Heterotropie (manifester Strabismus) W. de Decker

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2 Störungen des Binokularsehens
Fallbeispiel
Positive Vertikalphorie
Der 41jährige Patient leidet seit dem 15. Lebensjahr trotz
verschiedener Korrektionen mit/ohne Nahaddition unter
beständiger Asthenopie.
Untersuchungsbefunde:
Refraktion: RA S5,75 dpt sph, LA S5,25 dpt sph
Der alternierende Prismenabdecktest ergab für die Ferne/
Nähe insgesamt 5 cm/m Basis unten vor dem rechten Auge.
Nach dem Tragetest wurde eine Prismenbrille mit RA 3 cm/m
Basis unten und LA 2 cm/m Basis oben verordnet.
22 Jahre später war der Patient weiterhin beschwerdefrei
mit RA 3 cm/m Basis unten und LA 2 cm/m Basis oben.
ter Astigmatismus (falsche Achsenrichtung) kann Pseudo-
zyklophorien hervorrufen, die mit der echten Zyklophorie
nichts gemein haben, sondern nur einer winkelungetreuen Abbildung der Umwelt entsprechen und nicht
einer Zykloabweichung aller Konturen (108). Die Patienten versuchen bisweilen durch Kopfneigung und entsprechende Gegenrollung der Augen das dominierende Auge
achsengerecht zum Brillenglas auszurichten.
n Zusammenfassung
Differenzialdiagnose der
Zyklophorie
n falsch korrigierter Astigmatismus
n dekompensierende Obliquus-Störungen
n geringfügige Augenmuskelparesen
n muskuläre Erkrankungen
Zyklophorie
Formen
sursoadductorius oder deorsoadductorius. Falsch korrigier-
Zyklophorien werden durch gegensinnige Ver-
rollung der Vertikalmeridiane der Augen verursacht: Ver-
Therapie
rollung in A-Stellung entspricht dabei Inzyklophorie, Verrollung in V-Stellung dagegen Exzyklophorie.
phorien nutzlos. Optische Korrektionsmittel (Dove-Prisma) sind nicht praktikabel. Manchmal können kleinwink-
Eine orthoptische Schulung scheint bei Zyklo-
lige Zyklophorien doch wieder kompensiert werden,
Differenzialdiagnose
Zyklophorien sind in der Regel
wenn gleichzeitig vorhandene Horizontal- und Vertikal-
Zeichen einer Obliquus-superior oder Obliquus-inferior-
phorien mit Prismen ausgeglichen sind. In der Regel ist
Parese (zyklovertikale Parese) oder auch eines Strabismus
eine operative Therapie nicht zu umgehen.1
2.4
Heterotropie (manifester Strabismus)
W. de Decker
Die Schielhäufigkeit in Mitteleuropa beträgt nach popula-
Dieses Kapitel ist nach Krankheitsbildern geordnet. Ätio-
tionsstatistischen Arbeiten 5,3 bis 7,4 % (102, 124, 146).
logie und Pathogenese des Schielens, „an schwierigem
Angaben zwischen 3 und 4 % sind veraltet, weil sie die Pa-
Ort“ gelegen, sind nicht genügend bekannt, um Basis
tienten mit Mikrostrabismus nicht enthalten, der noch
einer tragfähigen Einteilung sein zu können. Krankheits-
nicht bekannt war. In der Gesamtzahl der Schielenden
bilder sind Abstraktionen, die auf klinischem Konsens be-
gilt traditionell der Strabismus divergens mit 20 % in Europa als weitaus seltener als der Strabismus convergens.
ruhen. Dieser ist nur möglich, wenn man sich bewusst
bleibt, dass etwa 8 % aller klinischen Erscheinungen eine
Der Anteil am operativen Krankengut des Verfassers hat
Einordnung nicht voll zulassen. Ohne Ordnungsprinzipien
sich aber in den letzten drei Jahrzehnten fortlaufend zu
sind Lehre und Theoriebildung aber nicht möglich. Der
Gunsten des Außenschielens verschoben, das offenbar
Leser sollte deshalb nicht enttäuscht sein, wenn „sein
wegen seines oft intermittierenden Wesens früher nicht
Fall“ nicht genau in eine der hier gewählten Kategorien
gleichermaßen häufig zur Operation vorgestellt wurde.
passt, sondern diesen Umstand zum Anlass für eigene
Malayen und Mongolen zeigen einen höheren Anteil von
Strabismus divergens (173), was sich durch die Einwanderung von Asiaten in die USA auch dort mit einem An-
Bemühungen nehmen.
stieg des Außenschielens auswirkt (275). In unserer prak-
tagmusblockierungssyndrom) und verblassen wieder,
tischen Arbeit nimmt das Innenschielen die erste Stelle
wenn sich zeigt, dass sie der immerwährenden Arbeit
ein und soll vor dem Außenschielen dargestellt werden.
von Forschern und Referenten nicht mehr den passenden
Krankheitsbilder können reifen, sind manchmal eine
Weile Mode (Fluchtschielen, Blind-Spot-Syndrom, Nys-
n Zusammenfassung
In Mitteleuropa liegt die Prävalenz der Schielerkrankungen
bei 5–7 %, wobei das Innenschielen etwa 4-mal häufiger
ist als das Außenschielen.
1
Hermann Mühlendyck gebührt Dank für gute Ideen und anregende Diskussionen über viele Jahre.
Wir danken unseren Orthoptistinnen Anne Kirsch, Cäcilie Faust,
Heike Nobis, Ursula Pink, Imke Köchling, Bettina Roggenkämper und Martina Zimmermann für die kritische Durchsicht des
Manuskripts und für manche Anregung.
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188
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
189
Rahmen geben. So sind auch die hier gewählten scheinbar
robusten Kategorien zeitbedingte Definitionen.
2.4.1
Erworbenes Innenschielen
n Bis etwa 1970 konnte man den Strabismus convergens
als einheitliches Krankheitsbild darstellen. Seine Anpassungssymptome (Suppression, Amblyopie, anomale
Je früher der Schielbeginn, desto gravierender sind die
Korrespondenz) wurden als Versuche des Organismus
Umbauvorgänge im visuellen System. Wir müssen des-
gedeutet, sich vor Doppeltsehen zu schützen. Man teilte
halb erworbenes Innenschielen im Kindesalter wiederum
zwar differenziert in Schielformen ein, unterwarf sie
unterteilen in
aber praktisch alle der gleichen pathophysiologischen
Deutung (199). Eine solche Interpretation setzt naiv vo-
n die Fälle mit Schielbeginn im Alter auslaufender moto-
erworbenes Innenschielen (2.4.1.) an den Anfang stel-
rischer Empfindlichkeit, vom etwa 7. oder 8. bis 12. oder
15. Lebensmonat,
n die Fälle mit Schielbeginn im Alter sensorischer Form-
barkeit von etwa 11/2 bis 3 Jahren,
len, da sie Gelegenheit gibt, die klassischen Vorstellun-
n die selteneren Verläufe von akutem normosensorischen
gen von der Pathophysiologie der binokularen Inter-
Spätschielen mit einem Manifestationsalter von 3–6
aktion Schielender nachzuzeichnen.
n Eine große Zahl von Patienten mit Strabismus conver-
n die alsbald nach der Einschulung dekompensierenden
gens schielt bereits im ersten Lebenshalbjahr, jedoch
Jahren,
akkommodativen Esotropien,
im Gegensatz zu früheren, aus den Anamnesen abgeleiteten Angaben nicht seit Geburt (128, 235). Durch Ar-
n die seltenen Fälle von offenbarem intermittierenden
beiten von Kornhuber, Ciancia, Costenbader und Lang
zung zur Esophorie wünschenswert, aber zwangsläufig
(64, 71, 196, 214) wurde das Syndrom des frühkindli-
oder von zyklischem Innenschielen, wobei die Abgrennicht ganz scharf möglich ist.
chen Innenschielens definiert. Eine inzwischen umfang-
Die Eltern schielender Kinder neigen dazu, die Frage nach
reiche Literatur bestätigt die Sonderrolle dieser Schiel-
dem Schielbeginn mit „seit Geburt“ oder „schon im Baby-
form bis ins elektrophysiologische Detail. Eine binoku-
alter“ zu beantworten. Hier ist besondere Sorgfalt erfor-
lare Interaktion entsteht gar nicht erst.
derlich, weil bei unkritischer Übernahme dieser Angaben
n „Erworbenes“ Innenschielen haben alle Fälle, die bei
Schielbeginn bereits Binokularsehen hatten und es
ein Verkennen der erworbenen Innenschielformen mit
ihrer besseren Prognose droht. Zum Spätschielen gehört
nun, je nach Alter, mit Entwicklung anomaler Korres-
auch noch die Esotropie Erwachsener in zwei Formen:
pondenz, Suppression oder Diplopie beantworten.
n der dekompensierten Esophorie, meist mit großem
n Auch Strabismus divergens ist kein einheitliches Krank-
heitsbild. Insbesondere muss davor gewarnt werden,
Strabismus divergens intermittens einerseits und Exo-
Schielwinkel und akuter Diplopie und
n dem Strabismus im Senium mit dem Synonym „Diver-
genzparese“, eine vielfach verkannte Alterskrankheit.
unterschiedliche
Die häufigste dieser Störungen, das Innenschielen im Alter
Schweregrade ein und derselben Störung abzufassen.
Unser Buch trägt dieser Unterscheidung insofern Rech-
sensorischer Formbarkeit mit Schielbeginn etwa im
2. Lebensjahr, führt noch rasch zur Ausbildung sensori-
nung, als es diese beiden Störungen in verschiedenen
scher Anpassungssymptome, sodass diese (das Lehrbuch-
Kapiteln darstellt.
n Mikrostrabismus, erst in der Mitte des 20. Jahrhundert
schielen früherer Darstellungen) im Zusammenhang mit
phorie
andererseits
als
lediglich
diesem klinischen Bild dargestellt werden sollen.
entdeckt, als selbständige Schielform erst in dessen
60er-Jahren im Bewusstsein der Augenärzte fest verankert, und „subnormales Binokularsehen“, in den
70er-Jahren herausgestellt, kann man als Minderformen des normalen Binokularsehens auffassen, die sich
Anamnestischer und
wahrer Schielbeginn
einstellen, wenn ohne motorische Störung eine Minder-
Wir sind, was den Schielbeginn angeht, in aller Regel auf
anlage zu normalem Binokularsehen vorliegt. Die häu-
die Elternangaben angewiesen. Auch sorgfältig beobach-
fig nachweisbare Erblichkeit nicht der einzelnen Schiel-
tende Eltern können uns nicht sagen, ob vor dem Zeit-
form, sondern der zugrunde liegenden Systemschwäche
punkt des Auftretens unübersehbaren Schielens echter
des Binokularsehens unterscheidet den Menschen von
Parallelstand mit Binokularsehen vorgelegen hat. In den
seinem natürlichen Hintergrund. Ätiologie und Patho-
Anamnesen finden wir neben der Angabe „schielt seit Ge-
genese des Schielens lassen sich trotz großer Anstrengung der Hirnforschung bis heute nicht ausreichend
burt, jedenfalls seit dem ersten Lebensjahr“ gehäuft die
Auskunft, das Schielen sei mit 2 Jahren aufgetreten. Da
mittels tierexperimenteller Basisforschung aufklären.
wir erst im Laufe des 5. Lebensjahres Angaben zur Korrespondenz erhalten und diese von zwei Dritteln der konver-
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raus, dass zur Zeit des Schielbeginns bereits Binokularsehen bestanden hatte. Wir wollen diese Situation als
190
2 Störungen des Binokularsehens
gent schielenden Kinder als anomal oder mikroanomal
angegeben wird, stehen wir vor einer offenen Frage: Hat
lung von Nystagmus latens, der bei Schielbeginn nach
dem 7. Lebensmonat nicht mehr auftritt. Je später der
vor dem anamnestischen Schielbeginn schon ein unauffälliger Basismikrostrabismus vorgelegen? Oder konnte ein
Schielbeginn, desto eher sollte theoretisch die Korrespondenz normal sein, woraus sich ein Rückschluss auf den
echter Schielbeginn im Alter von 2–3 Jahren eine ur-
Schielbeginn ergeben müsste. In der Praxis zeigt die Kor-
sprüngliche normale Sensorik noch anomal umformen?
respondenzdiagnostik aber so häufig gemischte Verhält-
Kinder, die alsbald nach anamnestischem Schielbeginn
nisse – normale, wechselnd mit oder neben anomalen An-
in Behandlung kommen und bereits amblyop sind, müs-
gaben –, dass man hieraus allenfalls die Annahme be-
sen schon beträchtlich früher mit unauffälligem Winkel
gründen kann, es sei anfangs nur intermittierend und
geschielt haben, es sei denn, eine überzeugende Anisome-
mit wechselnden Winkeln und mehrfacher Prägung der
tropie erkläre die Amblyopie zwangslos: Das Schielen
wäre in diesem Falle „sekundär“ und Folge einer anderen
Korrespondenz geschielt worden. Alle Untersuchungen
beeinflussen die Substanz dessen, was man untersuchen
Störung.
will, da sie zwangsläufig dissoziierend sind. Durch die Unsukzessives Darbieten der Nachbilder) erhält man eine
des wahren Schielbeginns kaum je exakt möglich.
Gleichwohl hat die Anamnese einen erheblichen
Wert.
anomale Antwort, die zur selbst herbeigeführten manifes-
Die folgenden Fragen sollte man sich stets präzise beantworten lassen.
n Wer hat den Verdacht auf Schielen zuerst geäußert?
ten Phase passt und wegen des Eingreifens ein Intermittieren nicht zwingend ausschließt.
n Latenstypnystagmus
spricht für einen frühen
Schielbeginn, normale Korrespondenz für einen
späten.
Ärzte beobachten meist besser als Eltern, Verwandte
u. U. unbefangener.
In praktischer Hinsicht ist deshalb die Anamnese nicht zu
n Meinen die Eltern den Beginn unübersehbar manifesten
vernachlässigen und Wert darauf zu legen, dass Eltern
Schielens oder bestand der Verdacht schon früher? Hier
und Patienten die gestellten Fragen präzise beantworten.
werden viele Missverständnisse ungeklärt in Krankenblätter eingetragen!
Falls dies nicht möglich ist, sollte man Bedenkzeit geben
und die Fragen nach angemessener Zeit wiederholen. Fo-
n Schielte das Kind anfangs nur zeitweise? Auch sichere
tografien erlauben nur die Bestätigung oder den Aus-
Angaben hierzu lassen den Verdacht auf primären Ba-
schluss großer Schielwinkel, haben also für die Frage des
sismikrostrabismus natürlich offen, doch klärt eine
Schielbeginns keine bindende Qualität.
Hilfsfrage hier noch manchmal weiter auf:
n War das Kind beim „Schielbeginn“ schon einseitig seh-
schwach? Hat der erstbehandelnde Arzt sofort zur Abdeckbehandlung oder zu ähnlichen Maßnahmen geraten?
Schielbeginn im zweiten
Lebenshalbjahr
n Bei behauptetem spätem Schielbeginn darf nicht ver-
Einer angemessenen Besprechung der Symptome bei
säumt werden, nachzufragen, ob Anhalt für passageres
frühem Innenschielen steht die amerikanische Nomenkla-
Doppeltsehen vorlag, wie Zukneifen eines Auges oder
tur im Wege, die unter „Congenital Esotropia“ und „Infan-
entsprechende Äußerungen des Kindes, die ab dem
tile Esotropia“ Patienten mit Schielbeginn in den ersten
4. Lebensjahr erwartet werden dürfen. Fehlen solche
Lebenswochen mit solchen zusammenfasst, die erst mit
Hinweise völlig, so spricht dies für dekompensierten
8–12 Monaten schielen. Die Ersteren entwickeln ein
primären Mikrostrabismus und gegen wahren späten
Schielbeginn.
Schielsyndrom (2.4.2), die Letzteren gehören schon zum
erworbenen Schielen. Bei ihnen hatte bereits einige Mo-
Aus dem Vorliegen einzelner frühkindlicher Schielsymp-
nate Binokularsehen bestanden, das nunmehr verloren
geht. Das differenzialdiagnostische Symptom ist der Nys-
tome ist der frühe Schielbeginn nicht ganz verbindlich abzuleiten. So entwickeln Patienten, die mit 5–7 Jahren
tagmus latens (Latenstypnystagmus), der nun, auf jeden
durch eine perforierende Verletzung ihr Binokularsehen
Fall nach dem achten Lebensmonat, nicht mehr eintritt
verlieren, noch häufig Amblyopie, anomale Korrespon-
(wie auch die wohl nahe verwandte Asymmetrie des op-
denz und dissoziiertes Höhenschielen. Akut dekompensie-
tokinetischen Nystagmus). Alle anderen motorischen
rende Esophorien können scheinbar urplötzlich mit Aoder V-Inkomitanzen kompliziert sein. Den verlässlichen
Symptome des frühkindlichen Schielsyndroms treten
ein, insbesondere auch das dissoziierte Höhenschielen
Nachweis frühen Schielbeginns bzw. den Ausschluss er-
(dissoziierte Vertikaldivergenz, DVD), wenn auch meist erst
worbenen Schielens erlaubt eigentlich nur die Feststel-
im 3. bis 4. Lebensjahr auffallend. Die Sorge, es durch
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terbrechung der binokularen Interaktion (Abdecken und
n Bei alternierendem Schielen ist die Feststellung
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
rellen Frühoperation, sieht das Hervortreten des dissoziierten Höhenschielens im gleichen Alter wie die Vertreter
des Operierens mit 18, 12 oder 6 Monaten.
Tritt DVD nicht ein, so haben wir es mit größter Wahrscheinlichkeit mit einem intermittierenden Schielen zu
tun. Leider ergibt sich diese diagnostische Hilfe zu spät,
um die Frage der Frühoperation mit objektiven Kriterien
beantworten zu können. Diese gibt es bisher leider nicht.
Man kann mittels VECP nachweisen, ob visuelle Stimuli
eine binokulare Antwort auslösen (118). Es gibt aber
keine klinische Literatur, die dies mit der fraglichen Prognose in Beziehung setzt. Es ist dies vielleicht die schwierigste strabologische Indikationsstellung. Der Verfasser
operiert im Zweifel, aber eben nur in dieser Gruppe und
nicht bei Schielbeginn im ersten Lebenshalbjahr.
Auftreten im Alter sensorischer
Formbarkeit
Fallbeispiel
Der noch nicht ganz 5-jährige Torge B. schielte mit 4 Jahren
akut. Ein halbes Jahr später war er bei augenärztlicher Untersuchung auf dem rechten Auge mit einem Visus 0,2
und exzentrischer Fixation im Wechsel mit fovealer schon
betont amblyop. Fünf Tage Okklusion pro Woche besserten
den Visus dieses rechten Auges in vier Monaten auf 1,0 partiell. Weitere mildere intermittierende Okklusion führte
zum Alternieren. Er gab jetzt mit Nachbildern normale Korrespondenz an, und die Mutter bestätigt auf erneutes Fragen, er habe Parallelstandsphasen. Die ausgiebige beidseitige Rücklagerung der M. recti mediales etablierte einen intermittierenden Mikrostrabismus für die Ferne und einen
konstant manifesten für die Nähe von S2h. Die Nachbildangaben zur Korrespondenz sind immer normal. Der resultierende und vielleicht ursprüngliche Mikrostrabismus
kann nicht vom identischen Typ sein, da jede Spur einer
Amblyopie fehlt. Hier begegnet uns eine im Prinzip unlösbare Diskrepanz: Ein nur intermittierendes Schielen sollte
nicht zur Amblyopie geführt haben, eine konstante Fehlstellung bei Schielbeginn mit 2,5 Jahren sollte zur anomalen
Korrespondenz geführt haben. Beides ist nicht der Fall.
Eine derart lockere und reversible exzentrische Fixation,
Bei Schielbeginn im Alter von 1–3 Jahren ist der Schiel-
wie bei diesen beiden Fällen, wird als „exzentrische Ein-
winkel meist konstant und lässt sich mit dem Prismen-
stellung“ vom Vollbild der exzentrischen Fixation unter-
2
/3 der Patienten
schieden, insbesondere, wenn die Hauptsehrichtung (das
schielen einseitig, bei Behandlungsbeginn meist schon
„subjektive Geradeaus-Vorne“) nicht – noch nicht – an
mit Amblyopie. Nach deren Beseitigung durch Okklusion
findet sich überwiegend anomale Korrespondenz (ARK),
die exzentrische Netzhautstelle übergegangen ist (77,
106).
abdecktest verlässlich messen. Etwa
meist mit gut messbarem Anomaliewinkel in reproduzier-
Man sieht im Kontext dieser Fallbeispiele bestätigt, dass
barer Größe bei wiederholter Untersuchung. Die beiden
die Krankheitsbilder nur dem Ordnungsprinzip dienen
folgenden Fallbeispiele, durch 35 Berufsjahre des Verfas-
und dass man, im Zweifel, dem Ordnungsprinzip nicht
sers voneinander getrennt, beleuchten aber, dass es
die lebendige Entscheidung opfern darf.
einen Ausnahmemechanismus gibt: Wird der Patient
Ein Drittel der Patienten mit anamnestischem Schiel-
rasch und tief amblyop, so können die Korrespondenzbe-
beginn nach dem ersten Lebensjahr kommt mit wechsel-
ziehungen gewissermaßen auf ungenutzt normalem Niveau eingefroren werden, sodass der spätere Verlauf
eher einem verschleppten normosensorischen Spätschie-
seitigem Schielen in unsere Behandlung. Nicht immer fixieren beide Augen gleich häufig. Als Strabismus alternans
darf man auch die Fälle einstufen, die trotz eindrucksvol-
len gleicht als einem relativ früh erworbenen Schielen.
ler einseitiger Dominanz ohne Okklusion nicht amblyop
Die binokulare Interaktion erweist sich in solchen Fällen
wurden. Die einmalige Untersuchung sagt hierzu wenig
als unerwartet stabil.
aus, da der innere Zeittakt des Führungswechsels (zwischen Sekunden und Tagen) individuell sehr verschieden
Fallbeispiel
sein kann und während der Untersuchung durch Abdeck-
Die Eltern des 18-jährigen Heinrich S. wünschten, dass trotz
der erklärten schlechten Prognose eine Amblyopiebehandlung versucht würde. Nach wenigen Übungen mit dem Pleoptophor wurde die 6h nasal exzentrische Fixation zentral;
der Visus stieg von 1/50 auf 0,4. Die Korrespondenz wurde
stets als normal angegeben (Nachbilder, Doppelspiegelbetrachter nach Lang). Nach Schieloperation (einseitigkombiniert bei S15h max. Winkel F = N) etablierte sich Mikrostrabismus von S1h mit fovealem Hemmskotom (Lücke
im Bagolini-Streifentest). Anomale Korrespondenz von 6h
oder 1h konnte auch postoperativ nicht nachgewiesen werden. Alle Beteiligten warten äußerst zufrieden mit diesem
Ergebnis.
maßnahmen häufig nicht zu beeinflussen ist.
Bei wiederholtem Messen zeigen die einseitig schielenden wie die alternierenden Fälle konstant wirkende
Schielwinkel. Versucht man allerdings, den Schielwinkel
für längere Zeit mit Prismen auszugleichen, so kommt es
meist zur Winkelvergrößerung, manchmal nach Sekunden, manchmal erst nach einigen Tagen. Dieser Rückdrehreflex wird von der Labilität der Augenstellung beim
frühkindlichen Schielen gedanklich unterschieden und
eher durch das Bestreben erklärt, eine eingefahrene harmonisch anomale Sehweise wieder zu gewinnen (20, 54).
Deren sensorische Situation ist individuell auffallend
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Frühoperation zu provozieren (53), ist sicher unbegründet. Der Verfasser, durchaus kein Apostel der gene-
191
192
2 Störungen des Binokularsehens
verschieden und kann kompliziert sein. Die Tendenz zum
10 % anamnestisches Spätschielen vom 3. bis zum
„Rückdrehen“ nimmt im Laufe des Lebens ab. Dies er-
10. Lebensjahr. Von den betroffenen 100 Fällen erfüllten
scheint unlogisch. Erwarten sollte man, dass Erwachsene
mit lange gefestigter anomaler Korrespondenz eine wohl-
nur 18 die Kriterien des normosensorischen Spätschielens, weniger als 2 % im ambulanten Klinikskrankengut.
trainierte anomale Fusion haben und von daher bestrebt
Normosensorisches Spätschielen ist ein häufig verkann-
sein sollten, den Schielwinkel wiederzugewinnen. Es ist
tes Krankheitsbild. Eine intensive Fortbildungstätigkeit
deshalb anzunehmen, dass Patienten mit ausgeprägtem
hat in 20 Jahren bewirkt, dass nicht mehr jeder 4. aber
Rückdrehreflex motorisch wohl doch eher zum frühkind-
doch immer noch nur jeder 2. Patient zügig überwiesen
lichen Schieltyp zu rechnen sind.
und sinngemäß rasch entlastend operiert wird.
Wichtig ist, immer an die Möglichkeit zu denken, auch
wenn nicht über Diplopie geklagt wird. Erforderlich ist:
n die objektive Refraktionskontrolle möglichst mit Atropin.
Normosensorische Formen
des (späten) Innenschielens
Sie entlarvt nicht nur durch die Skiaskopie die refraktiv
Parallelstand in Zykloplegie, weil die Akkommodation
weitgehend reifes, topographisch richtig strukturiertes,
nicht länger die Konvergenz antreibt. Diese Feststellung
aber nicht voll tragfähiges visuelles System. Die Unterbre-
von hohem diagnostischen Wert ist mit kurzwirkenden
chung des Binokularsehens wird häufig als Diplopie einschneidend erlebt und mitgeteilt. Kinder, besonders Knaben im Alter von etwa 10 Jahren, haben aber eine Ten-
Zykloplegika nicht so sicher zu treffen;
n die sofortige Entlastung mit Prismen,
n die rasche entlastende Operation, falls nicht mit Brille
denz, das Doppeltsehen zu verschweigen, sodass man
und/oder Prismen eindeutig Rekompensation eintritt,
gut tut, ausdrücklich und wiederholt nachzufragen. Das
oder bei nachweislicher Emmetropie.
Doppeltsehen wird zum Hauptsymptom und sorgt dafür,
dass sprachfähige Kinder den Schielbeginn immer als
akut schildern. Erwachsene, besonders ältere, klagen dagegen nicht selten über Unscharfsehen. Die wahre Natur
der Störung wird deshalb oft lange nicht erkannt. Gewöhnlich findet man einen konkomitierenden Schielwinkel, nur selten Strabismus sursoadductorius und mildes
n Zusammenfassung
Normosensorisches Spätschielen als strabologischer
Notfall
n objektive Refraktionskontrolle (Atropin)
n sofortige Entlastung mit Prismen
n rasche entlastende Operation
dissoziiertes Höhenschielen.
Speziell gegen die Forderung nach unverzüglicher entlasn Hauptsymptom des normosensorischen Spätschielens ist die Diplopie.
tender Operation wird zu oft verstoßen. Immer wieder
werden solche Fälle durch wechselseitige Okklusion konserviert, wobei nicht festzustellen ist, ob die Behandeln-
Normosensorisches
Spätschielen
der
Vorschul-
Das Vollbild des normosensorischen Spätschie-
den das Krankheitsbild nicht kennen oder sich der Gefahr
nicht bewusst sind, dass Kinder in wenigen Wochen die
lens ist sehr eindrucksvoll, da Kinder, die nach dem
sensorische Fähigkeit zum Binokularsehen verlieren kön-
3. Lebensjahr zu schielen beginnen, mitteilen können,
dass sie doppelt sehen. Die Symptomatik entspricht an-
nen. Leider wird auch in der Literatur gelegentlich die gebotene Eile verneint (39, 251, 314). Da drei Faktoren (pro-
fangs der einer dekompensierten Heterophorie beim Er-
spektiv) die Prognose und (retrospektiv) das Spätergebnis
wachsenen. Neben dem Vollbild mit Diplopie gibt es Ver-
beeinflussen (Qualität der Anlage des Binokularsehens,
läufe, bei denen Doppeltsehen nicht zu erfragen oder
Alter bei Schielbeginn und Dauer bis zur Beseitigung der
durch Zukneifen eines Auges wahrscheinlich zu machen
ist (81). Durch die Tendenz älterer Kinder, ihre Diplopie
Fehlstellung), tritt der Stellenwert der Vernachlässigung
nur bei genügend großem Krankengut und Beschränkung
zu verschweigen, wird es weiter erschwert, Angaben zur
auf ein Alter zwischen 3 und 10 Jahren hervor (Tab. 2.13).
Häufigkeit zu machen. Lang, der das Krankheitsbild be-
Der schädliche Einfluss längerer Unterbrechung des Bino-
sonders herausgestellt hat (217), änderte mehrfach selbst
kularsehens findet sich schon in der älteren Literatur
(49, 239).
kinder
seine Angaben zur Häufigkeit. Diese liegen zwischen 16 %
(215) und 11 % (219) der von ihm operierten Schielenden,
Besonders risikoreich sind die Fälle ohne Diplopieanga-
was populationsstatistisch nicht viel nützt. Frandsen (124)
ben. Sie haben oft primär nur subnormales Binokularse-
fand insgesamt nur 7 % schielender Kinder mit anamnestischem Schielbeginn zwischen dem 3. und 7. Lebensjahr.
hen und enden, unbehandelt, mit dessen Verlust. Die Kinder mit vollwertigem Binokularsehen und Stereopsis sind
Eine Durchsicht von 1000 fortlaufenden Fällen des
eher von persistierender Diplopie bedroht, da nicht ein
Verfassers aus der Zeit noch „offener“ Poliklinik ergab
jeder Suppression entwickeln kann. Es ist wichtig, dies
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akkommodativen Fälle, sondern führt auch häufig zum
Der Schielbeginn nach dem 3. Lebensjahr trifft ein schon
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
193
Tabelle 2.13 Behandlungsergebnisse von 79 Kindern, abhängig vom Zeitverzug zwischen Schielbeginn und Therapiebeginn
bei normosensorischem Spätschielen. Vereinfacht nach (81)
bis 1
2 bis 12
Mehr als 12
Behandlungsergebnisse
Normales
Subnormales
Binokularsehen
Binokularsehen
Gesamte Patientenzahl
Unterkorrektur
8
4
12
15
16
6
37
4
15
11
30
den Eltern schon bei einer ersten Vorstellung klar zu ma-
y
chen und im Falle der Ablehnung einer doch meist opera-
rischen Spätschielen, sowohl die akuten Fälle mit der ent-
Nachsorge. Alle Patienten mit ehemaligem normosenso-
tiven Behandlung ihnen eine Kopie des Arztbriefes oder
lastenden Operation als auch die schleichend/intermittie-
ein anderes Dokument zuzuschicken, um sich gegen spä-
rend Schielenden, bei denen es nicht selten doch nicht zur
tere Vorwürfe wegen ungenügender Aufklärung zu schüt-
Operation kommt (314), bedürfen auch bei Wiedereintritt
zen.
von Binokularsehen noch über mehrere Jahre der Kon-
In motorischer Hinsicht überwiegt der akute Typus mit
etwa 2/3 der Fälle. Die Literatur bestärkt den eigenen Eindruck, dass diese in der Prognose etwas besser gestellt
und unter ihnen vermehrt voll normosensorische Fälle
trolle.
n Bei jedem akuten Strabismus ist eine neurologische Erkrankung auszuschließen.
festzustellen sind, also ein Krankengut im Sinne der Vorstellungen von Lang. Eine etwas geringere Zahl schielt an-
Akutes Innenschielen bei Schulkindern
fangs intermittierend mit schleichender Verschlechterung
seltenen Fälle sind nicht einheitlich. Neben verspätetem
und schließlicher Aufgabe des Binokularsehens (314). Hier
„echten“ normosensorischen Spätschielen finden sich ge-
finden sich vermehrt die Subnormalen und die Fälle mit
häuft im 3. und 4. Schuljahr psychogene Fälle. Diplopie
etwas schlechterer Prognose, die auch bei rechtzeitiger
Behandlung nicht immer optimal werden. Nach zunächst
wird meist an- bzw. zugegeben. Erforderlich ist zunächst
die Skiaskopie unter Atropin (1 % in öliger Lösung, Gabe
erfolgreicher Brillenkorrektion der Hyperopie tritt oft
während zweier Nächte vor Skiaskopie). Findet sich eine
nach 4–6 Monaten ein Rezidiv ein. Auch die schließlich
nennenswerte Hypermetropie, so wird die Brillenver-
noch durchgeführte entlastende Operation kann versagen.
y Differenzialdiagnose. Während echtes normosensori-
schreibung zunächst Parallelstand und Binokularsehen
sches Spätschielen leider häufig verkannt wird, werden
nach 4–6 Monaten – ist jedoch nicht gering. Auch die Em-
umgekehrt auch Patienten mit dieser Diagnose vor-
metropen schielen „akkommodativ“: Die im 3. Schuljahr
gestellt, die in Wirklichkeit einen dekompensierten Mikrostrabismus haben (S. 226). Das Auftreten oder Fehlen
einsetzende Leistungsforderung zwingt zur Akkommodation und kann Esophore zur Dekompensation bringen.
von Diplopie ist nicht geeignet, die Frage eindeutig zu ent-
Nicht immer tritt konstant manifestes Innenschielen ein,
scheiden. Korrespondenzprüfungen (Haidinger-Büschel,
sondern mitunter nur ein Konvergenzexzess. Die Auslö-
Nachbilder nach Hering!) und die Feststellung einer leich-
sung durch übermäßige Akkommodation dürfte auch der
ten Amblyopie am abweichenden Auge erlauben die Zu-
Mechanismus der als psychogen eingestuften Fälle sein.
ordnung besser. Hilfreich ist die Feststellung einer even-
Man muss dieses Ereignis als Notschrei verstehen:
tuell nur leichten Amblyopie deshalb, weil Mikrostrabis-
„Wenn ich schon nicht verstehe, so sehe ich doch furcht-
mus in der Regel einseitig ist. Die leichte Amblyopie wiederum darf nur diagnostiziert werden, wenn Fixations-
bar scharf hin!“. Insofern ist die Abgrenzung zwischen organischen und psychogenen Fällen undeutlich und viel-
und Refraktionsbefund durch Sterntest und sorgfältige
leicht sinnlos: Psychogene Störungen haben oft einen
Skiaskopie genau bekannt sind. In praktischer Hinsicht
kleinen organischen Kern, hier also eine Esophorie. Der
wird man einen dekompensierten Mikrostrabismus aber
Patient überträgt seine Sorgen dann gerne auf latente Ba-
ebenso ernst nehmen müssen wie echtes normosensori-
sissymptome (Konversionsneurose).
Die an sich
stabilisieren. Die Zahl der Rezidive trotz Brillentragens –
sches Spätschielen, da auch hier der Verlust der Zusam-
Die weitere Befassung ist für beide Gruppen mühsam.
menarbeit beider Augen droht. Bei Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber dem Mikrostrabismus ist postoperative Teilzeitokklusion des dominanten Auges einmal
Man muss
n durch neurologische Untersuchung mitsamt einer nicht
eben kinderfreundlichen bildgebenden Diagnostik aus-
wöchentlich zu empfehlen, da sie niemals und nieman-
schließen, dass ein Hirntumor dahinter steckt (Epi-
dem schaden kann.
physe!);
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Zeitverzug in Monaten
2 Störungen des Binokularsehens
n zunächst mit Prismen die Binokularfunktion zu erhalten
suistischen Literatur trifft man häufig auf die Angabe, die
versuchen, was bei den gewöhnlich großen Schielwin-
Patienten hätten minimale neurologische Symptome oder
keln schwierig sein kann;
n nach einigen Wochen doch an die entlastende Operation
diskrete Teilsymptome des frühkindlichen Schielsyndroms (287). Eine ganz scharfe Abgrenzung zum intermit-
denken, durchaus auch bei den als psychogen einge-
tierenden frühkindlichen Innenschielen gelingt nicht
stuften Kindern, da nach Monaten der Unterbrechung
(2.4.2.).
der Erhalt des Binokularsehens nicht mehr zugesagt
Der weitestgehende Konsens in der Literatur betrifft
werden kann. Hier bedarf es im Falle der Operations-
den Verlauf. Nach 6 Wochen (312), meist aber nach vielen
ablehnung durch Eltern oder ältere Kinder selbst der
Monaten bis wenigen Jahren degeneriert der exakte
„defensiven Medizin“, vor allem der Dokumentation
Rhythmus und es kommt irgendwann zum konstant ma-
und der schriftlichen Zustellung derselben an die Eltern, da nach Gewahrwerden des eingetretenen Scha-
nifesten Schielen. Die entlastende Operation, mit guter
Prognose, ist deshalb unvermeidlich und sollte nach Be-
dens doch noch der Schuldvorwurf den Arzt treffen
stätigung der Diagnose und Korrektion einer Refraktions-
kann.
anomalie zügig angegangen werden. Die meisten Autoren
Wünschenswert und von vielen Eltern sehr geschätzt ist
bevorzugen eine großzügige beidseitige Rücklagerung des
die Hinzuziehung kinderpsychologischen Sachverstandes.
M. rectus medialis. Auch begleitende Vertikaldivergenzen
Hiergegen ist zunächst nichts einzuwenden; es kommen
verschwinden dann, womit wohl deren dissoziierter Cha-
meist Schulsorgen zum Vorschein. Man muss aber leider
rakter angenommen werden darf.
damit rechnen, dass solche Fachleute, wenn nach Wochen
oder Monaten die entlastende Operation unumgänglich
wird, sich dieser entgegenstellen, wobei sie inzwischen
Das Vorkommen bei Erwachsenen ist beschrieben, und
zwar auch oder gerade bei Fällen ohne Binokularsehen
(270, 309).
viel mehr Einfluss auf die Eltern gewonnen haben als
y
der Augenarzt.
oden werden in vielen Arbeiten nur prinzipiell erwähnt,
Zyklisches Schielen mit anderen Perioden. Andere Peri-
Man sollte deshalb schon bald nach Übernahme der Be-
aber nicht mit Fällen belegt. Es ist offenbar extrem selten.
handlung, aber nicht ohne Kenntnis der skiaskopischen
Angesichts dieser Literaturlage hätte der Autor dieses Ka-
Refraktion, einen Behandlungsplan einschließlich der
pitels nicht an die Existenz dieser Schielform geglaubt,
Operation aufstellen, durchaus in Gegenwart der (älteren)
Kinder, die dann unter Umständen doch anderen Sinnes
hätte er nicht selbst einen solchen Patienten gesehen:
werden. Die Operation muss, wie bei allen Esophoren
Fallbeispiel
bzw. Normosensorischen hoch dosiert werden. Hierauf
Der 30-jährige K. S. wurde unter der Diagnose Esophorie
durch eine beidseitige Medialisrücklagerung entlastend
operiert. Er hatte über periodisches Auftreten von Doppeltsehen geklagt und unter dreitägiger Okklusion einen Winkel
von S12h manifestiert. Nach zwei Monaten kehrten die Beschwerden samt der Diplopie zurück, doch stellte sich der
entmutigte Patient erst nach 5 Jahren wieder vor. Die
Anamnese ergab nun, dass in Abständen von 2 Wochen jeweils für 2–3 Tage anfallsweise doppelt gesehen wurde. In
den Intervallen war er völlig beschwerdefrei. Sensorisch
fand sich trotz genauester Untersuchung nichts Abnormes.
Auch die Fixationsdisparitätskurve zeigte keine Auffälligkeiten der sensorischen Fusion. Eine beidseitige Fadenoperation an den voroperierten Mm. recti mediales bewirkte
Doppelbildfreiheit während einer Nachbeobachtungszeit
von 4 Jahren. Beschwerdefrei ist der Patient nicht: Mit der
alten Periodik tritt Asthenopie auf. Objektiv ist aber nur
eine kompensierte Esophorie von 3h nachzuweisen. Subjektiv spürt der Patient den „Impuls“ stets genau.
kommen wir noch zurück.
