,0)
0,670
Anzahl Arbeitsunfähigkeitstage
70 (97)
4,3 (7,7)
403 (97)
7,0 (22,5)
0,947
p-Wert
Testverfahren: Wilcoxon-Mann-Whitney-Test
p-Wert bezogen auf mw (sd)
Abkürzungen: mind. – mindestens, mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung), N (%) – Anzahl auswertbarer
Fragebögen (Anteil an Gesamtzahl)
3.2.4 Dysfunktionale Kognitionen
Der nur in der vorliegenden Überweisungsstudie verwendete Fragebogen zu Körper
und Gesundheit ist in fünf Skalen gegliedert, deren Auswertung in Tabelle 18 dargestellt ist. Der Vergleich der beiden Patientengruppen ergab keine signifikanten Unterschiede.
47
Tabelle 18: Summenwerte des Fragebogens zu Körper und Gesundheit (FKG)
Patienten mit mind.
einer nicht sinnvollen
Überweisung (N=49)
Patienten mit
sinnvollen Überweisungen (N=232)
N (%)
mw (sd)
N (%)
mw (sd)
Katastrophisierende Bewertung
48 (98)
13,6 (6,1)
230 (99)
14,6 (6,6)
0,345
Vegetative Missempfindungen
45 (92)
3,3 (2,2)
228 (98)
3,5 (2,5)
0,700
Körperliche Schwäche
48 (98)
5,2 (3,7)
227 (98)
5,9 (4,1)
0,275
Intoleranz
48 (98)
5,1 (2,4)
229 (99)
4,7 (2,2)
0,223
Gesundheitsverhalten
48 (98)
5,9 (1,8)
229 (99)
5,8 (1,8)
0,766
p-Wert
Testverfahren: t-Test
p-Wert bezogen auf mw (sd)
Abkürzungen: mind. – mindestens, mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung), N (%) – Anzahl auswertbarer
Fragebögen (Anteil an Gesamtzahl)
3.2.5 Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und Gesundheit
Tabelle 19 zeigt die Ergebnisse des nur in der vorliegenden Überweisungsstudie eingesetzten Fragebogens zur Erhebung von Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und
Gesundheit. Beide Kollektive unterschieden sich nur in Bezug auf die Fatalistische
Externalität voneinander. Hier erzielten Patienten mit sinnvollen Überweisungen im
Durchschnitt höhere Summenwerte als Patienten, die mindestens eine nicht sinnvolle
Überweisung erhielten (Mittelwert 15,9 vs. 13,3). Für die Dimensionen Internalität und
Soziale Externalität wurden hingegen keine signifikanten Unterschiede ermittelt.
Tabelle 19: Summenwerte des Fragebogens zur Erhebung von Kontrollüberzeugungen zu Krankheit und Gesundheit (KKG)
Patienten mit mind. einer
nicht sinnvollen Ü. (N=49)
Patienten mit sinnvollen
Überweisungen (N=232)
N (%)
mw (sd)
N (%)
mw (sd)
46 (94)
25,6 (6,7)
224 (97)
24,7 (6,3)
0,388
Fatalistische Externalität 44 (90)
13,3 (5,3)
221 (95)
15,9 (7,2)
0,019
Soziale Externalität
23,1 (7,1)
223 (96)
22,0 (5,7)
0,289
Internalität
45 (92)
p-Wert
Testverfahren: t-Test
p-Wert bezogen auf mw (sd)
Abkürzungen: mind. – mindestens, mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung), N (%) – Anzahl auswertbarer
Fragebögen (Anteil an Gesamtzahl), Ü. – Überweisung
48
3.3 Analyse der Überweisungsvorgänge
3.3.1 Dokumentation der Überweisungen
Im Rahmen der Überweisungstudie und der vorausgegangenen Erststudie wurden
insgesamt 632 Überweisungsvorgänge dokumentiert. Gemäß der Abbildung 5 wurden
412 Überweisungen am Tresen der Praxis und 220 Überweisungen im Rahmen der
Sprechstunde ausgegeben.
Überweisungsstudie
Erststudie
281 Patienten erhielten insgesamt:
1011 Patienten erhielten insgesamt:
371 Überweisungen am Tresen der Praxis
261 Überweisungen
26 dieser Patienten erhielten:
41 Überweisungen am Tresen der Praxis
307 Patienten erhielten zusammen:
985 dieser Patienten erhielten:
412 Überweisungen am Tresen der Praxis
220 Überweisungen in der Sprechstunde
Abbildung 5: Am Tresen und in der Sprechstunde ausgestellte Überweisungen
3.3.2 Fachgebiete und Anteil nicht sinnvoller Überweisungen
Vor Studienbeginn wurden die beteiligten Hausärzte gebeten, zwei Fragestellungen zu
beantworten. Die zwölf Ärzte sollten schätzen, wie viele Überweisungen im Quartal
am Tresen ausgegeben werden und welcher Anteil davon als nicht sinnvoll einzustufen ist. Tabelle 20 zeigt den genauen Wortlaut und die Ergebnisse dieser Befragung.
Um Anonymität zu gewährleisten, wurden die Namen der Hausärzte durch die Buchstaben A bis L ersetzt. Gemäß der Einschätzung der mitwirkenden Ärzte werden im
Mittel 50,7 Prozent der Überweisungen außerhalb der regulären Sprechstunde am
Tresen der Praxis ausgegeben. Des Weiteren seien durchschnittlich 38,2 Prozent der
Tresen-Überweisungen als nicht sinnvoll einzustufen.
49
Tabelle 20: Häufigkeit und Sinnhaftigkeit von Tresen-Überweisungen (beurteilt durch
die an der Studie mitwirkenden Hausärzte)
Arzt
A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L
min
max
mw (sd)
Frage 1*
50
33
50
50
60
25
70
75
60
40
55
40
25
75
50,7 (14,6)
Frage 2**
67
33
50
50
5
10
40
45
55
30
40
33
5
67
38,2 (17,7)
Werte sind %
Abkürzung: max – Maximum, min – Minimum, mw (sd) – Mittelwert (Standardabweichung)
* Frage 1: „Was schätzen Sie, wie viele der Überweisungen im Quartal werden außerhalb der regulären Sprechstunde am Tresen der Praxis ausgestellt (sogenannte Tresen-Überweisung)?“
** Frage 2: „Was denken Sie, wie viel Prozent dieser Tresen-Überweisungen sind als nicht sinnvoll einzustufen?“
Zusätzlich zu dieser allgemeinen Einschätzung wurden die Hausärzte im Laufe der
Erststudie und der Überweisungsstudie gebeten, jeden einzelnen dokumentierten
Überweisungsvorgang einzustufen. Insgesamt beurteilten die Ärzte 12,3 Prozent aller
Überweisungen als nicht sinnvoll. Gemäß der Tabelle 21 waren 13,6 Prozent der am
Tresen und 10,0 Prozent der in der Sprechstunde ausgegebenen Überweisungen
nicht sinnvoll, wobei dieser Unterschied keine statistische Signifikanz erreichte.
Die Überweisungsvorgänge richteten sich an insgesamt 36 verschiedene Fachrichtungen und Teilgebiete der Medizin. Diese wurden zur vereinfachten Auswertung zu
zwölf Fachdisziplinen zusammengefasst. Detaillierte Informationen diesbezüglich
können der Legende der Tabelle 21 entnommen werden. Die Aufschlüsselung nach
Fachrichtung ergab, dass Patienten aus der Sprechstunde am häufigsten Überweisungen in die Innere Medizin (15,5 %) erhielten, gefolgt von Überweisungen in die
Orthopädie (13,6 %), Gynäkologie (10,9 %) und Dermatologie (10,4 %). Im Vergleich
dazu richteten sich 17,8 Prozent der am Tresen ausgegebenen Überweisungen an die
Gynäkologie, 15,5 Prozent an die Innere Medizin, 14,6 Prozent an die Augenheilkunde
und 12,9 Prozent an die Dermatologie. Signifikante Unterschiede zwischen beiden
Kollektiven zeigten sich lediglich für die dermatologischen Überweisungen. So wurden
41,5 Prozent der am Tresen ausgestellten Überweisungen von den Hausärzten als
nicht sinnvoll eingestuft, im Vergleich zu 13,0 Prozent nicht sinnvoller DermatologieÜberweisungen, die Patienten aus der regulären Sprechstunde erhielten.
50
Tabelle 21: Fachgebiet und Anteil nicht sinnvoller Überweisungen
Überweisung
aus der
Sprechstunde
Davon
nicht
sinnvoll
TresenÜberweisung
Davon
nicht
sinnvoll
p-Wert
Gesamtzahl Überweisungen
220 (100,0)
22 (10,0)
412 (100,0)
56 (13,6)
0,206
Augenheilkunde
16 (7,2)
2 (12,5)
60 (14,6)
2 (3,3)
0,193
Chirurgie
13 (5,9)
1 (7,7)
9 (2,2)
0 (0,0)
1,000
Dermatologie
23 (10,4)
3 (13,0)
53 (12,9)
22 (41,5)
0,018
Gynäkologie
24 (10,9)
0 (0,0)
73 (17,8)
0 (0,0)
1,000
HNO
16 (7,2)
5 (31,3)
22 (5,4)
8 (36,4)
1,000
Innere Medizin
34 (15,5)
3 (8,8)
64 (15,5)
1 (1,6)
0,119
Neurologie
16 (7,3)
1 (5,9)
19 (4,6)
3 (16,7)
0,608
Nuklearmedizin/Radiologie
16 (7,2)
0 (0,0)
7 (1,7)
0 (0,0)
1,000
Orthopädie
30 (13,6)
4 (13,3)
50 (12,2)
16 (32,0)
0,069
Psychiatrie/Psychotherapie
15 (6,8)
0 (0,0)
32 (7,8)
2 (6,3)
1,000
Urologie
8 (3,6)
1 (12,5)
16 (3,9)
1 (6,3)
1,000
Sonstige
9 (4,1)
2 (22,2)
7 (1,7)
1 (14,3)
1,000
Testverfahren: Chi-Quadrat-Test
Werte sind n (%)
Zu diesen Fächern wurden folgende Teilgebiete zugeordnet:
- Chirurgie: Chirurgie, Gefäßchirurgie, Handchirurgie, Neurochirurgie, plastische Chirurgie, Transplantationschirurgie
- Innere Medizin: Angiologie, Diabetologie, Endokrinologie, Gastroenterologie, Innere Medizin, Kardiologie,
Nephrologie, Onkologie, Phlebologie, Pulmonologie, Rheumatologie, Toxikologie
- Sonstige: Allergologie, Allgemeinmedizin, D-Arzt, Proktologie, Schmerztherapie, physikalische Medizin,
Psychosomatik
3.3.3 Angaben zum Grund der Überweisung
Die Überweisungsstudie erfasste nicht nur die Fachrichtung, sondern auch die jeweils
auf dem Schein vermerkten Informationen zur Krankengeschichte des Patienten. Gemäß der Tabelle 22 wurde auf 21 Prozent der insgesamt 371 Tresen-Überweisungen
keine Angabe zum Grund der Überweisung notiert oder „auf Patientenwunsch“ vermerkt. Auch wenn auf den Überweisungen Angaben gemacht wurden, waren diese
zum Teil sehr unscharf formuliert, wie zum Beispiel der Vermerk „Ausschluss gynäkologische Erkrankung“ auf Überweisungen in die Gynäkologie. Beispiele für je exakte
oder vage Formulierungen finden sich in Tabelle 22. Die genannten Beispiele sind dabei wortwörtliche Transkriptionen des Textes der Überweisungsscheine.
