SWR2 Wissen: Aula

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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 AULA – Manuskriptdienst
Empathische Primaten
Haben Affen komplexe Gefühle?
Autor und Sprecher: Professor Volker Sommer *
Redaktion: Ralf Caspary
Sendung: Sonntag, 19. Januar 2014, 8.30 Uhr, SWR 2
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Ansage:
Mit dem Thema: „Empathische Primaten – Haben Affen komplexe Gefühle?“
Tiere können nicht so wie wir Menschen empfinden, das sagen die einen;
Tiere haben sehr wohl Gefühle, und besonders Primaten, die dem Menschen
genetisch sehr ähnlich sind, haben ein komplexes Innenleben, sagen die
anderen. Nur: Wie kann man das experimentell erforschen, wie kann man in
die Affenseele blicken?
Professor Volker Sommer, Verhaltensbiologe und Primatologe an der
Universität in London, meint, es stecke viel Mensch im Affen und auch viel
Affe im Menschen, es gebe keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen
Menschen und Tieren, sondern nur graduelle. Warum das so ist, erläutert er
in der SWR2 Aula.
Volker Sommer:
Die strikte Tier-Mensch-Polarität geht in westlicher Denk-Tradition auf René
Descartes zurück wie auch die damit einhergehende Vorstellung, dass
Menschen empfindungsfähig seien, während Tiere keine Gefühle besäßen,
Dies begründete der französische Philosoph und Mathematiker im
historischen Kontext des 17. Jahrhunderts durchaus logisch. Er meinte, man
könne sich wohl einen halben Arm vorstellen – aber eine „halbe Seele“, das
mache keinen Sinn. Nur Menschen galten ihm deshalb mit einer Seele
ausgestattet, während „Tiere“ vollkommen unbeseelt waren. Da aber das
Seelische auch andere Aspekte wie die von Denken und Fühlen umfasste,
war es nur logisch, dass Tiere nicht nur als unbeseelt galten, sondern zudem
als unfähig zu denken oder zu empfinden. Das Konstrukt der gefühllosen
Tiere war geboren. Die sich im Zuge des Descartes‘schen Denkens
entwickelnde Wissenschaft konnte deshalb entsprechend unbekümmert
deren Körper bei lebendigem Leibe aufschneiden und sezieren. Denn wenn
der Körper sich auch wand – es sah nur so aus, als empfänden sie etwas.
Für manche moderne Wissenschaftler sind solche Überlegungen schlicht
unsinnig. Für Mark Bekoff etwa stellt sich die Frage gar nicht, ob Tiere
Gefühle haben. Denn, so behauptet der amerikanische Verhaltensforscher in
seinem 2007 erschienenen Buch „The Emotional Lives of Animals“ –- „Das
emotionale Leben der Tiere": "Mit einem Hund zu leben geht mit dem Wissen
einher, dass Tiere Gefühle haben. Das ist einfach so." Für Bekoff sieht es
nicht nur so aus, "als ob" Tiere fühlen. Wenn er mit seinem Hund spielt, gilt
der ihm nicht lediglich in Anführungszeichen als "glücklich"; der Vierbeiner ist
wirklich glücklich.
Gemäß Bekoff können wir tierliches Empfinden ohne weiteres erkennen. Als
Beleg führt er beispielsweise an, was ihm Frau Harris aus Texas schrieb: Um
einer Nagerplage vorzubeugen, blockierte das Ehepaar Harris ein Loch im
Dachboden. Kurz darauf schaute ein Eichhörnchen fiepend durchs
Zimmerfenster, richtete sich langsam auf und hob seine Arme. Offenbar, so
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Frau Harris, wollte das Hörnchen sein milchgefülltes Gesäuge zeigen und
verzweifelt auf seine im Dachboden eingesperrten Jungen hinweisen.
Mark Bekoff glaubt, dass Frau Harris die Empfindungen des Eichhörnchens
korrekt beschrieben hat. Aber es ist eben Glauben nötig – und nicht zu wenig.