Zirkadianes und zyklisches Innenschielen
Die Störung
ist selten. Man findet einen Fall auf 3000–5000 Esotrope
(72). Unter diesen ist das klassische zirkadiane Schielen
an jedem 2. Tag häufiger und zyklisches Schielen mit anderen Rhythmen offenbar extrem selten.
y
Zirkadianes Innenschielen. Die Eltern berichten spontan,
dass immer ein Schieltag und ein schielfreier Tag abwechseln, sodass man die Uhr danach stellen könne. Es ist beobachtet worden, dass die Umschaltung in den frühesten
Morgenstunden erfolgt (334). In der Literatur wird auch
angegeben, die meisten Fälle hätten vor Eintritt der eigenartigen Rhythmik konstant manifest oder lockerer intermittierend geschielt (72). Wegen der Seltenheit der
Störung sieht der einzelne Autor wenig Fälle, sodass verallgemeinernde Feststellungen sehr schwer zu belegen
sind. Die eigenen drei Fälle des Autors dieses Abschnittes
Zyklisches Schielen ist auch schieltheoretisch interessant:
schielten primär zirkadian im normosensorischen Alter
Offenbar können in Helvestons Torbogenmodell (158)
von 3–6 Jahren. Über die Häufung in diesem Alter besteht
Steine nicht nur fehlen oder verloren gehen, sondern
Literaturkonsens. Ein primär konstant manifestes Schielen
darf bestritten werden, wenn während der zirkadianen
auch wackeln (2.4.7).
Parallelstandsphase und nach entlastender Operation nor-
Dekompensierte und dekompensierende Esophorie
males Binokularsehen besteht. In der weit verstreuten ka-
Dekompensierte Esophorie bedeutet, dass aus der Phorie
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194
W. de Decker
ein Strabismus geworden ist. Unter diesem Aspekt wird
die Störung hier behandelt (Eigentümlichkeiten der im
Wesentlichen noch kompensierten Esophorie in 2.3).
Bei akuter Dekompensation unterscheidet man drei
Hauptformen:
n Typ Franceschetti (123), mit Manifestation nach und
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
195
n Zusammenfassung
Dekompensierende und dekompensierte Esophorien
bedürfen der zügigen entlastenden Operation. Sie sind infolge ihrer beträchtlichen Schielwinkelgröße kein Betätigungsfeld für die Prismenverordnung.
durch eine Unterbrechung des Binokularsehens (Augenverband, einseitige Katarakt, einseitige Aphakie). Auch
Strabismus im Senium
eine Neuritis N. optici kann mittels Zentralskotom der
70 Jahre kommt es mit unbekannter Häufigkeit, jedoch
Auslöser sein (162).
nicht selten, zum subakuten oder schleichenden Auftreten
kennbare quasi mechanische Behinderung des Binokularsehens.
n Typ Bielschowsky (31), aber schon von Schoen 1906 (288)
von Strabismus convergens nur für die Ferne, mit fehlender
oder geringfügiger Abduktionseinschränkung und Schielwinkeln anfangs um S3h. Die Störung ist im Prinzip
schon fast 100 Jahre bekannt (288), wird aber auch in ein-
zutreffend dargestellt: Hochmyope im Alter zwischen
schlägigen Publikationen fast immer vergessen (227) oder
20 und 25 Jahren schielen, subakut beginnend für die
als Divergenzinsuffizienz gedeutet (48, 224, 242). Piper
Ferne (oft jenseits von 1,5 m), bei erhaltenem Binoku-
(262) und Crone (75) vertreten die Zuordnung zum Stra-
larsehen in der Nähe.
bismus. Manchmal findet man das klinische Bild durchaus
Der weitergehend interessierte Leser findet im fast 100
Jahre alten kleinen Lehrbuch von Schoen (288) dessen
richtig beschrieben, aber ohne den Hinweis, dass es sich
um eine Alterserkrankung handelt (130).
und seiner Zeitgenossen prächtig entwickelte Dispute
über die Ursachen, die in akkommodativem Fehlverhalten
gesucht wurden.
Ein relatives Handicap für den M. rectus lateralis infolge
der Bulbusvergrößerung ist, wie für das Auftreten von Hy-
n Eine Abduzensparese muss ausgeschlossen werden
(Diabetes, Keilbeinmeningeom), wenn Verdacht
auf einseitige oder asymmetrische Abduktionseinschränkung besteht.
potropie (Heavy Eye, S. 140, 540) wahrscheinlich gemacht
wurde, ein denkbarer Faktor. Richtig geklärt ist die Pathogenese nicht.
Bei vollwertiger Abduktion sollte man älteren Leuten die
doch recht invasiv gewordene Untersuchung ersparen,
Hat man es bei diesen akuten Verlaufsformen ohne
sie aber in Beobachtung behalten. Die geringe Sensibilität
Zweifel mit dekompensierter Esophorie zu tun, so dürfte
der Augenärzte für diese nicht seltene Alterserkrankung
die langsam, oft über Monate und Jahre dekompensierende
liegt daran, dass die Patienten im Gegensatz zu solchen
Esophorie viel häufiger sein, als die spektakulären akuten
mit echter Abduzensparese nicht über Diplopie klagen,
Fälle, die in der Literatur besser abgebildet sind. Die
sondern über Konfusion, die stets als Unscharfsehen er-
Mehrzahl der Patienten mit langsam dekompensierender
lebt und vorgetragen wird. Die übliche augenärztliche
Esophorie quält sich mit oder ohne prismatische Abfangversuche. Nicht selten wird solchen Patienten unter dem
Ausstattung und die überwiegend morphologische Ausbildung führen bei dieser Beschwerdelage zur Untersuchung
Verdacht einer beidseitigen Abduzensparese die rasche
von Makula und Linse, gefolgt von Trostworten. Wer die-
entlastende Operation verweigert, oder jedenfalls doch
ses Krankheitsbild aber einmal kennt, reagiert sofort mit
nicht angeboten. Ebenfalls nicht selten sind Patienten,
Rezeptur von beidseits 2–3 pdpt Basis außen, womit ge-
die bei allen Beschwerden die Notwendigkeit der Opera-
wöhnlich für lange Zeit wieder Kompensation eintritt.
tion nicht einsehen oder den Mut hierfür nicht aufbrin-
Bei Überschreiten von 5 pdpt Basis außen beidseits sollte
gen. Die meisten lernen schließlich, mit ihrer chronischen
entlastend operiert werden (Brillengewicht auf senil atro-
Diplopie umzugehen und wenn auch nicht zu supprimieren, so doch ohne gefährdende Konfusion leben zu kön-
phischer Haut), worauf man diese Patienten schon von
der ersten Vorstellung an systematisch vorbereiten sollte.
Die Pathogenese ist nicht bekannt. Alle Vorstellung der
nen.
Die Ansicht von Crone (74), diese Patienten brauchten
wegen ihrer trainierten divergenten Fusionsbreite keine
zitierten Autoren sind spekulativ und sollen hier durch
hohe Operationsdosierung, hat sich dem Verfasser nicht
Vom Verlauf der nicht ausgeheilten Abduzensparesen ist
bestätigt. Bei zu geringer Dosierung bleibt eine restliche
bekannt, dass die Defekte der Innvervation je zur Hälfte
Phorie zurück mitsamt der typischen Esodisparation im
die Sakkade (Alpha) oder die Haltefunktion (Gamma) be-
Fixationsverhalten (Mikrostrabismus, S. 228). Aus einer
(unveröffentlichen) Fragebogenaktion ergab sich, dass al-
treffen (300). Man kann sich deshalb vorstellen, dass
eine altersbedingte Hirnstamminsuffzienz selektiv die
lenfalls jeder 15. Patient nach hoch dosierter entlastender
Haltefunktion herabsetzt. Eine milde senile Konvergenz-
Operation noch oder wieder Beschwerden hatte.
schwäche mag dazu beitragen, dass die Störung in der
zwei eigene ergänzt werden:
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n Typ Burian (47), mit perakuter Manifestation ohne er-
Im fortgeschrittenen Alter um
196
2 Störungen des Binokularsehens
Nähe nicht wirksam wirkt. Seit langem bekannt ist auch,
sem Falle nicht akkommodiert werde, sei die absolute Hy-
dass der Rückgang der Motilität im Senium mehr die Ab-
permetropie auch keine Schielursache, sondern eben die
duktion als Adduktion betrifft (122).
relative Hypermetropie (Abb. 2.25). Um sich mit der
Rolle der Hyperopie als Schielursache befassen zu können,
Refraktion und Brillenkorrektion
beim erworbenen Innenschielen
sollte man diese Lehre kennen. Die Originalarbeit von
Donders ist schwer erhältlich. Man lese mit Gewinn die
Darstellung von Kettesy, der auch genau und böse auflisstellungen die Lehre von Donders in der Literatur erleiden
Schielbeginn und den davon abhängigen Folgen bei nach-
musste. Seinerzeit war die Lehre von Donders eine groß-
lassender, aber wohl nie ganz endender Plastizität des Gehirns ist verhältnismäßig jung und im Zusammenhang
artige Leistung. Was ist uns davon geblieben? Nach Kettesy (189) gilt nach wie vor, „dass in jedem Schielfall die
mit der kontroversen Diskussion der Frühoperation auf-
erste Aufgabe die Bestimmung der Refraktion, und – falls
gekommen (71). Die Anschauungen vor 1960 waren
Ametropie vorliegt – die Verordnung von Gläsern ist“.
nach einem Jahrhundert noch beherrscht vom Einfluss
Die Schwäche der Donders-Lehre liegt in dem Anspruch
Donders. Man gliederte gern in akkommodatives und
der Vertreter seiner Schule (190, 267) die Hypermetropie
nichtakkommodatives Schielen. Diese ältere Einteilung
sei die Schielursache. Sobald man einen Schritt zurück
ist aus praktischen Gründen unentbehrlich. Wir müssen
tritt und sieht, wie viele Fälle von frühkindlichem Schiel-
sie der Gliederung nach altersabhängigem Schielbeginn
so überlagern, dass diese Überlagerung die klinische
syndrom emmetrop sind, wird man diesem Anspruch
nicht beipflichten können. Der Stellenwert der Donders-
Wirklichkeit möglichst getreu abbildet.
Lehre ist richtig eingeordnet, wenn man der Hypermetropie und speziell der „relativen Hypermetropie“ die Funk-
Schieltheorie von Donders
Der Zeitgenosse und Freund
tion eines Auslösers beim Disponierten zuschreibt. Dann
Albrecht von Graefes sah die wesentliche Ursache des In-
wird auch klar, dass für jeden mehr oder weniger Dis-
nenschielens in der Hypermetropie, anfangs (109) naiv
ponierten die Schwelle, bei der die „fakultative Hyper-
und global: Mehr Akkommodation führe wegen der re-
metropie“ überschritten und die „relative Hypermetropie“
flektorischen Kopplung von Akkommodation und Konvergenz zu mehr Konvergenz, d. h. zum Innenschielen. Don-
erreicht ist, eben verschieden hoch liegt. Unter diesem
Aspekt verschwindet auch das Odium des Unverbindli-
ders (110) erkannte aber alsbald, angesichts der vielen
chen aus Donders Begriffen. Es bleibt das Prinzip von re-
Hyperopen, die nicht schielen, dass es so einfach nicht
lativer Akkommodation versus relativer Konvergenz,
sein kann. Die verbindliche Darstellung (110) unterschei-
deren begrenzte Freiheit zueinander Kettesy in einer in-
det schon Anteile der Hypermetropie, die ohne Aufgabe
struktiven Skizze dargestellt hat (Abb. 2.26).
der Fusion akkommodiert werden können („fakultative
Wir verordnen die „Schielbrille“ nicht zur Verbesserung
Hypermetropie“) und solche, die nur unter Aufgabe der
der Sehschärfe (außer bei absoluter Hypermetropie!),
Fusion akkommodiert werden können („relative Hypermetropie“) sowie die „absolute Hypermetropie“, zu
sondern zur Zügelung der Akkommodation, und tun das
Richtige, wenn wir uns dem Vollausgleich der Hyper-
deren akkommodativer Beherrschung die dauernd verfüg-
metropie maßvoll nähern. Versuche, mit refraktiver Über-
bare Akkommodationsreserve nicht ausreicht. Da in die-
korrektion die universale Rolle der Hypermetropie als
a
b
c
d
Abb. 2.25a–d
a,b Mit Brille kompensierter reinakkommodativer
Strabismus convergens.
Ferne (a), Nähe (b).
c,d Relative und absolute
Hyperopie nach Donders.
c Ohne Brille für Ferne
manifeste Esotropie (relative Hyperopie), d ohne
Brille für Nähe kein Strabismus (absolute Hyperopie).
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tet, welche verstümmelten oder gar sachlich falschen DarDie Einteilung der Schielformen nach dem Alter bei
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
197
Fast alle Befunde zum Binokularsehen „reinakkomomodativ“ Schielender entsprechen diesem Fallbeispiel. Zweifelsfreie Vollheilung fanden wir selten (16). Eine Durchsicht unseres gesamten Krankenarchivs von 1983 bis
1988 ergab nur 0,27 % reinakkommodative Esotropien,
die nach Brillenvollkorrektion lupenrein normosensorisch
waren. Wir teilen die Ansicht von Hamburger, dass die
Auslösung „reinakkommodativen“ Innenschielens durch
Abb. 2.26 Sinnbildliche Darstellung des Mechanismus
der relativen Akkommodation bei unkorrigierter Hyperopie,
ohne Aufgabe der Fusion (aus Kettesy, 189).
Schielursache doch noch zu beweisen (267) haben sich
nicht durchgesetzt.
die Hyperopie nur bei primärer Minderanlage zum Binokularsehen möglich ist. Es gibt ein Indiz, dass Donders
die Rolle der Disposition doch schon geahnt hat: Er lehnte
die Vorstellung vom frühen Schielbeginn vehement ab
(109), weil sie seine Theorie empfindlich gestört hätte.
Mit der unverzüglichen Brillenkorrektion, der Visusbismus ist das Mögliche getan. Die Brillenverordnung
sollte nur nach Skiaskopie in ausreichender Atropinzyklo-
n Zusammenfassung
Hyperopie hat die Funktion eines Auslösers einer Schielerkrankung, sie kann aber nicht die einzige Ursache sein.
tropie vorgenommen werden. Atropin hat den Vor- und
Nachteil, 7–10 Tage weiter zu wirken. Gibt man es in geringer Dosierung weiter, bis die Brille ausgeliefert worden
ist, so entfällt das leidige Problem der Nichtannahme
Rein
akkommodativer
Strabismus
convergens
Die
durch hyperope Kinder fast völlig. Diesen Vorteil bieten
Definition verlangt, dass der betroffene Patient durch die
kurz wirkenden Zykloplegika nicht. Diese werden von
Brillenkorrektion der Hyperopie allein geheilt wird. Ange-
uns nur zur späteren Kontrolle vor allem des Astigmatis-
sichts der Bedeutung der frühkindlichen sensiblen Phase
mus benutzt. Viele Augenärzte lehnen Atropin ab, weil
in der Ausformung normalen Binokularsehens kann „rein-
die ihnen allein vertraute wässerige Lösung Nebenwir-
akkommodativer“ Strabismus convergens nur in zwei Formen gedacht werden, die beide „erworben“ sein müssen:
kungen hat (roter Kopf, trockene Kehle, Fieber). In öliger
Lösung ist die Verträglichkeit deutlich besser, weil eine
Als normosensorisches Spätschielen nach vorhergehen-
Resorption über Tränenwege und Nasenschleimhaut
dem Erwerb von Binokularsehen mit normaler Korrespon-
nicht stattfindet. Atropinol ist nur einprozentig im Handel
denz oder als frühetabliertes periodisches Schielen auf re-
erhältlich, kann aber mit Rizinusöl beliebig verdünnt wer-
fraktiv-akkommodativer Basis. Die klinische Praxis zeigt,
den. Im Alter bis 6 Monate geben wir es nicht, bis zum
dass diese Unterscheidung, so klar sie gedanklich sein
3. Lebensjahr 0,3%ig, bis zum Ende des 5. Jahres 0,5%ig,
mag, im Einzelfall nicht immer getroffen werden kann.
wofür das folgende Rezept steht.
Fallbeispiel
Dorothea D., 13 Jahre, schielte rechts akut mit 11 Monaten.
Wenig später erfolgte die Brillenkorrektion der Hyperopie
von S5,0 sph beidseits mit Rückkehr zum Parallelstand. Dorothea erschien bis zum Alter von 5 Jahren als normosensorisch, zumal sie ohne unterstützende Teilzeitokklusion keine
Amblyopie ausbildete. Mit 5 Jahren kam es erneut zur akuten Dekompensation (S15h, Diplopie). Eine Verstärkung der
Brille war nicht möglich. Es wurde entlastend operiert. Postoperativ bestand Mikrostrabismus S3h mit Linksführung. Es
wurde Teilzeitokklusion verordnet, also nicht abgewartet,
ob der Spontanverlauf noch zur Entwicklung einer Amblyopie geführt hätte. Mit 10 Jahren standen die Augen unter
Vollkorrektion der Hyperopie wieder exakt parallel. Die intermittierende Okklusion wurde abgesetzt, die Visuskonstanz bei letzter Untersuchung mit 13 Jahren zweifelsfrei
festgestellt. Das Binokularsehen ist „subnormal“. Ob bei
noch früherer Brillenkorrektion vollwertiges Binokularsehen
ausgebildet worden wäre, muss offenbleiben (s. auch Fallbeispiel S. 227).
Rp. Atropinol (1 %) 5,0
Oleum ricini ad 10,0
S. Augentropfen 1/2 %!, Pipette
Sterilfiltration nicht erforderlich!
Man ist immer wieder überrascht, wie viel zusätzliche
latente Hyperopie durch regelmäßig wiederholte Skiaskopien nachzuweisen ist. Die Emmetropisation, die man
durch Skiaskopie und Vollkorrektion angeblich verhindert, ist wohl mehr akkommodativ adaptiver Natur und
nicht
geeignet,
einen
stabilen
AC/A-Quotienten
zu
stützen, wie wir ihn hier brauchen. Beim Absetzen der ansonsten getragenen Brille muss es fast zwangsläufig zur
erneuten Manifestation des Schielens kommen, wenn
die Akkommodation erneut für die Ferne missbraucht
wird. Tritt nicht sofort wieder Schielen auf, so wird entweder bewusst die Akkommodation vermieden (häufig)
oder die Hypermetropie ist „absolut“ geworden (im mittleren Alter, weil die Akkommodationsreserve nicht mehr
ausreicht). Meist aber tritt sofort wieder Schielen auf,
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und Stellungskontrolle unter Ausschluss von Mikrostra-
2 Störungen des Binokularsehens
weil die Patienten nur über subnormales Binokularsehen
verfügen.
Amblyopierisiko. Der Ausschluss von Basismikrostrabismus erfordert Sorgfalt. Insbesondere der Nachweis von
y
Amblyopie, auch in der unauffälligen, aber häufigen
Die Vielfalt der Meinungen zum Problemfeld Brille/Operation, offenbar ewig aktuell, wurde noch vor 10 Jahren in einem polymorphen Round Table diskutiert, lesenswert auch wegen der einleitenden Sprachregelung zum Komplex Akkommodation und Konvergenz aus der Sicht des Optometristen (289).
Form einer verminderten Lesegeschwindigkeit des nicht-
So führen z. B. Fadenoperationen, die nach Korrektion
dominanten Auges stellt klar, dass nicht „reinakkom-
der skiaskopisch erfassbaren Hyperopie ausgeführt wer-
modativer“ Strabismus vorliegt, sondern akkommodativ
den, nur in 5–7 % zur konsekutiven Exotropie (86, 184).
bedingte Dekompensation von primärem Mikrostrabis-
Auch geringe Hyperopien sollte man sorgfältig korrigie-
mus. Derartige Fälle bilden wahrscheinlich die Majorität
ren, da der Einfluss auf den Schielwinkel nicht vorherzu-
des für „reinakkommodativ“ gehaltenen Krankengutes.
Beim Studium älterer Literatur ist immer im Auge zu be-
sehen ist, aber groß sein kann (316).
halten, dass die Donders-Lehre bereits jahrzehntelang
Fallbeispiel
etabliert war, bevor man auf die Existenz des Krankheits-
Der Verfasser sah vor Jahren eine 24-jährige Beamtin bei der
Landesregierung, die mit Brille von bds. S1,0 dpt parallel
stand, ohne diese geringe Korrektion aber mit S20h manifest schielte.
bildes Mikrostrabismus aufmerksam wurde.
Refraktiver teilakkommodativer Strabismus convergens
Hier handelt es sich nicht um eine selbständige
Schielform, sondern um den Einfluss der nicht korrigierten Hyperopie, die mittels erhöhter Akkommodation und
In der Diskussion über die Notwendigkeit der Vollkorrektion der Hyperopie wird häufig übersehen, dass von zwei
Konvergenz den Schielwinkel vergrößert, auf jede Form
ganz verschiedenen Dingen die Rede ist: Beim akkom-
des Innenschielens.
modativen Strabismus ist notwendig, mit allen Mitteln
Kehren wir noch einmal zu Donders zurück: Seine
die Vollkorrektion anzustreben, da sie die Therapie der
frühere lineare Annahme (109), die Mehrakkommodation
Wahl ist. Ob die betroffenen Kinder die Vollkorrektion
führe zur Mehrkonvergenz und damit „optomotorisch“
gern annehmen, oder nur stufenweise mit Widerstand,
zum Innenschielen, trifft sinngemäß zu, wenn kein Bino-
hat geradezu diagnostischen Wert: Im ersten Fall liegt
kularsehen besteht. Die spätere Verfeinerung („relative
Hyperopie“) ist die relevante Beschreibung, wie ein Dis-
im Prinzip normales Binokularsehen zugrunde, das bei
Unterkorrektion durch Diplopie bedroht ist. Im Gegensatz
ponierter mit subnormalem Binokularsehen unter Ver-
dazu besteht beim teilakkommodativen Strabismus kein
sagen des Regelkreises von relativer Akkommodation
zwingender Grund, die Korrektion stets bis zur letzten
und relativer Konvergenz ins Schielen gerät.
Vierteldioptrie durchzusetzen. Praktisch bewährt hat
Die Reduktion des Schielwinkels durch die vollkorrigie-
sich die Regel, vom Atropinskiaskopiewert 0,25 bis
rende Brille ist bei Patienten mit gleich großer Hyperopie
0,5 dpt abzuziehen, jedoch den Zyklopentolatwert voll
verschieden, da der zugrunde liegende Schieltyp selbst
zu verschreiben. Dieser liegt gewöhnlich um 0,5 dpt niedriger als der Atropinwert (41, 271, 277). Auch Tropicamid,
allein oder in Kombination mit anderen Zykloplegika ist in
ganz unterschiedlicher Art ist. Die Häufigkeit des akkommodativ beeinflussten Innenschielens wird für Weiße mit
78,5 %, für Orientalen und Mischlinge mit 50 % angegeben
(173).
der zykloplegischen Wirkung dem Zyklopentolat gleichwertig (8), wenn man die kurze Phase voller Wirksamkeit
(20 e 5 min) genau einhält.
n In der praktischen Beratung von Eltern hüte man
sich, bei skiaskopischer Messung einer beträchtlichen Hyperopie Aussagen zu machen, die als Versprechen einer Heilung durch die Brille allein verstanden werden könnten.
Konvergenzexzess
Reiner Konvergenzexzess liegt vor, wenn bei Emmetropie
oder bestkorrigierter Fehlsichtigkeit für die Ferne Parallel-
Vor der Indikationsstellung zur Schieloperation gilt in der
stand oder Mikrostrabismus besteht, im Nahbereich je-
Tradition der deutschen Augenheilkunde die Brillenkor-
doch ein größerer Innenschielwinkel auftritt.
rektion als unverzichtbar, da andernfalls ein vermeintlich
größerer Schielwinkel operativ korrigiert wird und lang-
Akkommodativer Konvergenzexzess
fristig ein konsekutiver Strabismus divergens droht. Den-
Konvergenzexzess bedeutet, dass dieser größere Nah-
noch ist die Frühoperation des frühkindlichen Schielens
ohne Brillenkorrektion immer wieder vertreten worden
(125, 132). Die konsekutive Exotropie tritt dann beinahe
schielwinkel durch Vorsetzen von Plusgläsern (Nahkorrektion) auszugleichen ist. Der akkommodative Konver-
in jedem 4. Fall ein (133).
hyperkinetischen und dem seltenen hypoakkommoda-
Akkommodativer
genzexzess begegnet uns in zwei Formen, dem häufigen
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198
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
ren Nahschielwinkels durch zusätzliche Plusgläser völlig,
tiven Typus (70). Fehlt diese Beeinflussbarkeit des größe-
(264). Da die Fadenoperation auch die Blickexkursion in
der Ferne einschränkt, sollte man die Dosierung auf
so liegt nichtakkommodativer Konvergenzexzess vor. In
der Praxis findet man meist eine Mischform aus hyper-
13 mm begrenzen.1
Wir halten uns an folgende therapeutische Regeln:
kinetischem und nichtakkommodativem Konvergenz-
n Unter Atropinskiaskopie ermittelte Brillenvollkorrek-
exzess. Der Ausdruck „nichtakkommodativer Konvergen-
tion für die Ferne und Nahteil mit Zusatz von S1,5 bis
zexzess“ wird regelmäßig missbraucht, indem auch
S2,5 dpt. Der Nahteil soll groß sein und eine gerade
Patienten ohne Parallelstand in der Ferne wegen ihres
Trennlinie haben, die auf den Unterrand der Pupille
auffallend größeren Nahschielwinkels dieser Schielform
fällt. Etwa in der Hälfte aller Fälle kann der Nahzusatz
zugeordnet werden. Dies ist aber streng genommen
bis zum Alter von 15 Jahren abgeschwächt und schließ-
nicht zulässig, da die Definition der Konvergenzfunktion
an das Vorliegen von binokularer Interaktion gebunden
n Genügt dies nicht, so ist bei Kindern zusätzlich eine
199
lich weggelassen werden.
beidseitige Fadenoperation angezeigt.
ist.
n Bei Kombinationen von hyperkinetischem und nicht-
akkommodativem Konvergenzexzess ist der ideale Aus-
Konvergenzexzess
gleich in der Nähe häufig nicht zu erreichen. Bevor man
n Akkommodativer Konvergenzexzess
Ein Konvergenzexzess verschwindet unter Nahkorrektion.
– hyperkinetischer (normakkommodativer) Konvergenzexzess: normale Akkommodationsbreite, erhöhter AC/
A-Quotient.
– hypoakkommodativer Konvergenzexzess: erniedrigte Akkommodationsbreite, erhöhte Akkommodationsinnervation.
n Nichtakkommodativer Konvergenzexzess
Der Konvergenzexzess ist von der Nahkorrektion weitgehend unabhängig.
sich hier zur Übertherapie verleiten lässt, sollte man
unbedingt prüfen, ob nicht für die Nähe von Seiten
der Korrespondenz her eine Anpassung eingetreten ist,
die ihrerseits Parallelstand nicht gestattet.
Für den zukünftigen Lebenslauf der betroffenen Kinder ist
es wichtig, dass in Gesprächsdistanz kein Restschielwinkel über S4h zurück bleibt.
Hypoakkommodativer Konvergenzexzess
Die seltene
Störung wird gelegentlich als juvenile „Presbyopie“ umHyperkinetischer (normakkommodativer) Konvergenz-
schrieben, jedoch ist es ja nicht die mangelnde Verformbarkeit der Linse, sondern die unterwertige Innervation
exzess
Die Patienten akkommodieren als Emmetrope
zur Akkommodation, die hier zum Schielen in der Nähe
oder korrigierte Fehlsichtige normal, haben aber einen er-
führt. Da rätselhafterweise die Koinnervation zur Konver-
höhten AC/A-Quotienten. Die korrekt eingesetzte Akkom-
genz erhalten ist, schlägt der Versuch, durch Erhöhung
modation führt zu einer übermäßigen Konvergenzreakti-
der Innervation doch noch zum Akkommodationserfolg
on. Dabei verengen sich die Pupillen nur um das Ausmaß
zu kommen, auf die Augenstellung durch. Die einfache
bei normaler Naheinstellung wie bei Gesunden. Diese
Nahpunktbestimmung
Verhaltensweise ist durch Bifokalgläser oft, aber nicht
immer völlig zu beherrschen. Insofern kommen alle Ab-
genügt oft, um die Störung herauszufinden, die sonst
wegen ihrer Seltenheit leicht übersehen wird. Kinder wei-
stufungen zwischen rein akkommodativem und nicht-
chen mit dem Kopf vor solchen Texten zurück und zeigen
akkommodativem Konvergenzexzess in der Praxis vor.
bei Leseforderung eine auffällige Miosis, da die Koinner-
Die Regeln des komfortablen Brillentragens legen es
vation der Pupille, wie die der Konvergenz, ebenfalls funk-
nahe, dass Nahzusätze zur Brille S3,0 dpt nicht übersteigen sollen, und dass im Schulalltag Zusätze von S2,0 dpt
tioniert. Mädchen sollen häufiger betroffen sein als Knaben (234). Als Therapie bleibt nur die Mehrstärkenbrille,
schon die obere tragbare Grenze darstellen (Bildsprung an
deren Nahzusatz in solchen Fällen natürlich 2,0 dpt über-
der Trennlinie, Brillengewicht, Hänseleien). Auch die Verordnung von Gleitsichtgläsern ist nicht unproblematisch,
schreiten darf. Da die Patienten nicht ausreichend akkommodieren können, benutzen sie den Nahteil freiwillig.
da sie großflächige Partien mit beträchtlichen prismati-
Dieser kann deshalb klein sein, wie für Presbyope, doch
schen Nebenwirkungen und chaotisch irregulärem Astig-
zieht der Verfasser auch bei diesen Patienten die Verord-
matismus enthalten, die die oft begrenzte Fusionsfähig-
nung eines etwas größeren Nahteiles vor, um den Kindern
keit der betroffenen Patienten belasten. Wenn für die
ein Übermaß an „Kopfarbeit“ abzunehmen. Hier können
Nähe prinzipiell Binokularsehen besteht (Prismenver-
im Prinzip auch Gleitsichtgläser zum Einsatz kommen.
mit
kleingedrucktem
Lesetext
such), kommt bei ungenügender Wirkung einer Mehrstärkenbrille die entlastende Operation zum Einsatz. Hierbei
ist mit einer Fadenoperation an den Mm. recti mediales
beider Augen eine bessere Kompensation des spezifischen
Problems möglich als mit Rücklagerung dieser Muskeln
1
Die Dosierung der Fadenoperation (syn. retroäquatoriale Myopexie, Kap. 5.2.6, 5.3.1) wird immer in Bogenmaß (s. Tab. 1.6)
angegeben.
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n Zusammenfassung
200
2 Störungen des Binokularsehens
Dass der Verfasser dies gewöhnlich nicht tut, ist mehr
die für die Ferne weder Parallelstand noch Binokularsehen
eine persönliche Abneigung als objektiv begründet.
aufweisen, durchaus bei Schielformen, von denen hier gar
n Es wäre ein schwerer Fehler, bei hypoakkom-
nicht die Rede ist. Man kann nur empfehlen, bei dieser Befundlage von einem exzessiven Nahschielwinkel zu spre-
modativem Konvergenzexzess die Verordnung
einer Mehrstärkenbrille durch eine Operation zu
ersetzen.
chen. Der Kliniker ist angesichts solcher Fälle meist mit
voroperierten Patienten konfrontiert, die dann eine auf
die zuvor ausgeführte herkömmliche Schieloperation aufgesetzte Fadenoperation beider Mm. recti mediales benö-
Als Fadenoperation würde sie die Motilität beschädigen,
tigen.
ohne dem Patienten im Nahsehraum zu nutzen. Liegt in
seltenen Fällen eine Mischform von hypoakkommodativem und nichtakkommodativem Konvergenzexzess vor,
so ist eine zusätzliche Operation sinnvoll. Da das Problem
Operation bei erworbenem
Innenschielen
tigen die dann etwa 8 bis 9 Jahre alten Kinder eine zusätz-
Da die Prinzipien des Operierens in einem eigenen Kapitel
liche Fadenoperation von etwa 11,5 mm.
y Differenzialdiagnose. Eine Verwechslung mit dem noch
behandelt werden (Kap. 5), beschränken wir uns hier auf
viel selteneren spontan-akuten, juvenilen Akkommodati-
schen und eventuell mit Diplopie einhergehenden Schiel-
onsverlust (Männer um 20 Jahre) sollte ausgeschlossen
sein, da diese Patienten keinen Konvergenzexzess mehr
formen beachtet werden sollten.
entwickeln. Patienten mit akutem Akkommodationsver-
Spätschielen mit Doppeltsehen
lust oder mit der ebenfalls seltenen hypoakkommodati-
Strabismus im Senium weisen die Patienten mit erworbe-
ven Konvergenzschwäche sollte man zum Ausschluss
nen Esotropien große Schielwinkel auf. Sie sind deshalb
eines Mittelhirnprozesses neurologisch untersuchen las-
mit Prismen als Dauerlösung nicht kompensierbar und
sen.
bedürfen der operativen Entlastung mit hoher Dosierung.
die Besonderheiten, die bei den späten, normosensori-
Mit Ausnahme des
In eigener 40-jähriger Tätigkeit hat sich dem Verfasser
Nichtakkommodativer Konvergenzexzess
Dieser Terminus lässt sich bei strenger Auslegung nur für ganz we-
eine großzügige beidseitige Rücklagerung des M. rectus
medialis bewährt, mit Strecken zwischen 5 und 8 mm.
nige Fälle anwenden, nämlich solche, die für die Ferne Pa-
Überdosierungen sind extrem selten, eher droht die
rallelstand und Binokularsehen haben oder einen Mikro-
Unterdosierung. Man rechne mit 1,3h/mm Rücklagerung,
strabismus mit binokularer Interaktion. Bewirkt dann
bei einem Schielwinkel von S18h also mit einer beidsei-
die Vorgabe eines Nahzusatzes keine nennenswerte Re-
tigen Medialisrücklagerung von 7,5 mm. Eine Beeinträch-
duktion des Nahschielwinkels bzw. Konvergenzexzesses,
tigung der Konvergenzfunktion ist nicht zu befürchten:
so ist die Diagnose korrekt. Bei diesen Fällen fehlt auch
Durch wie auch immer geartete Messwerte der Schiel-
die normale Nahmiosis. Es bleibt nur die operative Therapie, wobei die Fadenoperation allein oft unterwertige Er-
winkel für Ferne und Nähe sollte man sich nicht von
der prinzipiell gebotenen hohen Dosierung abbringen
gebnisse liefert. Man sollte deshalb frühzeitig den Eltern
lassen.
sagen, dass ein zweistufiges Verfahren besser wäre: zu-
Eine ferne Verwandtschaft mit dem „frühkindlichen“
nächst eine beidseitige Rücklagerung der Mm. recti me-
Innenschielen, speziell mit seinen unkontrollierten „in-
diales mit einer Dosierung, die für die Ferne noch fusional
nervationellen“ Schielwinkelschwankungen, durchweht
kompensiert werden kann (in eigener Hand etwa beid-
diese Problematik. Was dort mit heißem Impuls ständig
seits 3,5 mm Medialisrücklagerung). Etwa sechs Monate
wechselnd geschieht, mutet bei den normosensorischen
später sollte man dann beidseits eine Fadenoperation
um 13 mm hinzufügen, gemessen vom natürlichen An-
spät und ganz spät Schielenden wie eine lange flache Impulswelle an, im Senium oft mit jahrelangem Verlauf, aber
satz. Die gleichzeitige Ausführung von Rücklagerung und
eben doch in der Bilanz jeweils wie eine autonome Über-
Fadenoperation, weltweit ein überaus beliebter Eingriff,
funktion der Mm. recti mediales. Die großzügige Media-
ist weniger empfehlenswert. Die trophische Schädigung
lisrücklagerung ist deswegen der angemessenere Eingriff
führt zu einer blockartigen Schrumpfung mit schwer vor-
als die Lateralisresektion, die man in geringer Dosierung
hersehbaren Ergebnissen und hässlichen Revisionsbedin-
zum Nacharbeiten bei Untereffekt gut einsetzen kann,
gungen. Nach mehr als 25-jähriger eigener Praxis mit
der Fadenoperation rate ich, diese Kombination bei den
hier besprochenen funktionellen Fällen zu unterlassen.
mit Webetechnik im Bereich der Sehne, also ohne Eingriff
in das Muskelparenchym (98).
Nicht alle Patienten gehören in diese Gruppe der de-
Der Ausdruck „nichtakkommodativer Konvergenzex-
kompensierenden und dekompensierten Esophorie. Einige
zess“ wird großzügig auch für alle jene Fälle angewendet,
Patienten werden auch, wie man oft hört, mit immer stei-
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sich meist während der ersten Schuljahre zuspitzt, benö-
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2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
genden Prismen in die Operation getrieben.1 Dieses Kran-
dass die Operation ambulant abläuft und ihn nicht mehr
kengut ist nicht homogen: Ein Teil der betroffenen Patien-
belastet als ein Zahnarztbesuch.
ten hat einen funktionstüchtigen Mikrostrabismus und
reagiert auf langsam steigende Prismen mit fusionaler
Operative Behandlung des Konvergenzexzesses
Kompensation, bis es nicht mehr geht. Solche Patienten
großen praktischen Bedeutung wegen sollen die thera-
können tatsächlich zu einer primär nicht indizierten Ope-
peutischen Prinzipien hier noch einmal kurz nachgezeich-
ration gezwungen sein.
net werden.
201
Der
Die normosensorischen dekompensierten Esophoren
aber große Schielwinkel, die man mit tragbaren Prismen
gar nicht beherrschen kann. Die Prismenverordnung
treibt hier also nicht Patienten in die Operation, die
sonst ohne sie ausgekommen wären, sondern beschert
ihnen hinhaltende, lange Zeit immer erneut auftretende
Beschwerden, die bei richtiger Diagnose und rechtzeitiger
Operation weitgehend zu vermeiden sind. An dieser Problemlage zerbrechen auch alle herkömmlichen Prismenformeln, weil die Prismenbehandlung insgesamt in vielen
Fällen überfordert ist. Für die Aufklärung über die Notwendigkeit einer angemessenen Operation sind Zeit und
Zuwendung unabdingbar. Besonders schwierig ist es, Pa-
n Zusammenfassung
n Hypoakkommodativer Konvergenzexzess ist nur mit Mehrstärkenbrille und im Prinzip nicht operativ zu behandeln.
n Hyperkinetischer (normakkommodativer) Konvergenzexzess
ist nicht so oft mit Mehrstärkenbrille allein kompensierbar,
wie vielfach geglaubt und gelehrt wird (315). Eine Fadenoperation beider Mm. recti medialis mit mittlerer Dosierung
bringt die meisten dieser Patienten in eine weit bessere
Situation.
n Nichtakkommodativer Konvergenzexzess (Parallelstand für
die Ferne) und fälschlich ebenso genannter Nahschielwinkelexzess bei habituellem Schielen auch in der Ferne benötigen eine operative Dämpfung durch beidseitige Fadenoperation.
tienten um 30 Jahre zur Operation zu leiten. Ihre Angst
verstecken sie hinter ihrer beruflichen Anspannung.
Die beidseitige Fadenoperation kann zur konsekutiven Divergenzstellung für die Ferne führen, was wiederum eine
Strabismus convergens im Senium
Nur hier findet sich
Rücklagerung meist beider Mm. recti laterales erforder-
ein kleiner Schielwinkel. Zunächst genügen fast immer
lich macht. Dieser Eingriff ist hoch wirksam, da er für
beidseits 3 pdpt (Basis außen) zur Brille, die man nicht
unnötig überschreiten sollte, wegen der Last auf der
die Ferne das konsekutive Außenschielen aufhebt und
für die Nähe dem Nahwinkelüberschuss dadurch ent-
senil atrophischen Haut der Nase. Die Konvergenzfunk-
gegen wirkt, dass er die Haftpunkte der Fadenoperation
tion wird durch diese Brille nicht beeinträchtigt! Mehr
an den Mm. recti mediales „geometrisch“ weiter nach hin-
als beidseits 5 pdpt sind nicht tragbar. Für die entlastende
ten verschiebt, von der aktuell exotropen Augenstellung
Operation gilt die (universale) Feststellung: „Je kleiner der
aus betrachtet.