51
Tabelle 22: Angaben zum Grund der Überweisung
Keine Angabe
oder „Auf
Patientenwunsch“
Formulierter
Auftrag
Beispiele für exakte
Formulierung
Beispiele für vage
Formulierung
Alle (n=371)
79 (21)
292 (79)
Augenheilkunde
(n=56)
11 (20)
45 (80)
-Netzhautablösung
-Nachsorge Grauer Star
-Rezidivierende Iritis
-Sehstörung
-Sehschwäche
Chirurgie
(n=8)
4 (50)
4 (50)
-Schwerste Coxarthrose
-Oberschenkelfraktur
-Leberzirrhose
Dermatologie
(n=50)
16 (32)
34 (68)
-Morbus Bowen
-Chronische Hautveränderung Knie
-Neurodermitis
-Ausschluss Hauterkrankung
-Hautveränderung
-Muttermal
12 (20)
49 (80)
-Kontrazeption
-Vorsorgeuntersuchung
-Z.n. Mamma-Karzinom
-Endometriose
-Ausschluss gynäkologische Erkrankung
-fachfremde gynäkologische Erkrankung
HNO
(n=19)
8 (42)
11 (58)
-Verdacht auf Otitis
-Zerumen
-Infekt
-Schwindel
Innere Medizin
(n=58)
7 (12)
51 (88)
-Verlaufskontrolle multifokal atriale Tachykardie
-Koloskopie bei massiven Stuhlveränderungen
-Myalgie
Neurologie
(n=17)
4 (24)
13 (76)
-Keilbeinmeningeom
-Epilepsie
-Multiple Sklerose
-Schlafstörung
Nuklearmedizin/
Radiologie
(n=7)
1 (14)
6 (86)
-Struma-Knoten: bitte
Schilddrüsen-Szinti
-Röntgen-Kontrolle Infiltrat bei Z.n. Pneumonie
Orthopädie
(n=47)
5 (11)
42 (89)
-Kreuzbandruptur
-Z.n. TEP Knie links
-Entzündung der
Achillessehne
-Kniebeschwerden
-Z.n. Operation
Psychiatrie/
Psychotherapie
(n=27)
7 (26)
20 (74)
-Depression
-Anpassungsstörung
-Angststörung
-Psychosomatik
-Gesprächstherapie
Urologie
(n=15)
4 (27)
11 (73)
-Prostata-Karzinom
-Blasen-Karzinom
-Nephrolithiasis
-Ausschluss
Prostataerkrankung
-Nachsorge
Sonstige (n=6)
0 (0)
6 (100)
Gynäkologie
(n=61)
Werte sind n(%)
Die Beispiele sind wortwörtliche Transkriptionen des auf dem Überweisungsschein vermerkten Textes.
Abkürzungen: Z.n. – Zustand nach
52
4
DISKUSSION
Im hausärztlichen Praxisalltag werden Überweisungen häufig ohne direkten Arztkontakt außerhalb der regulären Sprechstunde ausgestellt. Entgegen der ursprünglichen
Hypothese handelt es sich hierbei nicht um Patienten mit einer erhöhten psychischen
Komorbidität. Die Studie bestätigte den Zusammenhang von psychischen Störungen
mit einer verstärkten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Insgesamt wurde
etwa jeder zehnte dokumentierte Überweisungsvorgang von den beteiligten Hausärzten als nicht sinnvoll beurteilt. Bei einer von fünf Tresen-Überweisungen fehlte eine
Angabe zum Grund der Überweisung.
4.1 Diskussion der Methoden
4.1.1 Datenerhebung und Auswertung
In der Erststudie und der Überweisungsstudie wurde eine Gesamtzahl von 1292 Patienten untersucht. Diese hohe Patientenzahl gehört, wie auch die große Zahl teilnehmender Hausarztpraxen, zu den Stärken der vorliegenden Erhebung. Die Patientenrekrutierung der Erststudie erfolgte in 13 verschiedenen Praxen. Die nachfolgende
Überweisungsstudie wurde nur in zwölf dieser Praxen durchgeführt, da in einer Praxis
nicht alle geforderten Daten erhoben werden konnten. Demnach waren die Rekrutierungsorte beider Erhebungen nahezu identisch. Dies ist eine gute Voraussetzung, um
einer verzerrten Auswahl von Studienteilnehmern im Sinne eines Selektionsbias vorzubeugen.
Die beteiligten Praxen wurden mittels Faxaufruf rekrutiert. Zur Gewährleistung von
Repräsentativität wurden sowohl ländliche als auch städtische Praxen aus dem Lehrärzteregister des Instituts für Allgemeinmedizin der TU München ausgewählt. Dennoch ist denkbar, dass sich die im südlichen Bayern ermittelten Zusammenhänge in
anderen deutschen Bundesländern abweichend darstellen könnten. In der Vergangenheit wurden zahlreiche Studien zu den Unterschieden zwischen Patientengruppen
aus verschiedenen Regionen Deutschlands durchgeführt. Aus historischen Gründen
wurden dabei besonders häufig Kollektive aus den alten und neuen Bundesländern
miteinander verglichen. Die Ost- und Westdeutschen unterschieden sich unter anderem in Bezug auf die Prävalenz psychischer Erkrankungen, das Inanspruchnahmeverhalten und das Partizipationsbedürfnis voneinander. So leiden Personen aus den
53
neuen Bundesländern seltener an Depressionen, aber häufiger an somatoformen Störungen. Des Weiteren weisen sie eine etwas höhere Praxiskontaktzahl auf und präferieren weniger oft eine partizipative Entscheidungsfindung als das westdeutsche Vergleichskollektiv (Atzpodien 2009; Hamann 2012). Da die vorliegende Erhebung die
genannten Parameter untersucht, kann eine mögliche Abhängigkeit der ermittelten
Zusammenhänge von der Herkunft der Studienteilnehmer nicht ausgeschlossen werden. Folglich sollten die Ergebnisse durch weitere Untersuchungen von Patienten aus
anderen Regionen Deutschlands bestätigt werden.
Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse sicherzustellen, wurde bei der Planung von
der Erststudie und der Überweisungsstudie auf einen möglichst identischen Ablauf
geachtet. Da sich aber die Rekrutierung von Patienten mit Tresen-Überweisungen in
der Erststudie schwierig gestaltete, musste für die Überweisungsstudie ein geringfügig
abweichendes Durchführungskonzept entwickelt werden. Hier erhielten die Patienten
ein vorfrankiertes Kuvert mit dem Fragebogen, der zu Hause beantwortet und an das
Institut für Allgemeinmedizin gesendet werden konnte. Nach Eingang der Materialien
wurde eine Aufwandsentschädigung in Höhe von zehn Euro an das Konto des Studienteilnehmers überwiesen. Bei der zuvor durchgeführten Erststudie wurde der Fragebogen hingegen vor Ort in der Praxis ausgefüllt. Auf die Zahlung eines Probandenentgelts konnte hier verzichtet werden, da auch ohne finanziellen Anreiz eine ausreichende Zahl von Patienten zur Studienteilnahme bereit war.
Aus diesem Grund kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei der Überweisungsstudie eine verzerrte Auswahl von Patienten im Sinne eines Selektionsbias stattgefunden hat. Die gezahlten zehn Euro könnten insbesondere finanziell schwächer gestellte
Patienten zur Studienteilnahme motiviert haben. Bis heute existieren nur wenige Untersuchungen, die den Einfluss von Aufwandsentschädigungen auf die Stichprobenzusammensetzung evaluieren. Als Beispiel kann eine Fragebogenerhebung von über
3000 kanadischen Haushalten genannt werden. In dieser Studie erhielt die Fallgruppe
ein Probandenentgelt, während an die Kontrollgruppe kein Geld gezahlt wurde. Durch
die Aufwandsentschädigung wurde eine signifikante Steigerung der Rücklaufquote
erreicht. Die Analyse der soziodemographischen Merkmale zeigte, dass das Probandenentgelt nicht zur Selektion einer bestimmten Subgruppe geführt hatte. So wiesen
die rekrutierten Stichproben keine Unterschiede in Bezug auf das Geschlecht, das
Alter, den Bildungsstand oder das Einkommen auf (Warriner 1996). Gemäß einer systematischen Übersichtsarbeit konnte bisher noch nicht abschließend geklärt werden,
54
ob die Zahlung einer Aufwandsentschädigung das Auftreten von Selektionsbias begünstigt (Singer 2012). Vermutlich wurden die in Kapitel 4.2.1 diskutierten Ergebnisse
demnach nicht durch das eingesetzte Probandenentgelt, sondern durch tatsächliche
Unterschiede hervorgerufen. Folglich enthält das Kollektiv mit Tresen-Überweisungen
mehr Frauen und verheiratete oder in fester Partnerschaft lebende Personen als die
Patientengruppe der regulären Sprechstunde.
Die vorliegende Erhebung beurteilt das Inanspruchnahmeverhalten anhand der Arbeitsunfähigkeitsdauer, der Überweisungszahl und der Praxiskontaktrate. Vor allem
außerdeutsche Studien geben darüber hinaus häufig weitere Parameter für das
Inanspruchnahmeverhalten an, wie beispielsweise die Zahl der Krankenhaustage oder
Facharztbesuche (Barsky 2006; Ford 2004; Pinkhasov 2010; MacKay 2010). Während
in diesen Ländern zentrale Datenregister zu den gewünschten Informationen existieren, gestaltet sich die Forschungssituation in Deutschland weitaus komplizierter. Hier
findet weder eine strukturierte Informationserfassung, beispielsweise in Form der
elektronischen Gesundheitskarte statt, noch fließen alle medizinischen Daten beim
Hausarzt zusammen. Aus diesem Grund wurden in einigen deutschen Studien die
Patienten selbst um Angabe der Inanspruchnahmeparameter gebeten (Schmitz 2002;
Rattay 2013). Da die Datengewinnung der vorliegenden Erhebung jedoch möglichst
objektiv erfolgen sollte, wurden die untersuchten Werte aus den elektronischen Behandlungsunterlagen des Hausarztes entnommen.
Auf diese Weise konnten aber nicht alle gewünschten Parameter für das Inanspruchnahmeverhalten erhoben werden. Dazu gehören unter anderem die Krankenhaustage. Dieser Wert besitzt große Bedeutung, da die Krankenhauskosten in Deutschland
den größten Ausgabenblock der gesetzlichen Krankenkassen darstellen (Bundesministerium für Gesundheit 2012). Ein zweites Beispiel ist die Facharztkontaktrate. Eine
in den USA durchgeführte Erhebung zeigte, dass immerhin 80 Prozent der überwiesenen Patienten tatsächlich beim jeweiligen Facharzt vorstellig werden (Forrest 2007).
Demnach kann die in der vorliegenden Studie erhobene Überweisungszahl vermutlich
als grober Indikator für die Facharztkontaktzahl dienen, insbesondere da die Untersuchung noch zu Zeiten der Praxisgebühr mit der damit verbundenen höheren Überweisungsrate durchgeführt wurde. Nach Zahlung der zehn Euro konnten die Patienten
allerdings auch in dieser Zeit den gewünschten Arzt aufsuchen. Aus diesem Grund
dürfte die in der Studie ermittelte Überweisungszahl die tatsächliche Facharztbesuchsrate bei Weitem unterschätzen. Diese Überlegungen werden von einer Erhe55
bung aus Baden-Württemberg untermauert. Im Jahr 2012 suchten die bei der AOK
versicherten Patienten etwa vier Mal einen Spezialist mit einer hausärztlichen Überweisung auf. Hinzu kamen zwei weitere Facharztkontakte ohne vorherige Überweisung durch den Hausarzt (Gerlach 2014).
Die in der vorliegenden Erhebung analysierten Inanspruchnahmeparameter wurden
den elektronischen Behandlungsunterlagen des jeweiligen Patienten entnommen. Die
Recherche gestaltete sich anspruchsvoll, da in den teilnehmenden Praxen verschiedene Praxissoftwaresysteme verwendet werden. Ein Teil der Programme ermöglichte
die automatische Zählung der genannten Parameter. In anderen Praxen hingegen
mussten die Werte manuell ausgezählt werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass bei
dieser Vorgehensweise vereinzelte Fehler aufgetreten sind. Diese sind jedoch zufälliger Natur und können zu keiner systematischen Verzerrung der Ergebnisse geführt
haben.