Eben weil wir alle solche Geschichten über das Innenleben von Tieren
erfinden können, galt es in der Zeit nach Darwin als wissenschaftliche Sünde,
darüber zu spekulieren. Der britische Psychologe Conwy Lloyd Morgan wollte
in seiner 1895 erschienenen "Einführung in die vergleichende Psychologie"
den Tier-Mensch-Vergleich auf eine solide Grundlage stellen – und
entwickelte deshalb "Morgan's Canon". Die "Morgansche Regel" lautet:
"Führe Verhalten nicht auf höhere psychische Fähigkeiten zurück, wenn es
als Resultat einer niederen gedeutet werden kann."
Dieser methodische Ansatz führte über das nächste halbe Jahrhundert
hinweg zu einer starken Ablehnung subjektivistischer Interpretationen bei der
Deutung von Tierverhalten. Darin waren sich sogar bitter konkurrierende
Schulen einig. Die amerikanischen Behavioristen um John Watson und
Burrhus Skinner experimentierten mit Puzzlekästen und Lauflabyrinthen, um
zu zeigen, wie alles Verhalten durch simple Mechanismen wie Versuch und
Irrtum erlernt ist. Nach Ansicht der europäischen Ethologen um Nikolas
Tinbergen und Konrad Lorenz wurde tierliches Verhalten hingegen durch
angeborene Programme bestimmt. Was Tinbergen in seiner "Instinktlehre"
von 1951 formulierte, hätten Behavioristen aber wohl auch unterschrieben:
"Weil subjektive Phänomene nicht objektiv in Tieren beobachtet werden
können, ist es Zeitverschwendung, ihre Existenz zu behaupten oder zu
verneinen."
Bereits Darwin unterschied hinsichtlich "Gemütsbewegungen" zwischen dem
äußeren Ausdruck und damit einhergehenden subjektiven Empfindungen. Der
Einteilung in objektiv messbare versus lediglich subjektiv erfahrbare
Komponenten folgen heute noch viele Wissenschaftler, die jene
psychophysiologischen Prozesse untersuchen, die wir als Emotionen
bezeichnen.
Als objektive Komponente gilt einerseits die Physiologie, die sich in
körperlichen Zustandsänderungen manifestiert wie steigender Pulsrate,
Hormonausschüttung oder Erröten. Andererseits kann Verhalten registriert
werden, also ob wir die Mundwinkel nach unten ziehen oder lachen. Die
subjektive Komponente der Emotion – das eigentliche Gefühl – bleibt
hingegen privat. Nur ich selbst weiß, wie es sich in mir und für mich anfühlt,
wenn ich traurig, fröhlich oder verliebt bin.
Allerdings besteht nicht einmal für Menschen Einigkeit darüber, welche und
wieviele Empfindungen wir besitzen, und inwieweit die angeboren oder
kulturell bedingt sind. Manche Theorien kommen mit vier Gefühlen aus
(Furcht, Ärger, Freude, Trauer), andere ergänzen den Katalog auf sieben
(durch Ekel, Verachtung, Überraschung); oder sie erweitern die Liste auf zehn
Gefühle (durch Hinzufügen von Scham, Interessiertsein, Schuldgefühl) oder
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nennen weitere Kandidaten (wie Schmerzempfinden, Wohlbehagen, Liebe,
Geborgenheit, Glücklichsein ...).
Umstritten ist zudem, ob und wie Gefühle mit anderen nur privat erfahrbaren
Zuständen verwandt sind, speziell mit Wollen und Denken. Wer Gefühlen
nachforscht, richtet damit automatisch auch Augenmerk auf "Bewusstsein".
Die innerliche Welt anderer Menschen kann ich nur dialogisch rekonstruieren
– indem mein Gegenüber mir darüber erzählt. Weil aber Tiere nur in Märchen
sprechen wie wir Menschen, sind Mutmaßungen über tierliches Gefühlsleben
umso problematischer.
Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass Emotionen Menschen wie
Tieren lebensverlängernde Orientierung in der Umwelt bieten. Angenehmes
verleitet, Verhalten fortzusetzen – etwa, wenn meine Katze süße Milch
schleckt und sich wohlig in der Morgensonne räkelt. Unangenehmes
veranlasst Mieze, ihre Situation zu ändern – etwa, schlecht schmeckende
Milch zu verschmähen, Schatten aufzusuchen, wenn die Sonne zu heiß
brennt, und vor dem Hund ängstlich wegzuspurten.
