SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA – Manuskriptdienst Empathische Primaten Haben Affen komplexe Gefühle? Autor und Sprecher: Professor Volker Sommer * Redaktion: Ralf Caspary Sendung: Sonntag, 19. Januar 2014, 8.30 Uhr, SWR 2 ______________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. 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Firefox gibt es auch Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books. http://www1.swr.de/epub/swr2/wissen.xml ___________________________________________________________________ 2 Ansage: Mit dem Thema: „Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle?“ Tiere können nicht so wie wir Menschen empfinden, das sagen die einen; Tiere haben sehr wohl Gefühle, und besonders Primaten, die dem Menschen genetisch sehr ähnlich sind, haben ein komplexes Innenleben, sagen die anderen. Nur: Wie kann man das experimentell erforschen, wie kann man in die Affenseele blicken? Professor Volker Sommer, Verhaltensbiologe und Primatologe an der Universität in London, meint, es stecke viel Mensch im Affen und auch viel Affe im Menschen, es gebe keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen Menschen und Tieren, sondern nur graduelle. Warum das so ist, erläutert er in der SWR2 Aula. Volker Sommer: Die strikte Tier-Mensch-Polarität geht in westlicher Denk-Tradition auf René Descartes zurück wie auch die damit einhergehende Vorstellung, dass Menschen empfindungsfähig seien, während Tiere keine Gefühle besäßen, Dies begründete der französische Philosoph und Mathematiker im historischen Kontext des 17. Jahrhunderts durchaus logisch. Er meinte, man könne sich wohl einen halben Arm vorstellen – aber eine „halbe Seele“, das mache keinen Sinn. Nur Menschen galten ihm deshalb mit einer Seele ausgestattet, während „Tiere“ vollkommen unbeseelt waren. Da aber das Seelische auch andere Aspekte wie die von Denken und Fühlen umfasste, war es nur logisch, dass Tiere nicht nur als unbeseelt galten, sondern zudem als unfähig zu denken oder zu empfinden. Das Konstrukt der gefühllosen Tiere war geboren. Die sich im Zuge des Descartes‘schen Denkens entwickelnde Wissenschaft konnte deshalb entsprechend unbekümmert deren Körper bei lebendigem Leibe aufschneiden und sezieren. Denn wenn der Körper sich auch wand – es sah nur so aus, als empfänden sie etwas. Für manche moderne Wissenschaftler sind solche Überlegungen schlicht unsinnig. Für Mark Bekoff etwa stellt sich die Frage gar nicht, ob Tiere Gefühle haben. Denn, so behauptet der amerikanische Verhaltensforscher in seinem 2007 erschienenen Buch „The Emotional Lives of Animals“ –- „Das emotionale Leben der Tiere": "Mit einem Hund zu leben geht mit dem Wissen einher, dass Tiere Gefühle haben. Das ist einfach so." Für Bekoff sieht es nicht nur so aus, "als ob" Tiere fühlen. Wenn er mit seinem Hund spielt, gilt der ihm nicht lediglich in Anführungszeichen als "glücklich"; der Vierbeiner ist wirklich glücklich. Gemäß Bekoff können wir tierliches Empfinden ohne weiteres erkennen. Als Beleg führt er beispielsweise an, was ihm Frau Harris aus Texas schrieb: Um einer Nagerplage vorzubeugen, blockierte das Ehepaar Harris ein Loch im Dachboden. Kurz darauf schaute ein Eichhörnchen fiepend durchs Zimmerfenster, richtete sich langsam auf und hob seine Arme. Offenbar, so SWR2 Aula vom 19.01.2014 Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle? Von Professor Volker Sommer 3 Frau Harris, wollte das Hörnchen sein milchgefülltes Gesäuge zeigen und verzweifelt auf seine im Dachboden eingesperrten Jungen hinweisen. Mark Bekoff glaubt, dass Frau Harris die Empfindungen des Eichhörnchens korrekt beschrieben hat. Aber es ist eben Glauben nötig – und nicht zu wenig. Eben weil wir alle solche Geschichten über das Innenleben von Tieren erfinden können, galt es in der Zeit nach Darwin als wissenschaftliche Sünde, darüber zu spekulieren. Der britische Psychologe Conwy Lloyd Morgan wollte in seiner 1895 erschienenen "Einführung in die vergleichende Psychologie" den Tier-Mensch-Vergleich auf eine solide Grundlage stellen – und entwickelte deshalb "Morgan's Canon". Die "Morgansche Regel" lautet: "Führe Verhalten nicht auf höhere psychische Fähigkeiten zurück, wenn es als Resultat einer niederen gedeutet werden kann." Dieser methodische Ansatz führte über das nächste halbe Jahrhundert hinweg zu einer starken Ablehnung subjektivistischer Interpretationen bei der Deutung von Tierverhalten. Darin waren sich sogar bitter konkurrierende Schulen einig. Die amerikanischen Behavioristen um John Watson und Burrhus Skinner experimentierten mit Puzzlekästen und Lauflabyrinthen, um zu zeigen, wie alles Verhalten durch simple Mechanismen wie Versuch und Irrtum erlernt ist. Nach Ansicht der europäischen Ethologen um Nikolas Tinbergen und Konrad Lorenz wurde tierliches Verhalten hingegen durch angeborene Programme bestimmt. Was Tinbergen in seiner "Instinktlehre" von 1951 formulierte, hätten Behavioristen aber wohl auch unterschrieben: "Weil subjektive Phänomene nicht objektiv in Tieren beobachtet werden können, ist es Zeitverschwendung, ihre Existenz zu behaupten oder zu verneinen." Bereits Darwin unterschied hinsichtlich "Gemütsbewegungen" zwischen dem äußeren Ausdruck und damit einhergehenden subjektiven Empfindungen. Der Einteilung in objektiv messbare versus lediglich subjektiv erfahrbare Komponenten folgen heute noch viele Wissenschaftler, die jene psychophysiologischen Prozesse untersuchen, die wir als Emotionen bezeichnen. Als objektive Komponente gilt einerseits die Physiologie, die sich in körperlichen Zustandsänderungen manifestiert wie steigender Pulsrate, Hormonausschüttung oder Erröten. Andererseits kann Verhalten registriert werden, also ob wir die Mundwinkel nach unten ziehen oder lachen. Die subjektive Komponente der Emotion – das eigentliche Gefühl – bleibt hingegen privat. Nur ich selbst weiß, wie es sich in mir und für mich anfühlt, wenn ich traurig, fröhlich oder verliebt bin. Allerdings besteht nicht einmal für Menschen Einigkeit darüber, welche und wieviele Empfindungen wir besitzen, und inwieweit die angeboren oder kulturell bedingt sind. Manche Theorien kommen mit vier Gefühlen aus (Furcht, Ärger, Freude, Trauer), andere ergänzen den Katalog auf sieben (durch Ekel, Verachtung, Überraschung); oder sie erweitern die Liste auf zehn Gefühle (durch Hinzufügen von Scham, Interessiertsein, Schuldgefühl) oder SWR2 Aula vom 19.01.2014 Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle? Von Professor Volker Sommer 4 nennen weitere Kandidaten (wie Schmerzempfinden, Wohlbehagen, Liebe, Geborgenheit, Glücklichsein ...). Umstritten ist zudem, ob und wie Gefühle mit anderen nur privat erfahrbaren Zuständen verwandt sind, speziell mit Wollen und Denken. Wer Gefühlen nachforscht, richtet damit automatisch auch Augenmerk auf "Bewusstsein". Die innerliche Welt anderer Menschen kann ich nur dialogisch rekonstruieren – indem mein Gegenüber mir darüber erzählt. Weil aber Tiere nur in Märchen sprechen wie wir Menschen, sind Mutmaßungen über tierliches Gefühlsleben umso problematischer. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass Emotionen Menschen wie Tieren lebensverlängernde Orientierung in der Umwelt bieten. Angenehmes verleitet, Verhalten fortzusetzen – etwa, wenn meine Katze süße Milch schleckt und sich wohlig in der Morgensonne räkelt. Unangenehmes veranlasst Mieze, ihre Situation zu ändern – etwa, schlecht schmeckende Milch zu verschmähen, Schatten aufzusuchen, wenn die Sonne zu heiß brennt, und vor dem Hund ängstlich wegzuspurten. In diese Schilderung beobachtbaren Verhaltens sind allerdings bereits zahlreiche Vokabeln gemischt, die auf das kätzische Innenleben anspielen – von süß über wohlig bis schlecht schmeckend und ängstlich. Der Verhaltensforscher Mark Bekoff würde solche Zuschreibungen gleichwohl ohne Zögern vornehmen. Dabei führt er genau jene drei großen A ins Feld, die in den Verhaltenswissenschaften traditionell kritisiert werden: Anthropomorphismus, Anekdote, Analogie. Der akademische Widerstand gegen das erste A, nämlich über die Vermenschlichung ein Fenster ins tierliche Innenleben öffnen zu wollen, zerbröselte vor allem durch die Forschungen von Jane Goodall. Sie begann vor 50 Jahren, wilde Schimpansen zu erforschen. Damals galt Werkzeugbenutzung als Spezifikum, das Menschen grundsätzlich von Tieren unterschied. Als die britische Primatologin jedoch entdeckte, wie Schimpansen Stockangeln fertigten, um damit Termiten zu erbeuten, war das klassische Merkmal hinfällig, das die Sonderstellung des Menschen begründen sollte. Gleichzeitig erfuhr Darwins Postulat einer "geistigen" Kontinuität dadurch eine Renaissance. Fachzeitschriften wollten allerdings jene Passagen von Goodalls Beiträgen nicht drucken, in denen sie den Menschenaffen Empfindungen zuschrieb. Bis sie einen Trick anwendete und im Konjunktiv formulierte, also etwa: "Wären Schimpansen Menschen, würden wir dieses und jenes Verhalten als Ausdruck von Eifersucht und Trauer bewerten." Schützenhilfe bekam die Primatologin von Donald Griffin. Wegen seiner weithin anerkannten Forschungen zu Echoortung und Vogelzug konnte dessen leidenschaftliches Werk "The Question of Animal Awareness" ("Die Frage tierlicher Bewusstheit") nicht als sentimentale Spinnerei abgetan werden. Griffin läutete damit 1976 ein, was rückblickend als "kognitive SWR2 Aula vom 19.01.2014 Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle? Von Professor Volker Sommer 5 Wende" der Verhaltensforschung gilt: die wiedererstarkte Auffassung, tierliches Erleben könne durchaus wissenschaftlich untersucht werden. Speziell Primatologen höhlten den Minimalismus von klassischer Ethologie und Behaviorismus weiter aus. So wollten die schottischen Psychologen Richard Byrne und Andrew Whiten wissen, ob auch nicht-menschliche Primaten neu auftretende Probleme durch Einsicht lösen können. Solche "wilden Denker" würden damit weder auf angeborene Instinkte zurückgreifen – á la Lorenz und Tinbergen –, noch auf erlernte Konditionierung – á la Watson und Skinner. Byrne und Whiten kaprizierten sich dabei