Gemäß dem Kapitel 1.1.2 war die Thematik der Sinnhaftigkeit von Überweisungen
bisher nur selten Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Dafür gibt es vielfältige Gründe. Eine entscheidende Rolle spielt aber sicherlich, dass sich die Abgrenzung einer sinnvollen von einer nicht sinnvollen Überweisung schwierig gestaltet. Einige Studien zogen hierfür lokale Leitlinien als Referenz heran (Fertig 1993), andere
baten die jeweils behandelnden Ärzte um ihre Einschätzung (Schneider 2005). Weitere Erhebungen untersuchten, ob sich aus der Überweisung Konsequenzen für die Diagnostik und Therapie des Patienten ergaben (Rosemann 2006).
In der vorliegenden Untersuchung beurteilten die Hausärzte selbst die Sinnhaftigkeit
der ausgestellten Überweisungen. Diese Verfahrensweise muss fraglos als Limitation
dieser Erhebung gelten. So beruht diese Klassifikation lediglich auf der subjektiven
Einschätzung des Hausarztes. Ein Bias in Richtung sozialer Erwünschtheit könnte zu
einer Unterschätzung der Zusammenhänge zwischen nicht sinnvollen Überweisungen
und Parametern, wie der psychischen Komorbidität, geführt haben. Darüber hinaus
besaßen die aus dem Lehrärzteregister rekrutierten Hausärzte vermutlich ein besonders hohes Interesse an der Thematik. Der Vergleich zu Hausärzten ohne Lehrarzttätigkeit könnte Unterschiede in Bezug auf die Häufigkeit und Richtung von nicht sinnvollen Überweisungen aufzeigen. Des Weiteren ist fraglich, ob der Hausarzt im
Nachhinein immer in der Lage war, die Tresen-Überweisungen zutreffend zu klassifizieren. Bei am Tresen ausgestellten Überweisungen wird der Arzt nicht in jedem Fall
56
in den Entscheidungsprozess eingebunden und kann später nur vermuten, aus welchem Grund der Patient die Vorstellung bei einem anderen Facharzt für notwendig
erachtete.
Eine Studienkonzeption mit einer weniger störanfälligen Beurteilung gestaltet sich in
Deutschland aber schwierig. Mithilfe des Vergleichs zu lokalen Leitlinien hätte nur eine
geringe Zahl von Überweisungen beurteilt werden können, da im primärärztlichen Bereich bisher nur zu ausgewählten Erkrankungsbildern Handlungsempfehlungen existieren (Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e.V. 2014).
Auch die Überprüfung der diagnostischen und therapeutischen Konsequenzen einer
Überweisung ist in Deutschland nicht ohne Weiteres möglich. Trotz der Berichtspflicht
der Spezialisten wird dem Hausarzt nur bei einem Teil der Überweisungen ein Arztbrief zugestellt. Eine Untersuchung der Überweisungen in die Orthopädie ergab zum
Beispiel, dass der Hausarzt in nur etwa einem Drittel der Fälle einen Bericht des Kollegen erhielt (Chenot 2009). In Deutschland erschwert dieser ungenügende Informationsfluss die Erforschung der Patientenströme zwischen Hausarzt und Spezialist.
Gemäß dem Kapitel 1.3.2 üben die bei Patienten bestehenden Erkrankungen einen
wesentlichen Einfluss auf deren Inanspruchnahmeverhalten aus. Um diesen Zusammenhang zu erfassen, wurden die in den elektronischen Behandlungsunterlagen vermerkten Dauerdiagnosen erhoben (Definition siehe Kapitel 1.3.2, Seite 14). Diese sind
zur Abbildung der Morbidität der Patienten aber nur bedingt geeignet. Hausärzte können Dauerdiagnosen aus dem Vorquartal übernehmen, obwohl diese nicht mehr aktuell oder behandlungsbedürftig sind. Dies könnte einerseits zu einer Überschätzung der
Krankheitslast der Patienten geführt haben. Andererseits besteht das Risiko, die Morbidität zu unterschätzen, da der Hausarzt nicht immer über alle Erkrankungen des Patienten unterrichtet wird. Im Vergleich zu Ländern mit einem Primärarztsystem fließen
in Deutschland nicht alle Informationen beim Hausarzt zusammen. Patienten können
den Spezialist der Wahl aufsuchen (Linden 2004), ohne dass dem Hausarzt die Ergebnisse dieser Konsultation mitgeteilt werden. Wie bereits im vorausgegangenen
Abschnitt dargelegt, sind aber auch ausgestellte Überweisungen keine Garantie dafür,
dass Hausärzte über die Facharztbesuche ihrer Patienten informiert werden. Auch
kodieren die Hausärzte vermutlich nicht alle beim Patienten bestehenden Erkrankungen. In der ICD-10-GM gilt dies wohl besonders für die F-Diagnosen. Hierbei handelt
es sich um die Verschlüsselungen für psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen. Das Beschlussprotokoll des Deutschen Ärztetags aus dem Jahr 2005 forderte
57
die Ärzte auf, bei der Dokumentation dieser Diagnosen besondere Sorgfalt walten zu
lassen (Maas 2005).
In der vorliegenden Studie ergab der Vergleich der Dokumentationsleistung der einzelnen Hausärzte starke interindividuelle Unterschiede. Während einer der Ärzte auch
bestehende Fußanomalitäten erfasste, beschränkte sich ein anderer auf die Kodierung von schwerwiegenden Erkrankungen. Hieraus wird ein weiterer Nachteil der
Verwendung von Dauerdiagnosen ersichtlich. Der Schweregrad der einzelnen Diagnosen ist nicht miteinander vergleichbar. Die Ziffer C25.0 steht in der ICD-10-GM zum
Beispiel für eine bösartige Neubildung des Pankreaskopfs, E66.0 verschlüsselt hingegen eine Adipositas durch übermäßige Kalorienzufuhr (Graubner 2012). Um dieser
Varianz Rechnung zu tragen, wurden die einzelnen Dauerdiagnosen zu 27 Diagnosen, wie beispielsweise schwerer Herzerkrankung oder maligner Erkrankung, zugeordnet. Die auf diese Weise ermittelten Prävalenzraten lagen dabei in der gleichen
Größenordnung wie in anderen Erhebungen ermittelte Werte. In der vorliegenden Untersuchung litten zum Beispiel etwa 29 Prozent der Teilnehmer an einer arteriellen
Hypertonie, die DETECT-Studie ergab hingegen eine Prävalenz von 35,5 Prozent
(Targets and Essential Data for Commitment of Treatment) (Labeit 2012). Entsprechend der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ bestand bei 2,5 Prozent der Befragten eine rheumatoide Arthritis (Fuchs 2013), in der vorliegenden Untersuchung lag die Häufigkeit dieser Erkrankung zwischen 2,1 und 2,3 Prozent. Die
Bestimmung von Prävalenzraten war jedoch nicht Ziel dieser Erhebung. Vielmehr sollte die Verwendung von Dauerdiagnosen den Vergleich der Morbidität verschiedener
Patientenkollektive ermöglichen.
Das umfangreiche Datenmaterial wurde mit Hilfe einer Vielzahl von statistischen Tests
ausgewertet. Dieses multiple Testen birgt das Risiko einer Alphafehler-Kumulierung.
Signifikante Ergebnisse könnten, statt tatsächliche Unterschiede abzubilden, lediglich
durch Zufall entstanden sein. Da die verschiedenen Ergebnisse der vorliegenden Studie aber stets in dieselbe Richtung zeigten, ist eine hohe Aussagekraft dennoch gewährleistet.
Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit basieren auf der Analyse einer Stichprobe von
insgesamt 1292 Patienten. Weitere 484 Patienten wurden kontaktiert, die aber entweder von Beginn an eine Studienteilnahme ablehnten oder den ausgehändigten Fragebogen nicht an das Institut zurücksendeten. Folglich lag die Rücklaufquote bei 72,7
58
Prozent – ein Wert, der als gut bewertet werden kann (Evans 1991). In Bezug auf das
Geschlechterverhältnis unterschieden sich Responder und Non-Responder nicht voneinander. Die Analyse der Altersverteilung ergab jedoch für die Non-Responder ein im
Durchschnitt höheres Alter (55,7 vs. 49,8 Jahre). An der vorliegenden Erhebung hat
folglich eine größere Zahl von jüngeren Patienten teilgenommen. Dies könnte zu einer
Unterschätzung der Krankheitslast und Inanspruchnahmeparameter geführt haben, da
ein niedrigeres Alter mit einer geringeren Zahl von Erkrankungen, Arztbesuchen und
Überweisungen einhergeht (Rocca 2014; Laux 2008).
Da sich die Rekrutierung von Patienten mit Tresen-Überweisungen schwierig gestaltete, war die Response-Rate der Überweisungsstudie (47,5 %) weitaus geringer als die
der Erststudie (85,3 %). Um mehr Patienten zur Studienteilnahme zu motivieren, wurden in der Überweisungsstudie vorfrankierte Kuverts und eine Aufwandsentschädigung eingesetzt. Diese zwei Maßnahmen sind gemäß den Ergebnissen einer systematischen
Übersichtsarbeit
sehr
effektive
Strategien
zur
Steigerung
der
Rücklaufquote (Edwards 2002). Dennoch nahmen lediglich 47,5 Prozent der insgesamt kontaktierten Patienten an der Untersuchung teil. Zusätzlich zu Alter und Geschlecht wurde im Rahmen der Überweisungsstudie auch die jährliche Überweisungszahl von allen Patienten erhoben. Der Vergleich der Responder und Non-Responder
zeigte keine Unterschiede in Bezug auf diese Parameter auf. Da ein Bias durch die
Non-Responder (non-response bias) aber nicht abschließend ausgeschlossen werden
kann, muss die niedrige Rücklaufquote als Limitation der vorliegenden Erhebung gelten.
4.1.2 Verwendete Fragebögen
Der in der vorliegenden Studie verwendete Fragebogen enthielt vier Module des
Gesundheitsfragebogens für Patienten. Gemäß dem Kapitel 2.2.2 weist der auf
Selbsteinschätzung basierende PHQ-D gute diagnostische Testeigenschaften bei der
Detektion von psychischen Erkrankungen auf. Dennoch stellen die nach PHQ-D diagnostizierten Störungen keine Erkrankungen im Sinne der ICD-10-GM dar. Damit der
behandelnde Arzt beispielsweise die Diagnose einer depressiven Episode stellen
kann, muss er das Vorliegen definierter Haupt- und Nebensymptome überprüfen. Anschließend werden andere Ursachen, wie Demenzen oder Suchterkrankungen, ausgeschlossen. Es folgt die Abgrenzung der verschiedenen depressiven Störungen und
59
die Bestimmung des Schweregrads der Erkrankung (Härter 2010). Positive Ergebnisse im PHQ-D-Screening sind daher lediglich Hinweise für das Vorliegen einer Erkrankung und müssen durch Ärzte validiert werden. Eine ärztliche Überprüfung war in der
vorliegenden Erhebung aufgrund des hohen Mehraufwands aber nicht möglich. Aus
diesem Grund sollte die Interpretation der Ergebnisse zur psychischen Komorbidität
mit Vorsicht erfolgen.