In diese Schilderung beobachtbaren Verhaltens sind allerdings bereits
zahlreiche Vokabeln gemischt, die auf das kätzische Innenleben anspielen –
von süß über wohlig bis schlecht schmeckend und ängstlich. Der
Verhaltensforscher Mark Bekoff würde solche Zuschreibungen gleichwohl
ohne Zögern vornehmen. Dabei führt er genau jene drei großen A ins Feld,
die in den Verhaltenswissenschaften traditionell kritisiert werden:
Anthropomorphismus, Anekdote, Analogie.
Der akademische Widerstand gegen das erste A, nämlich über die
Vermenschlichung ein Fenster ins tierliche Innenleben öffnen zu wollen,
zerbröselte vor allem durch die Forschungen von Jane Goodall. Sie begann
vor 50 Jahren, wilde Schimpansen zu erforschen. Damals galt
Werkzeugbenutzung als Spezifikum, das Menschen grundsätzlich von Tieren
unterschied. Als die britische Primatologin jedoch entdeckte, wie
Schimpansen Stockangeln fertigten, um damit Termiten zu erbeuten, war das
klassische Merkmal hinfällig, das die Sonderstellung des Menschen
begründen sollte. Gleichzeitig erfuhr Darwins Postulat einer "geistigen"
Kontinuität dadurch eine Renaissance. Fachzeitschriften wollten allerdings
jene Passagen von Goodalls Beiträgen nicht drucken, in denen sie den
Menschenaffen Empfindungen zuschrieb. Bis sie einen Trick anwendete und
im Konjunktiv formulierte, also etwa: "Wären Schimpansen Menschen,
würden wir dieses und jenes Verhalten als Ausdruck von Eifersucht und
Trauer bewerten."
Schützenhilfe bekam die Primatologin von Donald Griffin. Wegen seiner
weithin anerkannten Forschungen zu Echoortung und Vogelzug konnte
dessen leidenschaftliches Werk "The Question of Animal Awareness" ("Die
Frage tierlicher Bewusstheit") nicht als sentimentale Spinnerei abgetan
werden. Griffin läutete damit 1976 ein, was rückblickend als "kognitive
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Wende" der Verhaltensforschung gilt: die wiedererstarkte Auffassung,
tierliches Erleben könne durchaus wissenschaftlich untersucht werden.
Speziell Primatologen höhlten den Minimalismus von klassischer Ethologie
und Behaviorismus weiter aus. So wollten die schottischen Psychologen
Richard Byrne und Andrew Whiten wissen, ob auch nicht-menschliche
Primaten neu auftretende Probleme durch Einsicht lösen können. Solche
"wilden Denker" würden damit weder auf angeborene Instinkte zurückgreifen
– á la Lorenz und Tinbergen –, noch auf erlernte Konditionierung – á la
Watson und Skinner.
Byrne und Whiten kaprizierten sich dabei auf die taktische Täuschung von
Artgenossen. Ähnlich wie Falschgeld müssen Lug und Trug allerdings rar
sein, weil sonst niemand mehr darauf hereinfällt. Whiten und Byrne setzten
deshalb auf das verpönte zweite A und baten andere Affenforscher, ihnen
jene seltenen Anekdoten mitzuteilen, die auf "machiavellische Intelligenz"
hindeuten – darauf, dass auch Tiere Sozialpartner eigennützig manipulieren.
In einem von ihnen herausgegeben Sammelband entfalteten sie diese
Theorie 1988 als "Machiavellian Intelligence: Social Expertise and the
Evolution of Intellect in Monkeys, Apes, and Humans".
Einige Anekdoten steuerte ich selbst bei – etwa über falschen Alarm bei
Languren. In einer Gruppe dieser indischen Tempelaffen versuchten
Rangniedere, eine Fußverletzung des dominanten Affen auszunutzen, indem
sie ihm beliebte Nahrung streitig machten: von einer Akazie herabgefallene
reife Früchte. Während einer solchen Rempelei stieß der Alpha-Affe
unvermittelt kehlige Laute aus, die sonst nur zu hören sind, wenn Gefahr
droht, von Hunden etwa oder Leoparden. Als der Alarm ertönte, flüchteten
denn auch alle schnurstracks auf die Bäume. Nur Alpha blieb ruhig am Boden
und verzehrte seine Schoten – während weder Hundemeute noch Raubkatze
auftauchten.