Fehler, desto inadäquater darf die Muskelwahl sein“.
n Bei Winkeln bis zu S5h genügt die Ein-Muskel-Chirurgie, z. B. eine Miniresektion am M. rectus lateralis von
2 mm, wobei die eigentliche Seitenwahl beliebig ist.
2.4.2
Frühkindliches Innenschielen
Da eine durchwebte Miniresektion hoch effektiv ist,
kann sie Astigmatismus inversus verursachen, sodass
man sie nicht ohne Not am dominanten Auge ausführen
Der selbstverständlich klingende Begriff ist überprägt von
sollte. „Not“ bedeutet hier, dass im Senium organische
der amerikanischen Congenital Esotropia (Schielbeginn
Gründe die Seitenwahl vorgeben können (Plomben-
im ersten Lebenshalbjahr) und der Infantile Esotropia
schloss nach Cerclage, trophisches Ulkus der Randfur-
(Schielbeginn im zweiten Lebenshalbjahr). Im US-ame-
che).
n Bei Winkeln deutlich über S5h (inveterierte Fälle) la-
rikanischen Alltag setzt diese Diagnose voraus, dass ein
„Pediatric Ophthalmologist“ das Kind in diesem Zeitfens-
gert man besser beidseits den M. rectus medialis um
ter hat schielen sehen. Eine solche Definition nur nach
3 mm zurück, da sich dies bei den dann meist Hoch-
dem Schielbeginn muss zwangsläufig Zustände zusam-
betagten leichter in Lokalanästhesie ausführen lässt.
menfassen, die nicht zusammen gehören. Zwei große Fall-
Schon bei Übernahme einer einschlägigen Behandlung
gruppen lassen sich prinzipiell trennen:
und erneut, wenn die entlastende Operation ansteht,
n Frühkindliches Schielsyndrom: Der von Lang (214) vor-
sollte man unbedingt dem Patienten zu verstehen geben,
gestellte Symptomenkomplex ist das Schicksal derjenigen, die im ersten Lebensjahr und weiterhin konstant
manifest schielen (nach innen wie nach außen!).
1
Betrifft die Augenoptiker und ihre augenärztlichen Kombattanten („Vollkorrektionsclub“).
n Unerkannt intermittierendes Innenschielen: Jedes Kind mit
glaubhaft frühem Schielbeginn ohne die Kardinalsymp-
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einschließlich der kindlichen Spätschielenden haben
2 Störungen des Binokularsehens
tome des frühkindlichen Schielsyndroms ist unter dem
Aspekt anzusehen, dass es möglicherweise nur intermittierend schielt. Ein großer Schielwinkel spricht
nicht gegen diese Annahme!
Anamnese, Schielbeginn,
Terminologie
Der Ausdruck „frühkindliches Innenschielen“ wird im
Eltern geben fast stereotyp an, ihr Kind schiele seit Ge-
Weiteren nicht mehr für ein reales Krankheitsbild be-
burt. Dem folgte die wissenschaftliche Darstellung
nutzt, sondern es wird immer zwischen Schielsyndrom
zwangsläufig bis 1985, als sich herausstellte, dass prak-
und einem für (wenigstens initial) intermittierend gehal-
tisch niemand seit Geburt schielt (128, 235). Die nasal
tenen Schielen ohne motorische Symptome unterschie-
noch kurzen Lidspalten von Säuglingen können Schielen
den. Dies geschieht, um den Leser dazu anzuregen, von
vortäuschen, vor allem im Seitblick. Die spätere Feststel-
vornherein den Versuch einer Einordnung zu machen.
Die Übergänge, die es selbstverständlich gibt, also Patien-
lung echter Esotropie veranlasst die Eltern dann, den
Schielbeginn innerlich zurückzudatieren.
ten mit wenigen motorischen Symptomen einerseits und
Einige Jahre nach Beginn der o. a. Studie (128) fragten
unauffällig Schielende mit Kontrakturen, die ein noch ak-
wir Eltern nach dem Schielbeginn ihrer Kinder, den wir
tives Intermittieren ausschließen andererseits, treten im
selbst mit ihnen festgestellt hatten. Die Antwort war
Laufe der weiteren Betreuung von selbst hervor.
meist: „Seit Geburt“.
Auf der u. E. unzulässigen Zusammenfassung inkom-
Die frühesten tatsächlich beobachteten Anfänge der
mensurabler Verlaufsformen beruht die leidige Dauerkontroverse um die Frühoperation. Es ist klar, dass jemand,
der intermittierend entspannt, sich Binokularfunktionen
Schielerkrankung liegen nach beiden Studien im Alter
(von sehr unterschiedlicher Tragfähigkeit) bewahrt und
von etwa 4 Wochen. Verlaufskontrollen zeigen, dass intermittierendes Schielen im ersten Lebensjahr durchaus
nicht selten ist (35, 36, 127). Nicht einmal Orthoptistinnen
deshalb nach (früher) entlastender Operation besser he-
als Mütter können immer sicher sagen, ob solche Phasen
rauskommt, als ein konstant manifest Abweichender. Sol-
echtes Schielen oder ein Suchlauf zum Erwerb des eige-
che unerwarteten funktionellen Ergebnisse findet man
nen AC/A-Quotienten sind (166).
auch bei späterer Operation. Es muss deshalb nicht allein
der Operationszeitpunkt sein, der in den letzten Jahren zu
gelegentlich guten Ergebnissen der Frühoperation geführt
hat (339), sondern eben auch die Durchmischung des ver-
n Das frühkindliche Innenschielen beginnt nicht vor
der 4. Lebenswoche.
meintlich homogenen Krankengutes mit minderschwer
Wenige Sekunden währendes Innenschielen zur Abstim-
Betroffenen.
mung von Akkommodation und Konvergenz im zweiten
Eine weitere transatlantische Kontroverse betrifft die
bis vierten Lebensmonat sind das „Babyschielen“. Sie sind
Frage der Konstanz des Schielwinkels. Zur amerikanischen
selbstverständlich nicht pathologisch. Für irgend etwas
Infantile-congenital Esotropia gehören die stehenden Bei-
anderes sollte der Ausdruck nicht benutzt werden (329).
worte „large“ und „constant“, während europäische Strabologen schon vor Jahrzehnten erhebliche Winkelschwankungen sahen (180, 241), beziehungsweise bis heute be-
n Unter „Babyschielen“ versteht man das nur wenige Sekunden dauernde Üben der Konvergenz.
schreiben (185). Der Verfasser beobachtet Schielwinkelschwankungen sowohl beim Schielsyndrom als auch
Abb. 2.27 zeigt am Beispiel eigener Fälle, wie komplex und
beim intermittierenden Frühschielen, doch gibt es auch
gewiss für Eltern schwer überschaubar die Rekompensa-
Referenten, die ihre frühere „europäische“ Meinung seit-
tion oder die endgültige Dekompensation sein kann. Zu
her amerikanisiert haben (53). Es sei hier deshalb empfoh-
einer guten Anamnese gehört deshalb auch die Frage, ob
len, sich nicht auf das Messen der Abweichung mit Pris-
das Kind bei Beginn sofort konstant manifest geschielt
men und Abdecktest zu beschränken, wodurch man den
Befund des pseudokonstanten Winkels herbeiführen
habe oder anfangs nur periodisch. Nach einiger Zeit der
Betreuung haben viele Eltern ihre Erinnerungen mehr
kann, sondern wiederholt das ungestörte oder abgelenkte
oder weniger bewusst überprüft, sodass eine gelegentli-
Kind zu beobachten, da diese Frage in der Indikationsstel-
che Wiederholung der Anamnese sehr lohnend ist.
lung zur Operation eine wichtige Rolle spielt.
Die relative Häufigkeit der einfachen gegenüber den
motorisch komplizierten Formen ist aus Klinikkrankengut
nicht wirklich zu ermitteln. In der Spezialklinik sammeln
sich die komplizierten Fälle (51, 154). Im eigenen Krankengut halten sich „einfache“, die u. U. intermittieren,
und „komplizierte“ mit signifikanten motorischen Symptomen eher die Waage. Zu einer ähnlichen Beurteilung
kommt Campos (53).
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202
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
203
Klinisches Bild und Teilsymptome
des frühkindlichen Schielsyndroms
n Rucknystagmus vom Latenstyp (Latenstypnystagmus):
Dieser Nystagmus ist in adduzierter Augenstellung
ruhiger. Abduktionsforderung und Verschließen des jeweils anderen Auges erhöhen immer die Amplitude,
Das Vollbild, nach Lang (214) durch folgende Symptome
gekennzeichnet, soll hier, leicht modifiziert und aktualisiert, zunächst kurz vorgestellt werden.
nicht immer die Schlagfrequenz. Die schnelle Phase
schlägt beidseits nach temporal, dabei kaum je über
die Fovea hinweg (Abb. 2.29).
n Bei sehr frühem Schielbeginn anfangs konstanter Schiel-
n Der seltene „blockierte Nystagmus“ nach Cüppers ist ein
winkel, die „constant congenital esotropia“ der ame-
intermittierendes Schielen zwecks Visusverbesserung
rikanischen Literatur. Bei etwas späterem Schielbeginn
durch die bimonokulare Adduktion, das „Nystagmus-
findet sich primär ein variabler Schielwinkel, den die
blockierungssyndrom“ (4) entspricht weitgehend der
sehr früh manifestierten Fälle im Laufe des zweiten
(pseudokonstanten) „constant congenital esotropia“
oder 3. Lebensjahr aber auch meist entwickeln. Die Fixation in Adduktion wird bevorzugt und manchmal
der amerikanischen Literatur. Diese Ausdrücke sind
missverständlich und sollten nicht benutzt werden,
bis in das Erwachsenenalter beibehalten (Abb. 2.28). Of-
wenn der gemeinte Nystagmus lediglich der zum
fenbar wird der große Schielwinkel, sei er variabel oder
frühen Schielen gehörende N. latens ist.
scheinbar konstant, durch ständige Innervation unter-
n Alphabetsymptome: Fehler im Zusammenspiel von gera-
halten. Ein anatomisch fixierter Schielwinkel durch
den und schrägen Augenmuskeln mit der Folge des
Muskelkontrakturen entsteht selten vor Abschluss des
Schrägschielens (Strabismus sursoadductorius, deorso-
6. Lebensjahres und durchaus nicht bei jedem Betrof-
adductorius) und von Inkomitanzen, die man mit
fenen.
jenen Großbuchstaben bezeichnet, die sie in frontaler
Draufsicht beschreiben (A, V, Y, l, X, O, T, s. Abb. 2.31).
Abb. 2.28 Erwachsene mit frühkindlichem
Schielsyndrom fixieren oft auch mit dem dominanten Auge in Adduktionsstellung (links). Wegen der
Kopfhaltung wurde die Operation symmetrisch auf
beide Mm. recti mediales verteilt (rechts).
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Abb. 2.27 Frühkindliche Entwicklung zum Parallelstand.
Zwei Babys im Altersverlauf von 1 bis
9 bzw. 16 Wochen. Beide zeigen variable Augenstellungen, die in einem
Fall (Stern) zu normalem Parallelstand,
im anderen (Kreuz) zu manifestem
Innenschielen führten (128)
204
2 Störungen des Binokularsehens
Schielsyndroms. Sie bedeuten, unbeschadet ihrer vermutlich uneinheitlichen Pathogenese eine mehr oder weniger
ausgeprägte Auflösung des Hering- und des SherringtonGesetzes.
Bei schwerer ausgeprägtem Schielsyndrom ist sinngemäß
der Grad von Unordnung, das heißt die Abweichung von
diesen Bewegungsgesetzen deutlicher ausgeprägt, mit
folgenden Symptomen:
n Kopftremor: Ein feines, oft phasisch an- und abschwel-
lendes Zittern stellt man durch loses Auflegen der
Fingerspitzen (bei offener Hand) auf den Scheitel fest.
Es überdauert den manifesten Latens-Typ-Nystagmus
und ist nicht synchron mit ihm.
n Kokontraktion der Mm. recti mediales: Kinder mit gerin-
auffällige zeigen statt des Nystagmus latens mitunter
einen simultanen beidseitigen rhythmischen Adduktionsexzess, der einem Nystagmus rectractorius ähneln
und dem hiermit nicht vertrauten Untersucher bedrohlich erscheinen kann (92). Bevor man die Eltern in UnAbb. 2.29a–d Essentieller Nystagmus schlägt über die
Fovea hinweg (a), Nystagmus vom Latenstyp normalerweise von
nasal her bis in die Fovea (b). Das nicht fixierende Auge verliert die
volle Amplitude der schnellen Phase und kehrt kaum noch oder
nicht mehr zur Fovea zurück (c,d; 4). Bei Prüfung der Fixation in
Adduktion kann die schnelle Phase die Fovea u. U. noch nach
fixationsverbessernder Operation wieder erreichen.
ruhe versetzt, wird man neuropädiatrische Rücksprache
halten, da wohl immer „dort“ eine Akte vorliegt. Wegen
der groben Störung der visuellen Entwicklung ist die
Frühoperation erforderlich (beidseitige Medialisrücklagerung um 8–10 mm). Wir fassen solche Fälle als
„Schielsyndrom plus“ auf.
n Dissoziiertes Torsionsschielen: Nicht nur der horizontale
und vertikale Schielwinkel sind variabel, sondern auch
die torsionale Augenstellung kann erheblich schwanken
Nicht alle Fälle mit A- oder V-Inkomitanz zeigen
(307). Häufig wiederholte Skiaskopien im 2. Lebensjahr
Schrägschielen, sodass die Pathogenese nicht einheit-
zeigen, wie sehr die Zylinderachsen variieren.
n Unterwertige Sehschärfe: Mitunter finden wir, dass Kin-
lich sein dürfte.
n Dissoziiertes Höhenschielen (dissoziierte Vertikaldivergenz,
der und Erwachsene mit frühkindlichem Schielsyndrom
DVD) : Bei den meisten findet man die einseitige Ausprä-
und alternierender Fixation allen Refraktionskünsten
gung, und ganz selten Einseitigkeit auf dem führenden
Auge, wobei dann das abweichende tiefer stehen
zum Trotz keine volle Sehschärfe erreichen. Offenbar
liegt eine Deprivationsamblyopie vor, die auch im
kann, das Kinn gesenkt, und eine markante Aufblick-
VECP nachgewiesen werden kann (56). Hauptursachen
szwangshaltung eingenommen wird.
dürften die zuvor erwähnte torsionale Instabilität der
n Kopfneigung zur Schulter, bei ca. 70 % der Betroffenen
Zylinderachsen und Manifestation des Rucknystagmus
zur Schulterseite des führenden Auges, bei ca. 20 % zur
vom Latenstyp auch noch bei ausgeprägter Adduktion
Seite des abweichenden Auges mit DVD, und bei ca.
sein. Letztere ist auffällig und eine Indikation zur
10 % in weniger übersichtlichen Kombinationen.
Frühoperation.
n Minimale zerebrale Dysfunktion: In vergangenen Jahren
n Zusammenfassung
Symptome des frühkindlichen Schielsyndroms (Lang)
n Nystagmus latens (Latenstypnystagmus)
n dissoziiertes Höhenschielen
n Alphabetsymptome
n dissoziiertes Höhenschielen
n Kopfneigung
hat man wiederholt versucht, die auffällige Minderbelastbarkeit von Kindern mit ausgeprägtem frühkindlichem Schielsyndrom durch Intelligenztests zu verifizieren. Hier haben sich Defizite nicht nachweisen lassen
(192), wohl aber im Bereich der Feinmotorik und der
Konzentrationsfähigkeit. Für den Augenarzt empfiehlt
sich die Frage nach den Terminen des Laufen- und Spre-
Diese von Lang angegebenen klassischen Symptome fin-
chenlernens sowie, bei älteren Kindern, nach der Einschulung. Die genaue Abgrenzung bleibt vorerst
den sich in beliebiger Mischung und nicht immer vollzäh-
schwierig, da Frühgeburt und spätes Generationsver-
lig bei mittelschwerer Ausprägung des frühkindlichen
halten der Eltern auf komplexe Weise mit dem
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gen neuroanatomischen Schäden, aber auch sonst Un-
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
frühkindlichen Schielsyndrom verknüpft sein können.
Der sichtbare Umfang des Schwankens der Augenstellung
Wer das unrastige, oft chronisch übellaunige Verhalten
und ihr Wechsel in der Zeitfolge sind individuell äußerst
der betroffenen Kinder einmal bewusst bemerkt hat,
der wird sich auch der Anschauung nicht verschließen,
dass das frühkindliche Schielsyndrom nicht auf den
verschieden. Das Ausmaß sichtbarer Winkelentspannung
bleibt fast stets hinter der wahren zurück. Im eigenen
Krankengut erreichen 2/3 aller Patienten mit frühkindli-
visuell-optischen Hirnbereich beschränkt ist.
chem Schielsyndrom – diejenigen ohne manifest alternie-
Schielen mit den spezifischen Symptomen des frühkindlichen Schielsyndroms ist Bestandteil vieler pädiatrischer Syn-
rende DVD – eine lockere binokulare Interaktion, was nur
drome. Unter diesen nimmt die spastische Zerebralparese
geprägt worden sein konnte. Für die praktische Indikati-
während Phasen beträchtlicher Schielwinkelentspannung
einen besonderen Rang ein. Aus der Sicht des Pädiaters
onsstellung benötigt man folgende Untersuchungen:
verengt sich Strabismus vielfach überhaupt auf diesen
Aspekt.
n Längeres Betrachten der Augenstellung nach Hornhaut-
Für Leser, die zunächst Begriff und Übersicht benötigen,
ten Kind, mit der Absicht, den Umfang der Schwankun-
reflexen im Gespräch mit dem von der Sache abgelenkgen richtig zu erfassen.
lung gegeben. Da die klassischen Symptome im Kontext
n Messen des Schielwinkels mit Prismen und zunächst ein-
von Lang therapierelevant sind, folgt für diese hier eine
seitigem, dann wechselseitigem Abdecktest, wodurch
zweite, genauere Beschreibung.
man einen Eindruck über die Größe des mittleren und
des maximalen Winkels erhält.
Konstanter, pseudokonstanter und variabler Schielwinkel
n Korrespondenzprüfung mit Nachbildern und am Synop-
Frequente und auffällige Schielwinkelschwankun-
tophor, deren bekanntermaßen unterschiedlicher Aus-
gen erwecken immer den Verdacht auf frühen Schiel-
fall keinen Widerspruch darstellt, sondern angibt, ob
beginn, auch dann, wenn die Elternanamnese dagegen
oder dass der Patient bestimmte Schielwinkel im
spricht. Dies gilt insbesondere, wenn weitere Inkomitanz-
Schwankungsbereich bevorzugt. Die Erhebung eines
symptome hinzukommen. Der Nachweis des variablen
großen Anomaliewinkels besagt nur, dass der Patient
Schielens kann schwierig sein, sollte aber immer versucht
eben auch einen großen Schielwinkel hat, aber nicht,
werden, da Fehleinschätzungen als konstantes Schielen zu
Fehlern in der operativen Indikationsstellung führen. Hilfreich ist die Anamnese mit der Frage, „wie stehen die
ob dieser mit kleineren Winkeln abwechselt. Es gibt
nicht die Korrespondenz! Das Setzen der Nachbilder
muss in deutlicher Adduktionsstellung geschehen, da
Augen morgens, wenn das Kind gut geschlafen hat“.
sonst die retinale Nachbildplatzierung durch den mani-
Nicht selten werden Elternangaben für unzuverlässig ge-
festierten Nystagmus latens in unkontrollierter Weise
halten und die diagnostischen und therapeutischen Ent-
beeinflusst wird. Nachbildkorrespondenzwerte sind
scheidungen nur auf die Messung von Schielwinkeln
ein Gemisch aus Fern- und Nahwerten, wobei „alte Ge-
gegründet. Es hat sich jedoch erwiesen, dass die Eltern
wohnheiten“ starken Einfluss haben: Kinder, die nach
meist zuverlässig angeben können, ob das Schielen kon-
Operation eine gute Augenstellung mit positivem Bago-
stant oder variabel ist. Können die Eltern hierzu keine
Aussage machen, so sollte man sie bei den ersten Beratungen auf das Problem hinweisen und bei späteren Vorstel-
lini-Streifentest aufweisen, benötigen Monate bis zu
einem Jahr, bis sich die Nachbildkorrespondenz ändert
und eventuell normalisiert (65, 85). Die Angaben am
lungen darauf zurückkommen. Fehlt jede Elternangabe
Synoptophor suggerieren trotz der nominell akkom-
oder eigene Beobachtung von Schielwinkelschwankun-
modationsfreien Einstellung der Optik psychophysisch
gen, so dürfen wir einen konstanten Schielwinkel an-
doch Nahbedingungen und liefern deshalb größere
nehmen.
Anomaliewinkel, indem sie von den oft größeren
Dieser Befund ist aber nicht gleichbedeutend mit einem
fixierten Schielwinkel. Die Abgrenzung zwischen „konstant“
und „fixiert“ ist bei Kindern nur in Narkose möglich (40,
Schielwinkeln in der Nähe beeinflusst sind. Die kleins-
248), wobei man sehr vorsichtig urteilen muss. Bei unge-
spannung und damit für Therapieziel und Prognose ver-
nügender Narkosetiefe oder -dauer täuschen tonische In-
wertet werden.
ten je festgestellten Anomaliewinkel dürfen als Richtwerte für die tatsächlich erreichte Schielwinkelent-
nervationsreste einen fixierten Schielwinkel vor. Sicherer
als die Beurteilung der Stellung ist der Ausfall des Spring-
Nystagmus latens, gestörter optokinetischer Nystag-
back-balance-Tests, also die Beobachtung, ob nach mehr-
mus und Fixation in Adduktion, exzentrische Fixa-
facher passiver Abduktion die Augen stets wieder in eine
tion
adduzierte Position zurückkehren.
Die Entscheidung, ob konstantes oder variables Innen-
vom Latenstyp, Latenstypnystagmus) ist ein Rucknystagmus mit der schnellen Phase zur Seite der Abduktion. Ab-
schielen vorliegt, muss der Untersucher vorwiegend auf-
decken (Lichtentzug) des anderes Auges manifestiert den
grund der Beobachtungen des wachen Patienten treffen.
Nystagmus; desgleichen die provozierte Abduktion, so-
Der latente Nystagmus (besser: Rucknystagmus
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haben wir bis hierher eine zusammenfassende Darstel-
205
206
2 Störungen des Binokularsehens
dass eine latente und eine blickparetische Komponente
Alle diese Patienten verfügen mangels Binokularsehen
unterschieden werden können (195). Mit der langsamen
später nicht über geregelte Konvergenz. Der Ausdruck
(tonischen) Phase treiben die Augen in die Adduktionsstellung, mit der schnellen „Phase“ wird das abgebildete
„nichtakkommodativer Konvergenzexzess“ sollte deshalb
eigentlich durch „persistierender Adduktionsexzess in der
Objekt in die Fovea zurückgeholt. Typisch für den latenten
Nähe“ oder „exzessiver Nahschielwinkel“ ersetzt werden,
Nystagmus ist es, dass bei der Fixationsprüfung mit dem
um klar zu halten, dass es kein binokularer Prozess ist.1
Sterntest im Augenspiegel der Nystagmus nicht nach temporal über die Fovea hinaus schlägt (s. Abb. 2.29). Dies
n Nur bei symmetrischer Kreuzfixation ist die Amblyopiegefahr gering.
schützt vor Verwechslungen mit neurologisch relevantem
Augenzittern. Mit zunehmender Abduktion wird die Amplitude größer, selten auch die Frequenz höher. Dann
kann es zum Sprung über die Fovea nach temporal kommen (104). Als Symptom des frühkindlichen Schielsyn-
Das tonische Übergewicht der Adduktion sorgt, Symmetrie vorausgesetzt, häufig dafür, dass beide Augen im
droms findet man Latenstypnystagmus in 55 % (214) bis
beide benötigt und infolgedessen nicht amblyop. Es gibt
90 % (143). Auch beim frühkindlichen Außenschielen
aber Ausnahmen:
kommt die Störung vor (223).
Bei Asymmetrie kann auf dem stärker betroffenen Auge
Zugleich gelingt die Abduktion nicht recht, weder will-
der Latenstypnystagmus auch bei extremer Adduktion
kürlich noch als induzierte Blickfolgebewegung. Dies wird
noch manifest sein. Dann droht die irreversible Amblyo-
üblicherweise registriert als Asymmetrie des optokinetischen Nystagmus (OKN), dessen Defizit in Richtung der Ab-
pie. Da das Auge nur noch wenig benutzt wird, erfolgt
die Rückstellung zur Fovea immer flüchtiger und das
duktion nie völlig ausreift, auch wenn der Latenstypnys-
Schwergewicht der Fixation verschiebt sich nach nasal
tagmus nicht mehr auftritt (6). Selbst die Entwicklung
von Stereosehen könne diesen Defekt, der an eine spe-
(s. Abb. 2.29). Hier bietet sich eine zwanglose Begründung
für das Überwiegen der nasal exzentrischen Fixation bei
zielle sensible Phase gebunden scheint, nicht mehr
Schielamblyopie. Eine Erklärung der exzentrischen Fixa-
kompensieren (240, 340). Wright vertritt vehement die
tion aus historisch ehrwürdigen Hypothesen (Korrespon-
Möglichkeit, bei konstant manifestem Frühschielen Ste-
denz- und Suppressionstheorie) würde eher vermuten
reosehen durch Frühoperation zu etablieren. Daher versteht sich der Spagat von Erwerb von Stereosehen einer-
lassen, dass sich der Fixationsort frei um die Fovea
herum verteile.
seits und restlicher Abduktionsschwäche andererseits.
Es kann beiderseits keine Augenstellung (in irrealer ma-
Man sollte solche Mitteilungen zur Kenntnis nehmen,
ximaler Adduktion) erreicht werden, die eine nystagmus-
aber doch mit Skepsis betrachten.
freie foveale Fixation erlaubt. Dann ändert das Gehirn of-
Der Physiologe darf wegen seines spezifischen Ver-
fenbar seine Strategie. Statt die Fixation in der Adduktion
suchsaufbaus beide Symptome als ihrer Natur nach ver-
zu verwerten (sog. Nystagmusblockierung) wird versucht,
schieden ansehen. Für den Arzt als Beobachter eines oft-
den „Tonus“ durch Kokontraktion zu befriedigen und die
mals schier unüberwindlichen Adduktionstonus scheint
es sich eher um zwei Facetten der selben Innervationsstörung zu handeln: Der exzessive Adduktionstonus
Phasen des Stillstandes zwischen bimonokularem Adduktionsexzess und Rückstellung beider Augen für eine kurze
Foveatisation zu benutzen (92). Die Fähigkeit des Gehirns,
kann bewirken, dass bei der Blickwendung wie bei der
den üblichen Ablauf des Nystagmus latens zu modifizie-
Blickfolge die Abduktion des nicht fixierenden Auges
ren, ist erwiesen (104). Die Deutung des Phänomens als
plötzlich aufgegeben wird und dieses in eine eindrucks-
„Schielsyndrom plus“ ergibt sich aus dem Verlauf, wie
volle Adduktionsstellung „flieht“. Bei moderater Ausprä-
folgendes Fallbeispiel zeigt:
gung wirkt dieser „Verstoß“ gegen das Gesetz der reziproken Innervation (Sherrington) wie ein Überspringen auf
die Vergenzinnervation (318), bei Geschädigten wirkt er
bedrohlich: Die Störung wird dann bimonokular manifest
Fallbeispiel
Die vernachlässigte 16-jährige S. A. kam erst mit 15 Jahren
aus dem Heim in eine Pflegefamilie, die sie der verspäteten
Schieloperation zuführte. Sie ist körperlich und mental nicht
ganz altersentsprechend entwickelt, aber nicht schwachsinnig.
paukend, wegen ihrer Kokontraktion an einen Nystagmus
retractorius erinnernd (92). In den gleichen nosologischen
Zusammenhang gehört wohl auch, unendlich viel milder,
der sog. nicht akkommodative Konvergenzexzess, das
Überwiegen
des
Nahschielwinkels.
Schieltheoretisch
laufen alle diese Beobachtungen auf die kontrovers
diskutierte Frage hinaus, ob die langsame Phase gewissermaßen der Strabismus selbst ist oder ein Epiphänomen
(195).
1
Der von Cüppers vorgeschlagene Terminus „Adduktionsexzess“
konnte aber schon vor Jahrzehnten nicht durchgesetzt werden.
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Säuglings- und Kindesalter gekreuzt fixieren. So werden
W. de Decker
207
von Patienten dieses Typs sollte nicht am Phoropter
geprüft werden, wo die relativ abduktorische Blickrichtung kanalisiert und eine Amblyopie vorgetäuscht wird.
Eher selten sieht man Patienten jeden Alters, die offenbar
keinen zwingenden Zusammenhang zwischen erhöhtem
Adduktionstonus, gestörter abduktorischer Fixationsfolge
und Latenstypnystagmus empfinden, sondern munter abduzieren, dabei die Manifestation des Letzteren hinnehmen und sich mit einem Visus um 0,6 begnügen.
Wir nennen dies „subnormales Sehen“.
Der Augenarzt, auch der strabologisch nicht sonderlich
engagierte, muss diese Besonderheiten kennen, den
Latenstypnystagmus als solchen im Ophthalmoskop mit
Sterntest erkennen und Eltern und Kollegen mit Bestimmtheit sagen können, dass hier kein neurologisch relevanter echter Nystagmus vorliegt, um die überflüssige,
Die hier geschilderten Extremsituationen bedeuten, dass
heute recht invasive neurologische Untersuchung wegen
ein- oder gar beidseitig – auch mit der intensivsten Ok-
dieses Befundes vor allem bei Kindern zu verhindern.
klusion die drohende Amblyopie nicht vermieden werden
kann, weil selbst in extremer Adduktion kein Nystagmuslatens-freier Zustand mit fovealer Fixation erreicht wird.
Latenstypnystagmus und gestörter OKN finden sich
auch bei Makaken mit essenziellen Strabismus (318).
Man findet dieselbe Kombination auch bei Versuchstie-
In beiden Fällen ist die Frühoperation angezeigt, die ihre
ren, die man früh einseitig depriviert hat, und bei Kindern,
Wirkung eindrucksvoll entfaltet, wenn man nicht, mit
die seit Geburt funktionell einäugig sind (einseitige Kata-
konventionellem Denken behaftet, ein Jahr und eine
rakt, blinder Mikrophthalmus). Diese Befundlage muss
gute Chance durch frustrane Okklusionsversuche verliert
(97).
deshalb eine im Gehirn vieler Arten gemeinsame struktu-
Die Majorität der Patienten lernt aber spontan alternierende Fixation oder, von angemessener Okklusions-
ken eine anatomische Verwerfung von Area V1 der Hirnrinde.
relle Ursache haben. Auffällig ist bei den genannten Maka-
behandlung unterstützt, mit Nystagmus latens und Ad-
In der praktischen Ophthalmologie ist dieses Verhalten
duktionstonus umzugehen (Abb. 2.30). Sie finden heraus,
des funktionell einäugigen Kleinkindes wichtig, weil die
wie viel Adduktion nötig ist, um zentrale Fixation und
Frage der fixationsverbessernden Frühoperation am einzig
Nystagmusruhe zu haben. Nystagmusblockierung (233)
brauchbaren Auge allen Beteiligten erhebliche Verantwor-
sollte man dieses Verhalten nicht nennen, weil die Patien-
tung auferlegt. Diese sollte vor der Einschulung erfolgt
ten sich dem erhöhtem Adduktionstonus nicht entziehen
sein.
können. Die Fixation in Adduktion wird oft beibehalten,
auch wenn der Latenstypnystagmus nicht mehr manifest
A- und V-Inkomitanz, Alphabet-Symptome
wird. Er ist mitunter durch eine gleitende, nasal exzentri-
mitanz bezeichnet man die Zunahme eines Innenschiel-
sche Auswanderung der Fixation bei Abduktionsforderung
winkels beim Aufblick oder eines Außenschielwinkels
ersetzt, durchaus auch am dominanten Auge. Der Visus
beim Abblick. Umgekehrt ähnelt die Abnahme eines In-
Als A-Inko-
Abb. 2.30 Okklusion manifestiert den Nystagmus latens und zwingt zu (beidseits!) vermehrter Adduktion,
abhängig vom Ausmaß der Verdunkelung.
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Emmetropie: Basisschielwinkel S5h alternierend, massiver
Adduktionsüberschuss mit Maximum im Aufblick (PseudoA-Inkomitanz), exzessiver Nahschielwinkel bei geringster
Anstrengung der normalen Akkommodation sowie rhythmisch paukende Kokontraktion der Mm. recti mediales,
etwa im Sekundentakt. Nach beidseitiger Myopexie (Fadenfixation bei 12 mm; 1 mm vor Vortex): Rechtsdominanz
S1h, 1–2h DVD links, bei Visusforderung 5h Adduktion
und ca. 8h Kopfneigung zur rechten Schulter; bei induzierter
Linksfixation beträchtliche DVD rechts. Ohne diagnostische
Dissoziation ist das Ergebnis sehr ansprechend. Bei einseitigem Abdecken wird „normaler“ Nystagmus latens manifest.
DVD und Kopffehlhaltung in zwei Ebenen traten erst nach
der Operation auf. Diese für das voll ausgeprägte Syndrom
typischen Symptome waren also vor der Operation durch
ein noch schwereres „Syndrom plus“ maskiert.
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
2 Störungen des Binokularsehens
Abb. 2.31
V-Esoinkomitanz fotografisch. Einen so hohen Grad von Symmetrie findet man in der Praxis selten.
nenschielwinkels beim Aufblick oder eines Außenschielwinkels beim Abblick dem Buchstaben V (V-Inkomitanz,
In der Pathogenese lassen sich drei Faktoren unterscheiden:
Abb. 2.31). Schematisch dargestellt sind die vier grund-
1. Wenn bei ideal horizontal liegenden Lidspalten A- oder
sätzlichen Formen der A- und V-Eso- und Exotropie in
V-Inkomitanzen mit deutlicher Über- oder Unterfunk-
Abb. 2.32. Die Zunahme oder Abnahme der Schielwinkel
tion schräger Augenmuskeln auftreten, denkt man
ist nicht immer harmonisch, sondern kann in einer Rich-
eher an eine Verschiebung des Gleichgewichtes der
tung exzessiv sein: aus dem V wird dann ein Y, aus dem
Innervation zwischen geraden und schrägen Vertikal-
A ein l . Ist bei Esotropie der Schielwinkel im Auf- und
motoren.
im Abblick größer als in mittlerer Blicklage, so sieht
man darin ein O (Buchstabe O) oder zwei Dreiecke mit
Daneben gibt es aber
2. den Typus mit A- oder V-Phänomen ohne schräge Über-
der Basis zueinander (Diamond). Bei lange fortbestehen-
oder Unterfunktion, der leicht den Eindruck erweckt,
der Exotropie bildet sich häufig eine x-förmige Inko-
das Adduktionsprogramm laufe in unterschiedlichen
mitanz aus, mit Zunahme des Schielwinkels im Auf- wie
vertikalen Blicklagen mit unterschiedlicher pathologi-
im Abblick. Wer Lehraufgaben wahrzunehmen hat, sollte
scher Energie ab.
über ein Ophthalmotrop verfügen. Daran kann man zei-
3. Patienten mit schrägen Lidspalten, die einen konklinier-
gen, wie z. B. bei chronischer Exotropie allmählich die
ten oder disklinierten Einbau der Orbita in den Schädel
Verläufe der Mm. obliqui von einem Großkreis über den
Bulbus zur hinteren Polkappe hin abrutschen, wodurch
anzeigen. Die Zugrichtung der Mm. recti mediales und
laterales ist dann keine rein horizontale mehr, sondern
ihre abduktorische Nebenwirkung sich erhöht und das
bringt vertikale Elemente ein. Der problemlos Fusions-
„X der Divergenten“ eine mögliche Erklärung findet. Ob
fähige kann solche Faktoren kompensieren. Für den Fu-
diese wirklich zutreffend ist, tut dem Erwerb zutreffender
sionsunfähigen werden sie zum mechanischen Problem,
Vorstellungen durch den Anfänger keinerlei Abbruch.
das sich im Laufe des Lebens noch verschlimmern kann.
Während Nystagmus latens und dissoziiertes Höhen-
Wie berechtigt diese mechanische Theorie ist, sieht
schielen ohne Zweifel Symptome einer fehlerhaft ent-
man an dekompensierten Heterophoren, die plötzlich
wickelten oder angelegten neuralen motorischen Verschaltung sind, muss dies für die Alphabet-Symptome
auch massive A- oder V-Probleme zeigen (gehäuft
A-Exo- und V-Eso-Inkomitanzen), aber auch an Kindern
mit Fehlbildungssyndromen (153).
(nicht Syndrome!) offen gelassen werden. Fusionsverlust
kann ihre Ausbildung veranlassen (231).
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208
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
209
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Abb. 2.32 V- und A-Inkomitanz schematisch bei Esotropie
und Exotropie. Die Skizzen zeigen nicht einen ideal symmetrischen
Zustand, sondern versuchen, Beispiele für tatsächlich vorkommende
Befunde und ihre ästhetische Überlagerung durch schräge oder
kurze Lidspalten nachzuzeichnen.
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210
2 Störungen des Binokularsehens
Tatsächlich werden wohl alle drei pathogenetischen Fak-
A- oder V-Inkomitanzen finden sich auch bei Patienten
toren im Einzelfall mit unterschiedlichem Einfluss einen
ohne frühkindliches Schielsyndrom, wie schon gesagt, mit
kausalen Cocktail mischen, für den der Operateur die geeignete muskelmechanische Negativkopie und eine Opera-
Häufung von A-Phänomenen bei Exophorie und V-Phänomenen bei Esophorie. Langjährig fortbestehende konseku-
tionsindikation ersinnen muss.
tive Exotropien entwickeln überaus häufig ein l-Phänomen, dem man nur mit einer robusten Vier-Muskel-Chirur-
Die A- und V-Inkomitanzen wurden erstaunlich spät
entdeckt. Einzelne haben in den 30er-Jahren schon an
gie beikommt.
wegen Schrägschielens und nicht in klarer Erkenntnis
auf einen kleineren Breitenkreis mit geringem Hebel und
Für den Umgang mit drei typischen motorischen Situationen sollen hier dem operativ spezieller Interessierten einige Anregungen
gegeben werden.
n Pseudoüberfunktion des M. obl. inferior: Hinter dem Höherstand in Adduktion verbirgt sich gelegentlich dissoziiertes
Höhenschielen. Fehlt ein V-Phänomen bei ausgeprägtem Strabismus sursoadductorius, so ist hierauf sorgfältig zu achten.
Man führt das in Adduktion hochstehende Auge unter Dunkelokklusion langsam in die Abduktion und stellt nach plötzlicher
Wegnahme der Abdeckscheibe fest, dass der Höherstand
immer noch besteht. Vor unkritisch hochdosierter Obliquuschirurgie ist hier zu warnen, weil sie eine hässliche konsekutive A-Inkomitanz hinterlassen kann. Eine mäßige Schwächung aller vier Heber wäre, bei symmetrischen Befund, wohl
eher angemessen.
n Über- und Unterfunktion der geraden Vertikalmotoren kann
ungewöhnliche Indikationen erfordern. Insbesondere bei
A-Exostörungen kann man mitunter eine auffallende Senkerschwäche in Abduktion feststellen und kommt dann mit
einer symmetrischen energischen Resektion der Mm. recti inferiores oft weiter, als mit den oben beschriebene Strategien
(142).
n Schließlich sieht man selten, aber unvergessbar eine Störung
bei Patienten mit Binokularsehen in Primärposition und Abblick, die im Aufblick von einem kritischen Winkel der Blickhebung an abrupt in eine oft gewaltige Exotropie übergeht.