Eine Limitation dieser Studie ist die mögliche Unterschätzung der Häufigkeit psychischer Erkrankungen. Gegebenenfalls haben Studienteilnehmer aus Angst vor dem
Missbrauch ihrer Daten einen Teil der Fragen, wie zum Beispiel zur Suizidalität, nicht
wahrheitsgemäß beantwortet. Zudem überprüfen die PHQ-D-Skalen nur die Symptome der letzten zwei bis vier Wochen. Aus diesem Grund könnten psychisch Kranke,
die sich zum Erhebungszeitpunkt in Remission oder unter erfolgreicher Therapie befanden, nicht die Diagnosekriterien des PHQ-D erfüllt haben. Ziel dieser Studie war
jedoch, wie im vorausgegangen Kapitel erwähnt, nicht die Bestimmung von Prävalenzraten, sondern der Vergleich der Komorbidität verschiedener Patientenkollektive.
In der Auswertung wurden deshalb nicht nur die
Häufigkeiten der nach
PHQ-D diagnostizierten Störungen, sondern auch die Ergebnisse der metrischen Analyse angegeben. Diese Durchschnittswerte sind geeignet, um Gruppenunterschiede
abzubilden.
Patienten können in unterschiedlichem Ausmaß in den medizinischen Entscheidungsprozess einbezogen werden. Je nachdem welche Position Arzt und Patient im Gespräch einnehmen, werden die verschiedenen Vorgehensweisen in der Fachliteratur
als autonom, partnerschaftlich oder paternalistisch beschrieben. In der vorliegenden
Studie wurde das Partizipations- und Informationsbedürfnis der Patienten mithilfe des
Autonomie-Präferenz-Index beurteilt. Dieser Fragebogen besitzt unter anderem eine
gute Retest-Reliabilität und interne Konsistenz (Details siehe Kapitel 2.2.3). Gleichzeitig weisen aber die Items der Informationspräferenz-Skala wenig Varianz und sehr
starke Deckeneffekte auf (Giersdorf 2004). Verschiedene Forschungsprojekte widmeten sich deshalb der Aufgabe den API weiterzuentwickeln, mit dem Ziel die Testgütekriterien zu verbessern. Bei der Durchführung der vorliegenden Studie standen diese
neu entwickelten Instrumente, darunter die CDMS-Skala (Clinical Decision Making
Style), aber noch nicht zur Verfügung (Puschner 2013). Ohnehin ist eine Fragebogenerhebung nur bedingt dazu geeignet, den Patienten die gewünschte Interaktionsweise
präzise zuzuordnen. So ist die Kommunikation zwischen Arzt und Patient ein höchst
60
komplexer Prozess, der durch kulturelle, krankheits- und persönlichkeitsbezogene
Faktoren beeinflusst wird. Eine Erhöhung der Aussagekraft der Messung ist aber möglich, indem die subjektive Einschätzung des Patienten durch eine Fremdbeurteilung
ergänzt wird (Giersdorf 2004). In der vorliegenden Studie wurde die Partizipationspräferenz der Patienten aus diesem Grund nicht nur mithilfe des API, sondern ebenfalls
durch die beteiligten Hausärzte eingestuft.
Dysfunktionale Kognitionen sollen bei der Entwicklung einer somatoformen Störung
von Bedeutung sein. Der in der vorliegenden Erhebung verwendete Fragebogen zu
Körper und Gesundheit weist bei der Erfassung dieser Gedankenmuster eine gute
diagnostische Leistung auf (Details siehe Kapitel 2.2.4). Der FKG überprüft fünf verschiedene Dimensionen und hat daher eine höhere Aussagekraft als andere in diesem
Bereich verwendete Instrumente. Mithilfe der 31 Items ist eine differenzierte Beurteilung der Gedankenmuster von Patienten möglich. Es gilt jedoch zu bedenken, dass
bis heute nicht abschließend geklärt ist, auf welche Weise dysfunktionalen Kognitionen entstehen und in welchem Ausmaß sie zur Entwicklung und Aufrechterhaltung
einer somatoformen Störung beitragen (Hiller 1997).
Individuelle Kontrollüberzeugen zu Krankheit und Gesundheit beeinflussen die Entwicklung von psychischen Störungen. Der in der vorliegenden Erhebung verwendete
KKG erfasst diese individuellen Vorstellungen und überprüft die drei Dimensionen
Internalität, fatalistische und soziale Externalität (Definitionen siehe Kapitel 1.3.2, Seite 16). Gemäß dem Kapitel 2.2.5 weist der Fragebogen eine mittlere Reliabilität und
Validität auf (Lohaus 1989). Gleichwohl werden der KKG und englischsprachige Versionen weltweit zur Erforschung vielfältiger Themengebiete eingesetzt (Schneider
2006; Berglund 2014; Konkolÿ Thege 2014; Härkäpää 1991). In jüngster Vergangenheit ergaben Studien eine mögliche Überlegenheit vierdimensionaler Konzepte gegenüber der zuvor favorisierten dreifaktoriellen Lösung. Demnach kann die soziale
Externalität weiter in „Doctors“ und „Other people“ unterteilt werden, je nachdem ob
Patienten glauben, dass Ärzte oder nahestehende Personen das Auftreten von Lebensereignissen beeinflussen (Wallston 1994; Otto 2011).
61
4.2 Diskussion der Ergebnisse
4.2.1 Vergleich von Patienten aus der regulären Sprechstunde mit
Patienten, die Überweisungen am Tresen erhalten
Patienten mit Tresen-Überweisungen werden in der vorliegenden Studie mit Patienten
aus der regulären Sprechstunde verglichen. In Bezug auf die psychische Komorbidität
zeigten sich keine relevanten Gruppenunterschiede. Der Vergleich der Dauerdiagnosen ergab für Patienten mit Tresen-Überweisungen mehr chronisch internistische und
maligne Erkrankungen, während bei Patienten aus der regulären Sprechstunde häufiger Suchterkrankungen vorlagen. Insgesamt nahmen die Patienten eine hohe Zahl
von Überweisungen in Anspruch und suchten häufig die hausärztliche Praxis auf. Patienten mit Tresen-Überweisungen verlangten dabei erheblich mehr Überweisungen,
suchten aber die Praxis seltener auf, als Patienten aus der regulären Sprechstunde.
Psychische Erkrankungen waren deutlich mit einer erhöhten Inanspruchnahme von
Gesundheitsleistungen assoziiert. Patienten mit Tresen-Überweisungen hatten ein
höheres Informationsbedürfnis als Patienten der regulären Sprechstunde. Während
die Auswertung der Partizipationspräferenz nach Selbsteinschätzung der Patienten
keinen Unterschied ergab, zeigte die hausärztliche Beurteilung dieses Parameters
bedeutende Gruppendifferenzen auf.
4.2.1.1 Beschreibung der Stichprobe
Obwohl das Ausstellen von Tresen-Überweisungen kein seltenes Ereignis im Praxisalltag ist, wurde diese Thematik bisher noch nie in Studien aus Deutschland behandelt. Die Frage, welche Patientencharakteristika mit der verstärkten Inanspruchnahme
dieser Überweisungen einhergehen, konnte also bisher nicht beantwortet werden. Die
vorliegende Untersuchung ergab, dass insbesondere verheiratete oder in fester Partnerschaft lebende Personen Tresen-Überweisungen erhielten. Verschiedene Studien
bestätigten den lebensverlängernden Effekt der Ehe (Brockmann 2002). Zur Frage,
wie aber der Familienstand das Überweisungsverhalten beeinflusst, können nur Vermutungen angestellt werden. In der Literatur findet sich eine Erhebung, die die Facharztbesuchsrate von Personen unterschiedlicher Familiensituationen vergleicht. Während Verheiratete den Facharzt etwas öfter mit Überweisung durch den Hausarzt
aufsuchten, wurden Alleinstehende häufiger ohne Überweisung vorstellig (Lüngen
62
2012). Die in der vorliegenden Studie für Verheiratete ermittelte höhere Zahl von Tresen-Überweisungen könnte folglich ein Resultat dessen sein, dass Verheiratete generell mehr Überweisungen in Anspruch nehmen.
Das Überweisungsverhalten der Patienten wurde aber nicht nur durch den Familienstand, sondern auch durch das Geschlecht beeinflusst. So lag der Frauenanteil in der
Patientengruppe mit Tresen-Überweisungen bei 66 Prozent, im Kollektiv aus der
Sprechstunde hingegen nur bei 58 Prozent. Die Ursachenfindung für diesen zweiten
Unterschied gestaltet sich aber im Vergleich einfacher. Die Auswertung der einzelnen
Fachdisziplinen ergab, dass 17,8 Prozent der am Tresen und 10,9 Prozent der in der
Sprechstunde ausgestellten Überweisungen an die Gynäkologie gerichtet waren.
Folglich nahmen weibliche Patienten einen großen Anteil der Tresen-Überweisungen
in Anspruch. Die vor allem an Männer ausgestellten Tresen-Überweisungen in die
Urologie beliefen sich im Vergleich auf lediglich 3,9 Prozent und diese wurden fast
ebenso häufig im Rahmen der Sprechstunde ausgegeben (3,6 %). Darüber hinaus
scheinen Frauen hohen Wert auf eine selbstbestimmte Arztwahl zu legen. Eine israelische Studie untersuchte die Merkmale von Patienten, die sich für ein „Gatekeeper“Modell anstelle eines freien Zugangs zum Arzt entscheiden. Den Ergebnissen zufolge
wollten Frauen öfter selbst entscheiden, ob eine Vorstellung bei einem anderen Facharzt notwendig ist. Männer hingegen favorisierten eine Steuerung durch den behandelnden Arzt (Gross 2000). Es ist fraglich, ob diese Ergebnisse auf die deutsche Versorgungslandschaft übertragen werden können. Unbestreitbar sollten sich zukünftige
Studien der Frage widmen, welche Beweggründe und Charakteristika mit der vermehrten Inanspruchnahme von Tresen-Überweisungen einhergehen.
4.2.1.2 Psychische Komorbidität
Im Einklang mit anderen Studien bestätigte auch die vorliegende Erhebung die weite
Verbreitung von psychischen Erkrankungen (Wittchen 2011; Jacobi 2014; Hanel 2009;
Mergl 2007). Entgegen der ursprünglichen Hypothese konnte jedoch nicht gezeigt
werden, dass Patienten mit Tresen-Überweisungen eine höhere psychische Komorbidität aufweisen als Patienten aus der regulären Sprechstunde. Lediglich die metrische
Analyse des PHQ-D-Depressionsmoduls ergab einen geringen Unterschied zwischen
beiden Kollektiven. Demnach waren Patienten, die Überweisungen außerhalb der
Sprechstunde ohne direkten Arztkontakt erhielten, um 0,5 Punktwerte weniger de-
63
pressiv als das Vergleichskollektiv. Auf einer Skala von 0 bis 27 kann diese Differenz
jedoch nicht als bedeutungsvoll eingestuft werden. So liegt der für das Depressionsmodul ermittelte klinisch relevante Mindestunterschied bei fünf Punkten. Erst wenn
diese Punktzahl in der Verlaufsbeobachtung überschritten wird, kann von einer tatsächlichen Verbesserung des psychischen Zustands ausgegangen werden (Löwe
2004b).
Der Hausarzt sollte jedoch all jene Patienten identifizieren, die ohne erklärende Diagnose sehr viele Überweisungen einfordern. Die Regressionsanalyse der vorliegenden
Untersuchung zeigte einen deutlichen Zusammenhang von psychischen Erkrankungen mit einer hohen Überweisungszahl. Diese Assoziation war für bestehende Angstund Panikstörungen am stärksten ausgeprägt. Die entsprechenden PHQ-D-Module
fragen unter anderem nach anfallsartigem Herzrasen, Erstickungsgefühlen oder
Ohnmachtsattacken (Löwe 2002) und legen nahe, es könne sich hierbei um Patienten
mit einer hohen Gesundheitsangst handeln. Derartige Ängste können zu einer verstärkten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und einem „Doctor-Hopping“
führen (Barsky 2001). Wird ein Patient in dieser Hinsicht auffällig, muss der Arzt diese
Problematik im Gespräch thematisieren. Nur so kann der Patient vor Überdiagnostik
geschützt werden, die gemäß dem Kapitel 1.2.2 ein großes Verletzungspotenzial birgt
(Fink 1992; Kouyanou 1997). Die Versorgungssteuerung unter Berücksichtigung der
genannten Aspekte gestaltet sich jedoch seit der Abschaffung der Praxisgebühr im
Januar 2013 noch schwieriger. Patienten können nun wieder ohne zusätzliche Gebühr
direkt beim Spezialist vorstellig werden und forderten in der Folge deutlich weniger
Überweisungen vom Hausarzt an (Ollenschläger 2013). Momentan ermöglicht allein
das Hausarztmodell eine gewisse Patientensteuerung. Der Nutzen dieser Versorgungsform sollte aber noch endgültig durch weitere Begleitforschung bestätigt werden.