Ähnliche Episoden wurden bei verschiedensten Primatenarten beobachtet.
Eine Täuschung gelingt umso wahrscheinlicher, wenn wir uns in Gegenspieler
hineinversetzen und berücksichtigen, was sie wissen und wollen. Wer das
leistet, verhält sich aber wie ein Gedankenleser. Der Alpha-Affe der Languren
mag demnach gedacht haben: "Ich denke, Du wirst glauben, ein Raubfeind
sei in der Nähe, wenn ich einen Alarmlaut ausstoße." Solche Anekdoten
werden interessanterweise umso häufiger beobachtet, je größer der Anteil
des Neocortex am Gesamthirn ist – also, je menschenähnlicher eine Spezies.
Hätte sich die Szene unter Menschen abgespielt, fänden wir eine auf
"Gedankenlesen" beruhende Erklärung jedenfalls plausibel. Schließlich sind
wir tagtäglich, im richtigen Leben wie in Kino und Romanen, mit
Betrugsgefahr konfrontiert.
Dummerweise sind aber – unter Anwendung der Morganschen Regel – auch
"non-mentalistische" Deutungen möglich. Unser Alpha-Affe müsste sich
demnach gar nichts denken, sondern hätte durch schlichte Konditionierung
gelernt, Alarmlaute mit flüchtenden Gruppengenossen und entsprechend
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mehr Nahrung zu assoziieren. Selbst Hunderte von Anekdoten können
deshalb das Vorliegen taktischer Täuschung nicht eindeutig belegen. Denn
auch ein vielfach vorgeführter Zaubertrick liefert nicht mehr Beweise für
"Magie" wie ein einzelner. Daher die ironische Redewendung unter
Wissenschaftlern: "Daten ist nicht der Plural von Anekdote."
Die Verhaltensforscherin Marian Stamp Dawkins trägt solche Einwände
allerdings nicht mit dem Wunsch vor, Tieren Bewusstsein und Gefühle
absprechen zu wollen. Ihr geht es vielmehr darum, solidere Belege
einzufordern, die Zweiflern entschiedener Paroli bieten könnten als
anrührende Geschichten von Goodall, Griffin, Bekoff & Co.
Außer Anthropomorphismus und Anekdoten hält Stamp Dawkins auch das
dritte A für wenig aussagekräftig: die Analogie. Denn wenn etwas ähnlich
aussieht, muss es durchaus keine ähnlichen Ursachen oder Folgen haben.
In dem Maße, wie physiologische und neuronale Prozesse stetig besser
gemessen werden konnten, wuchs zunächst die Hoffnung, Gefühle über
spezifische Korrelate identifizieren zu können. So verbrauchen aktive
Hirnareale mehr Sauerstoff, was bildgebende Gehirnscanner in eingefärbte
"Landkarten" unseres Denkapparates übersetzen. Versuchspersonen können
überdies berichten, was sie angesichts bestimmter Reize empfinden. Wenn
dann in einander entsprechenden Regionen tierlicher Gehirne die gleichen
Lämpchen aufleuchten, dürfen wir ziemlich sicher sein, dass auch Tiere
fühlen wie wir. Eigentlich ganz einfach ...
Entgegen dieser Erwartung gehen neuronale Feuerwerke jedoch nicht mit
spezifischen Gefühlen einher, und ein "Sitz des Bewusstseins" lässt sich
schon gar nicht lokalisieren. Die neurobiologische Landkarte ist mithin so
komplex, dass wir sie nicht lesen können.
Eindeutige physiologische Anzeiger für bestimmte Gefühle existieren
ebenfalls nicht. Das überrascht nicht weiter, weil der Körper sich
beispielsweise auf entgegengesetzte Verhaltensweisen wie Kämpfen und
Fliehen identisch vorbereitet. Beide Aktivitäten benötigen Sauerstoff für
anstehende Bewegungen, weshalb die Pulsrate steigt, sowie Kraftstoff in
Form von Glukose durch Hormone im Blut freigesetzt wird. Aggressiver Ärger
und passive Angst sind somit anhand ihrer Korrelate nicht
auseinanderzuhalten.