auf die taktische Täuschung von Artgenossen. Ähnlich wie Falschgeld müssen Lug und Trug allerdings rar sein, weil sonst niemand mehr darauf hereinfällt. Whiten und Byrne setzten deshalb auf das verpönte zweite A und baten andere Affenforscher, ihnen jene seltenen Anekdoten mitzuteilen, die auf "machiavellische Intelligenz" hindeuten – darauf, dass auch Tiere Sozialpartner eigennützig manipulieren. In einem von ihnen herausgegeben Sammelband entfalteten sie diese Theorie 1988 als "Machiavellian Intelligence: Social Expertise and the Evolution of Intellect in Monkeys, Apes, and Humans". Einige Anekdoten steuerte ich selbst bei – etwa über falschen Alarm bei Languren. In einer Gruppe dieser indischen Tempelaffen versuchten Rangniedere, eine Fußverletzung des dominanten Affen auszunutzen, indem sie ihm beliebte Nahrung streitig machten: von einer Akazie herabgefallene reife Früchte. Während einer solchen Rempelei stieß der Alpha-Affe unvermittelt kehlige Laute aus, die sonst nur zu hören sind, wenn Gefahr droht, von Hunden etwa oder Leoparden. Als der Alarm ertönte, flüchteten denn auch alle schnurstracks auf die Bäume. Nur Alpha blieb ruhig am Boden und verzehrte seine Schoten – während weder Hundemeute noch Raubkatze auftauchten. Ähnliche Episoden wurden bei verschiedensten Primatenarten beobachtet. Eine Täuschung gelingt umso wahrscheinlicher, wenn wir uns in Gegenspieler hineinversetzen und berücksichtigen, was sie wissen und wollen. Wer das leistet, verhält sich aber wie ein Gedankenleser. Der Alpha-Affe der Languren mag demnach gedacht haben: "Ich denke, Du wirst glauben, ein Raubfeind sei in der Nähe, wenn ich einen Alarmlaut ausstoße." Solche Anekdoten werden interessanterweise umso häufiger beobachtet, je größer der Anteil des Neocortex am Gesamthirn ist – also, je menschenähnlicher eine Spezies. Hätte sich die Szene unter Menschen abgespielt, fänden wir eine auf "Gedankenlesen" beruhende Erklärung jedenfalls plausibel. Schließlich sind wir tagtäglich, im richtigen Leben wie in Kino und Romanen, mit Betrugsgefahr konfrontiert. Dummerweise sind aber – unter Anwendung der Morganschen Regel – auch "non-mentalistische" Deutungen möglich. Unser Alpha-Affe müsste sich demnach gar nichts denken, sondern hätte durch schlichte Konditionierung gelernt, Alarmlaute mit flüchtenden Gruppengenossen und entsprechend SWR2 Aula vom 19.01.2014 Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle? Von Professor Volker Sommer 6 mehr Nahrung zu assoziieren. Selbst Hunderte von Anekdoten können deshalb das Vorliegen taktischer Täuschung nicht eindeutig belegen. Denn auch ein vielfach vorgeführter Zaubertrick liefert nicht mehr Beweise für "Magie" wie ein einzelner. Daher die ironische Redewendung unter Wissenschaftlern: "Daten ist nicht der Plural von Anekdote." Die Verhaltensforscherin Marian Stamp Dawkins trägt solche Einwände allerdings nicht mit dem Wunsch vor, Tieren Bewusstsein und Gefühle absprechen zu wollen. Ihr geht es vielmehr darum, solidere Belege einzufordern, die Zweiflern entschiedener Paroli bieten könnten als anrührende Geschichten von Goodall, Griffin, Bekoff & Co. Außer Anthropomorphismus und Anekdoten hält Stamp Dawkins auch das dritte A für wenig aussagekräftig: die Analogie. Denn wenn etwas ähnlich aussieht, muss es durchaus keine ähnlichen Ursachen oder Folgen haben. In dem Maße, wie physiologische