Dies wird in der Literatur meistens unter Y-Inkomitanz behandelt, verdient aber eher den Namen T-Phänomen. Schrägschielen fehlt gewöhnlich, und Obliquuschirurgie nützt so
gut wie nichts, auch nicht die radikale Wegnahme von Muskelmasse der Mm. obliqui inferiores. Besser wirkt die Verlagerung
der Mm. recti lateralis nach oben und hinten. Als Ursache wird,
gestützt von elektromyographischen Befunden, eine paradoxe
Innervation angenommen (201, 243). Bei einem eigenen Fall
war der Vater des Mädchens auch betroffen.
Abnahme der Wirkung in der betroffenen Richtung. Bei
Auch sensorische Bedingungen überlagern gelegentlich
Patienten mit Binokularsehen oder doch einem Risiko
die Indikationsstellung. Typisch ist der folgende Fall mit
des postoperativen Doppeltsehens empfiehlt es sich, die
halbfunktioneller A-Exotropie.
der A- und V-Inkomitanzen. Urrets-Zavalia (321) und
Urist 1951 (319) definierten die Störung in der Mitte des
20. Jahrhunderts umfassend, brachten sie aber noch
nicht mit dem frühkindlichen Schieltyp in Beziehung. Diesen Aspekt verdanken wir Costenbader (71) und Dunlap
(113). Bis etwa 1960 diskutierte man noch die Korrektur
u. U. auch an geraden Augenmuskeln (44), danach trat
eine Bevorzugung der inzwischen jedem geschickten Operateur vermittelbaren Obliquuschirurgie ein. Dies mag
den Blick auf die Pathogenese in die Richtung von „Obliquusstörungen“ eingeengt haben (2.1).
In praktischer Hinsicht ist die Konzentration auf die
schrägen Augenmuskeln immer dann sinnvoll, wenn
auch horizontale und vertikale Abweichungen operativ
korrigiert werden müssen, sodass die Zahl der evtl. abgetrennten geraden Muskeln bzw. der in ihnen verlaufenden
Gefäße zum ziliaren Ring begrenzt werden muss. Eingriffe
an den schrägen Augenmuskeln, bei V- oder A-Inkomitanzen meist symmetrisch oder doch beidseits ausgeführt,
korrigieren ein begleitendes Schrägschielen (Strabismus
sursoadductorius, Strabismus deorsoadductorius) befriedigend. Fehlt aber das Schrägschielen bei ausgeprägter
A- oder V-Inkomitanz, so wird man mit einer Auf- oder Abwärtsverlagerung der Mm. recti mediales oder laterales eine
bessere Korrektur und ein schöneres Bewegungsbild erzielen. Hierbei werden die Mm. recti mediales jeweils
zur Spitze, die Mm. recti laterales zur Basis des A oder V
verschoben, gewöhnlich in Kombination mit Rücklagerungen. Die Muskeln geraten hierdurch von einem Großkreis
Eingriffe an schrägen und geraden Muskeln so zu kombinieren, dass das Verfahren zykloneutral wird. So gelingt
es bei einer V-Esotropie gut, die beidseitige Rücklagerung
der Mm. obliqui inferiores mit einer beidseitigen Rückund Abwärtsverlagerung der Mm. recti mediales zu kombinieren. Sinngemäß würde man eine A-Exotropie durch
Schwächung der Mm. obliqui superiores in Kombination
mit einer Rücklagerung und Abwärtsversetzung der
Mm. recti laterales angehen.
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den Mm. obliqui operiert, doch geschah dies offenbar
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
den, bis zum fixierten Höhenschielen. Es ist demnach
Der 32-jährige Patient fiel durch markanten Aufblick als
Zwangshaltung auf, die ihm Parallelstand und subnormales
Binokularsehen erlaubte. Im Abblick wuchs der Schielwinkel
auf –20h an. Die weiter oben empfohlene Kombination aus
Schwächung der Mm. obliqui superiores und Rücklagerung
samt Abwärtsverlagerung der Mm. recti laterales halbierte
die A-Inkomitanz bzw. den Schielwinkel im Abblick. Die daraufhin noch ausgeführte beidseitige. Rücklagerung der
Mm. recti superiores um 10 mm mit Temporalversetzung
um 4 mm öffnete die Spurlinie nach oben, beseitigte also
die Spitze des A-Phänomens und hatte noch eine andere
hervorragende Wirkung: Sie zwang den Patienten nun kompensatorisch zu einer vermehrten Aufblicksinnervation, an
die aber offenbar auch die Aktivierung des Binokularsehens
gebunden war. Es gab jetzt gewissermaßen überall nur
noch Aufblick. Als Fazit kann man empfehlen, bei hartnäckigen Inkomitanzen auch Umlagerungsstrategien zu erwägen.
Abschließend ist noch ein kleiner Schönheitsfehler in der
nicht immer einfach, bei konstant manifester VD eine dissoziierte Komponente nachzuweisen oder auszuschließen. Die üblichen Manöver sind das Abdecken des schon
höher stehenden Auges mit opaker Scheibe (303) und
die Lichtreduktion für das fixierende Auge mit Rot- oder
Grauglas, was zum Absinken des höheren Auges führen
sollte (Bielschowsky-Phänomen) (32).
Mitunter betrifft die einseitige Ausprägung das dominante Auge. Da dieses die Fixation nicht aufgeben kann,
bewegt sich statt dessen das nichtdominante, dann gewöhnlich amblyope Auge nach unten. Ein Rot- oder Grauglas vor dem weiter fixierenden Auge bewirkt, dass das
abweichende noch weiter absinkt. Steht das abweichende
Auge bereits tiefer, so kann die Differenzierung der gesamten Vertikalabweichung mühsam werden.
y Vorkommen und Schweregrade. Die klinische Mannigfaltigkeit ist beträchtlich. Betroffen sind nicht nur Patienten
mit dem Vollbild des frühkindlichen Schielsyndroms, sondern auch solche mit leichteren Störungen des Binokular-
Nomenklatur der Stellungs- und Motilitätsfehler mit A-
sehens wie Heterophorien, Paresen im Jugendalter (253)
oder V-Inkomitanz festzustellen. Wenn diese Patienten
und selbst noch bei Erwachsenen (207) und nicht ver-
in einer Blickrichtung Binokularsehen haben, so gibt die
sorgte einseitige Aphakie Jugendlicher. Bei Verlust des Bi-
Nomenklatur keine Handhabe, ob man sie als Phorien
nokularsehens bis zum Alter um 20 Jahre zeigt sich dieser
oder Tropien bezeichnen soll. Natürlich versagen auch
Verlust daran, dass zum dissoziierten Höhenschielen eine
die uns in den letzten Jahren auferlegten, lästigen Diagno-
deutliche Exzyklotropie hinzu tritt (188). Die Ansicht, eine
seschlüssel vor solchen Feinheiten, was vielleicht beabsichtigt ist.1
Exzyklotropie gehöre obligat zur DVD (257) ist nach eigener Erfahrung nicht zutreffend bzw. vorwiegend bei solchen Fällen zu finden, die gänzlich ohne binokulare Inter-
Die geläufige Ab-
aktion sind. Eine Gliederung nach zunehmendem Schwe-
kürzung DVD für dissoziierte Vertikaldivergenz bzw. dis-
regrad, unter Berücksichtigung der vorhandenen oder feh-
soziierte vertikale Deviation wurde von Bielschowsky
lenden binokularen Interaktion, sollte versucht werden:
mit nach Amerika genommen. Sie verdrängte dort in ca.
n Subklinisch: Nur zufällig entdeckt man beim Abdecken
30 Jahren die „ alternierende Sursumduktion“ von Lancas-
im Rahmen der Visusprüfung, dass das abgedeckte
ter (210) und erreichte Europa durch die enger werdenden
Kongresskontakte wieder. DVD spricht und schreibt sich
Auge nach oben abweicht und nach Freigabe mehr
oder weniger langsam zum Parallelstand zurückkehrt,
so leicht. Es gibt viele alte Synonyme – wir überlassen
ein- oder beidseits auslösbar. Diesen Patienten fehlt ge-
sie den Handbüchern. Schon Bielschowskys Arbeiten (30,
wöhnlich das Random-Dot-Stereosehen und die Fähig-
32) sprechen von gegensinnigen Vertikalbewegungen.
keit, den Worth-Test im Dunkeln zu fusionieren (83).
Vor Bielschowsky haben vielleicht schon andere das Phä-
n Leicht: Aus mehr oder weniger fundiertem Parallel-
nomen verstanden (311), aber die klare Darstellung ver-
stand heraus „verliert“ der Patient bei Müdigkeit, Ab-
danken wir ihm. Dissoziiert heißt, dass Störungen vor
lenkung oder Blendung ein Auge für mehr oder weniger
allem des seitengleichen Lichtzutritts zum Ansteigen
eines Auges führen. Entweder steht ein und dasselbe
n Mittel: Bei Einseitigkeit steht das betroffene Auge stets
oder es stehen abwechselnd beide Augen höher, tatsäch-
höher, in wechselndem Ausmaß. Der minimale Winkel
lich oder nur der Tendenz nach. Bringt der Untersucher
kann sensorisch durch harmonisch anormale Korres-
die Störung durch diagnostisches Abdecken selbst ein, so
pondenz fixiert sein (Bagolini positiv), der maximale
wird man meist feststellen, dass die Bereitschaft zur
ist entstellend. Dies ist ein häufiger Befund nach sonst
DVD beidseitig ist. Die tatsächliche Manifestation ist
erfolgreicher Schieloperation. Manifestes Schielen ist
aber oft streng einseitig und kann dann permanent wer-
die wesensmäßige Voraussetzung. Bei Alternierenden
lange Zeit.
trifft die Manifestation periodisch beidseits ein, mit
kürzeren oder längeren Intervallen, wobei die Basis
1
Die Kostenträger möchten unter dem Aspekt der Simplifizierung wohl auch die Gebührenordnung einfacher gestalten.
sensorisch oft normaler wirkt als bei einseitiger Ausprägung.
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Fallbeispiel
Dissoziiertes Höhenschielen (DVD)
211
2 Störungen des Binokularsehens
n Schwer:
y
Bei Einseitigkeit tritt wegen Permanenz
Kehren wir noch einmal an den Anfang zurück. Gewiss
schließlich Kontraktur ein, sodass der dissoziierte Charakter verhüllt sein kann. Alternierende „ machen keine
Pause“; dem Höherstand des einen folgt immer sofort
ist, dass gesteigerte Aufmerksamkeit für visuelle Aufgaben des fixierenden Auges „dissoziierend“ wirken (282),
und anzunehmen, dass im täglichen Leben die „innere
der Höherstand des anderen Auges. Diese schweren
Dissoziation“ der eigentliche Auslöser ist, während äußere
Formen gehören zum ausgeprägten frühkindlichen
Störungen nur im Rahmen von Experiment und klinischer
Schielsyndrom.
Untersuchung wirksam werden.
Pathogenetische Vorstellungen. Eine verbindliche Ein-
y
Therapie der DVD. Eine genuin konservative Behandlung,
sicht in die Ätiologie und Pathogenese wird so lange
etwa mit Prismen, verbietet sich wegen der ästhetischen
nicht zu gewinnen sein, wie „Fusion“ und „Schielen“ im
Auffälligkeit auch kleiner vertikaler Abweichungen von
Letzten unverstanden bleiben. Ältere Theorien sollte
man bei älteren Autoren nachlesen (99, 177), denen sie
selbst. Aus demselben Grunde ist die direkte operative Intervention an den Höhenwendern undankbar, bei pausen-
noch etwas bedeuteten. Der heutige Leser sieht in vielen
los alternierender Manifestation weitgehend aussichtslos.
älteren Vorstellungen Leerformeln mangels neuroanato-
Bevor man sich hierzu entschließt, sollte man mit Prismen
mischer Fakten. Aber auch neuere Versuche der Erklärung
etwa aus der vertikalen fusionalen Divergenz (60, 323)
probieren, ob Änderungen der horizontalen Augenstellung
können wegen der Prävalenz des Schielsyndroms, definiti-
zontale Operation, die in leichten Fällen Parallelstand
onsgemäß ohne Fusion, keinen Anspruch auf umfassende
bzw. Orthophorie herbeiführen oder stabilisieren kann,
Gültigkeit haben. Ein begleitender vertikaler, oft asymmetrisch (dissoziierter) latenter Nystagmus (175) macht
öffnet gute Chancen, die DVD unter Kontrolle zu bringen.
Aber auch Patienten, denen man üblicherweise kein Bino-
das Verstehen nicht leichter, sondern lässt nur die Kom-
kularsehen zuerkennt, reagieren auf die bestmögliche ho-
plexität des visuellen Systems ahnen.
rizontale Augenstellung positiv. Patienten mit funk-
zu besserem Simultansehen führen. Jede wirksame hori-
Die große Leistung Bielschowskys war es, aus dem viel-
tionstüchtiger anomaler Korrespondenz zeigen selten Ma-
fältigen klinischen Beziehungsgeflecht das Verbindende
nifestation von DVD. Bei den Ausnahmen muss man mit
herausgearbeitet zu haben. Die über viele Jahre verteilten
Prismen herausfinden, ob quasi Parallelstand oder opti-
Arbeiten lassen schon sprachlich die innere Entwicklung
male Harmonie der ARC die beste Beruhigung der DVD
spüren. So wundert es nicht, dass die endlich gefundene
Formel der „Gegensinnigkeit“ in seinem Denken hoch-
herbeiführt. Dies ist eine mühsame Arbeit, da im Falle,
dass Parallelstand besser wirkt (gleiches Licht!) dem Pa-
dominant wurde. Bei genauer Beobachtung bemerkt
tienten die Diplopie droht. Die Prismen für alle einschlägi-
man aber, dass der „Impuls nach oben“ sehr häufig auch
gen Untersuchungen müssen klare Glasprismen sein und
gleichzeitig am fixierenden Auge aktiv ist. Die Folge ist
beiden Augen in etwa gleicher Stärke vorgegeben werden.
dann eine Zwangshaltung mit Aufblick und Kinnsenkung
(„Armsünderblick“, 96). Das abweichende Auge steht
Ungleiche, einseitige oder gar Folienprismen dissoziieren
ihrerseits und führen ins Abseits.
dann, wie schon erwähnt, zwar relativ tiefer, aber
Ist die Kontrolle oder Dämpfung der DVD durch binoku-
wegen der mitunter markanten Aufblicklage absolut
auch höher als die Horizontale. Wem dies einmal bewusst
lare Interaktion nicht möglich, bleibt nur die direkte Intervention (S. 539). Die neuere angelsächsische Literatur
geworden ist, dem fällt es sofort und häufig auf, und sogar
strebt danach, die Schwächung des M. obliquus inferior
hinzuzunehmen (324), was wirksam ist, oder allein anzu-
in Bielschowskys eigenem Bildmaterial (32, P508). Seine
Abb. 11 ist kommentiert mit „gleich hohe Gesichtslinien“
wenden (37, 265), was den europäischen Leser befremden
bei unverkennbarem Aufblick des dort abgebildeten Pa-
wird. Die energische Resektion des M. rectus inferior nach
tienten. Man darf also vermuten, dass er die Tatsache
Knapp (193, 194) ist historisch, obwohl sie gelegentlich
wohl bemerkt hat, aber nicht in seine Theorie einlassen
wieder vorgeschlagen wird (120).
konnte, ohne das Prinzip der strengen Gegensinnigkeit
aufzugeben.
Bei zuverlässig einseitiger Manifestation gelingt es
meist, mit großen Rücklagerungen des M. rectus superior
Man sieht auch Patienten mit Schielsyndrom, die ledig-
eine Beruhigung zu erreichen (226), obwohl diese Opera-
lich diesen auffälligen Aufblick als Zwangs- oder Fehlhal-
tion Schwächen hat:
tung einnehmen, um sich gewissermaßen durch Nach-
n Es muss hoch dosiert werden, da sonst kein Effekt zu
geben von der Last dieses Tonus zu befreien, und die
dabei wenig oder kein gegensinniges dissoziiertes Höhenschielen erkennen lassen. Es bleibt beim derzeitigen Stand
erzielen ist.
n Die Aussicht ist leider sehr groß, dass bei Nichtmanifes-
tation das operierte Auge sichtbar tiefer steht.
der klinischen Forschung eine Spekulation, ob wir die
gleichsinnige Komponente „Aufblick“ für wesensgleich
n Bei Manifestation am abweichenden Auge ist dieses oft
mit der gegensinnigen DVD oder für ein überlagerndes
trennung eines weiteren Rektus ist ein Risiko, die des
selbständiges Phänomen halten wollen.
letzten Muskels kann ein Kunstfehler sein.
schon an zwei geraden Muskeln voroperiert. Die Ab-
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212
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
Die eigene Praxis geht dahin, die Rücklagerung nur bei ex-
bei denen kein Risiko einer Amblyopie besteht, versuchen,
zessiver VD über 15h als primären Eingriff anzuwenden.
ob durch Vernebeln eines Auges Einseitigkeit der Fixation
Bei geringerer VD lohnt sich der Versuch, mit einer Fadenoperation auszukommen (mit 12–13 mm Abstand vom
bzw. Abweichung herbeizuführen ist, womit das operative Problem dann einfacher wird. Bezieht man die Fälle
Ansatz, ohne diesen abzulösen, mit nasal und temporal
ein, die wegen Beidseitigkeit des Impulses einen markan-
je 3 Durchstichen, die marginal 1/5 der Muskelbreite er-
ten Aufblick einnehmen, so muss man auf jeden Fall beid-
fassen). Ein initialer Übereffekt von 3–5h schadet nicht,
seits operieren, wenn auch asymmetrisch wegen der Ver-
sondern verspricht ein gutes Ergebnis. Ist der Patient
tikaldeviation. Die erst in den letzten Jahren zur Routine
langfristig nicht zufrieden, so kann man die Fäden lösen
gewordene Schwächung aller vier Heber hat dem Verfas-
und immer noch rücklagern.
ser auch gezeigt, dass das oben angeführte Argument
DVD auf dem dominanten Auge mit Tieferstand des abweichenden sowie auffälliger Kopfhaltung im Aufblick
nach dem Hering-Gesetz nicht in vollem Umfang zum
Tragen kommt, vielleicht weil für die Patienten mit
reagiert auf eine Fadenoperation unzureichend. Hier emp-
frühkindlichem Schielsyndrom die klassischen Bewe-
fiehlt sich die Rücklagerung um mindestens 10 mm oder,
gungsgesetze nicht in vollem Umfang gelten.
213
seitige asymmetrische Rücklagerung dieses Muskels,
Kopfschiefhaltung
nicht in Verlaufsrichtung, sondern meridional.
einer Schulter, meist zusammen mit auffälliger Addukti-
Das Phänomen der Kopfneigung zu
onsstellung des fixierenden Auges, beobachteten Piper
n Bei Erwachsenen ohne Risiko der Amblyopie sollte
man versuchen, durch Vernebeln eines Auges Einseitigkeit der Fixation bzw. Abweichung herbeizuführen, um das operative Problem zu vereinfachen.
(260) und Doden (106). Differenzialdiagnostisch ist eine Parese auszuschließen, besonders eine Trochlearisparese,
die sich dann aber meist als frühkindliche Obliquusdysfunktion herausstellt und keine neurologische Dignität
aufweist. Auszuschließen sind auch stets orthopädische
Ursachen und bei Brillenträgern falsche Zylinderachsen.
Bei frei alternierenden Patienten mit mehr oder weniger
Hat man sich überzeugt, dass die Kopfneigung lediglich
ständiger Manifestation gibt es ein theoretisches Beden-
Teilsymptom des Schielsyndroms ist, so muss man, wenn
ken gegen die beidseitige Operation: Die Schwächung
der Heber wird vom jeweils fixierenden Auge innervatio-
man es nicht bei der Feststellung belassen will, sondern
eine effektive Therapie anstrebt, von vornherein einen Un-
nell ausgeglichen, wodurch nach dem Hering-Gesetz das
terschied zwischen der Mehrheitsgruppe (Kopfneigung zur
abweichende wiederum nach oben getrieben wird. In
dominanten Seite) und der Minderheitsgruppe (Kopfnei-
Wirklichkeit ergibt sich, genügend hohe Dosierung der
gung zur Seite des obligat abweichenden Auges) machen.
Rücklagerungen an allen vier Hebern vorausgesetzt,
denoperationen würden hier überlaufen. Bevor man sich
Die Neigung erfolgt in vier von fünf Fällen zur Seite des
führenden Auges (66, Abb. 2.33) und fehlt oft bei Fixation
mit dem nichtführenden. Etwa jeder 5. Fall neigt den
zu so umfangreichen und nur bedingt Erfolg versprechenden Prozeduren entschließt, sollte man bei Erwachsenen,
Kopf zur Seite des nicht dominanten Auges. Diese beiden
Verhaltensweisen bedürfen einer getrennten Betrachtung.
Abb. 2.33 Kopfneigung zur Seite des dominanten
Auges als Symptom frühkindlichen Schielens (auch Außenschielen)
findet man in jedem Alter. Eine logische motorische Beziehung zu
den Über- oder Unterfunktionen der Mm. obliqui fehlt meist.
doch mindestens eine Halbierung der Abweichungen. Fa-
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wenn die DVD zu gering ist (kleiner als 12–15h) die beid-
2 Störungen des Binokularsehens
n Die Kopfneigung zur dominanten Seite (Mehrheitsgruppe)
dient keinem für uns erkennbaren Zweck und kann
hungslosen Symptomkomplex aufzufassen, wie noch
vor 15 Jahren üblich (15).
deshalb nicht als Zwangshaltung, sondern lediglich als
Fehlhaltung angesehen werden. Ein Argument, mit
Frühoperation
dem Guyton (141) kürzlich Aufsehen erregt hat, findet
frühkindlichen Schielsyndroms eingeleitet mit der These,
Wir
hatten
die
Beschreibung
des
sich schon bei Crone (73):
wer kein dissoziiertes Höhenschielen und keinen Nystag-
Bekannt ist die Tendenz zur Außenrollung des dissozi-
mus latens entwickle, könne wohl früh, aber nicht kon-
iert höher stehenden Auges. Der Erklärungsversuch
stant manifest geschielt haben. Zur eigenen Arbeit der
geht nun dahin, eine entsprechende Innenrollung des
letzten zwei Jahrzehnte gehörte eine prospektive Studie
fixierenden Auges anzunehmen und die Kopfneigung
mit 50 Kindern, die der Verfasser alle selbst initial (mit
damit zu erklären, dass mit ihrer Hilfe die subjektive
Vertikale des fixierenden Auges wieder senkrecht
3–6 Monaten) hat schielen sehen. Die Hälfte wurde im
1. Lebensjahr operiert. Die Ergebnisse, nach 13-jährigem
gestellt würde. Diese Innenrollung ist aber nicht
durchgehend vorhanden und auch nicht zu erwarten,
Verlauf ausgewertet, waren nicht besser als bei später
operiertem Krankengut (91), aber ein einziges Kind, ope-
da das Phänomen des dissoziierten Schielens nicht
riert im Alter von 8 Monaten, erlebte die Vollheilung: Es
nur die Vertikaldivergenz betrifft, sondern auch die
hatte offensichtlich nur intermittierend geschielt.
Zyklovergenz, worauf wir beim Refraktionsverhalten
Die Operation im Alter von 20–24 Monaten hatten ame-
dieser Patienten noch einmal zurückgreifen werden.
rikanische Autoren schon vor Jahrzehnten empfohlen
Guyton erlaubt dem abweichenden Auge, das dominante mitzunehmen und das bei Versagen des Hering-
(172, 313). Das Problem wird immer noch kontrovers diskutiert. Einerseits sollen 40 % Random-dot-Stereosehen
Gesetzes. Aber als didaktische Stütze bei der Opera-
erzielt worden sein (36), andererseits beurteilt Ing (169),
tionsplanung ist die Vorstellung doch irgendwie
einer der Pioniere der Frühoperation, die Resultate sehr
brauchbar.
viel zurückhaltender, auch hinsichtlich einer nochmaligen
Therapeutisch hat sich die torsionale Umlagerung bewährt, anfangs an den Mm. obliqui (66), in den letzten
Vorverlegung der Operation in das zweite Lebensquartal
Jahren aber regelhaft durch Höhenversetzung der Hori-
(91, 157). In einer brieflichen Diskussion äußerte Ing
zontalmotoren (95, 304). Hierbei muss man eine bleibende motorische Verrollung von 6h, besser 10–12h
(170) schließlich den Verdacht, die wenigen Patienten,
die nach Frühoperation zu hervorragendem Binokularse-
etablieren. Kann diese nicht überwunden werden, so
hen kämen, seien möglicherweise Intermittierende gewe-
hat der Patient auch keine sensorische Gegenrollung
sen. Hier wird man auch die spektakulären Fälle einord-
zur Verfügung und muss das Bild mit dem Kopf aufrich-
nen dürfen, die gelegentlich publiziert werden (339).
ten. Da dies eine rein symptomatische Behandlung
Auch in den USA hat die Begeisterung abgenommen (159).
eines im Prinzip nicht verstandenen Fehlers ist, fallen
Ein unerfreulicher Begleitumstand ist die mehrfach bestä-
die Ergebnisse unterschiedlich aus, wobei je etwa ein
tigte hohe Zahl notwendiger Nachoperationen, um die
Viertel der Patient tadellos, gut gebessert, erkennbar
gebessert oder eben ohne Ergebnis enden.
n Nachdem die Zahl der mit torsionaler Umlagerung ope-
Stellungskonstanz aufrecht zu halten (91, 119, 157). Da
bei Operation im Alter zwischen zwei und fünf Jahren
rierten Patienten genügend groß geworden war, fiel auf,
und hinsichtlich binokularer Interaktion nicht eindeutig
dass die Patienten mit Kopfneigung zur nicht dominan-
schlechter liegen, vielmehr sehr einheitlich eine gute Au-
ten Seite auf torsionale Umlagerungschirurgie schlech-
genstellung bei etwa 66 % und eine nützliche binokulare
(171), was der klinischen Erfahrung seither entspricht
die Resultate hinsichtlich Stellungskonstanz eher besser
ter reagierten (95). Wirksamer und im Aufwand gerin-
Interaktion bei ca. 50 % erreicht wird (11, 93, 151, 185,
ger ist, das dissoziierte Höhenschielen, bei diesen Pa-
238), bleibt nicht viel für die mehr oder weniger radikale
tienten meist einseitig manifestiert, durch eine schwächende Operation am M. rectus superior zu dämpfen.
Frühoperation als die Hoffnung, den einen oder anderen
intermittierend früh Schielenden aufzufangen, ehe er vol-
Die Prognose für diesen Eingriff lässt sich mit einem
lends dekompensiert. Hier muss man geduldig Elternauf-
kurzen Prismenversuch recht verlässlich bestimmen
klärung betreiben und schließlich den Elternwillen als die
(96). Die Patienten verhalten sich so, als ob sie doch
eigentliche Entscheidungsgrundlage ansehen.
eine Tendenz zum Binokularsehen hätten, also versuchten, die Vertikaldivergenz durch Kopfneigung auszugleichen, wie nach den Regeln zu erwarten (320).
Refraktionsbefunde
Im Gegensatz zur Mehrheitsgruppe könnte man deshalb hier mit mehr Recht von einer Zwangshaltung
Der Einfluss der Hyperopie auf die Größe des Schielwin-
sprechen. Diese Anschauung gewinnt Boden (286). Es
kels ist unbestritten, jedoch nicht bei jedem Patienten
ist nicht mehr sinnvoll, das Schielsyndrom als bezie-
gleich groß. Speziell beim ausgeprägten frühkindlichen
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214
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
Schielsyndrom fällt auf, dass durchaus nicht alle Patienten
n weil zwangsläufig dissoziierend untersucht wird. Durch
hyperop sind. Außerdem reagieren die Hyperopen unter
das sukzessive Setzen der Nachbilder unter Verschluss
ihnen auf die Brillenkorrektion oft weniger ausgeprägt
mit einer Schielwinkelverkleinerung als gleichhyperope
des jeweils anderen Auges ruft man eben die Bedingungen auf, unter denen der intermittierend Schielende die
anomale Korrespondenz (ARC) einsetzt;
gens. Insbesondere ist die Tendenz zum Nahwinkelüber-
n weil die gut ausgeprägte ARC den Patienten vor Diplo-
schuss bei frühkindlichem Strabismus auch durch Atro-
pie schützt und deshalb weniger Suppression benötigt
pinvollkorrektion und Bifokalzusätze in der Regel nicht
wird.
zu beherrschen. Dennoch sollte man stets praktisch pro-
Die Angabe anomaler Korrespondenz ist deshalb ebenfalls
bieren, ob und wie viel Einfluss die Brillenkorrektion auf
von relativem (prognostischem) Wert, weil keine Aussicht
den Schielwinkel hat.
Wer in Europa akkommodatives Innenschielen unter
besteht, das Korrespondenzverhalten während der unter
Umständen seltenen Parallelstandsphasen zu erfassen.
bewusstem Verzicht auf die Brillenkorrektion operiert,
wird zwangsläufig zum Außenseiter (132). In den USA
Dies gilt auch für eher binokular simultane Unter-
wird hingegen traditionell angenommen, frühkindliches
Frage nach dem subjektiven Winkel), weil sie zwangsläu-
und akkommodatives Schielen schlössen sich gegenseitig
fig in der manifesten Phase zur Anwendung kommen und
aus. Es wird deshalb oft früh ohne Brillenkorrektion ope-
das Ergebnis (ARC) als „Programm“, aber nicht als univer-
riert (125). Einer Arbeit, die dieses Vorurteil widerlegt,
sal gültig offen legen.
verdanken wir Zahlenangaben. 16 % der Patienten mit „infantile-congenital esotropia“ haben eine akkommodative
Die Angabe normaler Korrespondenz (NRC) spricht
natürlich mit erheblichem Gewicht für intermittierendes
Komponente, aber auch weniger ausgeprägte motorische
Schielen. Man sollte aber vermeiden, bei Feststellung
Symptome (154). Das Krankheitsbild ist, wie schon er-
von NRC vor einer Operation im Beratungsaufklärungs-
wähnt, nicht gut definiert.
gespräch mehr als eine vage Hoffnung auf Binokularsehen
suchungstechniken (Synoptophor, Prismenausgleich und
Bei der Skiaskopie von Kindern mit frühkindlichem
zu formulieren. Hingegen sollte man bei unverhoffter
Schielsyndrom fällt auf, dass häufiger als bei spätem
Feststellung von NRC noch einmal zur Anamnese zurück-
Schielbeginn Astigmatismus mit schrägen Achsen vorliegt.
kehren und versuchen, frühere oder gar noch immer bei-
Die Achsenlage ist oft asymmetrisch, tendiert aber im
Laufe der Kindheit zur Symmetrie mit Schwerpunktbil-
behaltene intermittierende Parallelstandsphasen bestätigt
zu erhalten. Eltern verwechseln oft bei Beginn der Betreu-
dung bei 45h und 135h TABO. Innerhalb weniger Wochen
ung Parallelstandsphasen mit dem Alternieren und finden
findet man oft Veränderungen bis zu 20h. Da der Vorgang
erst allmählich zu der Augenärzten und Orthoptistinnen
der Skiaskopie wegen der Beleuchtung nur jeweils eines
geläufigen Sicht der Phänomene.
Auges dissoziierend wirkt, lässt sich vermuten, dass die
Insgesamt
wird
der
Stellenwert
der
Korrespon-
Messung selbst Einfluss auf die Achsenlage nimmt (dis-
denzprüfung für die praktische Indikationsstellung bei
soziiertes Torsionsschielen). Wenn die Mitarbeit des Kin-
frühem Schielbeginn eher geringer angesetzt als vor 20
des dies gestattet, sollte man bei unerwarteten Werten
die Messung nach einigen Minuten mit möglichst geringer
n das ausgeprägte frühkindliche Schielsyndrom als funk-
Lichtstärke im Skiaskop oder Refraktometer wiederholen.
Bei soviel Unsicherheit scheint es überhaupt geboten, sich
bei jüngeren Patienten mit frühkindlichem Schielen durch
oder 30 Jahren, weil
tionell praktisch unheilbar gelten muss und
n das unerkannte intermittierende Schielen oft erst durch
die Operation selbst seine Natur zu erkennen gibt.
häufige Skiaskopie von der Aktualität und dem Grad der
Instabilität der Achsenlage zu überzeugen: Nicht wenige
n Je instabiler die Augenstellung bei frühkindlichem
Patienten, die wegen Stillstands der visuellen Entwick-
Schielsyndrom, je ausgeprägter DVD und A-V-Inkomitanz, desto weniger kann eine definierte anomale Korrespondenz sich ausprägen.
lung oder der Amblyopiebehandlung überwiesen werden,
haben unbemerkt ihre Refraktion geändert.
Man erhält dann bei Untersuchung mit Nachbildern die
Korrespondenzverhältnisse
Angabe alternierender Wahrnehmung und bezeichnet
dies als wechselseitige Suppression. Dieser geläufige Be-
Beim frühkindlichen Innenschielen und Fehlen motorischer
griff lässt außer Betracht, dass bei wirklich frühem und
Symptome des Schielsyndroms prägen langanhaltende
konstant-manifestem Schielen u. U. gar keine Suppression
Manifestationsphasen große Anomaliewinkel, die man
mit Nachbildern wie mit Prismenfarbglastests angegeben
stattfindet, weil der neuronale Apparat für simultane
Wahrnehmung primär gar nicht eingerichtet wurde. Sup-
erhält,
pression kann sich nur gegen latent mögliche Diplopie
richten. Wird andererseits nur intermittierend geschielt,
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Patienten mit später manifestiertem Strabismus conver-
215
216
2 Störungen des Binokularsehens
so kann der Patient während der manifesten Phasen auf
denoperation ist hier nichts zu erreichen. Auf das Risiko
Suppression als einzigen Schutz gegen Diplopie angewie-
später Überkorrektur sollte man hinweisen, aber auch
sen sein, wodurch scheinbar das gleiche Symptom in Erscheinung tritt! Das Fehlen einer verwertbaren Korres-
darlegen, dass ohne diese hohe Dosierung eine Lösung
nicht möglich sei. Der Verfasser sagt seinen Patienten,
pondenzangabe ist deshalb mehrdeutig und damit von re-
dass nach Eintritt oder besser Stabilisierung von Binoku-
lativem diagnostischen Wert.
larsehen das Gehirn im Laufe von Jahren die alte Not ver-
Bei A-V-Inkomitanz sollte man versuchen, die Korres-
gisst und die Operation retrospektiv gar nicht mehr für
pondenz in verschiedenen Blickrichtungen zu prüfen. Un-
nötig hält und dass deshalb eine konsekutive späte Exo-
terschiede im Auf- oder Abblick können „statisch“ sein
tropie Teil der Gesamtmaßnahme sein kann, auf die die
(abhängig von der Stellung beim Setzen der Nachbilder)
Patienten vorbereitet sein sollten.
oder „dynamisch“ (wechselnd mit der Innervation zur aktuellen Blickrichtung). Ein solches Verhalten kann Einfluss
auf die spezielle operative Indikationsstellung und auf die
Prognose haben. Der Verfasser, für den das Operieren kein
2.4.3
Außenschielen
chen Möglichkeiten.
Das Außenschielen betrifft in Mitteleuropa 20 % aller
Verdacht auf unerkanntes
intermittierendes Frühschielen
Schielenden, wobei diese Angabe sich auf Klinikkrankengut bezieht. Intermittierende (periodische) Exotropie ist
weitaus häufiger als konstant manifeste. Ungeschicktes,
dissoziierendes Untersuchen und falsche physiologische
Die Diagnose ist klar,
Vorstellungen führen immer wieder zu Fehlanschau-
n wenn Eltern von Kindern oder erwachsene Patienten im
ungen, die einer sachlichen Nachprüfung nicht standhal-
Grunde wissen, dass nicht konstant manifest geschielt
ten:
wird: Man hat sie aber nie danach gefragt, sondern
n Wer vor allem den Schielwinkel messen möchte, wird
immer gleich intensiv und dissoziierend untersucht.
unter Umständen übersehen, dass der Patient im
Diese Situation ist in der (bzw. in meiner) Praxis sehr
häufig. Die Prognose ist dann gut und das postoperative
n Intermittierendes Schielen wird häufig mit dekompen-
Ergebnis „subnormales Binokularsehen“ (bei Strabis-
sierter Exophorie verwechselt, obwohl deren Leitsymp-
mus convergens alternans) bzw. „konsekutiver Mikro-
tom, die Diplopie, die Abgrenzung meist eindeutig er-
strabismus“ (bei leichter Amblyopie eines Auges);
n wenn bei Fällen ohne DVD und mit wenig Nystagmus
n Der Vorliebe für Logik und Dialektik entspricht die An-
latens ein- oder mehrfach NRC angegeben wird. Die
schauung, analog zur Häufigkeit der Hyperopie beim
Prognose ist dann nicht zwingend ganz so gut wie
Strabismus convergens wäre eine Mehrzahl divergent
oben. Neben Fällen mit subnormalem Binokularsehen
sieht man auch solche, die postoperativ labilen Parallel-
Schielender myop. Tatsächlich gleicht die Refraktionsverteilung der der Gesamtbevölkerung (137).
stand, aber keine tragfähige binokulare Interaktion oder
n In Umkehrung des Prinzips von Donders wird immer
gar Fusion erreichen. Man hat deshalb früher zwischen
wieder versucht, durch Vorsetzen von Konkavgläsern
Korrespondenz und bloßer Sehrichtungsgemeinschaft
eine bessere Konvergenzleistung zu stimulieren, die
unterschieden, wobei Letzterer nur ein lokalisatorischer
Wert zugeschrieben wurde (298).
den intermittierenden Strabismus divergens günstig
Grunde fusionsfähig ist.
laubt.
beeinflussen soll.
Der Verdacht auf verborgenes intermittierendes Verhalten
wird auch geweckt, wenn bei Fehlen der motorischen
Symptome des Schielsyndroms der Schielwinkel eher
groß ist. Die Fälle mit kleineren Schielwinkeln haben oft
in der Abweichphase ARC von einiger Qualität, die den
n Konkavgläser stimulieren die akkommodative,
nicht aber die fusionale Konvergenz und sind
für die meisten Patienten als Dauertherapie nicht
geeignet.
Schielwinkel stabil hält, leider auch oft nach einer Operation, was die Prognose verschlechtert. Sei es wegen der
Größe des Schielwinkels, sei es wegen der Gefahr, am
Strabismus divergens intermittens
rivalisierenden Anomaliewinkel „hängen zu bleiben“:
Sobald begründeter Verdacht auf bisher nicht erkanntes
intermittierendes Innenschielen aufkommt, benötigt man
Etwa 80 % aller Patienten mit Strabismus divergens schielen nur periodisch, wobei die Verteilung auf Parallel-
eine hohe Operationsdosierung, nicht unter beiderseits
stands- und Abweichphase sehr unterschiedlich sein
8,0 mm Rücklagerung der Mm. recti mediales. Mit der Fa-
kann. Bei nur seltenem Eintreten von Kompensationspha-
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nur mechanischer Akt ist, macht viel Gebrauch von sol-
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
sen neigt deshalb der unerfahrene Untersucher zur Fehl-
Beurteilung nach der Größe der manifesten Schielwin-
diagnose einer konstant manifesten Exotropie, und auch
kel erfolgt. Ein Faktor könnte die fortgeschrittene und
dem Erfahrenen widerfährt dies gelegentlich.
vielfältige Rassenmischung in den USA sein. Die Prognose ist nicht schlechter als bei den anderen Formen,
Formen
Der Umgang mit dem intermittierenden Au-
wenn lediglich der gemessene Schielwinkel größer ist,
ßenschielen ist ohne kursorische Kenntnis der Fach-
aber deutlich schlechter, wenn echte Konvergenzinsuf-
geschichte verwirrend. Albrecht von Graefe (139) stellte
fizienz vorliegt, da meist eine höhergradige Fusions-
das „dynamische Außenschielen“ in breiter Form dar, un-
schwäche besteht. Das Binokularsehen der operativ be-
terschied aber nicht grundsätzlich zwischen diesem und
handelten Fälle bleibt trotz motorischer Rekompen-
der dekompensierten Exophorie. In den USA war die Un-
sation oft „subnormal“. Bei der Definition des Konver-
terscheidung in den 20er-Jahren noch nicht erkennbar,
1950 mit Untergliederungen Allgemeingut und wurde in
genzschwächetyps nach Burian liegt ein ähnlicher
Missstand vor wie beim „frühkindlichen Innenschie-
den 60er-Jahren durch Burian noch einmal präzisiert. In
len“: Es werden zwei grundverschiedene Störungen in
Deutschland ist die Abgrenzung bei Jaensch 1924 nicht erkennbar und wurde erst 1956 (177) mühsam vollzogen.