Verhalten, welches Emotionen begleitet, zeigt innerliche Gefühle ebenfalls
nicht eindeutig an. Wer beim Achterbahnfahren zuschaut, kann sich deshalb
durchaus fragen, ob Schreie und verzerrte Gesichter Furcht, Aufregung oder
Freude ausdrücken. Ähnlichkeit im Verhalten beweist also ebenfalls
keineswegs Gleichheit im Erleben.
Gefühle können überdies gespielt sein – auch und gerade von Haustieren. So
scheinen Katzen zu lernen, ihre Halter zu manipulieren, indem sie das
Geschrei von Menschenbabys nachahmen. Je mehr Zuwendung sie erhalten,
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desto eher benutzen Katzen die Vokalisation erneut. Hinsichtlich Haushunden
ist ebenfalls Vorsicht angebracht. Denn über Jahrtausende wurden jene Tiere
weitergezüchtet, die auf uns verspielt, traurig oder glücklich wirken. Dass
Hunde entsprechend fühlen, ist jedoch im Prinzip nicht notwendig, damit
unsere eigenen Reaktionen ausgelöst werden. Unsere gehätschelten
Vierbeiner würden damit Schnittblumen gleichen, die wir zur unserer Freude
züchterisch perfektioniert haben – deren Duft und Blüte aber komplett von
ihrer ursprünglichen biologischen Bedeutung der Fortpflanzung abgekoppelt
sind.
Hunde- und Katzenhalter werden allerdings schwören, ihre Lieblinge seien
keine Roboter. Mark Bekoff meint, wir könnten nur deshalb tiefe Gefühle für
sie entwickeln, weil die Tiere selbst reale Emotionen empfinden. Auch das ist
fraglich. Vor zwei Jahrzehnten kamen die ersten Tamagotchi aus Japan auf
den Markt – virtuelle Haustiere, die ihre "Gefühle" über farbige Lämpchen
ausdrücken. Mein damals kleiner Sohn vernachlässigte sein Tamagotchi nach
einer Weile, fütterte und streichelte es so wenig, dass es "starb". Zumindest in
meinem Kopf löste das ein trauriges Gefühl aus, als sei mein erstes echt
lebendiges Meerschweinchen erneut verschieden.
Die Fahndung nach tierlichen Gefühlen kompliziert sich zudem, weil viele
Handlungen unbewusst ablaufen. So schaue ich erstaunt meinen Händen zu,
wenn sie Akkordfolgen auf einem Musikinstrument "ganz von alleine" spielen.
Mein Gehirn lässt also meine Muskeln musizieren, ohne dass sie mit meinem
Denken verknüpft wären. Auf Emotionen kann das gleichfalls zutreffen. Wenn
uns das Foto eines fröhlichen oder traurigen Gesichts für weniger als 40
Millisekunden dargeboten wird, nehmen wir das Bild nicht wahr. Werden wir
dann gefragt, ob ein uns unbekanntes chinesisches Schriftzeichen eher
positive oder negative Bedeutung hat, interpretieren wir nach Einblendung
eines fröhlichen Gesichts das Zeichen gleichwohl eher als positiv; und als
negativ, wenn der unterschwellige Stimulus traurig war.
Möglicherweise könnten deshalb Tiere zwar auch Emotionen haben, sie aber
nicht bewusst erfahren. Charles Darwin zog dies übrigens in Betracht, als er
Löwen als "aufgebracht" und Insekten als "eifersüchtig" beschrieb. Wie
frustrierend es auch sein mag: Trotz allem wissenschaftlichen Fortschritt
wissen wir immer noch nicht sicher, ob und wie Tiere Gefühle bewusst in
ihrem Kopf erleben.
Damit sind jene Denker unzufrieden, die einem Physikalismus huldigen, also
der materialistischen Auffassung, unser Körper samt Gehirn reflektiere die
Bauanweisungen strikter chemischer und physikalischer Prozesse. Für
Physikalisten ist es allerdings nur eine Frage der Zeit, bis wir die Ketten von
Ursache und Wirkung entschlüsselt haben, die diese Maschine am Laufen
hält, wie komplex sie auch immer sein mag.