und neuronale Prozesse stetig besser gemessen werden konnten, wuchs zunächst die Hoffnung, Gefühle über spezifische Korrelate identifizieren zu können. So verbrauchen aktive Hirnareale mehr Sauerstoff, was bildgebende Gehirnscanner in eingefärbte "Landkarten" unseres Denkapparates übersetzen. Versuchspersonen können überdies berichten, was sie angesichts bestimmter Reize empfinden. Wenn dann in einander entsprechenden Regionen tierlicher Gehirne die gleichen Lämpchen aufleuchten, dürfen wir ziemlich sicher sein, dass auch Tiere fühlen wie wir. Eigentlich ganz einfach ... Entgegen dieser Erwartung gehen neuronale Feuerwerke jedoch nicht mit spezifischen Gefühlen einher, und ein "Sitz des Bewusstseins" lässt sich schon gar nicht lokalisieren. Die neurobiologische Landkarte ist mithin so komplex, dass wir sie nicht lesen können. Eindeutige physiologische Anzeiger für bestimmte Gefühle existieren ebenfalls nicht. Das überrascht nicht weiter, weil der Körper sich beispielsweise auf entgegengesetzte Verhaltensweisen wie Kämpfen und Fliehen identisch vorbereitet. Beide Aktivitäten benötigen Sauerstoff für anstehende Bewegungen, weshalb die Pulsrate steigt, sowie Kraftstoff in Form von Glukose durch Hormone im Blut freigesetzt wird. Aggressiver Ärger und passive Angst sind somit anhand ihrer Korrelate nicht auseinanderzuhalten. Verhalten, welches Emotionen begleitet, zeigt innerliche Gefühle ebenfalls nicht eindeutig an. Wer beim Achterbahnfahren zuschaut, kann sich deshalb durchaus fragen, ob Schreie und verzerrte Gesichter Furcht, Aufregung oder Freude ausdrücken. Ähnlichkeit im Verhalten beweist also ebenfalls keineswegs Gleichheit im Erleben. Gefühle können überdies gespielt sein – auch und gerade von Haustieren. So scheinen Katzen zu lernen, ihre Halter zu manipulieren, indem sie das Geschrei von Menschenbabys nachahmen. Je mehr Zuwendung sie erhalten, SWR2 Aula vom 19.01.2014 Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle? Von Professor Volker Sommer 7 desto eher benutzen Katzen die Vokalisation erneut. Hinsichtlich Haushunden ist ebenfalls Vorsicht angebracht. Denn über Jahrtausende wurden jene Tiere weitergezüchtet, die auf uns verspielt, traurig oder glücklich wirken. Dass Hunde entsprechend fühlen, ist jedoch im Prinzip nicht notwendig, damit unsere eigenen Reaktionen ausgelöst werden. Unsere gehätschelten Vierbeiner würden damit Schnittblumen gleichen, die wir zur unserer Freude züchterisch perfektioniert haben – deren Duft und Blüte aber komplett von ihrer ursprünglichen biologischen Bedeutung der Fortpflanzung abgekoppelt sind. Hunde- und Katzenhalter werden allerdings schwören, ihre Lieblinge seien keine Roboter. Mark Bekoff meint, wir könnten nur deshalb tiefe Gefühle für sie entwickeln, weil die Tiere selbst reale Emotionen empfinden. Auch das ist fraglich. Vor zwei Jahrzehnten kamen die ersten Tamagotchi aus Japan auf den Markt – virtuelle Haustiere, die ihre "Gefühle" über farbige Lämpchen ausdrücken. Mein damals kleiner Sohn vernachlässigte sein Tamagotchi nach einer Weile, fütterte und streichelte es so wenig, dass es "starb". Zumindest in meinem Kopf löste das ein trauriges Gefühl aus, als sei mein erstes echt lebendiges Meerschweinchen erneut verschieden. Die Fahndung nach tierlichen Gefühlen kompliziert sich zudem, weil viele Handlungen unbewusst ablaufen. So schaue ich