Einteilung nach Duane: Duane gliederte nach dem kli-
Nach der Wiedervereinigung wurden die Patienten aus
nischen Aspekt, der abweichend von den Messwerten
den „neuen Ländern“ samt und sonders als Exophorien
beim alternierenden Prismenabdecktest vorrangig von
überwiesen, obwohl die Störung bei Krüger (199) sehr
gut abgegrenzt ist.
In der Diagnostik und Deskription durchgesetzt hat sich
der tatsächlichen fusionalen Kompensation bestimmt
wird (111). Es ist klar, dass dann alle Fälle, die beim Fernblick manifest schielen, zum
die Einteilung nach Burian. Sie richtet sich nach der
n Divergenzexzesstyp gerechnet werden, der mithin hier-
test, basiert also auf gemessenen Winkeln bei dissoziierender Untersuchung. Wir bringen sie hier zunächst,
einem Krankheitsbild vereinigt.
nach häufig wäre.
n Der Neutraltyp begegnet dem Beobachter entsprechend
viel seltener.
weil ohne sie eine Gliederung und ein Verständnis der
n Der Konvergenzschwächetyp erscheint viel seltener, weil
Literatur schwer möglich sind, werden sie aber anschlie-
viele Patienten mit einem beim alternierenden Pris-
ßend durch die ältere Einteilung nach Duane ergänzen,
ohne deren Kenntnis wiederum die innere Logik der ame-
menabdecktest größeren Schielwinkel in der Nähe diesen doch relativ leicht und häufig fusional kompensie-
rikanischen Literatur nicht einsichtig wird.
ren können (also dem Konvergenzschwächetyp nach
Einteilung nach Burian:
n Divergenzexzesstyp: Der Schielwinkel wird mit Prismen
Burian nur wegen des größeren Nahwinkels zugerech-
und Abdecktest für den Blick in die Ferne um mindes-
Seit einem halben Jahrhundert erscheinen kontinuierlich
tens 7h größer gemessen als für den Blick auf nahe Ob-
zahlreiche Repliken immer der gleichen Idee von Autoren,
jekte. Burian (48) verdanken wir die Feststellung, dass
die eine US-amerikanische Weiterbildung genossen ha-
dieses Verhalten in Wirklichkeit selten ist (1 %,). Das
eintägige Verschließen eines Auges enthüllt meist,
ben. Man muss diese Arbeiten sehr vorsichtig lesen. Sie
folgen formal zwar der Einteilung von Burian, die den
dass in Wirklichkeit der Nahschielwinkel ebenso groß
„echten“ Divergenzexzess korrekterweise für selten hält,
ist wie der Fernschielwinkel. Man spricht dann mit
verhalten sich aber doch so, dass man erkennt, dass sie
Burian vom
dem Prinzip des Divergenzexzesses im Sinne von Duane
net werden)
n Pseudodivergenzexzesstyp, bei dem in der Nähe der
unlösbar verhaftet sind. Manchmal werden Intermittent
gleich große Schielwinkel leichter und häufiger überwunden wird und deswegen kleiner erscheint: Die
Exotropia und Divergence Excess in der gleichen Publikation synonym verwendet (10, 222).
Patienten profitieren vom intakten AkkommodationsKonvergenz-Mechanismus.
Der Dreh- und Angelpunkt des Verständnisses des Strabismus divergens intermittens ist die Einsicht, dass in Eu-
n Neutraltyp: Der Schielwinkel während der Abweich-
ropa und in den USA die mutmaßliche Ätiologie unter-
phase ist für Ferne und Nähe etwa gleich groß.
schiedlich gesehen und dass in wissenschaftlich beispiel-
n Konvergenzschwächetyp: Der gemessene Schielwinkel im
loser Kontinuität diese unterschiedliche Beurteilung über
Nahbereich ist mindestens um 7h größer als bei Blick in
ein Jahrhundert hinweg unverändert beibehalten wurde.
die Ferne. In der amerikanischen Literatur werden
Nicht unversöhnlich, weil wegen der Verankerung vor
überraschend viele Fälle diesem Schieltyp zugerechnet.
allem im kollektiven Unbewussten dieser Dissens niemals
Der europäische Untersucher findet diese Form seltener, der Autor bei 10 % aller intermittierenden Diver-
öffentlich hart ausgetragen, sondern bis heute auf beiden
Seiten beharrend gelebt wurde: auf der einen Seite die
genzschieler. Unterschiedliche Untersuchungsmetho-
Anomalie der Ruhelage, auf der anderen der Divergenz-
den können solche Unterschiede nicht erklären, da die
exzess.
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Schielwinkelgröße beim alternierenden Prismenabdeck-
217
2 Störungen des Binokularsehens
Divergenzexzess. Die Annahme einer aktiv überinner-
Konvergenzschwächetyp erklärt Kushner durch einen er-
vierten Divergenz als Ursache der Exotropie selbst, ihrer
niedrigten AC/A-Quotienten. Derartige Begriffe darf man
periodischen Manifestation, sowie der Winkelzunahme
beim Blick in die Ferne hat rein amerikanische Wurzeln:
verwenden, dabei aber nicht vergessen, dass sie rein deskriptiver Natur sind. Die Vorstellung vom kompensatori-
Die Gliederung nach Duane, der den Begriff im Sinne
schen Konvergenzexzess mag den Tonus erklären, der die
einer pathologischen Überinnervation interpretierte, die
Parallelstandsphase stabil hält, bietet aber keine Hilfe
Kürze und Dialektik einer bis heute viel zitierten Arbeit
von Dunnigton (115), das persönliche Fürwahrhalten
zum Verstehen, woher der Innervationsschub kommt,
durch Burian und die scheinbar unwiderlegbaren Befunde
im Elektromyogramm. Zuerst durch Adler (5), dann we-
lung in den Parallelstand bzw. in den eher kleinen phorischen Raum startet (84).
sentlich beachteter durch Breinin (42) und später mehrfach wiederholt wurde nachgewiesen, dass der Übergang
Direkter Missbrauch der akkommodativen Konvergenz
mit Mikropsie ist beschrieben (237), ist aber wohl eher
vom Parallelstand in die Abweichphase ein aktiv inner-
ein Verhalten von Exophoren, denen die Dekompensation
vierter Prozess ist. Nun ist aber jede Augenbewegung
mit Diplopie droht. Die Vorstellung, der kompensatori-
ein aktiv innervierter Prozess. Eine Ab- oder Zunahme
sche Gebrauch der Akkommodation selbst führe zur Ver-
von Vergenzzuständen kann gar nicht auf bloßer Erschlaf-
schlechterung von Visus und Stereosehen in der Ferne
fung beruhen (Sherrington-Gesetz), unabhängig davon,
und damit wiederum zum Zusammenbruch der Kompen-
y
mit dem die Rückkehr aus der tief supprimierten Fehlstel-
bei welcher Ruhelage die Veränderung startet. Gleichwohl
sation (326) ist ein Zirkelschluss, der aus der eigenen Er-
ist das Argument als vermeintlicher Beweis auch für den
pathologischen Divergenzexzess benutzt worden (112,
181). Dem europäischen Leser fällt auf, dass amerikani-
fahrung von 35 Jahren nicht bestätigt werden kann. Die
behauptete Verschlechterung des binokularen Visus wäh-
sche Operateure weitgehend unabhängig davon, ob sie
tom den Klinikern kaum entgangen. Albrecht von Graefe
sich zum real existierenden Divergenzexzess bekennen
(139) favorisierte diese Idee und meinte, der Missbrauch
oder nicht, doch fast ohne Ausnahme so operieren, als
der Akkommodation führe zur Myopie, doch folgte ihm
ob es ihn gäbe und er häufig wäre. Die beidseitige Rückla-
niemand in alledem.
rend der Parallelstandsphase wäre als auffälliges Symp-
gerung des M. rectus lateralis wird als die richtige Thera-
Man darf den fast 100-jährigen virtuellen Dialog zwi-
pie einfach vorausgesetzt (285). Amerikanische Operateure sind allenfalls bereit, bei unbezweifelbarem Neu-
schen den Hypothesen nicht zu ideologisch führen, da es
Beobachtungen gibt, dass Patienten mit Strabismus diver-
traltyp hierauf zu verzichten und dann etwa einseitig
kombiniert mit Rücklagerung und Resektion zu operieren.
gens intermittens bei Kompensation esophor sein können
(245) oder hinter zwei mattierten Spielmann-Okkludern
Europäische Autoren benutzen die Einteilung nach Burian
keine exophore Ruhelage zeigen oder unter prolongierter
ihrer Überschaubarkeit halber, betonen aber den rein de-
alternierender Okklusion den Fernschielwinkel verklei-
skriptiven Charakter (230, 305).
y Anomalie der Ruhelage. Die rivalisierende Hypothese
nern (10, 237). Solche Befunde sind wiederum weitaus
wird im europäischen Schrifttum bevorzugt (90, 177,
183, 305) und lässt sich auf Albrecht von Graefe zurück-
Der Begriff der Ruhelage selbst lässt viel Raum für diverse Vorstellungen, wie eine abnorme Basisinnervation,
führen. Dieser meinte, die abnorme Ruhelage würde
ein Fortbestehen der leicht exotropen Augenstellung der
durch vermehrte akkommodative Konvergenz überwun-
Neugeborenen (128, 301) bis zur anatomischen Norm-
den, die wiederum zu Myopie führen müsse. Er empfahl
variante, für die ein eigenes Fallbeispiel stehen soll.
besser verträglich mit der Idee vom Divergenzexzess.
die Schieloperation, eine beidseitige Lateralistenotomie
mit leichter Nahtsicherung durchaus auch als Vorbeugung
Fallbeispiel
gegen eine progressive Myopie! Bielschowsky (33) verließ
Die 11-jährige Mareike hat seit früher Kindheit alternierend
nach außen geschielt, nach Ansicht von Eltern und Augenarzt konstant manifest mit –20h. Die Augenstellung in der
Narkose betrug –20h. Bei Präparation beider Mm. recti laterales fand sich die Tenon-Überdachung der Muskeln massiv
hyperplastisch und elastisch wie der Gummi einer Schleuder. Nach sehr blutigem Ablösen dieses Gewebes von Ansatz und Sehne auf ca. 12 mm betrug der Schielwinkel in
Narkose noch ca. –8h. Die geplante beidseitige Rücklagerung wurde auf 4 mm begrenzt. Am Folgetage fand sich Parallelstand und durchaus unerwartetes subnormales Binokularsehen. Der präoperative Aspekt entsprach völlig der Beschreibung des (seltenen) echten Divergenzexzesses (50).
die Idee der abnormen Ruhelage nur, gewissermaßen für
einen Moment, als er einen unlösbaren Problemfall von
Exophorie (!) therapeutisch nicht in den Griff bekam. In
den USA hat Kushner (202, 203, 204) kürzlich eine eigene
Einteilung des intermittierenden Außenschielens vorgeschlagen. Danach wird die als Anomalie der Ruhelage
aufgefasste Abweichung entweder durch eine Nahkonvergenz im Sinne des erhöhten AC/A-Quotienten kompensiert oder durch eine „angespannte“ fusionale Konvergenz
oder durch eine Kombination von beidem. Etwas globaler
könnte man die Störung als Exotropie mit großem Winkel
und intermittierendem Konvergenzexzess definieren. Den
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218
W. de Decker
Solange
Abhängigkeit der Fusion von der Helligkeit, von der
in der Abweichphase nicht Diplopie, sondern Suppression
Entfernung und vom Bedarf an Stereopsis
herrscht, liegt nicht Exophorie, sondern Strabismus divergens intermittens vor. Dennoch gibt es zwei unterschied-
sorischen Eigenheiten des intermittierenden Divergenzschielens gehört die Blendempfindlichkeit. Helles Gegen-
liche Verhaltensweisen, von denen die erste der Exopho-
licht führt speziell beim Neutral- und Pseudodivergenzex-
rie näher steht (82). Gleicht man den Fernschielwinkel
zesstyp zu gesteigerter Manifestation. Die Patienten
beim häufigen Neutral- oder Pseudodivergenztyp nach
schließen dann oft das abweichende Auge. Dieses ge-
Burian mit seitengleich verteilten klaren (!) Prismen aus,
schieht mit Sicherheit nicht zur Vermeidung von Diplopie,
so akzeptieren ca. 50 % der Betroffenen diese Prismen so-
sondern zum Schutz vor unerwünschter binokularer Sum-
fort oder nach einigen Stunden, zeigen beim Abdecktest
mation.
keine weitere Einstellbewegung und interagieren auf
dem Niveau eines fehlerfrei positiven Bagolini-Streifentests. Längeres Prismentragen nach geduldigem, mehrwöchigen stufenweisen Aufbau soll sogar in 70 % der
Fälle die prinzipielle Ausgleichbarkeit für den sonst
nicht fusionsfähigen Blick in die Ferne beim Pseudodivergenzexzesstyp nach sich ziehen (331). Der Operateur ist
dann weitgehend frei in der Wahl von Muskeln und Ver-
219
Zu den sen-
Die frühesten Säugetiere waren nächtliche Räuber, die nachts binokulare Summation benötigten und tags nicht. Eine ferne Erinnerung hieran bieten noch die Baumspitzmäuse (Tupaiden), die
einen physiologischen Strabismus divergens intermittens aufweisen (263). Vielleicht liegt hier ein Atavismus vor, in dem das Licht
wie in ferner Vorzeit zum Schalter zwischen der anatomischen
divergenten Ruhelage (der Neugeborenen, der einseitig erblindeten Erwachsenen) und dem funktionellen Parallelstand wird.
fahren, da er ja nur die Prismen durch eine Änderung der
Ruhelage ersetzt.
Wahrscheinlich kommt es unter der Blendung sekundär
Die andere Hälfte der Patienten, vor allem solche vom
zu einer Zunahme der Suppression mit der Folge, dass die
Pseudodivergenzexzesstyp mit größeren Winkeln akzep-
Fusion aufgegeben und die divergente Ruhelage einge-
tiert Prismen nicht, steht also der Exophorie ganz fern.
nommen wird. Bei ausgeprägter Neigung zur Manifesta-
In der Abweichphase besteht im Allgemeinen anormale
Korrespondenz (163), wobei die mehr oder weniger dis-
tion in hellem Licht empfiehlt sich die Verschreibung
soziierende Art des Untersuchens diesen Befund beein-
kleinen Kindern, die man noch nicht operieren möchte.
flusst. Die so festgestellte ARK gilt für die geprüften Bedingungen, also für die Manifestationsphase. Gelegentlich
gelingt der Nachweis, dass Nachbilder, die getrennt in der
Es ist deshalb wichtig, in großer Entfernung und bei hellem Licht zu untersuchen (206). Gute Fixierobjekte sind
Kirch- und Rathaustürme vor hellem leeren Himmel. Es
Abweichphase angeboten wurden, beim Übergang zur Pa-
zeigen sich dabei Dissoziationsgrad und wahre Größe
rallelstandsphase zu einer normal korrespondierenden
des Fernschielwinkels. Die unterschiedliche Kompensa-
Position zusammenrücken. Mitunter ist die Suppression
tion im Sinne der Einteilung nach Burian spricht, um
in der Abweichphase so fest, dass eine Auskunft über
eine oben eingeleitete Überlegung zu Ende zu bringen,
die Korrespondenz nicht erhältlich ist.
gegen eine direkte Bemühung der Akkommodation. Viel-
Bei Patienten, die sich mit Prismen nicht ausgleichen
lassen, kann man noch folgende Beobachtung machen:
mehr dürfte ein jedes Individuum an ihrem Beispiel gelernt haben, wie man eben auch ohne sie zum Sprung an-
Während der Parallelstandsphase werden vorsichtig
setzen und eine Weile im Zustand der Fusion verbleiben
klare Prismen vorgegeben, langsam steigernd, unter Kon-
kann. Dieser Lernvorgang ist individuell stark entfer-
trolle mit dem Streifentest nach Bagolini. Über eine ge-
nungsabhängig. Täuscht man die Patienten hinsichtlich
wisse Strecke folgen die Augen im Sinne der retinosenso-
des Untersuchungsabstandes, so folgen sie meist ihrer
einer getönten Brille mit 80 % Absorption, vor allem bei
risch richtigen bimakularen Abbildung. Nach Erreichen
Vorstellung und nicht der Realität (Abb. 2.34) Patienten,
einer wahren Augenstellung hinter dem Prismen von
die auch in der Nähe häufig manifest schielen, lassen
meist etwa –7h kommt es plötzlich zur Dekompensation
in die manifeste Phase mit großem Schielwinkel (9, 84).
Durch die versuchte prismatische Entlastung wird die
sich durch einen akkommodationsfordernden Lesewürfel
meist nicht zur Fusion stimulieren, wohl aber durch Stereoobjekte (Treffversuch, Abb. 2.35) und selbst dann,
Vorspannung in den Mm. recti mediales vermindert. Of-
wenn bei Pixeltests die Stereoforderung während der Ab-
fenbar erkennt das Gehirn, dass unterhalb eines Mindest-
weichphase monokular noch gar nicht zu erkennen ist
betrages an Vorspannung eine eigene aktive Kompensa-
(221). Alle diese Abhängigkeiten legen es nahe, den Ein-
tion der Fehlstellung nicht mehr gewährleistet ist, weit-
tritt der Parallelstandsphase als bedingten Reflex zu ver-
gehend unabhängig von der biretinalen Bilddarbietung!
stehen.
Auf dieser Beobachtung beruht das eigene operative Konzept.
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Motorische und sensorische Besonderheiten
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
220
2 Störungen des Binokularsehens
Abb. 2.35 Fusionsobjekt. Mit einem Fixierlicht ist die Fusionsfähigkeit in der Nähe beim Strabismus intermittens nicht immer
nachzuweisen, die Blendung dissoziiert eher (links).- Eine Bonbondose und speziell der „Griff hinein“ fordert Stereosehen und pro-
n Zusammenfassung
Typische Symptome des
Strabismus divergens intermittens
n hohe Lichtempfindlichkeit
n Dekompensation bei Blick in weite Ferne
n spontane Kompensation bei Stereoanforderung (Treffversuch)
voziert es prompt (Mitte). In den Bonbons (rechts) sind viele sinnesphysiologsiche Prinzipen verpackt: Konturenreichtum, Kontrast
und zusätzlich Duft und die legendäre Hand-Auge-Korrelation.
lichungen seither sind, desto eher wird früher Schielbeginn bestätigt (25, 164, 183). Ob die Häufigkeit wirklich
zugenommen hat, lässt sich nicht objektivieren. Eher ist
es so, dass offenbar im Laufe eines Jahrhunderts die Sensibilität von Eltern und Ärzten laufend zugenommen
hat. Im operativen Krankgut der eigenen Klinik macht
der Strabismus divergens 30 % aus!
Auch der Spontanverlauf ist nicht wirklich bekannt, also
Häufigkeit,
Spontanverlauf,
Operationsalter
Noch
die Frage offen, wie viele Patienten früher oder später in
Jaensch (177) bezeichnet den Strabismus divergens inter-
ein konstant manifestes Schielen dekompensieren. Da
mittens als eher selten und durch späten Schielbeginn gekennzeichnet. Zeitgleich beschreibt aber Costenbader
man bei jüngeren Kindern wegen der Gefahr der Esotropie
(138, 325) nur diejenigen Kinder früh und ausgiebig ope-
(160) den frühen Schielbeginn und eine gewisse Neigung
riert, die sich offensichtlich rasch verschlechtern, bleibt
zum Verfall des Binokularsehens. Je jünger die Veröffent-
eine Restgruppe zurück, die sich niemals verschlechtert
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Abb. 2.34 Großer Spiegel als Fusionsobjekt.
Beim Blick in den Spiegel fusionieren auch viele
Patienten mit Strabismus divergens (rechts), die man
sonst leicht für manifest gehalten hätte (links). Die
Vorstellung von „Nähe“ führt zur Fusion, obwohl die
physikalisch korrekte Entfernung (die doppelte im
Spiegel) wenig wahre Akkommodation erfordert.
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
hat (160), die aber nicht repräsentativ ist. Meist wird ein
schein doch größeren Nahschielwinkels erhöht die Frei-
Operationsalter um 5–6 Jahre bevorzugt (2, 25, 138),
heit in der Wahl des operativen Verfahren (s. a. S. 537).
wobei das sensorisch etwas bessere Ergebnis bei den älteren Kindern wieder darauf beruhen dürfte, dass sie eben
Durch Vorgabe von S3 bzw. –3 dpt bds. kann man die
Größe des AC/A-Quotienten abschätzen oder errechnen.
nicht zur Verhütung des Zusammenbruchs früher operiert
y
werden mussten, weil sie motorisch besser kompensiert
diese Operation ist die Bestimmung des AC/A-Quotienten
waren, auf der Grundlage einer besseren sensorischen
relevant. Es war dies die Operation A. von Graefes gegen
Ausstattung.
das „dynamische Außenschielen“, für die Amerikaner die
221
Beidseitige Rücklagerung des M. rectus lateralis. Nur für
einzig logische Waffe im Kampf gegen den DivergenzexKonservative Therapie
klusion sicherer sein, nicht einen pseudointermittierenden Patienten mit Basismikrostrabismus divergens und
sie bei 50–60 % (152) und liegen heute bei 60–75 % (61,
ner Kinder wird man mit maßvoller intermittierender Ok-
Amblyopierisiko vor sich zu haben (S. 224). Die „echten“
285). Die besseren Ergebnisse beruhen auf höherer Dosie-
Fälle benötigen sie nicht. Ein Eingriff auch in die Phasen
rung, die aber mit einer Tendenz zum Übereffekt in der
mit Binokularsehen erscheint zunächst nicht hilfreich. Er-
Nähe bezahlt wird (43, 183, 206, 222), wo man ihn gerade
staunlich, aber mehrfach bestätigt ist, dass alternierende
nicht haben will. Der tatsächlich eingetretenen Überkor-
Okklusion für 2–3 Monate offenbar in der Lage ist, den
Fernschielwinkel bei Kindern um 5 Jahre etwas zu verkleinern (10, 237).
rektur in der Nähe begegnen die amerikanischen Autoren
mit Bifokalbrille oder Fadenoperationen an den Mm. recti
y
Prismen. Wieser (331) hat mit großer Geduld nachwei-
mediales, auch gemeinsam mit der Rücklagerung der
Laterales (43).
sen können, dass es möglich ist, durch Prismenaufbau
Die Beurteilung der Langzeitresultate nach beidseitiger
eine Exotropie in einer Exophorie zu verwandeln. Dies ge-
Lateralisrücklagerung ist schwierig, da amerikanische
lingt nur, wenn die Betreuung fest in einer Hand liegt. Die
Arbeiten meistens 6–12 Monate als Spätergebnisse an-
derzeitigen Kostenstrukturen in Deutschland erlauben
bieten, und Verlaufsbeobachtungen über mehrere Jahre
dem Kliniker keine derartige Präsenz in der laufenden Betreuung. Praxen mit Fachkunde und Sehschule hätten hier
ganz selten sind (25, 222, 250). Die eigenen, freilich
schon älteren, Erfahrungen mit diesem Verfahren waren
y
eine Gelegenheit zu sinnvoller eigener Therapie.
Minusgläser. Die von Landolt 1911 (211) empfohlene Sti-
y
mulation der (akkommodativen!) Konvergenz mit Kon-
„kombinierte Divergenzoperation“ ist in Europa das Stan-
kavgläsern ist in den USA populär (52, 201, 295). In Europa
dardverfahren und in seinen Stärken (gute Winkelkorrek-
wird diese Therapie eher als Hetzpeitsche verstanden und
tur) und Schwächen (laterale Inkomitanz) genau ana-
nicht günstig.
Einseitig kombinierte Rücklagerung und Resektion. Die
vielmehr empfohlen, durch Korrektur der Hypermetropie
lysiert worden (138). Weniger klar ist, wie groß der Anteil
Ordnung in das Spiel von Akkommodation und Konvergenz zu bringen (305).
der anatomisch und funktionell tatsächlich korrigierten
Patienten ist und nach welcher Zeit eventuelle Rezidive
Orthoptik. Gelegentlich findet man Arbeiten (10, 295), in
auftreten. Im Gegensatz zur beidseitigen Lateralisrück-
denen mitgeteilt wird, dass es doch Patienten gibt, die
lagerung lässt sich die Überkorrektur gut vermeiden,
unter Konvergenzübungen ihren Schielwinkel verklei-
aber auch gut dosieren, wenn sie gewünscht wird. Eine
y
nern, angeblich ohne Rücksicht auf den Manifestations-
Langzeitstudie über 10 Jahre (232) trennt leider nicht
grad. Grenzfälle zur Exophorie mit Konvergenz- und Fusi-
zwischen intermittierenden und konstant manifesten
onsschwäche rechtfertigen orthoptischen Arbeitseinsatz,
Exotropien und führt 2/3 kombinierte Operationen zusam-
erfordern aber doch eine Operation. Bei den Formen mit
größerem Winkel oder schlechterer Kompensation in der
men mit 1/3 beidseitige Lateralisrücklagerungen. Die Abklingkurve zeigt, dass in 10 Jahren ein erheblicher Teil
Ferne sind Konvergenzübungen nicht indiziert, weil sie
des Operationseffektes verloren geht. Da hier Langzeit-
die bessere Funktion in der Nähe trainieren und nicht
studien so selten sind, hat der Autor die eigenen Lang-
die schlechtere in der Ferne.
zeitbeobachtungen einmal summarisch zusammengestellt (89).
Operative
typs
Behandlung
des
Pseudodivergenzexzess-
y
Beidseitige Medialisresektion. Dieser Eingriff ist das ei-
Es wird üblicherweise empfohlen, mittels diagnos-
gene Standardverfahren ohne Rücksicht auf den Schieltyp
tischer Okklusion eine exzessive Nahkonvergenz auszuschließen. Die diagnostische Okklusion (1 Tag genügt)
nach Burian. Bei Schielwinkeln unter –10hempfiehlt sich
die fraktionierte, jeweils einseitige Ausführung, mit der
beeinflusst praktisch nur den Nah- und nicht den Fern-
man in der Bilanz höher dosieren kann. Gute Ergebnisse
schielwinkel (310). Der Nachweis eines gegen den Augen-
erhält man nicht durch große Resektionsstrecken mit
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zess. Die Ergebnisse waren vor 40 Jahren schlecht,
Okklusion. Bei sehr einseitigem Fixationsverhalten klei-
30–40 % Stellungskorrektur nach einem Jahr war der Standard. Manche Arbeiten beklagten diese Zahlen trotz einer
so überzeugenden Theorie (116). In den 70er-Jahren lagen
y
2 Störungen des Binokularsehens
Rand- und Mittelnähten, sondern mit 3–4 mm Resekti-
Kompensation in Gesprächsdistanz fast stets erreichen
onsstrecke und eingewebten Nähten (98). Die Milli-
wird.
metergradrelation liegt deutlich höher; keine Faser kann
sich zurückziehen. Das Parenchym wird nicht verletzt.
Eine Dekompensation in der Nähe tritt noch gelegentlich ein, wenn die Patienten sich dem Alter der Presbyopie
Der kontraktile Anteil des Muskels wird maßvoll vor-
nähern. Dies führt dann noch häufig zum Operations-
gespannt und das nicht kontraktile Element haltbar ver-
wunsch bei Menschen, denen die Manifestation nur in
kürzt.
der Ferne nicht so störend erschienen war, weil sie sie
Bei richtiger Ausführung kommt es zum angestrebten
im Spiegel nicht bemerkten.
kleinen Übereffekt in der Ferne, wo er wirken soll, mit
y
Rückgang in 1–2 Wochen. Genau den richtigen kleinen
Etwa 40 % der Operierten (mit welchen Verfahren auch
Übereffekt zu erhalten, erfordert Übung. Man benötigt
ihn selektiv für die Ferne (beim Pseudodivergenzexzess-
immer) rezidivieren nach einem halben bis drei Jahren.
Das ist keine Schande: Sie hatten vor der Operation eine
typ), was entgegen naiven Erwartungen mit bilateralen
hohe Ausgleichsinnervation, die man nicht auf einmal be-
Rücklagerungen nicht erreichbar ist. Die Vorteile sind
lange bekannt (68, 114). Das Risiko des unbemerkt blei-
seitigen kann. Man kann ohne Risiko einer schweren
benden Übereffektes mit konsekutivem Mikrostrabismus
ein Handikap der Amerikaner, dass die Patienten oft bin-
und Amblyopie beschränkt das Verfahren auf Kinder ab
dend die Heilung mit einer einzigen Operation verlangen.
4 Jahren (325).
Die dann zu großen bilateralen Rücklagerungen nehmen,
1–2 % der eigenen Fälle müssen wegen bleibenden
Übereffektes nach 3 Monaten unter Prismen revidiert
wie schon ausgeführt, allen vier Horizontalmotoren die
Vorspannung, ohne die der Sprung aus der Abweichphase
werden. Die übrigen sind nach einem Jahr zu 80 % noch
in die Fusion offenbar trotz Schielwinkelabnahme nicht
für 5 m parallel, und 40 % benötigen irgendwann eine
recht gelingt. Es erscheint wirksamer, die Vorspannung
Nachoperation, meist eine ein- oder beidseitige Latera-
zu erhalten bzw. die Fehlstellung als Teil eines bedingten
lisrücklagerung. Führt man genau die gleichen Eingriffe
Reflexes aufzufassen, und von vornherein den Patienten
in umgekehrter Reihenfolge durch, so erhält man völlig
(die Eltern) so zu führen, dass die Rolle einer Nachopera-
andere Ergebnisse. Die Vorzüge der Medialisresektion
waren in Deutschland schon einmal vertreten worden
(69) und sind selbst in den USA in Diskussionen vorgetra-
tion verstanden wird.
y Botulinumtoxin. Es sind wiederholt Ergebnisse mitgeteilt worden (291, 302), die von den Autoren günstig be-
gen worden (198). Der Stellenwert einer ausreichenden
urteilt worden, aber doch dürftiger sind als die chirur-
Resektion ist auch den Anhängern des kombinierten Ope-
gisch erzielten. Nach mehrfachen Injektionen soll ein blei-
Rezidiv, Zweitoperation, Regelkreis mit bedingtem Reflex.
Überkorrektur nur fraktioniert vorgehen. Es ist vermutlich
rierens vertraut (164). Die richtig dosierte postoperative
bender Effekt eintreten (302). Das Verfahren, die Schwä-
Diplopie für die Ferne, langsam nachlassend, erzieht zu
chung der Mm recti laterales, mündet zwangsläufig in
divergenter Fusionsbreite, oft mit prismatischem Fein-
die Ideologie des Kampfes gegen den Divergenzexzess
abgleich. Ob man die Innervation ändern, den an die Be-
ein, hat aber offenbar bisher keine große Verbreitung ge-
dingungen Nähe und gedämpftes Licht gebundenen binokularen Sehakt ändern kann, muss offen bleiben. Durch
funden. Die Autoren haben Patienten behandelt, die keine
Operation wünschten.
die diskrete Vorspannung wird das System aber leistungsfähiger. Umgekehrt führt die initiale bilaterale Rücklage-
Operative
rung zu einem Verlust an Muskelspannung, nicht nur
typs
Behandlung
des
Konvergenzinsuffizienz-
der rückgelagerten Muskeln selbst, sondern auch der an-
zu resezieren. Auch die nachjustierbare Ausführung ist
Hier sind sich alle einig, die Mm. recti mediales
tagonistischen Mm. recti mediales, mit der Folge, dass
angegeben worden (63). Auch hier muss man sich vor
trotz besserer Augenstellung die für das Simultansehen
der populären Annahme hüten, der Eingriff würde selek-
nötige hohe Eigeninnervation der Recti mediales wegfällt
(bedingter Reflex). Die besten Fälle sind die, die bei Ein-
tiv in der Nähe wirken. Er tut es ebenso wenig, wie die
bds. Lateralisrücklagerung den „Divergenzexzess“ selektiv
tritt eines Rezidivs doppelt sehen, also exophor geworden
beseitigt. Ein gutes Ergebnis in der Nähe geht fast immer
sind und nun mit der nachgeschickten ein- oder beidseiti-
mit einem Übereffekt in der Ferne einher, den man für
gen Lateralisrücklagerung wirklich gut werden, mit dem
eine Weile mit Prismen ausgleichen muss, wenn der Pa-
Regelkreis des Gesunden (schätzungsweise 10 %).
tient doppelt sieht. Langzeitergebnisse sind der Literatur
Bei Erwachsenen über 20 Jahre ist mit einem solchen
nicht gut zu entnehmen, weil zwischen Konvergenzin-
sensomotorischen Umbau nicht mehr zu rechnen. Es
suffizienztyp und wahrer Konvergenzinsuffizienz wegen
empfiehlt sich dann, die Fehlstellung zu erleichtern,
durch kombinierte Divergenzoperation beim Neutraltyp
Fusionsschwäche fast nie unterschieden wird und weil
für solche Unterscheidungen wahrscheinlich den meisten
oder eine mittelgroße bds. Lateralisrücklagerung beim
Autoren auch eine ausreichende Fallzahl fehlt. Handelt es
Pseudodivergenzexzesstyp, womit man immerhin eine
sich nur um den förmlichen Konvergenzschwächetyp
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222
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
nach Burian, so sind die eigenen Ergebnisse nicht schlech-
n Viele der Kinder könnten unbemerkt doch intermittie-
ter als die der anderen Typen, bei wahrer Konvergenz-
rend geschielt haben und deshalb nicht ohne Binokular-
schwäche aber deutlich schlechter.
223
erfahrung gewesen sein.
n Da beim Außenschielen die schnelle Phase des Nystag-
mus latens nicht zur Fixationsaufnahme benötigt wird,
Konstant manifeste Exotropie
bleibt der N. L. im Rahmen einer Störung des optokinetischen Nystagmus latenter und wird vielleicht häufiger
Manifestes Außenschielen ist, verglichen mit dem inter-
übersehen.
mittierenden Vorkommen, selten. Im eigenen exotropen
Besteht am Ende des 1. Lebensjahres ein konstant mani-
Krankengut schielen nur 20 % manifest. Der medizinische
fester großer Schielwinkel, so sollte man operieren,
Stellenwert der verschiedenen Formen ist sehr unterschiedlich.
nicht mit Hoffnung auf Binokularsehen, sondern um eine
akzeptable Augenstellung frühzeitig sensorisch vorzubereiten und einer Sehweise mit obligatem Panoramasehen
Alternierende Exotropie im 1. Lebensjahr
Die auffäl-
vorzubeugen.
oft der Ausdruck gravierender neuroanatomischer Schä-
Alternierende
den. Von diesen ist die periventrikuläre Leukomalazie,
alters
Exotropie
jenseits
des
Kleinkind-
an sich seit langem bekannt, die fassbarste, da sie in der
nifester Exotropie alternieren meist mit großem Schiel-
Magnetresonanztomographie gut zur Darstellung kommt
(176, 191). Sie betrifft vor allem erheblich Frühgeborene.
winkel und Panoramasehen. Mit einem Trenner kann
man die Gesichtsfeldüberschneidung verhindern, ohne
Ist der Augenarzt die erste Anlaufstelle der Eltern, so
dass der Patient die Fähigkeit verliert, die Objekte, die
muss mit Rücksicht auf die Kenntnis der Prognose, aber
von jedem Auge monokular gesehen werden, doch in
auch zur Vermeidung von Folgeschäden wegen Hydroze-
einen gemeinsamen sensorischen Raum einzuordnen. Als
phalus (191) die neuroradiologische Darstellung herbei-
Korrespondenz kann man diese Interaktion nicht bezeich-
geführt werden. Viele derartige Patienten erweisen sich
nen, da die biretinale Projektion der Bilder fehlt. Anderer-
leider schon bald als schwerbehindert (Hemiparesen).
seits kann man nicht immer sichern oder ausschließen,
n Bei konstant manifester Exotropie im 1.Lebensjahr
n intermittierend Parallelstandphasen vorkommen und
müssen neurologische Erkrankungen ausgeschlossen werden.
dass deshalb postoperativ unerwartet Binokularsehen
Ältere Kinder und Erwachsene mit konstant-ma-
dass gegen den Augenschein doch
möglich wird oder
n dass der Schielwinkel periodisch kleiner wird, dann mit
Mit scheinbar konstant manifestem Strabismus divergens
werden auch Kinder im 1. Lebensjahr vorgestellt, die
echter anormaler Korrespondenz (die einer weiten Gesichtsfeldüberlappung bedarf).
wegen fehlender visueller Zuwendung auffällig geworden
Eine konservative Behandlung ist nicht bekannt. Die Bera-
sind. Viele dieser Kinder werden rasch orthotrop, wenn
verspätet die visuelle Entwicklung einsetzt (336). Wie
tung vor einer Operation ist meist schwierig. Im Prismenausgleich wird gewöhnlich Diplopie angegeben, sodass
weit eine Überschneidung mit der ersten Gruppe vorliegt,
man oft nur den halben Schielwinkel operieren dürfte,
ist der spärlichen Literatur nicht zu entnehmen. Da die
wenn man sich an diese Untersuchungsergebnisse halten
Kinder mit Verdacht auf Blindheit vorgestellt werden, ist
wollte. Die postoperative Wirklichkeit ist aber günstiger.
die neurologische Untersuchung obligat.
Der Autor rät bei älteren Kindern und Erwachsenen,
Nimmt man alle offensichtlich auch hirnorganisch Ge-
doch den Versuch zu machen, operativ Parallelstand her-
schädigten heraus, so bleibt ein Krankengut mit „unkom-
beizuführen. Er wird fast immer vertragen und führt häu-
pliziertem“ frühkindlichen Außenschielen, soweit es den
neurologischen Aspekt angeht. Aber auch diese Kinder
figer, als früher angenommen, zu binokularer Interaktion
(22, 209). Selbstverständlich bedarf es der umfassenden
weisen organische Symptome auf, die mehrheitlich ophthalmologischer Art sind (168). Davon abgesehen stellen
Aufklärung. Die wenigen Patienten, die bei Vollausgleich
sich im 3. Lebensjahr die Symptome des frühkindlichen
darauf vorbereit und anderseits zufrieden, weil die Revi-
Schielsyndroms ein. A- und V-Inkomitanzen sowie DVD
sion mit Wiederherstellung eines Restschielwinkels meis-
sahen alle Beschreiber. Die Häufigkeit von Nystagmus
tens geringer ausfallen darf, als der präoperative Prismen-
latens als Symptom für die Unterbrechung der binoku-
versuch vermuten ließ. Bevor man revidiert, darf man 48 h
laren Interaktion wird aber widersprüchlich beurteilt
(34, 228, 336). Die Angabe, Nystagmus latens sei hier
warten, ob nicht Binokularsehen oder Suppression
eintritt. Jenseits von 48 h hinterlässt die Frührevision
seltener als bei infantiler Esotropie, erscheint nicht un-
Narben, innerhalb dieser Zeit erfolgt die Heilung „per
begründet:
primam“.
postoperativ wirklich doppelt sehen, sind dann einerseits
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lige Abweichung ist selten, aber nicht harmlos, vielmehr
2 Störungen des Binokularsehens
Konstant manifeste einseitige Exotropie mit Amblyo-
der großen zahlenmäßigen Häufung konvergente Abwei-
pie
Die Patienten werden dem Kliniker fast stets als in-
chungen. Mikrostrabismus convergens finden wir bei
termittierend vorgestellt, weil das motorische Verhalten
intermittierenden Wechsel zwischen großem und kleinen
20 % aller Patienten mit Innenschielen. Der wesentliche
Grund, Schielwinkel dieser Größenordnung als gesonderte
Schielwinkel zeigt. Abgrenzend ist die Amblyopie, die man
Schielform herauszustellen, liegt in der Fähigkeit der Pa-
bei dem überwiegend für harmlos geltenden intermittie-
tienten zu einem anomalen und reduzierten, aber nicht
renden motorischen Schielverhalten nicht übersehen
darf. Es handelt sich also um einen Basismikrostrabismus
wertlosen binokularen Sehen. Gleichwohl führt unbehandelter Mikrostrabismus zur Amblyopie des abweichenden
mit intermittierender Dekompensation in einen größeren
Auges, da 95 % der Betroffenen streng unilateral schielen.