Zur Einschätzung der Krankheitslast wurden, neben dem auf Selbsteinschätzung basierenden PHQ-D, ebenfalls die vom Hausarzt attestierten Dauerdiagnosen herangezogen. Auch hier zeigte der Vergleich psychischer Erkrankungen keine Differenzen
zwischen beiden Kollektiven auf. Einzig bei den Suchterkrankungen bestand ein Unterschied. Während 6,5 Prozent der Patienten aus der Sprechstunde an einer Suchtkrankheit litten, waren beim Vergleichskollektiv mit Tresen-Überweisungen lediglich
1,3 Prozent der Studienteilnehmer betroffen. Eine Erklärung für diesen Unterschied
findet sich bei Betrachtung der Qualifikationen der an dieser Studie beteiligten Lehr64
ärzte. Einer der Ärzte behandelt aufgrund seiner Zusatzbezeichnung „Suchtmedizinische Grundversorgung“ einen großen Anteil suchtkranker Patienten. Viele seiner Patienten nehmen an einer Substitutionstherapie teil. Um den Heroin-Ersatzstoff zu erhalten, müssen diese Patienten regelmäßig beim Arzt für Gespräche und Kontrollen
vorstellig werden. Deshalb weisen sie eine im Durchschnitt hohe Kontaktrate auf (Tretter 2010). Werden Überweisungen benötigt, können diese im Rahmen einer der vielen
Sprechstundentermine angefordert werden. In der vorliegenden Studie finden sich aus
diesem Grund in der Patientengruppe der regulären Sprechstunde mehr Suchtkranke
als im Kollektiv mit Tresen-Überweisungen.
4.2.1.3 Somatische Morbidität
Wie auch andere Studien bestätigte die vorliegende Erhebung eine insgesamt hohe
Prävalenz chronischer Erkrankungen (Beyer 2007; Violan 2014). Im Durchschnitt waren bei jedem Studienteilnehmer etwa 4,5 verschiedene Dauerdiagnosen in den elektronischen Behandlungsunterlagen des Hausarztes vermerkt. Gemäß dem Kapitel
1.3.2 sind chronische Erkrankungen mit einer verstärkten Inanspruchnahme von
Überweisungen assoziiert. Auch in dieser Erhebung wurde dieser Zusammenhang
bestätigt. Im Vergleich zum Kollektiv aus der Sprechstunde bestanden bei Patienten
mit Tresen-Überweisungen häufiger chronisch internistische (57,7 % vs. 46,3 %) und
fast doppelt so oft maligne Erkrankungen (13,4 % vs. 7,6 %). Patienten, die zum Beispiel an einem Diabetes mellitus oder kolorektalem Karzinom leiden, müssen regelmäßig bei anderen Fachärzten für Kontrolluntersuchungen vorstellig werden (AWMF
2010b; Leitlinienprogramm Onkologie 2014). Für diese Routine-Überweisungen ist
meist keine Konsultation des Hausarztes erforderlich. Vielmehr erscheint in diesem
Fall, auch vor dem Hintergrund eines effektiven Zeitmanagements, eine Ausstellung
von Tresen-Überweisungen sinnvoll.
4.2.1.4 Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen
In den Jahren 2008 bis 2011 untersuchte die „Studie zur Gesundheit Erwachsener in
Deutschland“ eine repräsentative Stichprobe von über 8000 Personen aus ganz
Deutschland. Eines der zahlreichen Module widmete sich der Inanspruchnahme von
Gesundheitsleistungen. Innerhalb von zwölf Monaten suchten die Befragten den
Hausarzt im Durchschnitt 3,2 Mal auf (Rattay 2013). Im Vergleich dazu ermittelte die
65
vorliegende Untersuchung deutlich höhere Kontaktzahlen zwischen 13,0 und 15,2 pro
Jahr. Diese Werte entstammten den elektronischen Behandlungsunterlagen der Patienten, während in der genannten bundesweiten Erhebung die Teilnehmer selbst die
Zahl der Arztbesuche bezifferten. Vermutlich erinnerten sich die Befragten nicht an
alle zurückliegenden Praxiskontakte und gaben daher zu geringe Zahlen an, sodass
die tatsächliche Inanspruchnahme unterschätzt wurde. Des Weiteren fragte die bundesweite Erhebung lediglich nach den persönlichen Kontakten zum Hausarzt im
Rahmen der Sprechstunde. In der vorliegenden Studie wurden hingegen auch Praxisbesuche ohne direkten Arztkontakt, wie zum Beispiel für eine Blutentnahme oder zur
Abholung einer Überweisung, gezählt.
Die in der vorliegenden Erhebung ermittelte außerordentlich hohe Zahl von Kontakten
zum Hausarzt wurde auch in anderen Studien bestätigt und gilt als typisch für das
deutsche Gesundheitswesen (Maydell 2010; Riens 2012). Laut den Ergebnissen eines internationalen Vergleichs behandeln in Deutschland tätige Hausärzte pro Woche
mehr als doppelt so viele Patienten wie ihre Kollegen in Kanada, Frankreich, Schweden, Großbritannien oder den USA. Bei einem derart hohen Patientendurchsatz bleibt
nur wenig Zeit für den einzelnen Patienten. So ergab diese Erhebung für Deutschland
eine durchschnittliche Kontaktzeit von 9,1 Minuten, während Hausärzte in Schweden
pro Patient 28,8 Minuten aufwendeten. Die Autoren dieser Vergleichsstudie konnten
aufgrund der unzureichenden Studienlage keine klare Erklärung für die beschriebenen
dramatischen Unterschiede anführen (Koch 2011). Eine Rolle scheinen die spezifischen Abrechnungsmodalitäten in Deutschland mit einer quartalsbezogenen Vergütung pro Behandlungsfall zu spielen. Dieses Vergütungssystem belohnt Hausärzte,
die möglichst viele Patienten im Quartal behandeln. Die momentane Versorgungssituation stellt insbesondere für Patienten mit psychischen Erkrankungen ein Problem dar,
da auf deren Belange in der kurzen Zeit nicht immer in ausreichender Tiefe eingegangen werden kann.
Darüber hinaus zeigte sich in der vorliegenden Erhebung eine hohe Inanspruchnahme
von Überweisungen. Gemäß einer Erhebung aus den USA erfolgte in den letzten
zehn Jahren fast eine Verdoppelung der Überweisungszahlen. Als Erklärung führen
die Autoren neue Screening-Maßnahmen und Präventionsprogramme an, sowie auch
die immer komplexer werdende Medizin mit zunehmender Multimorbidität und Polypharmazie. Da der Hausarzt in der kurzen Kontaktzeit nicht in der Lage ist, alle Beratungsanlässe abzuklären, müsse er die Patienten vermehrt zu anderen Fachärzten
66
überweisen (Barnett 2012). In der vorliegenden Erhebung erhielten Patienten durchschnittlich 3,7 bis 6,6 Überweisungen pro Jahr. Dieses Ergebnis steht in Übereinstimmung mit den Erkenntnissen einer Studie aus Baden-Württemberg. Im Jahr 2012
suchten die bei der AOK versicherten Patienten etwa vier Mal einen Spezialist mit einer Überweisung durch den Hausarzt auf (Gerlach 2014).
Bedeutende Gruppenunterschiede ergab der Vergleich des Inanspruchnahmeverhaltens der zwei untersuchten Kollektive. Innerhalb eines Jahres forderten Patienten mit
Tresen-Überweisungen erheblich mehr Überweisungen an (Mittelwert 6,6 vs. 3,7),
konsultierten den Hausarzt aber seltener als das Kollektiv aus der Sprechstunde (Mittelwert 13,9 vs. 15,2). Die vorliegende Studie ergab für Patienten mit Tresen-Überweisungen eine stärker ausgeprägte somatische Morbidität als für Patienten der
Sprechstunde. Gemäß dem Kapitel 1.3.2 müssen Patienten mit chronischen Erkrankungen öfter bei Spezialisten vorstellig werden und weisen folglich eine höhere Überweisungsrate auf. Die etwas geringere Kontaktzahl zum Hausarzt war bei Patienten
mit Tresen-Überweisungen möglicherweise Resultat des häufigen Kontakts zum Spezialist, der vermutlich einen Teil der Beratungsanlässe abklären konnte.
Große Bedeutung kommt auch dem Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und der Arbeitsunfähigkeitsdauer zu. In der vorliegenden Erhebung waren
Angststörungen, Depressionen und somatoforme Störungen mit einer verlängerten
Krankschreibung assoziiert. Alle großen Krankenkassen verzeichneten während der
vergangenen zehn Jahre einen bedeutenden Anstieg der Ausfalltage aufgrund von
psychischen Erkrankungen (BundesPsychotherapeutenKammer 2012). Mittlerweile
belegen psychische Störungen in der Ursachenstatistik für Arbeitsunfähigkeit innerhalb aller Diagnosegruppen den dritten Platz (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2012). Eine Rolle spielen vermutlich sowohl der wachsende Kenntnisstand der
Ärzteschaft zu diesen Erkrankungen als auch die Weiterentwicklung moderner Diagnosesysteme mit einem differenzierten und erweiterten Erkrankungsspektrum. Dennoch sollte zukünftige Forschung klären, welche weiteren Faktoren für die Bedeutungszunahme psychischer Erkrankungen bedeutsam sind. Die Erkenntnisse können
bei der Optimierung von Therapiestrategien und der Entwicklung präventiver Maßnahmen Verwendung finden.
67
4.2.1.5 Partizipations- und Informationspäferenz
In der vorliegenden Studie ergaben Selbst- und Fremdbeurteilung der Partizipationspräferenz voneinander abweichende Ergebnisse. Nach Einschätzung der Hausärzte
präferierten weit mehr Patienten mit Tresen-Überweisungen eine autonome Vorgehensweise (41 % vs. 17 %), während Patienten der Sprechstunde öfter einen paternalistischen Interaktionsstil bevorzugten (18 % vs. 8 %). Die Auswertung des auf Selbsteinschätzung
basierenden
Autonomie-Präferenz-Index ergab
hingegen
keinen
Unterschied für die Partizipationspräferenz. Ursache dieser Diskrepanz könnte ein
sogenannter Recall-Bias sein (Coughlin 1990), da die Hausärzte dem Ausstellen von
Tresen-Überweisungen sehr ambivalent gegenüber stehen. Einerseits muss der
Hausarzt nicht zwingend für jede Routine-Überweisung konsultiert werden und der
Zeitdruck und das hohe Patientenaufkommen lassen auch keine genaue Prüfung jeder Überweisung zu. Andererseits drohen Patienten bei Restriktionen mit einem Arztwechsel oder suchen den Spezialist ohne Überweisung auf. Wird am Tresen die gewünschte Überweisung ausgestellt, kann dies beim Hausarzt eine ablehnende
Haltung provozieren, da die Ansprüche an die eigene Arbeit nicht erfüllt werden und
die Patienten sich einer effektiven Versorgungskoordination entziehen. Diese negativen Emotionen und Erfahrungen könnten in der vorliegenden Erhebung zu einer verzerrten Beurteilung der Partizipationspräferenz durch den Hausarzt geführt haben.