erstaunt meinen Händen zu, wenn sie Akkordfolgen auf einem Musikinstrument "ganz von alleine" spielen. Mein Gehirn lässt also meine Muskeln musizieren, ohne dass sie mit meinem Denken verknüpft wären. Auf Emotionen kann das gleichfalls zutreffen. Wenn uns das Foto eines fröhlichen oder traurigen Gesichts für weniger als 40 Millisekunden dargeboten wird, nehmen wir das Bild nicht wahr. Werden wir dann gefragt, ob ein uns unbekanntes chinesisches Schriftzeichen eher positive oder negative Bedeutung hat, interpretieren wir nach Einblendung eines fröhlichen Gesichts das Zeichen gleichwohl eher als positiv; und als negativ, wenn der unterschwellige Stimulus traurig war. Möglicherweise könnten deshalb Tiere zwar auch Emotionen haben, sie aber nicht bewusst erfahren. Charles Darwin zog dies übrigens in Betracht, als er Löwen als "aufgebracht" und Insekten als "eifersüchtig" beschrieb. Wie frustrierend es auch sein mag: Trotz allem wissenschaftlichen Fortschritt wissen wir immer noch nicht sicher, ob und wie Tiere Gefühle bewusst in ihrem Kopf erleben. Damit sind jene Denker unzufrieden, die einem Physikalismus huldigen, also der materialistischen Auffassung, unser Körper samt Gehirn reflektiere die Bauanweisungen strikter chemischer und physikalischer Prozesse. Für Physikalisten ist es allerdings nur eine Frage der Zeit, bis wir die Ketten von Ursache und Wirkung entschlüsselt haben, die diese Maschine am Laufen hält, wie komplex sie auch immer sein mag. Mittlerweile sieht sich die konkurrierende Fraktion der Dualisten in ihrer Metaphysik bestätigt, wonach es prinzipiell unmöglich sei, subjektive Phänomene wie Gefühle und Bewusstsein auf das Feuern von Neuronen zu SWR2 Aula vom 19.01.2014 Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle? Von Professor Volker Sommer 8 reduzieren. Denn wie kann das sein, dass aus Atomen und Molekülen private Wahrnehmungen wie die in unserem Kopf erwachsen? Als moderne Jünger des Philosophen René Descartes vermuten die Neo-Dualisten deshalb einen immateriellen „Geist in der Maschine“, der nicht den Naturgesetzen unterliegt – zumindest nicht den uns zugänglichen. Demnach wird Wissenschaft nie ergründen, wie private Wahrnehmung entsteht. Wir können deshalb niemals eindeutig beweisen – noch widerlegen! –, dass Tiere Gefühle haben. Allein bei Menschen können wir halbwegs sicher sein, weil wir unsere Empfindungen zu verbalisieren vermögen. Doch sind indirekte Argumente tatsächlich so impotent? Nach meiner Auffassung entfalten sie eine enorme Kraft, wenn wir statt auf Analogien auf Homologien setzen. Die Wortklauberei weist auf einen wichtigen Unterschied hin. Eine Analogie bezeichnet äußerliche Übereinstimmung aufgrund paralleler Entwicklung. So gleichen sich die Grabhände von Grillen und Maulwürfen oder die Flossen von Fischen und Wal"fischen" oder die Flügel von Vögeln und Fledermäusen, weil gleichgerichtete Auslesedrucke sie formten. Analoges Verhalten sieht ebenfalls ähnlich aus. Deshalb windet sich eine Schlange, der ich auf den Schwanz trete, wie ein Regenwurm – obwohl dessen Nervenzellen den Reiz vielleicht ganz anders verarbeiten. Eine Homologie hingegen bezeichnet Übereinstimmung aufgrund gemeinsamer Abstammung. Die erklärt, warum die Hände von Schimpansen und Menschen jeweils über fünf Finger, Plattnägel und Hautleisten verfügen. Mit Schimpansen teilten wir vor fünf Millionen