Mittlerweile sieht sich die konkurrierende Fraktion der Dualisten in ihrer
Metaphysik bestätigt, wonach es prinzipiell unmöglich sei, subjektive
Phänomene wie Gefühle und Bewusstsein auf das Feuern von Neuronen zu
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reduzieren. Denn wie kann das sein, dass aus Atomen und Molekülen private
Wahrnehmungen wie die in unserem Kopf erwachsen? Als moderne Jünger
des Philosophen René Descartes vermuten die Neo-Dualisten deshalb einen
immateriellen „Geist in der Maschine“, der nicht den Naturgesetzen unterliegt
– zumindest nicht den uns zugänglichen.
Demnach wird Wissenschaft nie ergründen, wie private Wahrnehmung
entsteht. Wir können deshalb niemals eindeutig beweisen – noch widerlegen!
–, dass Tiere Gefühle haben. Allein bei Menschen können wir halbwegs
sicher sein, weil wir unsere Empfindungen zu verbalisieren vermögen.
Doch sind indirekte Argumente tatsächlich so impotent? Nach meiner
Auffassung entfalten sie eine enorme Kraft, wenn wir statt auf Analogien auf
Homologien setzen. Die Wortklauberei weist auf einen wichtigen Unterschied
hin. Eine Analogie bezeichnet äußerliche Übereinstimmung aufgrund
paralleler Entwicklung. So gleichen sich die Grabhände von Grillen und
Maulwürfen oder die Flossen von Fischen und Wal"fischen" oder die Flügel
von Vögeln und Fledermäusen, weil gleichgerichtete Auslesedrucke sie
formten. Analoges Verhalten sieht ebenfalls ähnlich aus. Deshalb windet sich
eine Schlange, der ich auf den Schwanz trete, wie ein Regenwurm – obwohl
dessen Nervenzellen den Reiz vielleicht ganz anders verarbeiten.
Eine Homologie hingegen bezeichnet Übereinstimmung aufgrund
gemeinsamer Abstammung. Die erklärt, warum die Hände von Schimpansen
und Menschen jeweils über fünf Finger, Plattnägel und Hautleisten verfügen.
Mit Schimpansen teilten wir vor fünf Millionen Jahre noch eine Ahnenform.
Auch die Hufe von Pferden und unsere Füße sind homolog. Nur entsprechen
sie einander weniger, weil der letzte gemeinsame Vorfahre von Huftieren und
Menschen weitaus länger zurückliegt.
Nicht nur bei anatomischen Merkmalen, sondern auch bei mentalen
Phänomenen wie Bewusstsein und Gefühlen dürfte das Homologie-Prinzip
greifen. Denn die Alternative wäre geradezu absurd – nämlich, dass Gefühle
erst auf dem kurzen Abschnitt menschlicher Eigenentwicklung entstanden.
Deshalb meine ich, dass es durchaus erlaubt ist, uns nahe stehende
Organismen bis zum einem gewissen Grade zu anthropomorphisieren, also
zu vermenschlichen – wie es umgekehrt Sinn macht, Menschen zu
zoologisieren, also zu vertierlichen.
Der serbisch-amerikanische Philosoph Thomas Nagel ist da skeptischer. Er
überschrieb 1974 einen berühmten Essay mit „What is it like to be a bat?“
(„Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“). Gemäß Nagel werden wir nie
wissen, wie die Artisten der Lüfte ihre „Meinigkeit“ empfinden. Nagels These
suggeriert zudem, dass es uns deshalb nie gelingen kann, die wie auch
immer gearteten Emotionen von Fledermäusen nachzuempfinden – etwa ihr
Glücksgefühl.
Ich würde die Skepsis des Philosophen teilen, wenn es um die Frage ginge,
ob die Scham der Kakerlaken sich im Nervensystem dieser Wirbellosen so
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anfühlen dürfte wie sich Scham in unserem Kopf anfühlt; wenn es denn
überhaupt Sinn ergeben sollte, als Kakerlake Scham zu empfinden. Die
Abstammungslinien von Insekten und Menschen trennten sich allerdings vor
weitaus längerer Zeit als jene von flugfähigen Säugetieren und auf dem
Boden gehenden Menschen. So kann ich mir zumindest theoretisch
vorstellen, dass Fledermäuse Gefühle haben, die den meinen ähneln. Und
dass etwa Psychopharmaka wie Anti-Depressiva an Mäusen getestet werden,
ist ein weiteres handfestes Argument für den Gradualismus – denn solche
Versuche wären komplett unsinnig, wenn es zwischen dem Denk- und
Empfindungsapparat von Nagern und Menschen keinerlei
Übereinstimmungen gäbe.