Schielwinkel, fast immer mit Tendenz zur Verschlechte-
Wegen des unauffälligen Winkels wird die Störung häufig
rung. Da die Einstellbewegung beim Abdecktest fehlen
kann (Mikrostrabismus mit Identität) sollte man auch
erst bei der Einschulung entdeckt. Die Amblyopie ist dann
meist nicht mehr voll reversibel. Nicht nur Augenärzte
bei Annahme eines echten Strabismus divergens intermit-
und Orthoptistinnen, sondern auch alle anderen Personen,
tens immer die foveale Fixation überprüfen, wenn der
die mit Vorsorgeuntersuchungen befasst sind, müssen
Visus nicht seitengleich ist. Die Amblyopie ist fast nie
deshalb nach Mikrostrabismus fahnden und die Betroffe-
über 0,6 Visus hinaus zu bessern. Ist die Fixation exzen-
nen einer früh einsetzenden und bis zur Pubertät durch-
trisch, so kann sie nasal oder temporal gelegen sein (mit
gehaltenen Amblyopieprophylaxe zuführen. Subnormales
der bekannten schlechten Prognose). Nicht immer wird
Binokularsehen ähnelt dem Mikrostrabismus in vielen
daran gedacht, dass spontan konsekutiver Strabismus divergens vorliegen kann. Man sollte deshalb bei einsei-
funktionellen Details, wobei allerdings Parallelstand die
Regel oder doch intermittierender Status ist.
tigem Außenschielen mit Amblyopie immer nach der
frühkindlichen Richtung der Abweichung fragen, die Skiaskopie nicht vergessen und, bei Übernahme der Behandlung aus anderer Hand, an den Zusammenhang zwischen
Hyperopiekorrektion und Abgleiten in ein Außenschielen
n Zusammenfassung
Mikrostrabismus
n Schielwinkel 0,5–5h
n obligat-anomale Korrespondenz
n meist Strabismus monolateralis (Amblyopiegefahr)
denken. Mit dem Strabismus divergens intermittens hat
diese quasi pseudointermittierende Schielform die Rezidivneigung gemeinsam, hingegen nicht im vollem Umfang
den
Akkommodations-Konvergenz-Mechanismus
als Verbündeten, sodass die operative Strategie einfacher
Entdeckungsgeschichte
des Mikrostrabismus
sein darf. Eine kombinierte Schieloperation an den Horizontalwendern des abweichenden Auges wird meist zu-
Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts wurde noch die Ansicht
nächst ausreichen, wenn nicht dissoziiertes Höhenschie-
vertreten, dass je kleiner der Schielwinkel, desto eher die
len vorliegt. In diesem Fall sollte man den horizontalen
Korrespondenz normal sei (5, 197). Die in der Regel ano-
Eingriff auf beide Augen verteilen, um sich die Option
eines Eingriffs am M. rectus superior zu erhalten, ohne
male Korrespondenz bei sehr kleinem Schielwinkel war
jedoch zur gleichen Zeit schon beschrieben (179) und
mit der ziliaren Blutversorgung in Schwierigkeiten zu ge-
noch früher aus dem abnormen Fusionsverhalten wahr-
raten. Da die Amblyopie praktisch niemals zu beseitigen
scheinlich gemacht worden (174). Eine systematische Er-
und weder Binokularsehen noch ein Alternieren zu errei-
forschung und allgemeine Kenntnis des Mikrostrabismus
chen sind, kommt der Kontrolle bis zum 13. Lebensjahr
convergens bewirkten diese Hinweise aber noch nicht,
und einer lange fortgesetzten Teilzeitokklusion erhöhte
weil der Optimismus, Schielen orthoptisch heilen zu kön-
Bedeutung zu.
nen, die Einsicht in die universelle Bedeutung der Störung
versperrte. Um 1960 setzte eine vielfältige Beschäftigung
mit den Besonderheiten beim kleinen Schielwinkel ein.
Dabei wurde in vielen Arbeiten versucht, das Konzept
2.4.4
Mikrostrabismus und subnormales Binokularsehen
der normalen Korrespondenz zu retten, unter anderem
durch Verwendung des Ausdrucks Fixationsdisparität,
der für ein anderes Phänomen geprägt worden war. Einzelne Autoren (21, 161) brachten jedoch klar zum Ausdruck, dass es sich um Schielen mit anomaler Korrespon-
Der Ausdruck Mikrostrabismus oder Mikrotropie beschreibt nach Lang (218) Stellungsfehler zwischen 0,5
denz handele. Lang stellte 1961 (212) den Mikrostrabismus als eigenständiges Krankheitsbild heraus und lieferte
und 5h mit obligat-anomaler Korrespondenz. Fehlt der Zu-
den Namen 1966 (213) nach. Alsbald kam es erneut zu
satz „divergens” oder „verticalis”, so meint man wegen
Kontroversen über die Natur und Pathogenese dieser
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224
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
Schielform. Auffassungen, die von derjenigen Langs ab-
Prüfungen werden hier nicht Simultanperzeption, Korres-
weichen, erscheinen heute jedoch als Darstellungen von
pondenz und Fixationsort untersucht, sondern Fusions-
Sonderformen, die dem Prinzip nicht unbedingt widersprechen (156, 259). Dem näher interessierten Leser wird
vermögen und -geschwindigkeit. Ein Prisma 4 pdpt,
Basis außen, vor das führende Auge gehalten, veranlasst
empfohlen, die Literaturgeschichte der Entdeckung des
dieses, eine entsprechende Sakkade zur Korrektur der Fi-
Mikrostrabismus in der Monografie von Lang (218) nach-
xierlinie auszuführen. Beim Gesunden erzeugt dies Diplo-
zulesen und den zahlreichen Quellen selbst nachzugehen.
pie, die durch eine mehr oder weniger rasche Fusionskon-
225
vergenzbewegung überwunden wird. Bei Mikrostrabismus „begleitet” das abweichende Auge das führende. Es
macht dessen Adduktionsbewegung „konjugiert” mit, ab-
Abdecktest. Das Abdecken des führenden Auges enthüllt
duziert also um 2h. Diesem ersten Phänomen erfolgt
meist eine sehr langsame Fusionsbewegung, die als solche
Einstellbewegungen des abweichenden Auges bis herab
nicht sichtbar wird. Neben dieser klassischen Reaktions-
zu 1h, mit Lupenbrille 0,5h. Bei exzentrischer Fixation
des abweichenden Auges löst der Abdecktest nicht
weise (Kap. 3.1, 3.2) gibt es viele unkalkulierbare Testantworten (94, 274), die dem Test die nötige Klarheit neh-
immer eine Einstellbewegung aus, entweder wegen
men. Er ist deshalb als einzige Prüfung ungeeignet.
y
„Identität“ (Mikrostrabismus mit Identität, S. 226) oder
weil der Patient bei schwerer Amblyopie nicht reagiert.
y
Simultansehen und Abdecktest. Mit dem Streifentest nach
Formen des Mikrostrabismus
Bagolini (17) weist man Simultansehen nach (nicht Fusi-
on!), dessen anomaler Charakter durch zusätzlichen
Von klinischer Bedeutung ist die begriffliche Trennung
Schielwinkelnachweis mittels Abdecktest erbracht wird.
des primären vom konsekutiven und vom sekundären Mi-
Es muss davor gewarnt werden, diese Befundkombination
krostrabismus samt ihrer vor allem sensorisch unter-
für den sicheren Nachweis perfekten, harmonisch anoma-
scheidbaren Sonderformen. Daneben verdienen der diver-
len Binokularsehens zu halten (18, 19).
gente und der vertikale Mikrostrabismus trotz ihrer rela-
y
Abdecktest mit Fixations- und Korrespondenzprüfung. Löst
tiven Seltenheit doch eine kurze Behandlung.
der Abdecktest keine oder nur eine zweifelhafte Einstellbewegung aus, obwohl wegen Sehschwäche eines Auges
Primärer Mikrostrabismus
der Verdacht auf Mikrostrabismus besteht, so ist die Fixa-
heit besteht ein Schielwinkel zwischen 0,5 und 5h wobei
tion des schwächeren Auges mit großer Sorgfalt zu
in der Regel ein Auge streng führt und das andere, abwei-
prüfen. Sie ist dann im typischen Falle exzentrisch. Der
chende Auge amblyop wird. Das Ausmaß dieser Amblyo-
Winkel der exzentrischen Fixation kann mit dem Schiel-
pie kann zwischen 1/50 und 1,0 part. variieren. Den Unter-
winkel und dem Anomaliewinkel genau übereinstimmen.
Man spricht dann von Mikrostrabismus mit Identität. Zum
sucher befremdet die Feststellung, dass sich betroffene er-
Nachweis eignet sich besonders gut die bifoveale Korrespondenzprüfung nach Cüppers (77), ausgeführt mit dem
noch der mitunter schweren Amblyopie überhaupt bewusst sind. Diese Patienten können, wie viele andere Am-
Offenbar seit früher Kind-
wachsene Patienten häufig weder des Mikrostrabismus
Doppelspiegelbetrachter nach Lang (218). Über diesen fi-
blyope auch, das führende Auge allein nicht willentlich
xiert der Patient mit dem führenden Auge eine Lichtquel-
schließen. Ohne Anstoß von außen kann ihnen die einsei-
le, während der Untersucher das abweichende Auge spie-
tige Sehschwäche deshalb unbewusst bleiben. Die Be-
gelt. Während man das Fixiersternchen über den Fundus
hauptung, beide Augen seien früher voll sehtüchtig gewe-
wandern lässt, erfragt man, wann der Stern die Licht-
sen, mit der sich Gutachter mitunter befassen müssen, ist
quelle passiert. Damit hat man den Netzhautort fest-
deshalb nicht unbedingt als Täuschungsversuch anzuse-
gestellt, der mit der Fovea des führenden Auges korrespondiert, und kann ihn mit dem Ort monokularer Fixation
hen. Die Unfähigkeit, das führende Auge allein zu schließen, ist andererseits ein Hinweis, dass eine frühkindlich
des abweichenden Auges vergleichen. Die Beurteilung, ob
Identität oder Disharmonie zwischen diesen Orten be-
erworbene Sehstörung und nicht eine schadenabhängige
Visusminderung vorliegt (266). Die Mehrzahl der Fälle
steht, ist ab dem 6. Lebensjahr möglich. Die bifoveale Kor-
zeigt harmonisch anomale Korrespondenz mit positiver
respondenzprüfung gelingt oft besser, wenn man das Fi-
Streifentestangabe und Suppression für stärker dissoziie-
xiersternchen nicht mitten durch die Fovea, sondern
rende Binokularprüfungen. Bei sehr geringen Schielwin-
etwas oberhalb oder unterhalb vorbeiführt.
y 4-Prismen-Test. Die nur scheinbar einfache Probe erlaubte schon Irvine (174), Mikrostrabismus im Prinzip
keln bis etwa S2h findet sich häufig ein reduziertes ste-
richtig zu deuten, soweit er als Störung der Fusion ver-
Sehr selten werden Vorlagen nach dem Random-Dot-Prin-
standen werden kann. Im Gegensatz zu den vorgenannten
zip erkannt. Die Bemühungen, Strabismus nur durch
reoskopisches Sehen. Dieses erlaubt häufiger das Erkennen von Stereotests, die auf Horopterdisparation beruhen.
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Untersuchungsmethoden (Kap. 3)
2 Störungen des Binokularsehens
Prüfung des räumlichen Sehens nachzuweisen oder aus-
zentrischer Fixation. Die ophthalmoskopische Fixations-
zuschließen, haben zwar im Laufe der Zeit Fortschritte ge-
prüfung ist deshalb bei allen Kleinkindern, die dem
macht (24), führen aber nicht zu irrtumsfreien Ergebnissen.
Augenarzt überhaupt vorgestellt werden, unverzichtbar.
Wird die exzentrische Fixation früh entdeckt, so ist
Primärer Mikrostrabismus mit bifovealer Fixation und har-
durch Okklusionsbehandlung gewöhnlich zentrale Fixa-
y
monischer ARK. Die von Lang besonders herausgearbeitete
tion wiederzugewinnen.
Schielform betrifft etwa 50 % aller Patienten mit primärem
Die häufige Ausbildung nebeneinander bestehender
Mikrostrabismus. Sie lässt sich gewöhnlich leicht nach-
(„rivalisierender”) Fixationsorte und Korrespondenzen be-
weisen, da wegen der erhaltenen zentralen Fixation des
abweichenden Auges eine Einstellbewegung auslösbar
deutet ein nicht zu unterschätzendes Risiko persistierender Diplopie (87). Wir okkludieren deshalb zwar ener-
ist. Wegen dieser zentralen Fixation ist die Amblyopie gewöhnlich nicht sehr schwer. Der Visus unterschreitet sel-
gisch, aber keineswegs streng alternierend und lassen
die allein am führenden Auge ausgeführte Okklusion
ten Werte von 0,2. Da Mikrostrabismus an sich unheilbar
1–2 Tage pro Woche weg.
und kosmetisch kaum je störend ist, erübrigt bzw. verbie-
y
tet sich die operative Korrektur in der Regel. Sie kann al-
Mikrostrabismus und exzentrischer Fixation entwickeln
lenfalls indiziert sein, wenn in der Nähe oder intermittierend ein großer Schielwinkel besteht (332). Durch Brillen-
eine weitgehende Übereinstimmung des kleinen Schiel-
vollkorrektion beim akkommodativen und vorsichtig do-
der exzentrischen Fixation. Man spricht von Mikrostrabis-
sierte beidseitige Fadenoperation beim nichtakkommodativen Konvergenzexzess kann man versuchen, den größe-
mus mit Identität. Aus dieser Identität der drei Winkel ergibt sich, dass beim Abdecktest das abweichende am-
ren Schielwinkel in der Nähe auf das vom Anomaliewinkel
vorgegebene Maß zu reduzieren. Die primäre Aufgabe ist
blyope Auge keine sichtbare Einstellbewegung macht
(77). Gelegentlich ist das Prinzip der Identität so perfekt
die Amblyopieprophylaxe und -behandlung. Einer kurzen
entwickelt, dass die Korrespondenzprüfungen, besonders
Phase der Vollokklusion folgt langjährige intermittierende
mit Nachbildern normal ausfallen, da keine Diskrepanz
OkkIusion.
n Robuster wirksam ist die Applikation einer lichtdurch-
zwischen dem monokularen Fixierort und der binokula-
lässigen, aber konturendichten Folie (Schulbuchschutzfolie) hinter dem Glas vor dem dominanten Auge an 2
gen in Wirklichkeit kleine Diskrepanzen, auch labile, vor.
Es werden dann Fixations- und Korrespondenzbefunde er-
Tagen pro Woche bis zum 9. Lebensjahr. Von da an
hoben, die erst durch gründliches Nachdenken richtig ge-
bis zum 13. Lebensjahr genügt 1 Okklusionstag pro Wo-
deutet werden können. Die Betroffenen verfügen oft über
che, wenn irgend möglich ein Schultag.
ein besseres Binokularsehen als die bloß harmonisch ano-
Mikrostrabismus mit Identität. Etwa 5 % der Patienten mit
winkels mit dem Anomaliewinkel und dem Gradmaß
ren Korrespondenzbeziehung besteht. Häufiger jedoch lie-
n Etwas schwieriger ist die Anwendung der Ausschlei-
malen Fälle mit erhaltener zentraler Fixation des abwei-
chokklusion nach Lang (216). Die mit „1,0“ bis „0,1“ ka-
chenden Auges, weil ihre sensorische Anpassung ins-
librierten Sichtfolien nach Bangerter verführen zu der
gesamt vollständiger ist. Dagegen ist die Amblyopie
Ansicht, die Anwendung einer Folie „0,5“ würde bei
Visus des nichtdominanten Auges um 0,7 ausreichen,
meist ausgeprägter; die Sehschärfe des abweichenden
Auges überschreitet selten Werte von 0,4.
einen Fixationswechsel herbeizuführen. Gelänge dies,
so wäre das Verfahren ideal, weil es den Gebrauch der
anomalen Fusion nicht unterbräche. Leider ist die für
den Fixationswechsel erforderliche Vernebelung aber
oft so hoch, dass die binokulare Interaktion ebenso ausgeschaltet wird wie bei Verwendung einer konturendichten Folie. Dieser Umstand zwingt zu sorgfältigen
Kontrollen. Tritt kein Fixationswechsel ein, so kommt
n Zusammenfassung
Mikrostrabismus mit
Identität
n Identität des Schielwinkels mit Anomaliewinkel und Gradmaß der exzentrischen Fixation
n beim Abdecktest keine Einstellbewegungen
n ausgeprägte Amblyopie
es zur Leseamblyopie – oft unbemerkt, weil der Visus
Der Versuch, durch konsequente Okklusionsbehandlung
nicht mehr auffällig absinkt (2.5)
foveale Fixation zu erreichen, lohnt nur bei ganz jungen
Kindern. Bei älteren, etwa ab 3 Jahren, ist er problema-
n Ausschleichokklusion ist in der Amblyopiebehand-
tisch. Die im seltenen Erfolgsfalle erzeugte Dissoziation
lung nur wirksam, wenn sie Führungswechsel bewirkt.
zwischen Korrespondenz und Fixation und die Rivalität
zweier oder mehrerer Fixationsorte stellen ein beträcht-
Mikrostrabismus mit exzentrischer Fixation des abwei-
liches Diplopierisiko dar. Die Manifestation einer persistierenden Diplopie kann noch nach Jahren eintreten.
chenden Auges. 45 % der Patienten mit Mikrostrabismus
Bevor die Amblyopie energisch behandelt wird, sollte
convergens haben eine schwere Amblyopie, oft mit ex-
man beobachten, ob nicht auf niederem Niveau Visuskon-
y
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226
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
227
stanz besteht. Die Entwicklung einer derart leistungsfähigen anomalen binokularen Sehweise darf nicht als das Ergebnis aufsummierter Suppression mit sekundärem Ersatz einer zunächst zentralen durch exzentrische Fixation
missverstanden werden. Amblyopie und exzentrische Fixation sind vielmehr als beste Ersatzbildung bei primärer
Unfähigkeit zur exakten Verschaltung bifoveolaren Sehens zu verstehen.
y
Mikrostrabismus mit normaler oder gemischter Korrespon-
denz. „Mikrostrabismus“ wurde durch Lang, „Mikrotropie“
durch von Noorden als Krankheitsbild mit obligat anomaler Korrespondenz definiert. Fehlt diese, so ist die ständige
Umschreibung mit „kleiner Schielwinkel“ so lästig, dass
hier entgegen dieser Vorschrift weiterhin von Mikrostraleicht verkannt, wenn durch falsche Interpretation der
Angaben beim Bagolini-Streifentest ein Anomaliewinkel
angenommen wird (Abb. 2.36).
Strenge Dominanz und harmonische ARK beim Mikrostrabismus sind als regelhaftes Majoritätsverhalten zu
verstehen, von dem es, wie bei allem Biologischen, Aus-
Abb. 2.36 Schweiftest. Wird nicht ausdrücklich festgestellt,
dass die Kreuzung der Bagolini-Schweiflinien im Fixierlicht, wie es
das dominante Auge sieht, wahrgenommen wird, so droht die
Verkennung normaler Korrespondenz bei kleinem Schielwinkel.
nahmen gibt. Tatsächlich findet man normale Korrespondenz bei etwa 5 % aller Patienten mit Mikrostrabismus
und zentraler Fixation (101, 179). Sie ist selten die einzige
Korrespondenz dieser Patienten. Meist konkurrieren NRK
und ARK. Auch kommen mehrere anomale Korrespondenzen beim selben Patienten vor (74). Alle diese Mischformen haben ein erhöhtes Risiko für spontane oder iatrogene persistierende Diplopie, offenbar, weil die mangelnde Festlegung auf eine Korrespondenz auch eine mindere Fähigkeit zur Suppression einschließt. Keine der rivalisierenden Korrespondenzen wird mit dem vollen Bestand an Neuronen bedient, sodass für Fusion wie Suppression nur jeweils eine bescheidene Zahl von „Sachbearbeitern” zur Verfügung steht. Erkennt man eine der
konkurrierenden Korrespondenzen als normal, so ist die
Fallbeispiel
Bei T. A., 13 Jahre, fiel der Mikrostrabismus convergens mit
gemischter Korrespondenz (NRK neben 3hAnomaliewinkel)
im Alter von 8 Jahren auf. Beide Augen waren voll
sehtüchtig, sodass intermittierende Parallelstandsphasen
angenommen werden müssen. Nach Vollkorrektion einer
Hyperopie von S2,5 dpt und Prismenausgleich, der nach orthoptischer Schulung entfallen konnte, trat Parallelstand
mit subnormalem Binokularsehen ein: Worth-Test simultan,
Streifentest positiv ohne Unterbrechungen, Stereo-WirthTest: Ringe 7. Im Alter voll 10 Jahren ließen die Eltern die
Brille weg. Bei Wiedervorstellung mit 11 Jahren fand sich
wiederum Mikrostrabismus e3h. Seither konnte die normale Variante nicht wieder etabliert werden.
Versuchung, durch intensive orthoptische Behandlung
Heilung herbeizuführen, groß. Diese Therapie ist aber gefährlich (74), da sie den Abbau der schützenden Suppres-
Bei Patienten mit exzentrischer Fixation und identisch
sion fördert. Die anteilige NRK bedeutet keine gesicherte
mär nicht, doch enthüllt das Studium von solchen Fällen
Prognose, wäre sonst doch unverständlich, warum die tat-
mit spontan eingetretener persistierender Diplopie mit-
sächliche Fehlstellung von wenigen Graden nicht spontan
unter auch bei ihnen noch eine latente normale Korres-
fusioniert werden kann. Solange wir die synaptische Konstitution nicht direkt untersuchen können, muss von un-
pondenz (87).
harmonischer ARK erwartet man konkurrierende NRK pri-
kritischer Therapie abgeraten werden. Während die Lite-
Subnormales Binokularsehen
ratur vor allem spektakuläre Verläufe darstellt, die trotz
krostrabismus in verschiedenen Schweregraden vorfin-
allem eine Minderzahl von Patienten repräsentieren, voll-
den, mit fovealer oder exzentrischer Fixation, so haben
zieht sich die Entwicklung bei der Mehrzahl der Fälle
wir es doch offenbar stets mit einem (oft auch genetisch
etwa so, wie es das folgende Fallbeispiel zeigt:
fixierten) Defekt in der Fähigkeit, bifoveale synaptische
Wenn wir primären Mi-
Beziehungen zu unterhalten, zu tun. Dieser Defekt wirkt
wie ausgestanzt und die binokulare Interaktion, eben
der Mikrostrabismus, wie eine Ersatzbildung am Randes
des Defektes. Es wäre verwunderlich, wenn es nicht
auch noch geringere Ausprägungen dieses Defektes gäbe
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bismus gesprochen wird. Eine solche Befundlage wird
2 Störungen des Binokularsehens
(136), die den Parallelstand nicht mehr vereiteln, das
dabei mögliche Binokularsehen aber dürftig geraten lassen. Wie der Mikrostrabismus selbst, so begegnet uns
auch das „subnormale” Binokularsehen in verschiedenen
Schweregraden, die wir nur künstlich abgrenzen können.
Ältere Versuche zur Systematik erscheinen überholt (225),
auch eigene (100). In Wirklichkeit beobachtet man fließende Übergänge (83). Aufschluss gibt immer nur der
Längsschnitt, die Synopsis vieler Befunde über eine
lange Beobachtungszeit. Mit absteigendem Schweregrad
sehen wir:
n intermittierenden
Mikrostrabismus:
Die
Stellung
schwankt zwischen Parallelstand und etwa S1h bis 2h,
die Korrespondenz ist ambivalent, normal und anomal
im Wechsel.
n labilen Parallelstand: Minimale Abweichungen kommen
Fallbeispiel
Hanno M. D. schielte mit 2 Monaten, nach kurzer Okklusion
immerfort wechselseitig. Mit 3 Jahren wurde eine beidseitige Fadenoperation an den Mm. recti medialis ausgeführt.
Wegen Tendenz zum Übereffekt 4 Monate später beidseitige Lateralisrücklagerung, mit 8 Jahren beidseits Frontalisation der Mm. obliquii superiores. Mit 4 Jahren trat alternierende DVD hervor. Schon nach der ersten Operation traten
längere Perioden von Parallelstand auf. Mit jeder Nachoperation wurde dieses schwebende Gleichgewicht immer stabiler. Zerbrach es anfangs schon bei Vorhalten des Streifentests, so wird dieser jetzt, im Alter von 13 Jahren, ertragen
und positiv gesehen. Bei erstem Abdecken erfolgt nie eine
Einstellbewegung, aber der Abdecktest stört den Parallelstand für ca. 2 Minuten. Es kommt zur DVD ohne Diplopie,
jedoch empfindet der Patient die Rückkehr zu binokularer
Interaktion, ohne Stereosehen im Test.
vor, bis zu 1h in konvergenter und divergenter Richtung
im Wechsel, und entsprechend ist die Korrespondenz
Angesichts der Vielfalt in der Ausprägung subnormaler bi-
variabel.
n stabilen Parallelstand, wobei aber die Fähigkeit zum
nokularer Beziehungen ist es nicht verwunderlich, dass
die Literatur sehr verschiedene Krankheitsbilder fixiert
Stereosehen randomisierter Vorlagen fehlt: Konturen-
hat, die im Sinnzusammenhang aber doch alle in den
stereopsis ist möglich, wird aber bei überschwelliger
Oberbegriff „subnormales” Binokularsehen eingeordnet
Querdisparation subjektiv mit geringer räumlicher
werden können.
Höhe oder Tiefe empfunden (134). Der im hellen
n Monofixational phoria (259) : Bei Fehlen einer Einstell-
Raum positive Worth-Test zerfällt beim Abdunkeln
bewegung und von exzentrischer Fixation ist sie senso-
mit Diplopie oder Suppression.
risch durch strenge Dominanz eines Auges und leich-
Das subnormale Binokularsehen ist abhängig von Bedingungen wie Helligkeit, Konturenreichtum, Interesse, Ak-
teste Amblyopie des anderen gekennzeichnet. Labile
Suppression auch im Parallelstand ist das Leitsymptom.
kommodation und refraktiver Vorgabe. Fällt die periphere
n Obligate Fixationsdisparität: Bei Patienten mit Hetero-
Fusion weg (im Dunkeln), so bricht die binokulare Inter-
phorie und therapieresistenten Beschwerden findet
aktion zusammen. Die periphere Fusion „triggert” das bi-
man gehäuft eine Fusionsstörung im Bogenminuten-
foveale Einschnappen. Horror fusionis ist selten, da ein
bereich (75). Die klinischen Korrespondenzprüfungen
Suppressionsdefekt nicht häufiger vorliegt als bei anderen
Schielformen (0,5 % aller Schielenden) (87).
fallen normal aus. Eine Deutung als Mikrostrabismus
Die ausführliche Darstellung dieser Feinheiten wäre in
einem Beitrag über Heterotropie entbehrlich, fände man
sich aus folgendem Grund: Anomale Korrespondenz
dient dazu, beidäugiges Einfachsehen trotz Fehlstellung
sie nicht sämtlich auch als Ergebnis unserer operativen
zu erlauben. Schielende empfinden niemals die eigene
Behandlung. Konnte man vor 20 Jahren mit Anspruch
harmonische ARK, sondern allenfalls den subjektiven
auf Originalität noch sagen, frühes Schielen sei unheilbar
Schielwinkel (das Supplement zwischen objektivem
und führe stets zum konsekutiven Mikrostrabismus, so
und Anomaliewinkel). Einfache Versuchsanordnungen
(75, 101) erlauben es dagegen, dem Patienten mit obli-
ist dies heute überholt. Die bessere operative Behandlung
begünstigt die „Selbstschulung“ (126) Auch die längere
mit Anomaliewinkel von Bogenminutengröße verbietet
gater Fixationsdisparität die feine Abweichung der Fi-
postoperative intermittierende Okklusion trägt dazu bei,
dass etwa 4 % der frühkindlichen Esotropiefälle subnor-
xierlinien vom Parallelstand bei fortgesetzter Fusion
deutlich werden zu lassen. Die Empfindbarkeit der win-
males Binokularsehen erreichen (93, 119, 205).
zigen Fehlstellung verweist sie in den Rang eines sehr
Bei der Abfassung der hier zitierten Arbeiten wurde die
kleinen subjektiven Schielwinkels, dem ein ebenso win-
Inhomogenität des „frühkindlichen“ Innenschielens noch
ziger objektiver Winkel entspricht (299). Soweit die
nicht beachtet (S. 189 ff). Rückblickend wird man diese
Kleinheit der Messgrößen ein Urteil erlaubt, liegt also
Fälle mehrheitlich für unerkannt-intermittierend halten
formal normale Korrespondenz vor. Für die Messung
dürfen. Ein Fallbeispiel zeigt aber, dass mitunter auch Pa-
und Bewertung ist dies aber nicht zwingend notwen-
tienten mit den massiven motorischen Befunden des voll
ausgebildeten Schielsyndroms subnormales Binokular-
dig: Die Korrespondenz mag theoretisch normal oder
mikroanomal sein, immer ist die empfindbare Fixati-
sehen erreichen.
onsdisparität um ihren Betrag von der Korrespondenz
verschieden (101). Sie ist eine Mikrodisharmonie zwi-
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228
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
schen Augenstellung und Korrespondenz und somit ein
NRK in eine Vorzugssituation bringen zu können, gelingen
Fusionsdefizit.
nicht immer und haben ihre Grenze darin, dass viele Be-
n Verminderte Stereofähigkeit fiel in den Armeen des
Zweiten Weltkrieges auf beiden Seiten auf, als ca. 30 %
troffene nicht zu dauerhafter Fusion auf der Basis von stabiler NRK befähigt sind (45). Unterhalb von 4h Anomalie-
der Artilleristen die erweiterte parallaktische Messbasis
winkel siegt die anomale Variante immer. Gleichwohl ist
von Scherenfernrohren nicht nutzen konnten. Die Ver-
eine resignative Einstellung zur Behandlung nach post-
sagensreaktionen reichten von Kopfschmerzen bis zu
operativem Eintritt von Mikrostrabismus nicht ange-
manifester Diplopie (148). Patienten mit beschwerde-
bracht. Es besteht ein erheblicher Unterschied zwischen
freier Fusion bei fast fehlendem Stereovermögen trifft
Patienten mit Restschielwinkel um S5h und wenig fass-
man nicht selten bei Fahrtauglichkeitsuntersuchungen.
baren Binokularfunktionen und solchen mit einer „Defekt-
Haben Patienten mit subnormalem Binokularsehen asthenopische Beschwerden, so sind diese gewöhnlich
heilung 1. Grades” (330) bei intermittierender Abweichung von e1h mit Konturenstereosehen und kontrollier-
nicht auf Mängel des Fusions-, sondern eher des Sup-
tem Wechsel zwischen anomaler oder subnormaler Fusi-
pressionsvermögens zu beziehen. Hieraus erklärt sich
on. Stets aktuelle Brillenkorrektion, intermittierende Ok-
auch die häufige Unbeeinflussbarkeit solcher Beschwer-
klusion des führenden Auges und die Bereitschaft zur
den.
Nachoperation bei wieder zunehmender Fehlstellung entscheiden schließlich mehr als der bloße Erfolg einer ein-
Konsekutiver und sekundärer Mikrostrabismus
Wie
maligen Schieloperation darüber, was man erreicht. Bei
schon erwähnt, erweist sich konstant manifester Strabismus convergens mit Schielbeginn vor dem ersten Lebenshalbjahr gewöhnlich als unheilbar, wobei diskrete motori-
wenigen Fällen genügt offenbar die operative Geradstellung als Anstoß für die weitere spontane Besserung bis
zur Selbstheilung (126, 187), doch darf man sich natürlich
sche Symptome und das Fehlen binokularer Interaktion
hierauf nicht verlassen.
den Typus lebenslang kennzeichnen. Intermittierender
Kleine (erworbene) Abweichungen vom Parallelstand
Strabismus führt auch bei frühestem Beginn, gutes Ope-
können in jedem Alter durch Erkrankungen der Makula
rieren vorausgesetzt, zu subnormalem Binokularsehen
oder andere Gesichtsfelddefekte bedingt sein. Die Gefahr
und nicht zu konsekutivem Mikrostrabismus. Bei etwas
für Orthoptistinnen und Ärzte liegt darin, solche Fälle
späterem Schielbeginn und tief geprägter ARC ist eine rudimentäre Zusammenarbeit der Augen erreichbar, im
als primäre Mikrotropie zu verkennen. Bei jedem Verdacht auf Mikrostrabismus ist deshalb sorgfältig eine or-
idealen Falle ein „gepflegter” konsekutiver Mikrostrabis-
ganische Ursache auszuschließen. Als spontan konsekuti-
mus vom harmonisch anomal korrespondierenden Typ.
ven Mikrostrabismus divergens sollte man die völlig an-
Bei den einseitigen Fällen enden zahlreiche Behandlungen
dersartigen Fälle von primär konvergentem Mikrostrabis-
mit Zuständen unter diesem Niveau, weil durch Vernach-
mus bezeichnen, die spontan in eine geringe divergente
lässigung der postoperativen Rezidivprophylaxe bis zum
Fehlstellung übergehen. Dies geschieht nicht selten
Alter von 13 Jahren vielfach Amblyopie, unstete Fixation
dann, wenn der Augenarzt nach wiederholter Atropinski-
und ein unnötig großer Schielwinkel wiederkehren. Die
Symptomatik der Patienten mit postoperativ harmonisier-
askopie die Annahme der vollen Hyperopiekorrektion
durchgesetzt hat. Langfristige intermittierende Okklusion,
ter Korrespondenz bei kleinem Restwinkel gleicht auf den
bis zur Präpubertät, wirkt dieser Entwicklung entgegen,
ersten Blick derjenigen bei primärem Mikrostrabismus.
weil sie den Amblyopiefaktor bei der Suppression kontrol-
Einige Besonderheiten verdienen aber Erwähnung. Wäh-
liert.
rend primärer Mikrostrabismus mehrheitlich mit harmonischer ARK einhergeht und insofern einer Besserung
Divergenter und vertikaler Mikrostrabismus
meist nicht zugänglich ist, verfügen Patienten mit kon-
genter Mikrostrabismus wird von Lang (218) als sehr sel-
sekutiver Mikrotropie viel häufiger über mehrere Korrespondenzmöglichkeiten und gelegentlich über „rivalisie-
ten bezeichnet. Subtile Untersuchungen sprechen aber
dafür, dass divergenter Mikrostrabismus die sensorische
rende” NRK. Die sorgfältige Anamnese erlaubt oft, ein ver-
Basis von 5 bis 30 % der Fälle von intermittierendem Au-
Diver-
lorenes Intermittieren wahrscheinlich zu machen. Der
ßenschielen darstellt (23, 144). Harmonisch anomale Kor-
Nachweis von NRK bedeutet nicht, dass mit Wahrschein-
respondenz ist auch hier häufiger als „Identität” mit ex-
lichkeit Vollheilung erwartet werden kann. Solche Hoff-
zentrischer Fixation und Amblyopie. Darin und in der ge-
nungen sind in den 50er und 60er Jahren der Antrieb zu
ringen Größe der Basisschielwinkel liegt wohl der Grund
großen orthoptischen Anstrengungen gewesen. Man hoffte, durch „fraktionierten” Korrespondenzwandel” (135)
allmählich volle Heilung erreichen zu können. Auch Ver-
für die geringe Aufmerksamkeit, die solchen Befunden
suche, durch begrenzte Überkorrektur der Stellung mit
vergenter Mikrostrabismus häufig intermittierend bleibt.
Prismen (3) oder Operationen (85) die latent vorhandene
Die Nachbildprüfung der Korrespondenz, die ja zwangs-
früher geschenkt wurde. Die geringere Tendenz zur Amblyopie des abweichenden Auges lässt vermuten, dass di-
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W. de Decker
230
2 Störungen des Binokularsehens
läufig dissoziierend ausgeführt wird, fällt bei Patienten
eine Nahbrille, deren Werte man durch Probetragen er-
mit Strabismus divergens intermittens oft spurenhaft ho-
mitteln muss, einigermaßen kompensieren. Werden Pris-
monym aus, ein Hinweis, dass trotz normalen Stereosehens „nebenher” auch eine mikroanomale Variante ent-
men erforderlich, so sollten Erwachsene diese im Berufsalltag nur sparsam tragen, etwa in den letzten zwei Büro-
wickelt wurde. Eine Amblyopieprophylaxe ist dabei nicht
stunden. Ein Dauertragen würde zur Adaptation führen
immer erforderlich, sorgfältige Verlaufskontrolle jedoch
und den aktuellen Vorteil der Korrektion aufzehren. Dau-
zu empfehlen.
Vertikaler Mikrostrabismus wird ebenfalls als selten be-
ertragen kann auch in die Operationsbedürftigkeit führen
(332). Hiermit trifft man eine Entscheidung, an der man
zeichnet, ohne dass hierüber ausreichende Untersuchun-
den Patienten von Anfang an beteiligen muss.
gen vorliegen. Die Betroffenen zeigen meist dissoziiertes
scheinende Phase bildet.
Beschwerden, Diplopie
und persistierende Diplopie
bei Mikrostrabismus
2.4.5
Sekundärer und konsekutiver
Strabismus
In älteren Publikationen findet man noch den Ausdruck
sekundärer Strabismus für ein erneutes Abweichen der
Augen nach Schieloperation. Dieser sollte aber konsequent als konsekutiver Strabismus beschrieben werden.
Alle bisher beschriebenen Formen des Begleitschielens
Mit sekundärem Strabismus bezeichnet man korrekt das
führen, wenn auch selten, gelegentlich zu bleibender Di-
Abweichen der Augen aus dem Parallelstand oder aus
plopie. Unter 5000 eigenen Patienten (1968–1981) trat
einer Fehlstellung in eine andere infolge einer beeinflus-
diese ernsthafte Komplikation bei 45 Fällen ein, von
senden Augenkrankheit.
denen sechs unbehandelte primäre Mikrotropien hatten
(87, 88). An einem so kleinen Kollektiv lässt sich nicht
feststellen, ob eine bestimmte primäre Mikrostrabismusform zur persistierenden Diplopie disponiert. Häufiger
Sekundärer Strabismus
ist konsekutiver Mikrostrabismus von der Ausbildung
Auch dieser Begriff ist eigentlich noch zu weit. Er be-
persistierender Diplopie begleitet. Klagt ein Patient mit
schreibt sowohl Verläufe von Verlust des Parallelstandes
primärem Mikrostrabismus neben persistierender Diplo-
wie Fälle mit spontanem Wechsel der Schielform. Der Un-
pie noch den für Horror fusionis kennzeichnenden frus-
tersucher sollte, welche Anamnese auch immer erhoben
tranen Fusionszwang, so gelingt in der Regel auch der
werden mag, stets an die Möglichkeit denken, dass auch
Nachweis rivalisierender NRK, ohne welche der Fachausdruck „Horror fusionis“ gar nicht legitim ist (74, 149).
der Patient mit erworbenen Sehhindernissen, die zum sekundären Schielen führten, eventuell schon Strabismus
oder eine Veranlagung hierzu hatte.
n Überbehandlung (Orthoptik, apparative Pleoptik,
ununterbrochene ein- oder wechselseitige Okklusion) fördert den Suppressionsverlust und erhöht
das Diplopierisiko.