Jahre noch eine Ahnenform. Auch die Hufe von Pferden und unsere Füße sind homolog. Nur entsprechen sie einander weniger, weil der letzte gemeinsame Vorfahre von Huftieren und Menschen weitaus länger zurückliegt. Nicht nur bei anatomischen Merkmalen, sondern auch bei mentalen Phänomenen wie Bewusstsein und Gefühlen dürfte das Homologie-Prinzip greifen. Denn die Alternative wäre geradezu absurd – nämlich, dass Gefühle erst auf dem kurzen Abschnitt menschlicher Eigenentwicklung entstanden. Deshalb meine ich, dass es durchaus erlaubt ist, uns nahe stehende Organismen bis zum einem gewissen Grade zu anthropomorphisieren, also zu vermenschlichen – wie es umgekehrt Sinn macht, Menschen zu zoologisieren, also zu vertierlichen. Der serbisch-amerikanische Philosoph Thomas Nagel ist da skeptischer. Er überschrieb 1974 einen berühmten Essay mit „What is it like to be a bat?“ („Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“). Gemäß Nagel werden wir nie wissen, wie die Artisten der Lüfte ihre „Meinigkeit“ empfinden. Nagels These suggeriert zudem, dass es uns deshalb nie gelingen kann, die wie auch immer gearteten Emotionen von Fledermäusen nachzuempfinden – etwa ihr Glücksgefühl. Ich würde die Skepsis des Philosophen teilen, wenn es um die Frage ginge, ob die Scham der Kakerlaken sich im Nervensystem dieser Wirbellosen so SWR2 Aula vom 19.01.2014 Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle? Von Professor Volker Sommer 9 anfühlen dürfte wie sich Scham in unserem Kopf anfühlt; wenn es denn überhaupt Sinn ergeben sollte, als Kakerlake Scham zu empfinden. Die Abstammungslinien von Insekten und Menschen trennten sich allerdings vor weitaus längerer Zeit als jene von flugfähigen Säugetieren und auf dem Boden gehenden Menschen. So kann ich mir zumindest theoretisch vorstellen, dass Fledermäuse Gefühle haben, die den meinen ähneln. Und dass etwa Psychopharmaka wie Anti-Depressiva an Mäusen getestet werden, ist ein weiteres handfestes Argument für den Gradualismus – denn solche Versuche wären komplett unsinnig, wenn es zwischen dem Denk- und Empfindungsapparat von Nagern und Menschen keinerlei Übereinstimmungen gäbe. Die Überlegungen zu Homologien liefern übrigens gute Argumente gegen die Regel von Lloyd Morgan, wonach man Verhalten nicht auf höhere psychische Fähigkeiten zurückführen soll, wenn es als Resultat einer niederen gedeutet werden kann. Morgan will zwar dem gewiss guten Grundsatz folgen, nach der einfachsten Erklärung zu suchen, und das Prinzip der Parsimonie, der Sparsamkeit, gilt zu Recht als „elegant“. Doch der Psychologie-Pionier schüttet dabei das Kind mit dem Bade aus. Zum einen ist ein Denken in „höher“ und „niedriger“ ziemlich antiquiert – denn alle Tierformen sind an ihre jeweiligen Umwelten gut angepasst. Zumindest für Evolutionsbiologen wie mich gibt es da keine abgestufte Wertigkeit, sondern nur verschiedene Lösungen hinsichtlich der Probleme des Überlebens und der Fortpflanzung. Zum anderen scheint es nur so, als wären nicht-mentalistische Erklärungen einfacher als solche, die Denkvorgänge wie Einsicht oder Gefühle wie Angst und Zuneigung als Triebkräfte von Verhalten annehmen. Stellen wir uns einmal Szenen aus dem 19. Jahrhundert vor, bei der sowohl Menschen wie Hunde in Anatomiesälen ohne Betäubung aufgeschnitten wurden. Der Mensch schrie und wand sich, der Hund jaulte und krümmte