Im Vergleich zu dieser hausärztlichen Beurteilung ergab die Auswertung des API keinen Gruppenunterschied. Entgegen der ursprünglichen Hypothese wollten Patienten
mit Tresen-Überweisungen nicht stärker an medizinischen Entscheidungen beteiligt
werden als Patienten aus der Sprechstunde. Die Studienteilnehmer wiesen insgesamt
ein nur mittelgradiges Partizipationsbedürfnis auf. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen verschiedener Untersuchungen, in denen die Befragten – unabhängig von deren
Geschlecht, Kenntnisstand, Erkrankungsbild oder Alter – generell nur mittlere Punktwerte auf der Partizipationspräferenz-Skala erzielten (Sung 2010; Neame 2005;
Nease 1995).
Im Gegensatz dazu war das Informationsbedürfnis der Teilnehmer dieser Studien
weitaus stärker ausgeprägt. Die Patienten wollten in der Regel umfassend informiert
werden und tendierten so zu insgesamt hohen Werten (Sung 2010; Neame 2005;
Nease 1995). Die Auswertung der vorliegenden Erhebung detektierte aber dennoch
einen Unterschied zwischen beiden Kollektiven. Patienten mit Tresen-Überweisungen
68
wiesen ein noch höheres Informationsbedürfnis auf als Patienten aus der Sprechstunde (Mittelwert 93,2 vs. 91,4). Die entsprechenden Items des API fragen zum Beispiel
nach dem Wunsch, alle Nebenwirkungen eines Medikaments zu kennen, oder nach
dem Bedürfnis bei einer Erkrankung eine vollständige Erklärung der Vorgänge im Körper zu erhalten (Ende 1989). Wie auch bei den PHQ-D-Modulen zu Angst- und Panikstörungen könnte der besonders hohe Punktwert der Patienten mit TresenÜberweisungen folglich mit einer verstärkten Gesundheitsangst einhergehen. Diese
Patienten fordern möglicherweise Überweisungen außerhalb der Sprechstunde an,
um beim Spezialisten der Wahl scheinbar benötigte Informationen zu verschiedenen
bestehenden Symptomen einzufordern. Bei der Interpretation dieses Befunds gilt zu
beachten, dass ein Gruppenunterschied von 1,8 Punkten auf einer Skala von 0 bis
100 nicht zwingend mit einem klinischen Unterschied einhergehen muss.
4.2.2 Patienten mit sinnvollen Überweisungen im Vergleich zu Patienten
mit mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung
Die vorliegende Untersuchung vergleicht Patienten mit sinnvollen Überweisungen und
Patienten mit mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung am Erhebungstag. In
Bezug auf die psychische Komorbidität und das Vorliegen von dysfunktionalen Kognitionen bestand kein Unterschied zwischen beiden Kollektiven. Patienten mit nicht
sinnvollen Überweisungen nahmen eine größere Zahl von Überweisungen in Anspruch und erzielten einen niedrigeren Punktwert auf der Skala „Fatalistische Externalität“ des KKG als das Vergleichskollektiv.
Die an der Untersuchung beteiligten Hausärzte wurden gebeten, die Sinnhaftigkeit
jedes dokumentierten Überweisungsvorgangs zu beurteilen. So konnten die Patienten
zu zwei Gruppen zugeordnet werden, je nachdem ob diese am Erhebungstag ausschließlich sinnvolle oder mindestens eine nicht sinnvolle Überweisung erhalten hatten. Wie bereits in Kapitel 4.1.1 diskutiert, beruht diese Zuteilung allein auf den subjektiven Kriterien des Hausarztes und muss aus diesem Grund mit Vorsicht interpretiert werden. Der Vergleich des soziodemographischen Hintergrunds der so gebildeten
Kollektive zeigte lediglich für die Schulbildung einen Unterschied auf. Patienten mit
mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung hatten öfter Abitur oder Fachabitur als
die Vergleichsgruppe mit sinnvollen Überweisungen (44 % vs. 31 %). Wegen der unzureichenden Studienlage zur Thematik der Sinnhaftigkeit von Überweisungen kann
69
keine Erklärung für dieses Ergebnis angeführt werden. Die Relevanz dieses Befunds
erscheint aber ohnehin fraglich, da die zwei Patientengruppen sich nicht in Bezug auf
das Studium oder den Erwerbstätigkeitsstatus voneinander unterschieden.
Die Auswertung der in der Studie verwendeten PHQ-D-Module ergab lediglich für die
„Anderen Angststörungen“ einen geringgradigen Gruppenunterschied. Patienten mit
mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung besaßen eine etwas höhere Ängstlichkeit als das Vergleichskollektiv (Mittelwert 5,2 vs. 4,4). Diese geringe Differenz
kann aber, trotz statistischer Signifikanz, auf einer Skala von 0 bis 21 nicht als klinisch
relevant eingestuft werden. Des Weiteren ergab auch der GAD-7 keinen Unterschied
zwischen beiden Kollektiven, obwohl dieser Fragebogen als weiterentwickelte Version
über bessere Testeigenschaften verfügt. Entgegen der ursprünglichen Vermutung war
die psychische Komorbidität von Patienten mit mindestens einer nicht sinnvollen
Überweisung demnach nicht stärker ausgeprägt als von Patienten mit sinnvollen
Überweisungen.
Im Einklang mit den Hypothesen zeigte die Patientengruppe mit nicht sinnvollen
Überweisungen eine höhere Inanspruchnahme von Überweisungen als das Vergleichskollektiv (Mittelwert 7,7 vs. 5,7). Alle weiteren Überlegungen zum Inanspruchnahmeverhalten, wie auch zu dysfunktionalen Kognitionen und Kontrollüberzeugungen, wurden durch die Untersuchungsergebnisse widerlegt. Es bestand kein
Unterschied in Bezug auf die Arbeitsunfähigkeitsdauer, die Praxisbesuchsrate oder
das Vorliegen dysfunktionaler Kognitionen gemäß dem Fragebogen zu Körper und
Gesundheit. Die Auswertung der Kontrollüberzeugungen ergab bei der Dimension
„Fatalistische Externalität“ eine Differenz. Entgegen der ursprünglichen Vermutung
erzielten Patienten mit mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung einen im
Durchschnitt niedrigeren Punktwert (Mittelwert 13,3 vs. 15,9). Demnach waren Personen dieses Kollektivs weniger oft davon überzeugt, dass Lebensereignisse durch den
Zufall oder das Schicksal beeinflusst werden (Lohaus 1989). Aufgrund der unzureichenden Studienlage bleibt aber ungewiss, ob dieses Ergebnis für die hausärztliche
Tätigkeit von Relevanz ist.
Die Unterschiede zwischen Patienten mit mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung und Patienten mit sinnvollen Überweisungen waren folglich weniger stark ausgeprägt als angenommen. Es bleibt somit weitestgehend unklar, aus welchem Grund
nicht sinnvolle Überweisungen in Anspruch genommen werden. Bei der Klärung die70
ser Frage spielen möglicherweise systembedingte Faktoren eine bedeutendere Rolle
als patientenbezogene Parameter. Als Beispiel soll das Glaukom-Screening genannt
werden. In der S1-Leitlinie der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft wird die
regelmäßige Messung des Augeninnendrucks ab einem Alter von 40 Jahren als äußerst wichtig bewertet (AWMF 2000). Demgegenüber sprechen sich andere Fachgesellschaften und der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen vehement gegen diese Maßnahme ohne gesicherten Nutzennachweis aus (IGeL-Monitor 2012).
Auch an der Studie beteiligte Hausärzte beurteilten Überweisungen zum Augenarzt für
ein Glaukom-Screening als nicht sinnvoll. In diesem Fall leistet der Patient lediglich
den Anweisungen des Augenarztes Folge und trägt demnach keine Verantwortung für
diesen nicht sinnvollen Überweisungsvorgang. Eine der wenigen Studien, die sich
dieser Thematik widmeten, bestätigt die geschilderten Zusammenhänge. In dieser
Untersuchung wurde ein großer Teil der „avoidable referrals“ durch äußere Umstände,
wie eine fehlende Informationsweitergabe des Krankenhauses an den Hausarzt, verursacht (Elwyn 1994). Vor dem Hintergrund der begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems sollten nicht sinnvolle Überweisungen in Zukunft in weiterführender Forschung thematisiert werden.
4.2.3 Dokumentierte Überweisungsvorgänge
Nach Einschätzung der an der Untersuchung beteiligten Hausärzte wird etwa die Hälfte aller Überweisungen am Tresen der Praxis ausgegeben. Fast vier von zehn dieser
Tresen-Überweisungen seien dabei als nicht sinnvoll einzustufen. Die Beurteilung jedes einzelnen dokumentierten Überweisungsvorgangs im Studienverlauf ergab im
Vergleich einen geringeren Anteil nicht sinnvoller Überweisungen. Die Überweisungen, die im Rahmen der Sprechstunde ausgegeben wurden, unterschieden sich nicht
in Bezug auf die Sinnhaftigkeit von den Überweisungen, die am Tresen ausgestellt
wurden. Lediglich Tresen-Überweisungen in die Dermatologie wurden weitaus häufiger als nicht sinnvoll beurteilt. Beide Überweisungsgruppen richteten sich an unterschiedliche Fachdisziplinen. Regelmäßig fehlen auf den Überweisungsformularen Angaben zum Grund der Überweisung.
Gemäß der Vermutung der zwölf an der Untersuchung beteiligten Hausärzte werden
Überweisungen je etwa zur Hälfte in der Sprechstunde (49,3 %) und am Tresen der
Praxis (50,7 %) ausgegeben. Eine Überprüfung dieser Einschätzung ist nicht möglich,
71
da in Deutschland bislang keine systematischen Untersuchungen dieser Frage existieren. Nach der Schätzung der Hausärzte sind im Durchschnitt 38,2 Prozent der TresenÜberweisungen als nicht sinnvoll zu beurteilen, wobei die Antworten der einzelnen
Ärzte in diesem Punkt stark voneinander abwichen. Während ein Hausarzt nur eine
von 20 Tresen-Überweisungen als vermeidbar ansah, stufte ein anderer zwei von drei
dieser Überweisungen als nicht unbedingt erforderlich ein. Wie bereits in Kapitel 4.1.1
ausführlich dargelegt, ist die Abgrenzung einer sinnvollen von einer nicht sinnvollen
Überweisung eine komplexe Aufgabe. Einerseits unterschätzte vermutlich ein Teil der
Ärzte den Anteil nicht sinnvoller Überweisungen, da bei Beantwortung der Frage die
eigene Tätigkeit kritisch beleuchtet werden muss. Andererseits haben weitere Ärzte
womöglich zu hohe Prozentsätze angegeben. Gemäß dem Kapitel 1.1.2 stehen Ärzte
dem Ausstellen von Tresen-Überweisungen generell sehr ambivalent gegenüber. In
der Folge kann dieser Prozess mit negativen Emotionen verknüpft werden, sodass
dessen Sinnhaftigkeit stärker in Frage gestellt wird, als dies der Realität entspricht. Im
Einklang mit dieser Überlegung ergab die Beurteilung jedes einzelnen Überweisungsvorgangs im Studienverlauf einen Anteil von lediglich 13,6 Prozent nicht sinnvoller
Tresen-Überweisungen.
Entgegen der ursprünglichen Vermutung war die Sinnhaftigkeit von am Tresen und in
der Sprechstunde ausgestellten Überweisungen nicht unterschiedlich ausgeprägt.