Strabismus bei organischer Sehschwäche („ex anopsia”)
Erblindete oder sehr sehschwache Augen erlauben
keine Fusion. Wegen der fehlenden Stellungskontrolle
weicht das erblindete Auge deshalb in kurzer Zeit vom Pa-
Die Doppelbilder erscheinen dann meist im Abstand des
rallelstand ab, beim Erwachsenen fast stets nach außen:
objektiven Winkels (rivalisierende NRK). Parallelstand
verbessert manchmal, aber leider nicht immer die Sup-
Das Auge richtet sich ungefähr nach der Orbitaachse aus
(–23h). Ältere Angaben, nach denen Fusionsverlust im
pressionsfähigkeit. Darüber hinaus ist eine wirksame Be-
1. Lebensjahr zum Divergenzschielen oder zum Konver-
handlung nicht bekannt. Da die schlimme Situation der
genzschielen, danach aber während der weiteren Kindheit
Betroffenen nicht ärger werden kann, ist die orthoptische
regelmäßig zum Konvergenzschielen führen soll, sind
überholt (297). Bis zum 5. Lebensjahr überwiegt sekundä-
Behandlung erlaubt (256), aber leider nicht sehr aussichtsreich (284). Der dauernde Verschluss eines Auges
res
Innenschielen,
danach
kommt
es
meist,
vom
ist nur bei voll ausgeprägtem Horror fusionis erforderlich.
8. Lebensjahr an stets zum Außenschielen, es sei denn,
Asthenopische Beschwerden bei Mikrostrabismus lassen sich meistens als nicht voll etablierte Diplopie bestim-
eine andere Schiel- oder Heterophorieform hätte primär
vorgelegen.
men. Die häufigste Manifestation durch Winkelvergröße-
Dass im Alter bis zu 5 Jahren überhaupt Innenschielen
rung bei angestrengter Naharbeit lässt sich oft durch
eintreten kann, wird mit dem frühkindlich hohen Adduk-
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Höhenschielen, wobei der vertikale Mikrostrabismus die
motorische und sensorische Basis für die kompensiert er-
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
tionstonus erklärt, der zur parallelen Ausrichtung der
Entwicklung von Strabismus aus einer Parese
Augen trotz anatomisch divergenter Orbitaachsen benö-
wachsene mit erworbenen Paresen sind subjektiv sehr
tigt wird (1). Strabismus convergens ex anopsia ist die
Regel bei einseitiger angeborener Katarakt, meist mit
unterschiedlich gestört. Neben Fällen mit lebhaften Klagen über Diplopie und Konfusion findet man solche, die
Symptomen des „frühkindlichen” Schielsyndroms (Nys-
alsbald supprimieren. Die Frage ist deshalb berechtigt,
tagmus latens, dissoziiertes Höhenschielen). Zum Strabis-
aber schwer retrospektiv zu erforschen, ob Paresen bevor-
mus „ex anopsia“ disponieren vor allem solche organi-
zugt von solchen Patienten langfristig manifestiert wer-
schen Krankheiten, die neben dem Visus auch das Ge-
den, die ohnehin nur über ein subnormales Binokular-
sichtsfeld beeinträchtigen und damit die periphere Fusion
sehen verfügt hatten. Paralysen, die jede binokulare
aufheben (Hämangiome der Lider, juvenile Katarakt, Pig-
Zusammenarbeit unterbinden, führen bei Kindern und
mentdegeneration, fortgeschrittenes Glaukom, aber nicht
so häufig die Ptosis congenita). Ärzte und Orthoptistinnen
Jugendlichen zum Verlust der kortikalen Fusionsfähigkeit.
Die kritische Periode hierfür endet erst um das
müssen stets die Möglichkeit von Strabismus ex anopsia
30. Lebensjahr, wie aus Verlaufskontrollen bei einseitiger
unkorrigierter traumatischer Aphakie bekannt ist (188,
bedenken und bei jedem neuen schielenden Patienten
Er-
eine gründliche organische Untersuchung vornehmen
269). Die Unterbrechung der Fusion darf bei kleinen Kin-
(Retinoblastom!). Refraktionsamblyopien in der Kindheit
dern wenige Tage, bei Schulkindern einige Wochen, bei
begünstigen allenfalls die Entstehung von Mikrostrabismus (156). Makuladegeneration (in jedem Lebensalter)
Zwanzigjährigen ein bis zwei Jahre nicht übersteigen.
führt dagegen kaum je zum Schielen, weil die intakte
Funktion der Peripherie zur Stellungskontrolle ausreicht.
Verlauf erworbener unvollständiger N.-IV- oder N.-VI-Paresen keinen Strabismus, sondern nehmen schon im
Zur Fusion vollwertig veranlagte Kinder entwickeln im
frühesten Lebensalter eine kennzeichnende ZwangshalÜbergang in andere Schielformen
Das „spontan-kon-
tung ein. Dagegen gehen N.-III-Paresen in der frühen
sekutive“ Außenschielen, die Dekompensation von Innen-
Kindheit fast immer in Strabismus mit sensorischer An-
schielen in Außenschielen nach Brillenkorrektion der Hy-
passung über, weil die Vielzahl der gelähmten Muskeln
permetropie ist kein ganz seltenes Ereignis. Die Brillen-
und die visuell-deprivierende Einwirkung der Ptosis die
werte häufen sich um S4,0 bis S5,0 dpt. Verfehlt man
Kompensation mittels Zwangshaltung nicht gestatten. Pa-
die Anamnese, so erscheint einem der aktuelle Zustand
wie ein Schielsyndrom mit divergenter Ruhelage oder
resen Erwachsener auf myodegenerativer Grundlage führen häufig zum Strabismus ohne Auftreten von Diplopie.
wie ein Strabismus divergens intermittens mit auffällig
Dies wird mit dem langsamen Eintreten der Störung er-
schlechter binokularer Befähigung. Zur Diagnose führt
klärt.
gewöhnlich das Abnehmen der Brille, woraufhin sofort
Innenschielen eintritt.
Verlauf und Befunde zeigen, dass diese Patienten prak-
Konsekutiver Strabismus
tisch fusionsunfähig sind. Orthoptische Übungen sind deshalb wenig sinnvoll und können überdies Doppeltsehen
durch Deprivation der Suppression auslösen.
Etwa 7 bis 13 % aller Patienten, die wegen Strabismus convergens „konventionell”, durch Rücklagerungen und/oder
Auch ohne Verordnung oder Änderung einer Brille
Resektionen operiert wurden, entwickeln im Laufe der
kommt Übergang in Strabismus divergens vor, u. a. bei
Zeit eine divergente Fehlstellung. Betroffen sind fast aus-
primärem Mikrostrabismus mit Amblyopie. Die Manifestation kann zur Diplopie führen (87). Bei relativ spätem
schließlich die Patienten mit frühkindlichem Schielen und
Auftreten angeblich primären Außenschielens ist deshalb
seitiger Fadenoperationen ergaben eine geringere Häufigkeit von konsekutivem Strabismus divergens (um 5 %; 93,
stets daran zu denken, dass die aufgegebene bessere Augenstellung nicht Parallelstand, sondern konvergenter
oder divergenter Mikrostrabismus war (144, 218). Patien-
geringer Fusionsfähigkeit. Langzeitbeobachtungen beid-
184).
ten mit Schielamblyopie zeigen diese Entwicklung häufi-
Überkorrigierter Strabismus convergens
ger als solche mit Refraktionsamblyopie. Während beide
Übereffekte soll man revidieren, bevor Wundheilung ein-
vermeintlich über ein intaktes peripheres Gesichtfeld
tritt. Die Revision am 2. bis allenfalls 3. postoperativen
verfügen, zeigt sich bei genauem Hinsehen doch, dass die-
Tag ist einfach und beeinträchtigt das kosmetische Ergeb-
ses beim Begleitauge funktionell gemindert ist (218).
nis nicht. Danach, bis etwa zur 7. Woche, führt die Nach-
Eindeutige
Sekundäres Innenschielen bei primärem Strabismus di-
operation zu sichtbaren Narben. Man wird in diesem Zeit-
vergens kommt kaum je vor. Späte Vertikaldivergenzen,
meist vom dissoziierten Typ, lassen sich allenfalls formal
hier einordnen. Wesensmäßig gehören sie in das Krank-
raum nur nachoperieren, wenn es funktionell geboten ist
(Diplopie!). Nachjustierbare Rücklagerungen (121, 273,
278) und leicht lösbare Faltungen (200) statt Resektionen
heitsbild des frühkindlichen Strabismus.
erleichtern die Sofortrevision. Späte Nachoperationen er-
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232
2 Störungen des Binokularsehens
fordern eine Neupräparation und sind oft wegen sensori-
weglassen kann. Späterer Rückfall in Strabismus diver-
scher Anpassung an die konsekutive Fehlstellung mit dem
Risiko der Diplopie behaftet. Bei aller Mühe, die Nachoperationstoleranz prismatisch zu prüfen, bleiben Überra-
gens intermittens ist seltener als bei korrektem Parallelstand als Operationsergebnis (294). Ein unerwünschtes
Fortbestehen dieser Überkorrektur ist die Ausnahme.
schungen nicht aus (58, 145, 200).
Der Verfasser musste nur bei jedem 40. Fall schließlich
Konsekutive Exotropie tritt besonders häufig ein nach
chirurgisch revidieren. Übersteigt die Überkorrektur S6h,
beidseitiger Medialisrücklagerung über 4 bis 5 mm.
so ist mit zahlreichen Revisionsoperationen zu rechnen
Diese wohlbekannte Erfahrung (317) wird immer wieder
(68, 114).
bestätigt, einschließlich des typischen langsamen Verlaufes, der bei 7-mm-Dosierung schließlich zu 38 % Überkorrigierten führen kann (308).
Konsekutiver Strabismus divergens ist andererseits
2.4.6
Therapie des Begleitschielens
nicht nur von Nachteil (167, 283). Lässt man ihn für 2–4
sere sensorische Situation erwarten, die – nach kunst-
Vom normosensorischen Spätschielen abgesehen, sind die
gerechter Revisionsoperation – limitierte Binokularfunk-
meisten Schielformen bei Anlegung strenger Kriterien
tionen ermöglicht (79, 85). Der Patient mit begrenzter
nach heutiger Ansicht unheilbar. Perioden hoffnungsvol-
Überkorrektion treibt offenbar unbewusst Orthoptik: Die
ler Erwartung in neue Methoden der operativen und or-
Tendenz des „frühkindlich” Schielenden zu Winkelschwankungen führt dazu, dass er aus einer geringen Di-
thoptischen Behandlung haben mit Zeiten der Resignation
gewechselt. Da stets mehrere Ärztegenerationen tätig
vergenzstellung heraus dauernd optomotorisch konver-
sind, deren Ausbildung in die eine oder andere dieser Epo-
giert1 und damit auch den ungefähren Parallelstand mit
chen fiel, spiegelt sich deren oft lebenslang beibehaltene
limitierten Binokularfunktionen anbahnt. Ohne diese Zu-
Grundeinstellung zur Prognose des Schielens in Ansichten
sammenhänge zu durchschauen, berichten amerikanische
wider, die den Patienten kontrovers erscheinen können.
Arbeiten in den letzten Jahren vermehrt über unerwartet
günstige Resultate, und eben auch funktionelle, nach spä-
Beratung
ter Revisionschirurgie.
Überkorrigierter
Strabismus
divergens
Beim kon-
Beidseitige Enttäuschungen lassen sich vermeiden, wenn
sekutiven Strabismus convergens nach Operation wegen
man Patienten und Eltern zunächst nach den Vorstellun-
Strabismus divergens ohne Binokularfunktion sollte man
gen fragt, die sie aus vorhergehenden Beratungen und ei-
wie beim überkorrigierten Strabismus convergens mittels
gener Lektüre entwickelt haben. Genießt ein vorberaten-
Prismenausgleich untersuchen, ob die geplante Änderung
der Kollege große Autorität bei sachlich überholtem Infor-
der Augenstellung diplopiefrei verträglich sein wird. In
mationsstand, so kann es geschehen, dass die Patienten
der Praxis ist diese Verträglichkeit meist besser als im
Prismenversuch. Deshalb ist es legitim, entsprechende
durch unsere eigene Darlegung in große Zweifel gestürzt
werden. Hier ist Vorsicht am Platze, da Mehrfachberatun-
Aufklärung und Mitwirkung des Patienten vorausgesetzt,
gen heute eher die Regel als die Ausnahme sind. Bei aller
auch entgegen dem Ausfall des Prismenausgleichs die
Rücksicht sollte die eigene Beratung aber doch immer den
Operation auf Parallelstand hin zu dosieren und die weni-
Hinweis enthalten, dass Schielen eine Störung auch von
gen Fälle von tatsächlicher Intoleranz am 2. Folgetage zu
Schaltvorgängen im Gehirn ist, dass deshalb Frühschie-
revidieren.
lende eine Vollheilung nicht erwarten können, aber bei
Bei primärem Strabismus divergens intermittens wird
richtiger Behandlung und geduldiger Mitarbeit doch zu
gern ein Übereffekt von 2–4h angestrebt. Dabei kommt
es zur Diplopie, die, mit Prismen knapp, aber ausreichend
begrenztem beidäugigem Sehen befähigt sein werden.
Dies gibt den Eltern einen Erwartungshorizont und hält
kompensiert, dem Patienten bei der Ausbildung divergen-
den Beratenden frei von der Last unerfüllbarer Garantien.
ter Fusionsbreite hilft. Genau genommen liegt keine echte
Widerstrebende Eltern sollte man zu einer Operation
Überkorrektur vor, da der Patient seine gewohnheits-
des Kindes nicht überreden, aber darauf hinweisen, dass
mäßige Überkonvergenz nicht sofort postoperativ aufgibt.
man im Krankenblatt vermerken würde, die Operation
Diese Überkonvergenz klingt meist rasch ab, sodass man
sei zu einem späteren Zeitpunkt nicht ohne Risiko des
die Prismen alsbald reduzieren und nach 2–3 Wochen
Doppeltsehens nachzuholen. Wird bei akutem normosen-
1
Konvergenz ist nur vorhanden, wenn auch Binokularsehen besteht. Bei frühkindlichem Innenschielen spricht man besser von
bimonokularem Adduktionsexzess. Konvergenzartige Motili-
tätsschübe ohne Binokularfunktion sind ohne sensorische
Kontrolle, eben „optomotorisch”.
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Monate bestehen, so kann man in 2 von 3 Fällen eine bes-
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
sorischen Spätschielen die Zustimmung zur raschen ent-
Empfohlen wird beim Innenschielen die halbjährliche
lastenden bzw. rekompensierenden Operation verweigert,
skiaskopische Kontrolle bis zum Alter von 5 Jahren. Zyklo-
so sollte man den heimischen Haus- oder Kinderarzt einschalten, auf den die Eltern oft besser hören, weil sich sein
pentolat genügt bei Hellpigmentierten, kann aber Rauschzustände herbeiführen. Man kann es ohne weiteres durch
Rat gewöhnlich schon zuvor als richtig erwiesen hat. En-
Tropicamid ersetzen (8) Bei Dunkelpigmentierten ist Atro-
gagement ist erforderlich, wenn Okklusionsmaßnahmen
pin erforderlich, um eine hinreichende Zykloplegie her-
zur Abwendung einer Amblyopie nicht befolgt werden.
beizuführen. Sehr sicher ist die Anwendung in öliger
Es gibt jedoch auch hier eine Grenze zwischen intensiver
Lösung bei Nacht. Wenigsten bei der Planung einer hori-
Beratung und Nötigung, die man nicht überschreiten soll-
zontalen Schieloperation sollte man es deshalb zum Ein-
te. Schwierige und erfolglose Beratungen erfordern eine
satz bringen. Auch der Erfahrene ist immer wieder über-
gute Dokumentation. Patienten, die sehr feste Erwartungen in überholte Methoden setzen, die wir nicht erfüllen
rascht, welch erhebliche Änderungen der Refraktion er
skiaskopiert. Nach dem 5. Lebensjahr genügen jährliche
können, darf man an seriöse Kollegen vermitteln, die
skiaskopische Kontrollen. Verlässt man sich auf die ein-
mit diesen Methoden gute Ergebnisse mitgeteilt haben.
mal ermittelte skiaskopische Refraktion, so kommt es
Die vereinfachte Darstellung der Funktion der Brille (des
nicht selten zum vermeintlichen Stillstand der Amblyo-
Donders-Prinzips) gehört zu den unverzichtbaren ärzt-
piebehandlung durch refraktiven Nebel. Die Gewohnheit,
lichen Pflichten in der Elternberatung, eine Aufgabe, der
am Phoropter zu skiaskopieren, kann zu bösen Fehlern
auch die Orthoptistin gewachsen sein sollte.
führen (Astigmatismus schiefer Bündel), wenn Kinder
mit Nystagmus latens nicht genügend abduzieren, um
die Primärstellung zu erreichen.
Behandlung vor einer Schieloperation
Kleinkinder mit Hyperopien zwischen 2 und 4 Dioptrien ohne Astigmatismus nehmen die Korrektion nicht
Zwei Drittel aller Konvergenzschieler und 10 % aller Diver-
leicht an, da sie ihnen subjektiv keine Vorteile bringt.
genzschieler entwickeln, sich selbst überlassen, einen mo-
Man kann das Annehmen der Brille fördern, indem man
nolateralen Strabismus mit Amblyopie. Voraussetzung für
nach der Skiaskopie das Atropin in minimaler Dosierung
jeden späteren Versuch, binokulare Zusammenarbeit der
weitergeben lässt, bis der Optiker die Brille ausliefert. In
Augen zu erreichen, ist deshalb eine wirksame Prophylaxe
bzw. Behandlung der Amblyopie (2.5).
der dann folgenden Phase des Rückgangs der Zykloplegie
nehmen fast alle Kinder die Brille an. Die wenigen Verbleibenden darf man getrost auch ohne Korrektion operieren, da sie ihre Akkommodationsgewohnheiten voraus-
Rolle der Brille
sichtlich über Jahrzehnte beibehalten werden. (Cüppers
antwortete einem darüber erbosten engagierten nieder-
Für den Laien ist die „Schielbrille”, Symbol der Schielbe-
gelassenen Augenarzt im Beisein des Autors: „Wer von
handlung, eigentlich ein magisches Instrument, das er
uns hat nicht schon mal einen akkommodativen Schieler
teils emotional ablehnt, von dem er andererseits aber
die unmittelbare und nachhaltige Beseitigung des Schielens erwartet. Tatsächlich beeinflusst eine Brillenverord-
operiert?”).
Die Verordnung der Brille erfolgt nicht selten wegen
Astigmatismus. Gleicht man diesen nicht aus, so kommt
nung den Schielwinkel nur, wenn eine nennenswerte Hy-
es angesichts der oft höheren Stabsichtigkeit des abwei-
peropie vorliegt. Ihr Einfluss ist auch bei gleicher skiaskopisch ermittelter Hyperopie individuell ganz verschieden
chenden Auges zur Amblyopie, die dann eine kombinierte
(316). Man muss ihn deshalb praktisch erproben. Einem
trollen der objektiven Refraktion empfehlen sich bei
Kleinkind mit Strabismus convergens, das mit und ohne
frühkindlichem Schielen auch deshalb, weil diese Patien-
Brille den gleichen alternierenden Schielwinkel zeigt,
eine Brille von z. B. S1,75 dpt aufzuzwingen, ist ebenso
verfehlt wie die Ansicht, ein hyperopes Kind mit
ten häufiger schräge Achsen haben (13 % gegenüber 5 %
in der Gesamtpopulation (129). Die Achsenlage kann
schwanken und unterliegt damit einer Dynamik ähnlich
e5,0 dpt, das nicht schielt, brauche auch keine Brille (59).
derjenigen für den Schielwinkel bei frühkindlichem Stra-
Refraktions- und Schielamblyopie ist. Halbjährliche Kon-
bismus (307).
Bis heute herrscht keine Übereinkunft, ob die Hyperopie bei Geburt am höchsten ist und dann abnimmt (165), oder ob sie bis
zum Alter von 3 Jahren (129) oder gar 6 Jahren (208) ansteigt,
um danach zurückzugehen. Bei amblyopen Augen findet dieser
Rückgang verspätet statt, wohl weil der Mindergebrauch auch
der Akkommodation den Emmetropisationsprozess stört.
Operative Behandlung
Soziale Argumente
Die Elterneinstellung zur Operation
ist sehr vom sozialen Klima abhängig. Amerikanische
Eltern drängen den Arzt zur Frühoperation, um ihren Kin-
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234
2 Störungen des Binokularsehens
dern Merkmale zu ersparen, die zum Ausschluss aus der
Kriterien. Wenn Eltern angesichts von 2 % Chancen für
Gruppe führen können. Deutsche Eltern neigen zum Ab-
höhere Binokularfunktionen die unverzügliche Operation
warten. Eine verhängnisvolle Tendenz, eine bloß kosmetische Korrektur sittlich nicht vertretbar zu finden, über-
wünschen, so verweigere ich mich nicht, werbe aber
nicht dafür.
Frühoperationen. Frühoperationen sind indiziert:
lagert sich mit Ängsten aus dem Bereich der Publizistik,
y
die iatrogene Schäden an Leib und Seele suggeriert.
n Wenn bei monolateralem Strabismus die Okklusions-
behandlung versagt, also eine schwere Amblyopie
n Spätere Operation geht mit höherem Diplopierisiko einher.
vorausgesehen werden kann. Meist sind es die Kinder
mit erheblichem latenten Nystagmus, der durch die Okeiner extremen Adduktionstendenz entgegen. Sie verlagert das Feld möglicher fovealer Fixation aus der ex-
Alter sensorischer Formbarkeit das Risiko persistierender
zessiv innervierten Adduktionsstellung in einen brauch-
Diplopie verzehnfacht (87). Beliebt ist die Forderung
nach Mitaufnahme eines Elternteils bei stationärer Behand-
baren Blickfeldbereich, was im Prinzip auch mit einem
Prisma möglich (13, Abb. 2.37), aber unbequem ist. Die
lung. Sie ist verständlich bei Kindern bis zu 5 Jahren, ver-
Idee der „fixationsverbessernden Frühoperation“ ist
ursacht aber oft eine psychopathische Reaktion bei Kin-
als „einseitige Umlagerung“ schon lange bekannt (38,
dern jenseits dieses Alters, die viel besser in der „Horde”
117), lässt sich aber, besonders bei kleinem Basisschiel-
aufgehoben sind. Für die psychische Vorbereitung von
Kindern und Eltern muss man sich die nötige Zeit neh-
winkel auch vorzüglich mit der Fadenoperation verwirklichen (97) Drei von vier für hoffnungslos oder okklu-
men, soll psychischer Hospitalismus vermieden werden.
Für die ambulante Operation eignen sich Rücklagerungen
sionsintolerant gehaltene Fälle kommen beim Einsatz
und kleine Resektionen an geraden Muskeln sowie
n Bei zerebralparetischen Kindern, von denen 55 % schie-
vor Ende des 3. Lebensjahres noch zu fovealer Fixation.
Rücklagerungen am M. obliquus inferior. Große Resektio-
len (182). Sie werden durch Schielwinkel um und über
nen, Fadenoperationen und Faltungen am M. obliquus su-
40h in ihrer statischen Entwicklung zusätzlich ge-
perior führt man wegen des belastenden Muskelzuges mit
hemmt, auch wenn sie alternierend schielen. Der
Erbrechen (280) besser in stationärer Obhut aus.
günstige Einfluss der Frühoperation auf die statische
und feinmotorische Entwicklung dieser Kinder ist er-
Zeitwahl des Eingriffs
Wir hatten schon festgestellt,
wiesen (272).
dass die Tendenz zu immer extremerer Frühoperation
n Wenn kooperative Eltern berichten, dass während der
beim frühkindlichen Innenschielen hinsichtlich der bin-
Freizeiten einer intermittierenden Okklusion eindeutige
okularen Prognose in eine Krise geraten ist (S. 214, 539).
Entspannungsphasen gesehen werden. Die Frühopera-
Bedenkenswert ist auch, dass sich die Ausbildung von
tion dient dann zum Erhalt der vorhandenen Binokular-
DVD durch radikale Frühoperation nicht verhindern lässt
funktionen.
(257). Für die Entscheidung, einige tatsächlich intermittierend Schielende unversorgt zu lassen oder viele zum
n Wenn ein Kind, und sei es auch noch so jung, unter der
Binokularsehen nicht Befähigte mehrfach nachoperieren
nis erweckt den Verdacht des „normosensorischen
zu müssen, gibt es im Alter von 4–6 Monaten keine
Frühschielens“.
eigenen Beobachtung akut schielt. Dieses seltene Ereig-
Abb. 2.37 Everses Prisma nach
Aust (13). Unter Okklusion des dominanten Auges (links) nimmt die Adduktion des amblyopen Auges zu. Dabei
rückt die Fixation näher an die Fovea.
Das Prisma erlaubt einerseits die Adduktion und erzwingt sie andererseits.
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klusion manifestiert wird. Die Operation wirkt dann
Dem beliebten Argument, das Kind möge später selbst
entscheiden, ist entgegenzuhalten, dass sich nach dem
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
n Bei konstant manifestem Strabismus divergens, um die
der Blickwendung vorliegt. Die Kombination mit einer
Ausbildung von Panoramasehen zu verhindern.
Rücklagerung ist ein beliebter Eingriff, der jedoch dem
Operation im Vorschulalter. Die Mehrzahl schielender
dieses Alter spricht die gute Mitarbeit in sensorischer
Muskel als Organ nicht gut bekommt, was spätestens
bei einer Revisionsoperation offenbar wird.
Die traditionelle kombinierte Schieloperation (Rücklage-
und refraktiver Hinsicht, die psychische Belastbarkeit
rung des Agonisten mit Resektion des Antagonisten)
und die annähernd normale Größe von Bulbus und Orbita
schafft dagegen eine echte Stellungsänderung. Diese ist
(4). Diese Argumente sind nicht von der Hand zu weisen,
zumindest statistisch einigermaßen dosierbar (186, 281).
da Fälle mit schwerem frühkindlichen Schielsyndrom
Die kombinierte Operation verändert die Motilität wenig.
(A-V-Inkomitanz, dissoziiertes Höhenschielen, Kopfhal-
Eine kombinierte Schieloperation ist immer dann indi-
tung zur Schulter) selten mit einer einmaligen Operation
befriedigend korrigiert werden können.
ziert, wenn ein stabiler Schielwinkel vorliegt. Die Konstanz des Schielwinkels ist praktisch oft schwierig zu ve-
y
Kinder wird hierzulande mit 4 bis 5 Jahren operiert. Für
Ein Aufschub der Operation bis zu diesem Alter ist zu
rifizieren. Die Beurteilung durch den Operateur ist dem-
vertreten, wenn nach Elternanamnese und eigener Be-
entsprechend auch verschieden. Gelingt der präoperative
obachtung eine offenbare Schielwinkelentspannung fort-
Ausgleich mit Prismen ohne ein Wiederanwachsen des
dauert.
Diplopierisiko bei Operationen an älteren Kindern und Er-
Schielwinkels, dann wird auch eine kombinierte Schieloperation zu einem stabilen Ergebnis führen (13, 328).
y
wachsenen. Vom Schulalter an steigt die Gefahr bleiben-
Wird trotz erkennbarer Rückdrehtendenz kombiniert ope-
der Diplopie stetig bis auf 5 % bei 16-Jährigen (87). Die
Doppelbilder werden in drei von vier Fällen im Abstand
riert und ein Rezidiv mit einer weiteren kombinierten
Operation, auch am anderen Auge, beantwortet, so geht
des objektiven Winkels gesehen (NRK). Die persistierende
der Operateur ein erhebliches Risiko späterer konsekuti-
Diplopie durch Suppressionsverlust darf nicht mit der pa-
ver Divergenz ein. Er hat dann eine statische Stellungs-
radoxen Diplopie bei eingefahrener ARK verwechselt wer-
änderung gegen einen in Wirklichkeit variablen Fehler
den, die harmloser ist und meist nur für kurze Zeit auf-
eingesetzt. Leider ist bis heute keine Vorhersage möglich,
tritt. Mit Prismenversuchen lässt sich das Risiko postope-
ob es im Einzelfall zu einer späteren spontanen Entspan-
rativer Diplopie nicht ganz ausschließen (S. 499). Eingriffe
nung des Schielens kommen wird. Hinsichtlich der lang-
nach der Einschulung sind häufig Revisions- oder Nachoperationen. Vor der Korrektur von konsekutiver Exo-
fristigen Stabilität des Operationsergebnisses sollte der
Operateur deshalb keine unhaltbaren Versprechungen
tropie sollte man untersuchen, ob ein kleiner Innenschiel-
machen. Rekrutierten sich die konsekutiven Exotropien
winkel nicht besser vertragen wird als ein reduzierter
früher vor allem aus ehemals tenotomierten Fällen, so
Außenschielwinkel. Ist das nicht der Fall, so gelingt es
kommen heute auch ehemals kombiniert operierte Schie-
gelegentlich, divergente Restschielwinkel stufenweise zu
lende als langfristig überkorrigiert zur Revision. Wird die
verkleinern, wenn im Laufe der Zeit die Suppression wie-
kombinierte Operation nur bei geeigneten Fällen, also mit
der ausreichend geworden ist.
der Beherrschung der Fadenoperation als Alternative, an-
Wahl des geeigneten Eingriffs (Kap. 5)
gewendet, so ist späte konsekutive Exotropie selten
(5–6 %; 119, 186). In derselben Größenordnung liegt auch
y
Operationen an Horizontalmotoren wegen Strabismus con-
vergens. Durch die Fadenoperation nach Cüppers und ihre
die Häufigkeit der Überkorrekturen (Fernwinkel) nach
beidseitiger Fadenoperation (4,4–4,9 %; 86, 184).
Modifikationen lassen sich instabile Schielwinkel relativ
Die beidseitige Medialisrücklagerung schafft eine weniger
gut korrigieren. Das Verfahren begrenzt die Überfunktion
stabile Korrektur als die kombinierte Operation und führt
der Mm. recti mediales umso mehr, je ausgeprägter sie ist.
häufiger zu spätem konsekutivem Außenschielen (im ei-
Die Fadenoperation wirkt durch exponentielle Abnahme
genen Krankengut 13 % nach 10 Jahren). Das Risiko steigt
des Drehmoments (67, 78, 233) sowie der aktiven Muskellänge und, in höherer Dosierung durch Fesselung der Pul-
erheblich, wenn 4 mm Rücklagerungsstrecke überschritten werden (317). Die beidseitige Medialisrücklagerung
leys. Die Strukturen beim Austritt des Muskels aus der
korrigiert andererseits den größeren Schielwinkel in der
Fascia bulbi bewegen sich mit ihm nach vorn und hinten,
Nähe anteilig besser (186), kann aber eine Beeinträchti-
Un-
gung der Adduktion hinterlassen. Sie ist ein vorzüglicher
erwünschte Nebenwirkung ist häufig die Einschränkung
Eingriff bei dekompensierter Esophorie und Strabismus
auch der Abduktion bei der konjugierten Blickwendung,
convergens im Senium. Hierbei werden Adduktion und
weniger des Konvergenzvermögens. (In der Paresenchi-
Konvergenz nicht beschädigt!
rurgie allerdings ist diese Nebenwirkung mitunter gut
zu verwenden.) Bei Erwachsenen mit variablem Schiel-
Nachjustierbare Eingriffe geben langfristig keine besseren Resultate als solche mit fester Dosierung (121). In
winkel ist die Fadenoperation noch möglich, wenn zu-
der eigenen operativen Tätigkeit ist der Verfasser im
gleich eine eindeutige Überfunktion der Adduktion in
Laufe der Jahre zu der Überzeugung gekommen, dass die
einem
Rennrudersitz
nicht
unähnlich
(103).
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236
2 Störungen des Binokularsehens
chirurgisch saubere Revision am 2. Folgetag nicht wesentlich aufwändiger ist als ein Nachknüpfen in der Praxis
oder am Bett.
ausführt, ist zu prüfen, ob dies ohne Gefahr für die ziliare Blutversorgung verantwortet werden kann.
Operationen gegen vertikale Stellungs- und Motilitätsfeh-
Konkomitierende Hypertropien benötigen Rücklagerungen und Resektionen gerader Vertikalmotoren, die, ent-
ler. Die häufigen A-V-Inkomitanzen lassen sich gewöhn-
gegen einer verbreiteten Ansicht, die Hauptheber und
lich mit Eingriffen an den schrägen Augenmuskeln gut
-senker auch in Adduktion sind. Das häufige dissoziierte
ausgleichen. Perfekte Korrekturen sind nicht zu erwarten,
Höhenschielen ist fast immer beidseitig auslösbar, kli-
wenn die Betroffenen als Träger eines frühkindlichen
nisch aber nicht selten einseitig manifest. Die Fadenope-
Schielsyndroms unfähig sind, kleine Restfehler durch Fu-
ration am M. rectus superior ist bei einseitiger Ausprä-
sion auszugleichen. V-lnkomitanzen mit Strabismus sur-
gung (fester Führung des anderen Auges) ein dankbarer
soadductorius operiert man durch Rücklagerung der
Mm. obliqui inferiores, wenn die Vertikaldivergenz in Ad-
Eingriff. Die Fälle mit alternierend beidseitiger Manifestation sind problematischer (S. 213).
y
duktion ihr Maximum im Aufblick hat, durch Faltungen
der Mm. obliqui superiores, wenn die Störung im schrä-
Revisionsoperationen
gen Abblick zunimmt. Ist der horizontale Schielwinkel
sierung sollte man möglichst in den ersten zwei Tagen re-
im Abblick um mehr als 15h größer als im Aufblick, so er-
vidieren, da der Wundheilungsverlauf dann kaum gestört
zielt man durch das simultane Operieren aller vier
und auch das kosmetische Ergebnis nicht beeinträchtigt
Mm. obliqui auch bei Einsatz maßvoller Operationsstre-
wird. Ist dies nicht möglich, so ist von der Nachoperation
cken noch gute Erfolge. Bei Erwachsenen ist die höherdosierte Korrektion an den Mm. obliqui problematisch, weil
in den ersten drei Monaten abzuraten, da die Gewebe
noch hyperämisch sind und zur Narbenbildung neigen.
die Patienten, die präoperativ ausreichend supprimieren,
Mitunter ist es nötig, eine kombinierte Operation
postoperativ die Verrollung oft als störend bemerken.
rückgängig zu machen und bei Fortbestand der Winkel-
Bei A-Inkomitanzen werden, sinngemäß, die Mm. obliqui
schwankungen durch eine Fadenoperation zu ersetzen.
superiores geschwächt. d. h. rückgelagert bzw. zwecks Er-
Dies sollte man nicht in einer Sitzung tun, da es zu schwe-
haltung der Zykloposition kornealwärts „frontalisiert”
ren Paresen führen kann. Die zweimalige Revision in aus-
oder, bei exzessiver A-Exoinkomitanz, einer prätrochlearen Tenektomie unterzogen (258). Seltener werden die
Mm. obliqui inferiores vorgelagert. Die Eingriffe gegen
reichenden Abständen ist besser verträglich und dosier-
die A-lnkomitanz erfordern erhebliche chirurgische Erfah-
keln vornehmen, auch wenn es beschwerlicher ist, als
rung. Die Praxis, A- und V-Inkomitanzen vorzugsweise an
weitere gerade Muskeln abzutrennen, da man nie weiß,
den Mm. obliqui zu korrigieren, hat einen wichtigen
ob nicht später im Leben erneute Nachoperationen fällig
Grund auch darin, dass diese Muskeln nicht zur Blutver-
werden. Stets ist daran zu denken, dass nicht beliebig
sorgung des Ziliarkörpers beitragen. Die Korrektur an
viele gerade Muskeln abgelöst werden dürfen.
barer. Bei ausgeprägtem frühkindlichem Schielsyndrom
sollte man Nachoperationen lieber an voroperierten Mus-
den schrägen Augenmuskeln kann man ersetzen oder er-
Nachoperationen beim Strabismus divergens sind häu-
gänzen durch eine Vertikalverlagerung der Horizontalmotoren (113, 193). Solche Eingriffe allein schaffen eine
Zyklotropie und sollten deshalb nur verwendet werden,
fig nötig. Ein anfänglich gutes Resultat und auch ein Übereffekt werden durch die gewohnte Ausgleichsinnervation
wenn kein Binokularsehen höherer Ordnung in Frage
oft vorgetäuscht. Im Laufe von 1–3 Jahren tritt dann die
wahre Unterkorrektion hervor (294).
steht, andernfalls aber möglichst in Verbindung mit torsional kompensierender Obliquuschirurgie.
Drei Empfehlungen als Beispiele für viele mögliche
Botulinumtoxin
Unter den acht Subtypen des Chlostri-
dium botulinum erzeugt Typ A ein hochgiftiges Exotoxin,
Kombinationen:
ein Protein von hohem Molekulargewicht. A. B. Scott ent-
n Bei V-Esotropie schafft die Faltung beider Mm. obliqui
superiores eine Inzyklotropie, die Abwärtsverlagerung
wickelte in jahrelanger Arbeit, zunächst im Tierversuch
(292), ein heute sehr gut standardisiertes Verfahren,
beider Mm. recti mediales eine Exzyklotropie. Beide
durch Injektion des Toxins (durch „chemische Dener-
Eingriffe addieren dann ihre Wirkung gegen die V-Inko-
vation“) künstliche Augenmuskellähmungen mit einer
mitanz, heben sich aber rotatorisch weitgehend auf.
gewissen Dosierbarkeit zu setzen (290). Das hohe Moleku-
n Sinngemäß würde man bei A-Exotropie die Mm. obliqui
largewicht begrenzt, aber verhindert nicht völlig den Aus-
superiores schwächen und zugleich die Mm. recti late-
tritt von Toxin aus dem Muskel in die Umgebung, sodass
rales nach unten verlagern.
die wichtigste Nebenwirkung die meist vorübergehende
n Bei Patienten mit ausgeprägter A-Lambda-Exotropie,
die auch monokular oft in Abduktion nicht gut senken
Lähmung auch benachbarter Muskeln ist. Am meisten
soll der M. levator palpebrae betroffen sein. Schon im Sta-
können, ist die beidseitige Resektion des M. rectus infe-
dium der Tierversuche konnte Scott zeigen, dass dosis-
rior ein hoch wirksamer Eingriff (142). Bevor man ihn
abhängig und unter zusätzlichem Einsatz von Antitoxin
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Bei sofort erkennbarer Fehldo-
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Dauer zu erreichen sind. Um die Anwendung überschau-
lassen der Wirkung (55). Tritt auch nur die geringste
Kontraktur ein, so kann das Verfahren nicht mehr
bar zu halten, entschloss er sich aber früh, eine Standardanwendung vorzuschlagen, die bis heute durchweg in Ge-
greifen, während eine chirurgische Frühoperation
diese Kontraktur bricht, um den Preis von viel mehr
brauch ist. Häufige hohe Gaben führen schließlich zur
Verläufen zur konsekutiven Exotropie. Hierüber be-
postsynaptischen Degeneration, also zu einer Muskelatro-
steht Konsens in der Literatur. Dieser eher optimisti-
phie.
schen Beurteilung steht die ernüchternde Einschät-
War die Entwicklung des Verfahrens eine heroische Ar-
zung eines Mannes der ersten Stunde gegenüber,
beit, so bedurfte es weiterer jahrelanger Mühe, ärztlichen
Aufsichtsorganen und Behörden die Genehmigung zur An-
„I do not use Botox in infantile ET. Very few people
do. I think the results may be too optimistic” (276).
wendung abzugewinnen. Die anfangs wenigen konzessionierten Anwender mussten oft mit Schwierigkeiten bei
– Schleichend eintretende konsekutive und sekundäre
Exotropie (sensorischer Strabismus divergens) führen
Einfuhr und Zoll ringen.
offenbar nicht in dem Maße zu Kontrakturen, dass sie
Heute gibt es mehrere international anerkannte Prä-
der Injektionstherapie nicht zugänglich wären. In vie-
parate, die man unkompliziert erwerben und halten
len Arbeiten wird betont, wie dankbar diese Prozedur
kann (sie sind thermolabil). Das Indikationsspektrum hat
ist, dass aber andererseits eine wichtige Rolle des Ver-
sich auf viele medizinische Disziplinen ausgedehnt (Neu-
fahrens auch darin besteht, die Wirkung einer Opera-
rologie, HNO). Dankbar ist die symptomatische Behandlung des quälenden senilen Blepharospasmus und verwandter parkinsonartiger Krankheiten. Selbst die Hyper-
tion zu simulieren und damit entschlussschwache
Patienten zu einer Behandlung zu motivieren (150,
337). Diese besteht in der Hälfte der Fälle in der Fort-
hydrose ist dieser Behandlung zugänglich.
setzung der Chemotherapie mit der Hoffnung, diese
Für die Strabologie ergeben sich zwei prinzipielle
würde ein bleibendes Ergebnis zeitigen oder eben in
Aspekte:
n Die technische Anwendung, die Injektion, den Umgang
– Diesen beiden Schwerpunkten gegenüber sind alle
mit dem Toxin und die Dosierung findet der Leser, der
anderen Schielformen mit mehr oder weniger verfes-
nicht uferlos Quellenstudium betreiben kann, in der
tigter Fehlstellung allenfalls immer nur für die typi-
vorzüglichen Operationslehre von Roth und SpeegSchatz (279). Es ist eine Tendenz erkennbar, die von
schen 8–12 Wochen therapiefähig, sodass sich in
der Literatur abzeichnet, hierin keinen Schwerpunkt
den Pionieren um A. B. Scott für unabdingbar gehaltene
der chirurgischen Korrektur des Schielens.
der Toxinbehandlung zu sehen.