sich ebenfalls. Hinsichtlich des Hundes galt jedoch die Annahme, er würde keinen Schmerz empfinden. Dass aber ein mit dem Seziermesser malträtierter Hund sich ganz ähnlich wie ein Mensch verhält, während diese Ähnlichkeit jedoch auf andere innere Empfindungen zurückgeht – oder dass solche Empfindungen im Sinne von Descartes gar komplett fehlen –, das ist eine viel kompliziertere Behauptung, als die schlichte Annahme, der Hund habe „Schmerzen“ und wegrennen will. Gleichwohl: Im streng wissenschaftlichen Sinne wissen wir über das Gefühlsleben anderer Lebewesen immer noch herzlich wenig – und müssen deshalb weiterhin weitgehend mit eben diesem Herzen entscheiden, in welchem Maße wir die Anführungsstriche um die "Gefühle" von Tieren weglassen wollen. Die neueren Überlegungen zu unseren Tier-Verwandten, obwohl nicht unumstritten, sind allerdings nicht nur wissenschaftlich bedeutsam. Sie beanspruchen zudem, Konsequenzen für moralische Wertvorstellungen zu haben und damit die Grenze zu Orientierungs-Disziplinen zu überschreiten. SWR2 Aula vom 19.01.2014 Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle? Von Professor Volker Sommer 10 So wird es ohne Zweifel immer schwieriger, keine ethischen Konsequenzen hinsichtlich unseres Verhältnisses zu anderen Tieren ziehen zu wollen. Nur ganz allgemein sei hier verwiesen auf Fragen wie die, ob die industrielle Nutztierhaltung vertretbar ist, oder der massenweise Verbrauch von Katzen und Hunden und Kaninchen beim Austesten von Kosmetika oder schmerzhafte und tödlich endende Experimente mit Rhesusaffen in biomedizinischen Labors. Aber ist das tierschützerische Engagement gegen solche Praktiken nicht wiederum Wasser auf die Mühlen der Sonderstellungs-Philosophen? Denn wann hätten je Tiere Mitgefühl gezeigt? Vielleicht sollten wir Mark Bekoff doch noch einmal eine seiner Geschichten erzählen lassen. Die, als er beim Fahrradfahren am Straßenrand einen Vogel liegen sah, der gegen ein Auto geflogen war. Bekoff beschreibt die Szene folgendermaßen: "Vier andere Elstern standen um die tote herum. Eine pickte vorsichtig an dem Leichnam – ganz wie Elefanten tote Artgenossen mit ihrem Rüssel betasten. Eine zweite tat dasselbe. Ein Vogel flog fort, brachte etwas Gras und legte es neben dem Toten ab. Eine zweite tat dasselbe. Alle vier standen einige Sekunden lang Spalier, bevor sie fortflogen." ***** * Zum Autor: Volker Sommer hat am University College London einen Lehrstuhl für Evolutionäre Anthropologie inne und gilt laut dem letzten Cicero-Ranking als einer der wichtigsten Naturwissenschaftler Deutschlands, die zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen. Schwerpunkt seiner Forschungen ist die Verhaltensökologie von Primaten. Gleichgeschlechtliches Sexualverhalten thematisierte er zunächst in seinem Klassiker „Wider die Natur? Homosexualität und Evolution" (München: C.H. Beck 1990) und zuletzt (als Herausgeber, mit Paul Vasey) in „Homosexual Behaviour in Animals. An Evolutionary Perspective" (Cambridge: Cambridge University Press, 2006). Bücher (Auswahl): - Menschenaffen wie wir. (zus. mit Jutta Hof). Edition Panorama. - Darwinisch denken: Horizonte in der Evolutionsbiologie. Hirzel-Verlag. - Schimpansenland – Wildes Leben in Afrika. Verlag C. H. Beck. SWR2 Aula vom 19.01.2014 Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle? Von Professor Volker Sommer