Insgesamt betrug der Anteil nicht sinnvoller Überweisungen 12,3 Prozent und liegt
damit in der gleichen Größenordnung wie in anderen Studien ermittelte Werte. In
Großbritannien ergab der Vergleich zu lokalen Leitlinien einen Anteil von 15,9 Prozent
an „possibly inappropriate referrals“ (Fertig 1993). In einer Erhebung aus den USA
waren gemäß der Einschätzung der Hausärzte 17,4 Prozent der Überweisungen „not
indicated“ (Albertson 2000). In Deutschland bezifferten die Spezialisten neun Prozent
der an sie gerichteten Überweisungen als „inappropriate“ (Rosemann 2006). Demzufolge könnte etwa eine von zehn Überweisungen vermieden werden. Eine Reduktion
dieser Patientenströme würde zur Kosteneinsparung und effektiveren Verteilung der
begrenzten Gesundheitsressourcen führen. In Deutschland gestaltet sich eine Versorgungssteuerung unter Berücksichtigung dieser Aspekte jedoch zum aktuellen Zeitpunkt schwierig, da Patienten auch ohne Überweisung den Spezialist der Wahl aufsuchen können. Zukünftige Forschung sollte sich der Frage widmen, ob eine Stärkung
der Position des Hausarztes, zum Beispiel in Form der hausarztzentrierten Versorgung, zur verbesserten Patientensteuerung beiträgt.
72
Gemäß den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung spielt bei Beurteilung der
Sinnhaftigkeit einer Überweisung die jeweilige Fachrichtung eine entscheidende Rolle.
Während die Hausärzte zum Beispiel Überweisungen in die Gynäkologie oder Radiologie stets als sinnvoll bewerteten, zeigte sich bei den Fachdisziplinen HNO, Orthopädie und Dermatologie ein hoher Anteil vermeidbarer Überweisungen. Überweisungen
in die Dermatologie waren am Tresen weitaus häufiger nicht sinnvoll, als wenn diese
im Rahmen der Sprechstunde ausgestellt wurden (41,5 % vs. 13,0 %). Um nicht sinnvolle Überweisungsvorgänge zu identifizieren, sollten die Hausärzte Überweisungen
zu den genannten Fachdisziplinen einer genauen Prüfung unterziehen. Für die Thematisierung ist jedoch mehr Zeit für den einzelnen Patienten notwendig. Erfolgt auch
in Zukunft keine bessere Honorierung des Patientengesprächs (Rieser 2013), kann
diese Aufgabe im hausärztlichen Praxisalltag nur schwer umgesetzt werden.
Die meisten der in der Studie dokumentierten Tresen-Überweisungen richteten sich an
die Fächer Gynäkologie, Augenheilkunde, Innere Medizin, Dermatologie und Orthopädie. Gynäkologie-Überweisungen werden in Deutschland regelmäßig außerhalb der
Sprechstunde ausgestellt, da für typische Symptome oder die jährliche Vorsorgeuntersuchung meist keine hausärztliche Beratung vonnöten ist. Auch das Auge betreffende Beratungsanlässe werden hierzulande nur selten vom Hausarzt abgeklärt (Fink
2007). Aufgrund der fehlenden hausärztlichen Expertise auf diesem Gebiet fordern die
Patienten Augenheilkunde-Überweisungen meist ohne Rücksprache mit dem Arzt am
Tresen der Praxis an. Wenn Patienten mit chronischen Erkrankungen regelmäßig für
Kontrollen beim Spezialisten vorstellig werden, bedürfen auch nicht alle Überweisungen in die Innere Medizin der Konsultation des Hausarztes. Dies trifft zum Beispiel auf
Patienten mit einem Diabetes mellitus zu, die gemäß der Nationalen Versorgungsleitlinie einmal pro Jahr einen Augenarzt aufsuchen sollten (AWMF 2010b).
In Bezug auf die Fächer Dermatologie und Orthopädie zeigten auch andere Studien
einen hohen Prozentsatz von Überweisungen auf Patientenwunsch (Forrest 2001;
Hirsch 2012). In diesen Fällen könnten die Hausärzte vermutlich einen großen Anteil
der Beratungsanlässe selbst abklären. Eine Studie aus Deutschland untermauert diese Überlegungen. Hier wurde ein Drittel aller Orthopädie-Überweisungen wegen Rückenschmerzen ausgestellt (Chenot 2009), obwohl die Nationale Versorgungsleitlinie
nur wenige Situationen nennt, in denen eine Überweisung aufgrund von unkomplizierten Kreuzschmerzen indiziert ist (AWMF 2010a). Die Mehrzahl dieser Überweisungen
erfolgte dabei auf Wunsch des Patienten. Gründe waren zum Beispiel die Unzufrie73
denheit mit der bisherigen Behandlung oder die Hoffnung auf neue Therapiemöglichkeiten (Chenot 2009). Unbestreitbar wäre die Reduktion dieser Überweisungsströme
eine sinnvolle Maßnahme. Wie bereits ausführlich diskutiert, können die Hausärzte
Deutschlands jedoch zum aktuellen Zeitpunkt nur eingeschränkt als „Gatekeeper“
wirksam werden, da Patienten über einen freien Zugang zum Spezialist der Wahl verfügen.
Um die Behandlung der Patienten effektiv und sicher zu gestalten, sollte der Überweisungsschein detaillierte Angaben zur Krankengeschichte und Medikation des Patienten enthalten. Gemäß der Schlussfolgerung einer systematischen Übersichtsarbeit
findet in den USA in etwa der Hälfte der Überweisungen keine Kommunikation zwischen Hausarzt und fachärztlichem Kollegen statt (Mehrotra 2011). In einer deutschen
Erhebung erhielten die Spezialisten in nur 61 Prozent angemessene Informationen zur
Krankengeschichte des betreffenden Patienten (Rosemann 2006). Die Autoren einer
Studie gehen sogar soweit, ihrer Untersuchung folgenden Titel zu geben: „Communication breakdown in the outpatient referral process“ (Gandhi 2000, S. 626). Im Einklang mit den Hypothesen gestaltete sich der Informationsgehalt der Überweisungen
der vorliegenden Studie als unzureichend. Insgesamt wurde das Feld „Auftrag/Diagnose/Verdacht“ auf 21 Prozent der Tresen-Überweisungen leer gelassen oder lediglich
„auf Patientenwunsch“ notiert.
Auch wenn der Überweisungsschein Informationen zur Krankengeschichte des Patienten enthielt, wurden zum Teil nur vage Formulierungen verwendet. Beispiele sind
die Angaben „Ausschluss gynäkologische Erkrankung“ für den gynäkologischen
Facharzt, „Infekt“ für einen HNO-Arzt oder „Psychosomatik“ für den Psychiater. Es ist
fraglich, wie dem Spezialisten auf der Basis von unpräzisen Angaben eine effektive
und fehlerfreie Arbeitsweise möglich sein soll. Dies gilt insbesondere für Patienten, die
den betreffenden Facharzt zum ersten Mal aufsuchen oder dort aufgrund eines neu
aufgetretenen medizinischen Problems vorstellig werden. Bei anderen Patienten mögen hingegen kurze Vermerke ausreichend sein. So zum Beispiel beim Diabetiker, der
alljährlich den Augenarzt zur Kontrolluntersuchung aufsucht. Aber auch in diesem Fall
wären Angaben zur aktuellen Medikation, dem letzten HbA1c oder zusätzlichen Risikofaktoren wahrscheinlich sinnvoll. Vermutlich enthalten die in der Sprechstunde ausgestellten Überweisungen exaktere und ausführlichere Daten als am Tresen ausgestellte Überweisungen. Möglicherweise fehlt auch die Zeit für einen ausführlichen
Bericht zum Patienten. Zukünftige Forschung sollte diese Fragen klären. Als Limitation
74
der vorliegenden Arbeit muss fraglos gelten, dass die Doktorandin und der Dissertationsbetreuer selbst die Einstufung der Überweisungsscheine in exakt und vage formuliert vornahmen. In nachfolgenden Untersuchungen sollte diese Beurteilung durch
verschiedene Parteien, wie die Hausärzte und Spezialisten selbst, erfolgen.
Die Verbesserung der Informationsübermittlung zwischen Hausarzt und Spezialist ist
unbestreitbar eine wichtige Zukunftsaufgabe für das deutsche Gesundheitswesen.
Mögliche Verbesserungsvorschläge sind die Überarbeitung des Überweisungsformulars (Chenot 2009), die Möglichkeit den jeweiligen Spezialist per Telefon zu kontaktieren (Roland 1992) oder die Einrichtung gemeinsamer Sprechstunden von Hausärzten
und Spezialisten (Vlek 2003). Des Weiteren sollte die „Gatekeeper-Funktion“ des
Hausarztes fest im deutschen Gesundheitswesen verankert werden. In diesem Versorgungssystem würde der Hausarzt einen koordinierten und fachübergreifenden Behandlungsablauf sicherstellen (Zentner 2008). Die Patienten hätten einen festen Ansprechpartner für gesundheitliche Belange, bei dem auch alle medizinischen
Informationen zusammenfließen. Der Hausarzt wäre in der Lage „Doctor-Hopping“ zu
identifizieren (Reibling 2009) und könnte gemeinsam mit dem Patienten Lösungsstrategien erarbeiten.
4.3 Schlussfolgerungen und Ausblick
Die vorliegende Studie verfolgte drei Hauptanliegen. Zum einen wurde untersucht, ob
sich die Patientengruppe mit Tresen-Überweisungen von dem Kollektiv aus der regulären Sprechstunde unterscheidet. Des Weiteren wurde analysiert, welche Merkmale
Patienten aufweisen, die nicht sinnvolle Überweisungen in Anspruch nehmen. Und
drittens erfolgte eine Aufschlüsselung der Überweisungsvorgänge nach Notwendigkeit, Fachrichtung und Grund der Überweisung. Damit leistet die Arbeit einen Beitrag
zur Versorgungsforschung im deutschen Gesundheitssystem. Bisher wurden am Tresen ausgestellte sowie nicht sinnvolle Überweisungen nur selten in wissenschaftlicher
Forschung thematisiert.
Unbestreitbar sollten sich zukünftige Studien der Frage widmen, welche Beweggründe
und Charakteristika mit der vermehrten Inanspruchnahme von Tresen-Überweisungen
einhergehen. Die vorliegende Erhebung ergab einen Zusammenhang für chronische
Erkrankungen und ein erhöhtes Informationsbedürfnis des Patienten. Die Vermutung
zur erhöhten Prävalenz psychischer Erkrankungen in diesem Kollektiv konnte hinge75
gen nicht bestätigt werden. Dennoch sollte der Hausarzt all jene Patienten identifizieren, die ohne erklärende Diagnose sehr viele Überweisungen einfordern. So bestätigte die vorliegende Erhebung die Assoziation psychischer Erkrankungen mit einer erhöhten
Inanspruchnahme
von
Gesundheitsleistungen.
Insgesamt
wiesen
die
Patienten eine außerordentlich hohe Zahl von Kontakten zum Hausarzt auf und nahmen eine große Zahl von Überweisungen in Anspruch. Die Hausärzte Deutschlands
verfügen nur über wenig Zeit für den einzelnen Patienten. Diese Versorgungssituation
stellt insbesondere für Patienten mit psychischen Erkrankungen ein Problem dar, da
auf deren Belange in der kurzen Zeit nicht immer in ausreichender Tiefe eingegangen
werden kann.
Auch zur Thematisierung von nicht sinnvollen Überweisungsvorgängen benötigt der
Hausarzt mehr Zeit für den einzelnen Patienten. Unterschiede zwischen Patienten mit
sinnvollen und mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung waren weniger stark
ausgeprägt als angenommen. Es bleibt somit weitestgehend unklar, aus welchem
Grund diese Überweisungen in Anspruch genommen werden. Bei der Klärung dieser
Frage spielen möglicherweise systembedingte Faktoren eine bedeutendere Rolle als
patientenbezogene Parameter. Vor dem Hintergrund der begrenzten Ressourcen des
Gesundheitssystems sollten nicht sinnvolle Überweisungen in Zukunft in weiterführender Forschung thematisiert werden. Eine Versorgungssteuerung unter Berücksichtigung dieser Aspekte gestaltet sich zum aktuellen Zeitpunkt schwierig, da Patienten
auch ohne Überweisung beim Spezialist der Wahl vorstellig werden können.