Kontrolle der Nadellage mit elektromyographischer
Trotz nunmehr 25-jähriger Beschäftigung mit dem Ver-
Kontrolle (EMG) zu verlassen. Da ein EMG nur ohne
fahren ist eine endgültige Abgrenzung von Indikation
Narkose ableitbar ist, bedürfen Kinder der Sedierung
und Bewertung noch nicht eingetreten. Es handelt sich
mit Ketanest/Ketamin, das aber wegen seiner Angst-
aber gewiss um eine der originellsten Pionierleistungen
träume in Misskredit gekommen ist. Die Injektion
der neueren Strabologie.
unter „direkter Visualisation“ mit (55) oder ohne (28)
Bindehauteröffnung, scheint wenig Komplikationen
zur Folge zu haben. Eine neuentwickelte Variante des
237
Prismen
Ketanest soll weniger belastend sein.
n Während die Indikation in den ersten Jahren weiträu-
Gebräuchlich sind prismatische Brillengläser in Kombina-
mig und unscharf gestellt wurde, haben sich in den
tion mit sphärischer und zylindrischer Korrektion sowie
letzten Jahren zwei Schwerpunkte herausgebildet,
Fresnel-Prismenfolien aus Weichplastik, die man zur Bril-
Schielformen zu behandeln, die der chemischen De-
lenform passend ausschneidet. Es ist wiederholt versucht
nervation gut zugänglich sind.
– Beim frühkindlichen Schielen im Sinne der Frühope-
worden, Regeln für den präoperativen Schielwinkelausgleich mit Prismen (Kap. 3.2) aufzustellen (281, 328).
ration eingesetzt, soll die einmalige Injektion in
Eine sichere Beziehung zwischen sensorischen Befunden,
beide Mm. recti mediales Ergebnisse liefern, die
motorischem Verhalten und der Tendenz, eine prismati-
knapp unter denen der beidseitigen Rücklagerung
dieser Muskeln liegen (229). Offenbar liegt die Grenze
sche Korrektur zu „überdrehen”, ist aber nicht erkennbar
für ein wirklich gutes und bleibendes Ergebnis von
tung.
bis zu 80 % Stellungskorrektur beim Alter von sieben
n Durch befristetes Tragenlassen von Prismen entspre-
Monaten! Die Wirkung beruht offensichtlich, anders
als beim chirurgischen Eingriff, auf einer kurzen arti-
chend der Größe des Schielwinkels lässt sich feststellen,
ob dieser stabil und damit eine kombinierte Schielope-
fiziellen Divergenzstellung mit erneutem Suchlauf
ration aussichtsreich ist. Dies gilt auch besonders für
zum Einschnappmechanismus der Fusion beim Nach-
Nachoperationen: Gelingt die Erstoperation nicht ganz
(249). Folgende Anwendungen haben praktische Bedeu-
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Lähmungen von sehr unterschiedlicher Schwere und
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
238
2 Störungen des Binokularsehens
genau, so kann man mit Prismen erproben, ob eine weitere Verbesserung möglich ist. Liegen normale Korrespondenz und Mikroanomalie nebeneinander vor, so
lässt sich durch Prismenausgleich abschätzen, welche
Sehweise voraussichtlich dominieren wird. Dabei gibt
man das Prisma als Folie vor das dominierende Auge,
wo es wegen seiner schlechten optischen Eigenschaften
zugleich „antisuppressiv” wirkt, ähnlich der Ausschleichokklusion mit Folien nach Bangerter (26).
n Durch fortlaufend nachkorrigierte Prismen mit dem
Versuch, die Tendenz zur Winkelzunahme zu erschöpfen, lässt sich mitunter ein größerer und dann stabiler Schielwinkel darstellen. Diesen kann man konventionell operieren. Es muss aber bezweifelt werden, dass
vierenden motorischen Fehler zu kompensieren. Die Orthoptik
der 1930er-Jahre nahm keine Rücksicht auf Korrespondenz und
Schielform, sondern trachtete danach, durch bifoveale Stimulation normale Funktion zu wecken. Dies geschah durch antisuppressives Schütteln am Synoptophor und verwandten haploskopischen Geräten. Man stellte sich das Schielen als Ergebnis fehlerhafter motorischer Reflexe ansonsten Gesunder vor, nach
der Lehre von Chavasse, der jedoch der orthoptischen Behandlung persönlich reserviert gegenüberstand. Vielen euphorischen
Beurteilungen jener Zeit steht eine nüchterne Aussage gegenüber, geheilt worden wären „zwei in England” (Eine Übersicht
über die Literatur dieser interessanten Epoche findet sich in
80). Der Zweite Weltkrieg unterbrach diese letztlich unfruchtbare Entwicklung; danach wurde die funktionelle Übungsbehandlung der Anpassungserscheinungen des Schielens neu begründet. Bangerter und Cüppers wiesen neue Wege.
(4, 281, 328).
n Mit Prismen lässt sich eine dosierte Überkorrektur er-
Pleoptische Technik
Die Grundlage der Therapie von
Bangerter ist das „Ausblenden”. Das hierzu nötige Instru-
reichen, die unter Umständen günstig auf die Entwick-
ment ist das Pleoptophor, dessen Ring- und Punktblenden
lung der Korrespondenz oder besser auf die Weckung
einer ebenfalls angelegten normalen Korrespondenz
gestatten, die nahzentrale Peripherie mitsamt der Stelle
der exzentrischen Fixation unter Aussparung der Fovea
einwirken kann (3, 85).
mit einem Blendungsskotom zugunsten der ausgesparten
n Beim Strabismus divergens intermittens kann man
Fovea abzuwerten. Gelingt es, die Fixation bzw. Aufmerk-
durch stufenweise gesteigerten Prismenausgleich den
samkeit auf die Fovea zurückzubringen, so schließt sich
Winkel manifestieren und stabilisieren. Die nachfolgende Operation wird dann kalkulierbarer (331). Die
ein umfangreiches Programm zu deren weiterer Stimulation an. Die pleoptische Therapie nach Cüppers (76, 77) sti-
endgültigen Resultate sind aber nicht besser als bei
muliert das foveale Sehen mit Hilfe von Nachbildern. Das
Inkaufnahme einer Nachoperation bei jedem zweiten
Patienten (164). Der therapeutische Aufwand beim
hierfür nötige Instrument ist das Euthyskop, ein sinnreich
modifizierter direkter Augenspiegel. Die Nachbilder die-
„Prismenaufbau” ist keineswegs geringer, da häufige
nen bei Beginn der Behandlung als Stellvertreter für
Kontrollen erforderlich sind.
reale Objekte. Ihre positive (Hering) und negative Phase
(Hess) haben unterschiedlichen Realitätscharakter, was
Orthoptische und
pleoptische Schulung
den Übergang zur weiteren Schulung mit realen Objekten
erleichtert. Auf dem Nachbildniveau sind manche Patienten zur fovealen Fixation fähig. Die Kunst der Orthoptistin
Orthoptik ist die Kunst, durch binokulare Stimulation das
ist es, diese Restfähigkeit allmählich auf reale Objekte und
schließlich in den freien Raum zu übertragen. Beide Ver-
beidäugige Sehen zu verbessern, Pleoptik eine Technik,
fahren erfordern unendlichen Fleiß, wenden sie sich
bei Amblyopie die foveale Fixation zurückzugewinnen
doch an kooperative Kinder ab 4–5 Jahre, bei denen die
und damit die Voraussetzung für eine Visusverbesserung
durch nachfolgende Okklusionsbehandlung zu schaffen.
sensorische Fehlprägung weit fortgeschritten ist. Es wird
deshalb heute der frühen Okklusionstherapie der Vorzug
Historisch älter ist die Orthoptik, die deshalb den Fach-
gegeben. Die Ansicht Bangerters (26, 27), frühe direkte Ok-
kräften, die beide Behandlungsweisen ausüben, den
klusion führe zur Festigung exzentrischer Fixation und sei
Namen „Orthoptistinnen” gegeben hat.
deshalb zu vermeiden, hat sich als unhaltbar erwiesen.
Die pleoptische Behandlung hat noch ihren Sinn bei ver-
Historische Entwicklung
nachlässigten Patienten über 5 Jahren und immer dann,
Javal (180) versuchte, durch
Übungen am Stereoskop, also durch die Schulung anspruchsvoller binokularer Fähigkeiten, das Schielen zu beseitigen. Wie häufig dies geschah und wie erfolgreich seine Behandlung war, lässt
sich nicht mehr feststellen. In den ersten beiden Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts waren die Schieloperationen noch sehr unzuverlässig (Tenotomien). Die orthoptische Behandlung sollte anfangs,
vor allem durch Schulung der Fusionsbreite, die Mängel der operativen Stellungskorrektur ausgleichen. Heute wird dies bei Patienten mit frühem Schielbeginn nicht für aussichtsreich gehalten, da ihre sensorischen Fähigkeiten nicht ausreichen, die gra-
wenn Eltern wünschen, dass auch bei Versagen der Okklusionsbehandlung die Amblyopie versuchsweise behandelt wird. In diesem Erwartungsrahmen ist die Behandlung nicht wirkungslos, sondern bessert in jedem zweiten
Fall die Fixation und das Sehvermögen des amblyopen
Auges an Snellen-Tafeln (16).
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ein so gewonnenes Gleichgewicht langfristig stabil ist
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
n Die erfolgreiche pleoptische Behandlung muss
n Zu warnen ist vor der orthoptischen Behandlung
stets von langjähriger intermittierender Okklusion gefolgt sein, soll ihr Ergebnis Bestand haben!
von Mikrostrabismus, auch dann, wenn die Patienten nebenher NRK haben, deren Stimulation dann
persistierende Diplopie hervorrufen kann.
Orthoptische Schulung
239
Die orthoptische Behandlung
beginnt am Synoptophor, einem Haploskop, mit dem man
Nachsorge
tet. Unter Ausgleich des objektiven Schielwinkels werden
Auch die zweifelsfrei erfolgreiche operative und orthopti-
diese Bilder unter leichtem Schütteln angeboten. Dieses
sche Behandlung gibt noch keine Gewähr, dass das er-
wirkt der Lokaladaption entgegen, die mit der fovealen
Hemmung des nichtdominanten Auges gleichgesetzt
zielte Ergebnis langfristig stabil bleibt. Eine geregelte,
bis zum 15. Lebensjahr fortgeführte Nachsorge ist von
wird. Diese Reiztherapie des Schüttelns kann mit festste-
gleicher Wichtigkeit. Visuskonstanz des ehemals amblyo-
henden Synoptophorarmen, also konjugiert, oder unter
pen Auges und Stellungskonstanz als Basis für die einmal
leichter disjugierter Bewegung der Arme bzw. Bilder ge-
erreichten Binokularfunktionen fordern kritische Wach-
geneinander ausgeführt werden. Die historisch gewor-
samkeit. Dies gilt ganz besonders für alle Patienten, von
dene Auffassung von Bangerter und Cüppers war, dass
denen man annimmt, Heilung erreicht zu haben!
kleine foveale Objekte zur Fusion angeboten werden müssen, will man nicht bloß periphere Bilddeckung einüben.
Die heutige Ansicht, Defektheilung bei guter peripherer
Rezidivprophylaxe der Amblyopie Mindestens die
Hälfte unserer Patienten mit primärem Strabismus con-
Fusion sei die obere Grenze des bei frühem Schielen Er-
vergens und 10 % der wegen Strabismus divergens Behan-
reichbaren, entwertet die orthoptische Schulung erheb-
delten haben eine durch keine Behandlungsmaßnahme
lich. Tatsächlich kann übertriebener Ehrgeiz bei der Be-
beeinflussbare monokulare dominante Sehweise. Wir
handlung von Kindern über 6, jedenfalls über 8 Jahren
zur Diplopie führen. Häufig gelingt es, Binokularsehen
sind verpflichtet, sie bis zur Präpubertät vor einem Am-
am Synoptophor zu erreichen, jedoch selten, diese Fähig-
Vorurteil droht dieses auch noch nach dem 8. Lebensjahr,
keit dann auf das Sehen im freien Raum zu übertragen.
Eine sorgfältige Indikationsstellung zur orthoptischen
besonders, wenn die primäre Amblyopie schwer war. Voller Visus an Snellen-Tafeln täuscht Amblyopiefreiheit
Therapie ist deshalb unerlässlich. Erfolg versprechend
auch bei Patienten vor, die bei Prüfung der Lesegeschwin-
sind die vorsichtige Schulung nach der Operation bei spä-
digkeit mit der Stoppuhr gravierende Defekte erkennen
lassen. Ratsam ist deshalb eine Fortsetzung der Teilzeit-
tem Schielbeginn mit normaler Korrespondenz und die
blyopierezidiv zu bewahren. Entgegen einem geläufigen
Behandlung der funktionellen Konvergenzschwäche bei
okklusion oder die Behandlung mit Ausschleichokklusion
Jugendlichen. („Vorsichtig“ meint, dass bei verschlepptem
bis zum 12. Lebensjahr. Sogenannte „Fernsehokklusion“,
normosensorischen Spätschielen eine zu intensive bino-
d. h. stundenweise Okklusion beim täglichen Fernsehen,
kulare Stimulation die Suppression beschädigt, bevor zuverlässig fusioniert werden kann.)
Die Behandlung der funktionellen Konvergenzschwäche
nicht unter einer Stunde täglich, kann diese Maßnahme
allenfalls ersetzen, wenn die primäre Amblyopie wenigs-
richtet sich meistens gegen die geheime Leistungsverwei-
werden konnte. Die Wirkung der „Fernsehokklusion” be-
gerung junger Frauen mit Schul- oder Berufsversagen.
ruht auf dem raschen „antisuppressiven” Wechsel der sti-
Man ist eigentlich immer verpflichtet, solche Patienten
mulierenden Konturen und Kontraste. Kritischer als die
mit hartnäckiger Konvergenzinsuffizienz neurologisch un-
Bewertung geringer Differenzen im Snellen-Visus ist die
tersuchen zu lassen; fast kommt man dabei zu einem Er-
Beurteilung der Lesefähigkeit, deren Rückgang nicht
gebnis. Wird auch die Akkommodation verweigert, ist die
Prognose sehr schlecht und die Störung ohne psychothe-
ohne erneute Okklusion hingenommen werden sollte
(342). Für die praktische Durchsetzung sind regelmäßige
rapeutische Hilfe nicht zu beheben. Führt bei erhaltener
Nachuntersuchungen unverzichtbar. Diese sollten bis
Akkommodation die orthoptische Schulung nicht zum Er-
zum Ende der Betreuung halbjährlich angesetzt werden.
folg, so kann man mit Miniresektionen, ein- oder beidsei-
Längere Terminabsprachen werden
tig am M. rectus medialis fast immer eine Besserung erreichen (88). Die Wirkung aller dieser Verfahren beruht
von den Eltern vergessen.
zumindest teilweise auf Zuwendung und Suggestion,
n Rezidivprophylaxe der Amblyopie bedeutet Kon-
deren richtige Dosierung einiger Erfahrung bedarf.
tens bis zu einem Visus 0,8 (Reihenoptotypen) ausgeheilt
erfahrungsgemäß
trollen und Behandlung (Teilzeitokklusion, Ausschleichokklusion, „Fernsehokklusion“) bis zur
Pubertät!
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jedem Auge getrennt Simultan- und Fusionsbilder anbie-
240
2 Störungen des Binokularsehens
Das Gros der Fälle, deren Erwartungshorizont konsekuti-
anwenden sollte, wenn die baldige operative Revision
ver Mikrostrabismus ist, neigt bei unterlassener intermit-
aus Gründen, die man nicht zu vertreten hat, nicht infrage
tierender Okklusion nach erfolgreicher Schieloperation
zum Amblyopierezidiv des nichtdominanten Auges. Die
kommt.
vergleichsweise selteneren Fälle mit subnormalem Binokularsehen helfen sich mitunter nach erfolgreicher Operation selbst, indem sie die Qualität ihres Binokularsehens
spontan und langfristig verbessern (57, 126). So erfreulich
solche Entwicklungen sind (die wenigen Literaturstellen
2.4.7
Ätiologie und Pathogenese
des Strabismus convergens
handelnden Augenarzt doch dringend empfohlen, das dominante Auge bis zur Pubertät regelmäßig ein bis zwei
... dass dies alles eben darum in einer Art wahr ist, weil es in
Tage pro Woche zu okkludieren. Die Mehrzahl der Fälle
einer Art falsch ist …
wird dies brauchen und mit dieser Hilfe eine tragfähige
(Aurelius Augustinus, zitiert nach Egon Friedell, Kultur-
mikroanomale Interaktion ohne Amblyopierezidiv ausbil-
geschichte der Neuzeit)
den. Bevor man die Restokklusion (1–2 Tage pro Woche,
In der Wissenschaft werden heute viele Antworten gegeben,
nicht „Stunden”) absetzt, bedenke man, wie wenig sie
aber keine Erklärungen.
schadet!
(Harald Lesch, Physiker, zitiert in „Bild der Wissenschaft“
Bewahrung der erfolgreichen Stellungskorrektur
3/2002, S. 14)
In den letzten 150 Jahren sind viele Schieltheorien vor-
Über die Häufigkeit der Stellungskonstanz nach der
gebracht worden, oft sehr persönliche und einseitige. Die
Schieloperation über mehr als 10 Jahre gibt es keine rele-
weitere Entwicklung hat sie nicht völlig entwertet, son-
vante Literatur. Bis zum Beweis des Gegenteils sollte man
dern in den Rang von Auslösern eingereiht, die beim Dis-
neuen Operationsverfahren in dieser Hinsicht nicht mehr
ponierten zum Schielen führen können. Sie sind also „Pa-
vertrauen als älteren und den „Erfolg” bis zur Pubertät re-
thogenese“ geworden. Da sie von Augenärzten formuliert
gelmäßig kontrollieren. Während die Notwendigkeit, Am-
wurden, darf man sich nicht wundern, wenn diese die
blyopierezidive energisch zu behandeln, den Eltern eher
vermittelt werden kann, findet der Hinweis, eine allmäh-
„Ursachen“ in oder nahe an den Augen suchten. Wir werden diejenigen, die noch verständnisfördernd sind, ein
lich sich verschlechternde Augenstellung bedürfe der
wenig „weiter unten“ betrachten. Zuvor wollen wir den
Nachoperation, nur selten eine positive Aufnahme. Der
ungefähren Stand der Hirnforschung einsehen (er ändert
Untersucher sieht den Patienten von Zeit zu Zeit und be-
sich rasch und laufend).
merkt und misst den konsekutiven Schielwinkel. Die
Eltern sehen das Kind ständig und übersehen dabei gern
die Verschlechterung.
Tiermodell
n Eltern können eine langsame und kontinuierliche
Bis vor wenigen Jahren galt es als erwiesen, dass außer
Schielwinkelzunahme übersehen.
dem Menschen die Primaten spontan nicht schielen. In
den letzten Jahren ist es aber gelungen, Makakenstämme
Ratsam ist die Empfehlung zur Nachoperation immer dann,
zu halten, die spontan und erblich schielen. An diesen Tie-
wenn man überzeugt ist, dass
ren erkennt man Defekte in der Hirnrinde (318). Leider
n während mehrerer Verlaufskontrollen die erneute Ab-
wissen wir nicht, ob diese Defekte primär sind und Schie-
weichung kontinuierlich zunimmt,
n die bereits eingetretene Abweichung dem Heranwach-
len verursachen („Ätiologie“) oder ob sie, wie dies seit 25
senden in der derzeitigen Größenordnung später nicht
Jahren vom Corpus geniculatum laterale bekannt ist, als
Folge des Nichtgebrauchs auftreten. Dies wäre dann
gefallen würde.
kaum einmal Pathogenese, sondern ein weiteres Schiel-
Gewöhnlich ist e5h die Grenze der tolerierbaren konseku-
symptom „weiter oben“.
tiven Stellungsabweichung, bei deren Überschreitung
man – unbedingt bei jeder Nachuntersuchung aufs neue
– darauf hinweisen sollte, dass die jetzt unterlassene
Bildgebung
Nachkorrektur später nicht ohne Diplopiegefahr nachEin neuer Ansatz ist die „funktionelle Magnetresonanztomo-
geholt werden könne. Die Abschwächung der Hyperopiekorrektion zur Kompensation einer konsekutiven Diver-
graphie“ (FMRI). Hier dient das O2-arme Blut als Kontrast-
genzstellung ist ein verbreitetes, aber langfristig ungeeig-
mittel für die für analog gehaltene regionale Stoffwechsel-
netes Mittel der Verschleierung, das man allenfalls dann
aktivität im Kortex. Ausgehend von der Lokalisation epi-
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lassen die wahre Häufigkeit offen), so sehr wird dem be-
W. de Decker
2.4 Heterotropie (manifester Strabismus)
leptischer Herde hat man einen hirnweiten Regelkreis für
das Lachen (!) gefunden (327). Im visuellen Bereich lassen
die attraktiven Bilder in Falschfarben dominanzbezogene
Asymmetrien erkennen. Offenbar gelingt es, ein kortikales
Abbild „der“ Amblyopie zu gewinnen (7). Die aktiv am Binokularproblem Arbeitenden hoffen, dieser Zugang würde
irgendwann auch klinische Einsichten in „Entwicklungsstörungen des Binokularsehens“ bringen (46). In allernächster Zeit wird dies noch nicht umfassend gelingen,
weil
n das Auflösungsvermögen mit ca. einem Millimeter noch
nicht ausreicht, Dominanzsäulen mit maximal 0,5 mm
Abstand direkt darzustellen,
241
Der schon kurz gestreifte Regelkreis des Lachens wurde entdeckt, nachdem man bei einer 13-jährigen Epileptikerin im Frontalhirn Elektroden platziert und multiple Stimulationen vorgenommen hatte. Ein umschriebenes Gebiet im supplementär
motorischen Areal im linken Stirnhirn führte zum Lachen.
Schließlich fand man einen ganzen Regelkreis und nahm an,
das zuerst gefundene Areal sei ein motorisches Areal. Sobald
es aber stimuliert wurde, fand die Patientin das dabei Erlebte
auch komisch.
Nicht selten beklagen Patienten nach einer TIA (temporäre
ischämische Attacke) geringe motorische Ausfälle („Das linke
Bein trug mich ca. drei Minuten lang nicht und ich konnte
nicht gut sprechen“). Neben der zweifelsfreien motorischen
Sprachhemmung besteht ebenso unabweisbar eine (sensorische!) Wortfindungsstörung.
n die Aktivität so massiv ist, dass sie sich vielerorts
tion wie das Binokularsehen sich ebenso wenig anato-
„höheren Ortes“ beim Gesunden alles binokular ver-
misch – topographisch in motorische und sensorische An-
schaltet ist (14, 16),
teile zergliedern lässt.
n im Grunde man noch dabei ist, den „Kartenstock“ und
die Formsprache der Methodik zu normieren; ohne
Den halben Weg zur Aufgabe einer strikten Trennung
von motorischer und sensorischer Fusion hat kürzlich
diese Ordnungsarbeit können pathophysiologische Pro-
Helveston (158) beschritten. Er betrachtet das Binokular-
bleme nicht bearbeitet werden.
sehen als einen Torbogen, die motorische Fusion als des-
Wenigstens ein Ergebnis, den unvermuteten Nachweis
sen Schlussstein. Sein Fehlen (Erblichkeit) oder seine Ent-
von periventrikulärer Leukomalazie auch bei Innenschie-
fernung (Schädigung) würden das Gewölbe zum Einsturz
lenden, hat das Verfahren bereits geliefert. Für den
bringen oder seine Aufrichtung unmöglich machen.
Autor als interessierten Laien könnte der zeitnahe Gewinn
Diese Vorstellung, die sich nur auf das frühkindliche
dieser Arbeitsrichtung deshalb darin bestehen, neue Orte
aufzudecken, an die bisher niemand gedacht hat, und Re-
Schielsyndrom bezieht, lässt sich aber ohne Not erweitern: Weder muss es die motorische Fusion sein, noch
gelkreise sichtbar zu machen, die bisher verborgen waren.
nur das frühkindliche Schielsyndrom. Offenbar entsteht,
Dieser Bedarf besteht insofern dringlich, als die Trennung
gleich welchen Stein man wegnimmt, immer das gleiche
von Sensorik und Motorik offenbar doch nicht säuberlich
Schielen, in seiner Form nicht abhängig von der Ätiologie,
möglich ist.
sondern vom Alter beim Kollaps.
Nach diesem kurzen Exkurs soll noch einmal auf die
FMRI zurückgegriffen werden. Was beim Lachen gelungen
Sensorische oder
motorische Ätiologie?
ist, nämlich für eine durchaus einfachere Funktion eine
komplexe Verschaltung nachzuweisen, könnte auch
beim Binokularsehen gelingen, wenn man sich nicht
Die bedeutsame Kontroverse zwischen den Anhängern
starr an den Versuch bindet, unbedingt scharf definierte
der Fusionsmangeltheorie von Worth (338) und der Hypo-
Zentren zu finden, sondern diese Vorstellung durch die
these der gestörten Reflexe von Chavasse (62) ist von den na-
Suche nach fluktuierenden Aktivitäten wo nicht zu erset-
mengebenden Protagonisten niemals ausgefochten wor-
zen, so doch zu unterstützen trachtet.
den. Diese Kontroverse kann keine Partei gewinnen, weil
die Wirklichkeit der Hirnorganisation einer Scheidung
von motorischen und sensorischen Ursachen offenbar
nicht
standhält.
In
die
Hirnkartierung
des
Erblichkeit des Innenschielens
frühen
20. Jahrhunderts gingen mit Schwergewicht die Kopf-
Eine ältere, aber nicht überholte, breit angelegte Arbeit
schussverletzungen des ersten Weltkrieges ein. Ein Schuss
(268) fasste zusammen, was sich immer wieder bestätigt:
verursacht einen Defekt und dieser einen funktionellen
Alle Innenschielformen treten sowohl sporadisch als auch
Ausfall. Sobald man aber einen solchen wohl definierten
familiär auf, wobei ein einheitlicher Erbgang nie heraus-
Ort im Gehirn aktiv stimuliert, löst man unter Umständen
gefunden werden konnte. Interessant ist, dass Mikrostra-
viel mehr aus, als nach der Karte der Ausfälle zu vermuten
gewesen wäre. Hierfür zwei Beispiele:
bismus und Makrostrabismus in familiengenetischen Studien relativ hoch korreliert sind (218, 244, 293). Offenbar
lässt sich das Modell vom fehlenden Stein auch hier unterstellen. Parks vermutet, dass die Mängel beim Mikro-
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Man kann nur folgern, dass eine hochkomplexe Funk-
gewissermaßen selbst zudeckt,
n Stereoäquivalenzen sich nur in V1 ergeben, während
2 Störungen des Binokularsehens
strabismus doch unterschwellige Faktoren in der Genese
tion zum Schielen vorausgesetzt, gewiss als Auslöser
des frühkindlichen Schielsyndroms darstellen. Eine ge-
respektiert werden dürfen. Hier sind vor allem die
wisse Stütze für diese Ansicht findet sich auch bei Lang
selbst: Das quantitative Gesichtsfeld (Profilperimetrie)
klinische Sorgfalt und intelligente Indikationsstellung
gefragt und weniger die Schieltheorie.
zeigt beim Mikrostrabismus eine Absenkung der Netz-
n Weitere relevante ältere Beiträge stammen von Piper
hautempfindlichkeit bis in die Peripherie, was nur bedeu-
(261), der die „Schielkrankheit“ als asymmetrische Aus-
ten kann, dass eben doch mehr vorliegt, als eine rein sensorische Störung der fovealen Verknüpfung (218). Erblich
bildung der Motorik auffasste, sowie von Ohm (247)
ist vermutlich nicht „das Schielen“, sondern die Tendenz
tens und Schrägschielen auf Anomalien im Bereich der
zum Verlust „eines Steines“. Hierfür spricht auch die
Vestibulariskerne bezogen. Diese Arbeiten aus vergan-
Zwillingsforschung: Monozygote Zwillinge sind durchaus
nicht immer beide überhaupt oder gleich betroffen, wie
gener, aber nicht uralter Zeit haben einen bleibenden
historischen Wert, weil die Autoren die Vision eines
seit Jahrzehnten immer wieder bestätigt wurde (12, 99,
155).
hirnorganischen Schielsyndroms vorgelebt haben, und
und von Doden (106), die die Symptome Nystagmus la-
zwar in schwierigen Zeiten.
Ältere Schieltheorien
Anthropologischer Hintergrund
Jede Schieltheorie ist in ihrer Zeit mit ätiologischem Anspruch formuliert worden. Wenn einige noch Bedeutung
Ohne Zweifel hat sich der Mensch in wenigen Jahrmillionen aus pongiden Vorfahren entwickelt. Der aufrechte
haben oder noch diskutiert werden, dann gerade deshalb,
Gang setzte die Hände als Werkzeuge frei, wodurch das
weil sie wenigstens noch pathogenetisch relevante Aus-
Gehirn zu immer neuen Leistungen herausgefordert wur-
sagen machen. Wir wollen sie kurz rekapitulieren.
de. Mit der Hirngröße wuchs der Kopfumfang rapide. Ein
n Die akkommodative Verursachung des Innenschielens (109,
größerer Kopf erfordert weitere Geburtswege (ein breite-
110) ist die älteste derartige und zugleich eine für die
res Becken), der aufrechte Gang aber eine geringere
praktische Strabologie essenzielle Idee. Hyperopie
Hüftbreite. Es leuchtet ein, dass der gleichzeitige Entwick-
zwingt zum Akkommodieren und löst beim Disponierten Strabismus convergens aus. Donders hat nicht gese-
lungsdruck auf beides die Risiken der Geburt erheblich erhöht hat (155). Die Evolution ist grausam: Der Ausweg aus
hen, dass früher Schielbeginn mit vier bis acht Wochen,
der physiologischen Risikogeburt ist einerseits die physio-
dessen Existenz er vehement abstritt, zeitlich mit dem
logische Frühgeburt mit der Gefahr des perinatalen Hirn-
Einsetzen der Akkommodationsfähigkeit zusammen-
schadens, andererseits die permanente Fruchtbarkeit, die
fällt. Offenbar besteht der hoch Disponierte schon
den Menschen von seinen nächsten Verwandten, den Pri-
dieses Einsetzen der Konvergenzfunktion mangels
maten, deutlich unterscheidet. Man denke an die enorme
Einschnappmechanismus nicht. Insofern ist jeder kon-
Zahl der Kinder noch im 18. und 19. Jahrhundert, von
vergente Makrostrabismus auch akkommodativ mitbestimmt, wobei das Versagen der fusionalen Klammer
denen nur die Hälfte überlebte. Die Geschädigten oder
Disponierten waren wegen der begleitenden diskreten
beim Kleinstkind zum Abbau der hierfür angelegten
hirnorganischen Mängel oft nicht fähig, die ersten Lebens-
hirnorganischen Strukturen führt, bei späterem Schie-
jahre zu überstehen. Schielen ist ein Begleitsymptom der
len zur Fehlprogrammierung (anomale Korrespondenz),
neuralen Konstitution der weniger Robusten.
Der gravierendste Hirnschaden der Frühgeborenen ist
bei ganz spätem Schielbeginn zum Doppeltsehen.
n Die Nystagmusblockierungshypothese (4), eine mit Be-
offenbar die periventrikuläre Leukomalazie. Sie kommt
geisterung aufgenommene Vorstellung, verwechselte
im Übrigen nicht, wie vielfach angenommen wird, nur
die unlösbare symptomatische Identität von Adduktionsüberschuss und geringster Nystagmus-latens-Akti-
im Zusammenhang von erheblicher Frühgeburt und konstant manifestem divergentem Frühschielen vor, sondern
vität mit der Fähigkeit, einen beliebigen, gewöhnlich ef-
auch bei Kindern mit frühkindlichem Innenschielsyn-
ferenten
innervation willkürlich zu beruhigen, und zwar um
drom, bei Kindern, bei denen man sonst keinen Grund
zur Annahme einer Hirnverletzung gehabt hätte (252).
den Preis, vorhandenes Binokularsehen aufzugeben. Es
Vor diesem Hintergrund wird man nicht dialektisch zwi-
ist bedauerlich, dass Cüppers, von Haus aus Neurologe,
schen „ererbt“ und „erworben“ trennen können. Eine ei-
den Nystagmus latens in eine Reihe mit sonstigen „ech-
gene Arbeit, auf die zum Schluss hier noch einmal verwie-
ten“ Nystagmusformen stellte, worauf diese Verwechslung letztlich beruhte.
n Fehler in der anatomischen Ausformung der Mm. obliqui
sen werden darf (182) hatte gezeigt, dass in den Familien
der für hirngeschädigt gehaltenen und auch sonst beschä-
(131) werden, instabiles Binokularsehen bzw. Disposi-
deutlich höher war, als bei nichtselektiertem Poliklinik-
Nystagmus
durch
Konvergenzadduktions-
digten Schielenden die familiäre Belastung mit Schielen
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242
W. Haase, M. Gräf
2.5 Amblyopie
krankengut. Diese hintergründige Symmachie von Erb-
Die Literaturangaben zu diesem Kapitel finden Sie auf der bei-
lichkeit und Schädigung bestätigt sich auch in der neues-
liegenden CD-ROM.
243
ten Literatur (228).
2.5
Amblyopie
2.5.1
Definition
W. Haase, M. Gräf
Funktionsniveau visuell normaler Personen gleichen
Alters erreicht. Das diagnostische Kriterium für die Diagnose dieser einseitigen Amblyopie besteht in einer Seitendifferenz der Sehschärfe von wiederholt mehr als einer
Prinzipielle Definition
Zeile. Die verminderte Sehschärfe ist das Leitsymptom
Ortssinn.
wird traditionell „eine Schwachsichtigkeit ohne organische Fehler oder mit einem, der nicht im Verhältnis zum
Grad derselben steht“ verstanden. Diese Definition nach
Bangerter (38) findet auch heute noch Anwendung. Die
Terminologische Abgrenzung
Liste mehr und weniger ähnlicher Definitionen ist lang
Die Ursachen einer Amblyopie können im Wesentlichen
(97). Von Noorden (413) beschreibt Amblyopie als „eine
zwei Gruppen zugeordnet werden:
durch Deprivation des Mustersehens oder gestörte binokulare Interaktion verursachte, ein- oder beidseitige Min-
n Reizdeprivation führt zu einer Stimulusdeprivati-
derung der Sehschärfe, für die bei der organischen Unter-
onsamblyopie. Bei Reizdislokation durch retinale
Bilddisparitäten infolge manifesten Schielens,
Aniseikonie oder anderer Bilddisparitäten kommt
es zur Suppressionsamblyopie.
suchung des Auges keine Ursachen gefunden werden können und die in geeigneten Fällen durch eine Therapie reversibel ist“. Eindeutiger und ohne Einengung auf die Sehschärfe ist folgende Definition:
Funktionsminderungen anderer Ursache sollten wir nicht
n Amblyopie ist das Ergebnis einer gestörten Ent-
als Amblyopie bezeichnen, wie beispielsweise die sog.
wicklung des Sehvermögens (genauer : des Ortssinns), obwohl die neuronalen Voraussetzungen
für die Entwicklung normal sind oder einmal
waren.
Tabak-Alkohol-Amblyopie. Ihr liegt eine nutritive Optiku-
Eine Amblyopie entsteht daher fast ausschließlich im Kin-
zelfall ist es dann schwierig bis unmöglich, den Anteil ab-
desalter. Mit der Maturität erlischt die Gefahr, eine Am-
zuschätzen, den die Amblyopie zur Sehminderung bei-
blyopie zu entwickeln, nahezu vollständig. Nach Banger-
trägt. Die Bezeichnungen funktionelle oder psychogene
satrophie zugrunde. Allerdings kann ein organischer
Defekt mit einer durch diesen Defekt ausgelösten
Amblyopie kombiniert sein, die die Sehminderung verstärkt. Wir sprechen dann von relativer Amblyopie. Im Ein-
ter spricht man von leichter Amblyopie bei einer Seh-
Amblyopie, die gelegentlich, aber nicht nur, auf psycho-
schärfe von 0,8 bis 0,4, von mittelgradiger bei einer Seh-
gene Sehstörungen angewendet werden, schaffen eben-
schärfe von 0,3 bis 0,1 und von hochgradiger Amblyopie
falls mehr Verwirrung als Klarheit. Wir sollten sie deshalb
bei einer Reduktion der Sehschärfe auf weniger als
0,1. Diese Angaben bezogen sich auf Sehschärfeprüfver-
vermeiden.
fahren nach dem Snellen-Prinzip. Zur Quantifizierung
des Schweregrades einer Amblyopie ist nicht nur die Sehschärfe für Einzeloptotypen sondern auch eine Reihen-
2.5.2
Häufigkeit, soziale Bedeutung
optotypensehschärfe oder vergleichend die Lesefähigkeit
zu prüfen (36, 116, 324, 365). Die physiologische Entwicklung der Sehschärfe für Einzel- und Reihensehzeichen ist
Die Angaben zur Amblyopiehäufigkeit variieren erheblich,
dabei zu berücksichtigen. Im Fall einer Suppressionsamblyopie kann das bessere Auge als intraindividuelle
abhängig unter anderem von der untersuchten Population, der Qualität der Untersuchung und den Amblyopiekri-
Referenz dienen, obwohl bei genauer Betrachtung auch
terien des Autors, was einen Vergleich erschwert bis un-
das Führungsauge bei Schielamblyopie häufig nicht das
möglich macht (97, 413). Nicht jeder einmalig erhobene
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der Diagnose einer Amblyopie. Betroffen ist der gesamte
Unter Amblyopie (griech.: amblyopia = stumpfes Auge)
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