Um die Behandlung der Patienten effektiv und sicher zu gestalten, sollte der Überweisungsschein detaillierte Angaben zur Krankengeschichte und Medikation des Patienten enthalten. Die in der vorliegenden Studie dokumentierten Tresen-Überweisungen
konnten diese Zielvorgabe jedoch nicht in jedem Fall erfüllen. Die Verbesserung der
Informationsübermittlung zwischen Hausarzt und Spezialist ist damit fraglos eine wichtige Zukunftsaufgabe für das deutsche Gesundheitswesen. Weitere Forschung sollte
sich der Frage widmen, ob eine Stärkung der Position des Hausarztes, zum Beispiel
in Form der hausarztzentrierten Versorgung, zur verbesserten Patientensteuerung
beiträgt.
76
5
ZUSAMMENFASSUNG
Im hausärztlichen Praxisalltag werden Überweisungen häufig ohne direkten Arztkontakt außerhalb der regulären Sprechstunde angefordert (Tresen-Überweisung). Hierbei könnte es sich um Patienten mit einer erhöhten psychischen Komorbidität handeln, da psychische Störungen gemäß der Fachliteratur mit einer verstärkten
Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen einhergehen. Das Ausstellen von Tresen-Überweisungen ist problematisch, da sich Patienten auf diese Weise der hausärztlichen Versorgungskoordination entziehen können. Vor dem Hintergrund der begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems sollten nicht-sinnvolle Überweisungsvorgänge reduziert werden. Der Überweisungsschein muss detaillierte Angaben zur
Krankengeschichte enthalten, um eine sichere und effektive Behandlung der Patienten zu gewährleisten.
In dieser Querschnittserhebung wurden Patienten mit Tresen-Überweisungen in zwölf
hausärztlichen Praxen im Raum München rekrutiert und mit den Patienten der regulären Sprechstunde verglichen. Mit Hilfe des Gesundheitsfragebogens für Patienten
wurden somatoforme Störungen, Depressionen, Angst- und Panikstörungen erfasst.
Die Parameter Arbeitsunfähigkeitsdauer, Überweisungszahl und Praxiskontakte während der vergangenen zwölf Monate dienten der Einschätzung des Inanspruchnahmeverhaltens. Die an der Studie beteiligten Hausärzte beurteilten die Sinnhaftigkeit jedes
erfassten Überweisungsvorgangs. Die psychische Komorbidität von Patienten mit
sinnvollen Überweisungen im Vergleich zu Patienten mit mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung wurde analysiert. Am Tresen und in der Sprechstunde ausgestellte Überweisungen wurden in Bezug auf die Sinnhaftigkeit und Fachrichtung miteinander verglichen. Bei Tresen-Überweisungen erfolgte die Dokumentation der auf dem
Formular vermerkten Angaben zum Grund der Überweisung.
Der Vergleich von 307 Patienten mit Tresen-Überweisungen und 985 Patienten der
regulären Sprechstunde ermittelte keine relevanten Unterschiede in Bezug auf die
psychische Komorbidität. Der Vergleich der Dauerdiagnosen ergab für Patienten mit
Tresen-Überweisungen mehr chronisch internistische (57,7% vs. 46,3%) und maligne
Erkrankungen (13,4% vs. 7,6%), während bei Patienten aus der regulären Sprechstunde häufiger Suchterkrankungen (1,3% vs. 6,5%) vorlagen. Patienten mit TresenÜberweisungen verlangten pro Jahr erheblich mehr Überweisungen (Mittelwert 6,6 vs.
3,7), suchten aber die Praxis seltener auf als das Vergleichskollektiv (Mittelwert 13,9
77
vs. 15,2). In der Regressionsanalyse waren psychische Erkrankungen deutlich mit
einer erhöhten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen assoziiert. Hohe Überweisungszahlen konnten durch Depressionen (Odds Ratio-OR 2,1), somatoforme Störungen (OR 2,2), Panik- (OR 5,9) und Angststörungen (OR 4,1) erklärt werden. Eine
lange Arbeitsunfähigkeitsdauer hing mit somatoformen Störungen (OR 2,2), Depressionen (OR 2,5) und Angststörungen (OR 4,2) zusammen. Für eine hohe Praxiskontaktrate fand sich ein Zusammenhang zu somatoformen Störungen (OR 2,4). Die zwei
Kollektive mit sinnvollen und mindestens einer nicht sinnvollen Überweisung zeigten
ebenfalls keine Unterschiede in Bezug auf die psychische Komorbidität. Die Hausärzte beurteilten 12,3 Prozent aller dokumentierten Überweisungsvorgänge als nicht
sinnvoll. Im Rahmen der Sprechstunde und am Tresen ausgestellte Überweisungen
unterschieden sich nicht in Bezug auf die Sinnhaftigkeit voneinander, richteten sich
aber je an unterschiedliche Fachdisziplinen. Bei 21 Prozent der Tresen-Überweisungen fehlte eine Angabe zum Grund der Überweisung.
Im Einklang mit den Ergebnissen anderer Studien bestätigte die vorliegende Erhebung den Zusammenhang von psychischen Störungen mit einer verstärkten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Der Hausarzt sollte aus diesem Grund all
jene Patienten identifizieren, die ohne erklärende Diagnose sehr viele Überweisungen
einfordern. Da bei Patienten mit Tresen-Überweisungen keine erhöhte psychische
Komorbidität besteht, ist es dabei nicht von Relevanz, ob die Überweisungen am Tresen oder in der Sprechstunde ausgestellt werden. Die Hausärzte Deutschlands können jedoch nur eingeschränkt als „Gatekeeper“ wirksam werden. So steht ihnen nur
wenig Zeit für den einzelnen Patienten zur Verfügung. Zudem können Patienten aufgrund des Rechts auf freie Arztwahl auch ohne Überweisung beim gewünschten Spezialist vorstellig werden. Diese Versorgungssituation erschwert die Identifikation, das
Besprechen und die Ausarbeitung von Lösungsansätzen für „Doctor-Hopping“. Es
bleibt weitestgehend unklar, aus welchem Grund nicht sinnvolle Überweisungen in
Anspruch genommen werden. Bei der Klärung dieser Frage spielen möglicherweise
systembedingte Faktoren eine bedeutendere Rolle als patientenbezogene Parameter.
Eine Reduktion dieser Patientenströme würde zur Kosteneinsparung und effektiveren
Verteilung der begrenzten Gesundheitsressourcen führen. Die Verbesserung der Informationsübermittlung zwischen Hausarzt und Spezialist ist eine wichtige Zukunftsaufgabe für das deutsche Gesundheitswesen.
78
6
ANHANG
6.1 Einverständniserklärung
79
80
81
6.2 Patientenfragebogen
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
6.3 Auszahlung von Probandenentgelt
92
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Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Berlin 18.12.2008.
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8
DANKSAGUNG
An erster Stelle bedanke ich mich herzlich bei meinem Doktorvater, Herrn Univ.-Prof.
Dr. Antonius Schneider, für die Überlassung des Themas und die zahlreichen Hilfestellungen bei der Erstellung der Arbeit.
Des Weiteren gilt mein besonderer Dank Herrn Prof. Dr. Klaus Linde für die engagierte Unterstützung bei der statistischen Auswertung. Zudem bedanke ich mich bei Dr.
Isabelle Schumann für die Betreuung der Rekrutierungsphase und bei Nicola Möll für
die Beantwortung aller organisatorischen Fragen.
Mein Dank gilt auch meinen Mitdoktorandinnen, Elisabeth Hörlein und Eva Wartner,
für die Bereitstellung ihrer Ergebnisse und für eine erste Einführung in die Auswertung
statistischer Daten.
Ich bedanke mich herzlich bei Sonja Störzbach, Silvia Ender und Silvia Hilbert für die
hilfreichen Anmerkungen und die Korrektur meiner Dissertation.
Abschließend gilt mein besonderer Dank den Patienten, Hausärzten und Praxismitarbeitern, die an der Studie mitwirkten und so deren Durchführung erst ermöglichten.
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9
LEBENSLAUF
ANGABEN ZUR PERSON
Name
Bernadett Maria Hilbert
Geburtsdaten
04.03.1988 in Dresden
Nationalität
Deutsch
DOKTORARBEIT
Seit 01/2011
Thema der Arbeit:
„Psychosomatische Aspekte an der Schnittstelle Hausarzt – Spezialist:
eine Überweisungsstudie“
09/2013
Publikation der Ergebnisse:
Schneider, A., Hilbert, B., Hörlein, E., Wagenpfeil, S., Linde, K.: „The
effect of mental comorbidity on service delivery planning in primary
care: an analysis with particular reference to patients who request
referral without prior assessment“, in: Dtsch Arztebl Int 110, S.653–659
09/2012
Vortrag zu den Ergebnissen, DEGAM-Kongress, Rostock:
„Vergleich von Patienten, die Überweisungen ohne Arztkontakt in
Anspruch nehmen, mit Patienten aus der normalen Sprechstunde.“
ENGAGEMENT FÜR DIE ALLGEMEINMEDIZIN
11/2014
Artikel in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin:
„Was denkt der allgemeinmedizinische Nachwuchs? Ergebnisse einer
Umfrage innerhalb der DEGAM-Nachwuchsakademie“
11/2014
Artikel in der Zeitschrift für Allgemeinmedizin:
„Bericht über die WONCA-Europe-Konferenz 2014 in Lissabon“
Seit 07/2014
Mitglied AG „Internationales“, Junge Allgemeinmedizin Deutschlands
03/2014
Teilnahme Podiumsdiskussion, Hausärztetag Baden-Württemberg:
„Allgemeinmedizin hat Zukunft! Perspektiven für Hausärzte mit der
neuen Regierung?“
11/2013
Artikel in der Zeitschrift MWW-Fortschritte der Medizin:
„Allgemeinmedizinisches PJ-Quartal für alle Studierenden.“
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10/2013
Vortrag in der Berufsfelderkundung, Universität Duisburg-Essen:
„Traumberuf Hausarzt!“
09/2013
Leitung eines Workshops, DEGAM-Kongress, München:
„Evidenzbasierte Medizin in der Hausarztpraxis. Einführung in die
kritische Bewertung von Studien.“
09/2013
Teilnahme an der Pressekonferenz, DEGAM-Kongress, München
06/2013
Vortrag auf dem GHA-Symposium, Baierbrunn
„Allgemeinmedizin hat Zukunft!“
AUSZEICHNUNGEN
10/2012 – 09/2013
Hochschulstipendium, Technische Universität München
04/2012 – 09/2014
Mitglied der DEGAM-Nachwuchsakademie
09/2011 – 12/2012
Gefördert durch Jochner’sche Stiftung, Klinik Josephinum München
WEITERBILDUNG ZUM FACHARZT FÜR ALLGEMEINMEDIZIN
Seit 11/2014
Ärztin in Weiterbildung:
Innere Medizin, Krankenhaus Agatharied, Hausham
MEDIZINSTUDIUM
10/2009 – 06/2014
Klinischer Teil, Technische Universität München
Zweiter Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, Note 1.0
10/2007 – 09/2009
Vorklinischer Teil, Ludwig-Maximilians-Universität, München
Erster Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, Note 2.0
PRAKTISCHES JAHR
08/2013 – 11/2013
Allgemeinmedizin: Praxis Dr. Lothar Schmittdiel, München
04/2013 – 07/2013
Allgemein-/Unfallchirurgie: Spital Linth, Uznach, Schweiz
Viszeralchirurgie: Klinikum rechts der Isar, München
12/2012 – 03/2013
Notaufnahme: Royal London Hospital, London, Großbritannien
Innere Medizin: Spital Linth, Uznach, Schweiz
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