Die Überlegungen zu Homologien liefern übrigens gute Argumente gegen die
Regel von Lloyd Morgan, wonach man Verhalten nicht auf höhere psychische
Fähigkeiten zurückführen soll, wenn es als Resultat einer niederen gedeutet
werden kann. Morgan will zwar dem gewiss guten Grundsatz folgen, nach der
einfachsten Erklärung zu suchen, und das Prinzip der Parsimonie, der
Sparsamkeit, gilt zu Recht als „elegant“. Doch der Psychologie-Pionier
schüttet dabei das Kind mit dem Bade aus. Zum einen ist ein Denken in
„höher“ und „niedriger“ ziemlich antiquiert – denn alle Tierformen sind an ihre
jeweiligen Umwelten gut angepasst. Zumindest für Evolutionsbiologen wie
mich gibt es da keine abgestufte Wertigkeit, sondern nur verschiedene
Lösungen hinsichtlich der Probleme des Überlebens und der Fortpflanzung.
Zum anderen scheint es nur so, als wären nicht-mentalistische Erklärungen
einfacher als solche, die Denkvorgänge wie Einsicht oder Gefühle wie Angst
und Zuneigung als Triebkräfte von Verhalten annehmen. Stellen wir uns
einmal Szenen aus dem 19. Jahrhundert vor, bei der sowohl Menschen wie
Hunde in Anatomiesälen ohne Betäubung aufgeschnitten wurden. Der
Mensch schrie und wand sich, der Hund jaulte und krümmte sich ebenfalls.
Hinsichtlich des Hundes galt jedoch die Annahme, er würde keinen Schmerz
empfinden. Dass aber ein mit dem Seziermesser malträtierter Hund sich ganz
ähnlich wie ein Mensch verhält, während diese Ähnlichkeit jedoch auf andere
innere Empfindungen zurückgeht – oder dass solche Empfindungen im Sinne
von Descartes gar komplett fehlen –, das ist eine viel kompliziertere
Behauptung, als die schlichte Annahme, der Hund habe „Schmerzen“ und
wegrennen will.
Gleichwohl: Im streng wissenschaftlichen Sinne wissen wir über das
Gefühlsleben anderer Lebewesen immer noch herzlich wenig – und müssen
deshalb weiterhin weitgehend mit eben diesem Herzen entscheiden, in
welchem Maße wir die Anführungsstriche um die "Gefühle" von Tieren
weglassen wollen.
Die neueren Überlegungen zu unseren Tier-Verwandten, obwohl nicht
unumstritten, sind allerdings nicht nur wissenschaftlich bedeutsam. Sie
beanspruchen zudem, Konsequenzen für moralische Wertvorstellungen zu
haben und damit die Grenze zu Orientierungs-Disziplinen zu überschreiten.
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So wird es ohne Zweifel immer schwieriger, keine ethischen Konsequenzen
hinsichtlich unseres Verhältnisses zu anderen Tieren ziehen zu wollen.
Nur ganz allgemein sei hier verwiesen auf Fragen wie die, ob die industrielle
Nutztierhaltung vertretbar ist, oder der massenweise Verbrauch von Katzen
und Hunden und Kaninchen beim Austesten von Kosmetika oder
schmerzhafte und tödlich endende Experimente mit Rhesusaffen in
biomedizinischen Labors.
Aber ist das tierschützerische Engagement gegen solche Praktiken nicht
wiederum Wasser auf die Mühlen der Sonderstellungs-Philosophen? Denn
wann hätten je Tiere Mitgefühl gezeigt?
Vielleicht sollten wir Mark Bekoff doch noch einmal eine seiner Geschichten
erzählen lassen. Die, als er beim Fahrradfahren am Straßenrand einen Vogel
liegen sah, der gegen ein Auto geflogen war. Bekoff beschreibt die Szene
folgendermaßen: "Vier andere Elstern standen um die tote herum. Eine pickte
vorsichtig an dem Leichnam – ganz wie Elefanten tote Artgenossen mit ihrem
Rüssel betasten. Eine zweite tat dasselbe. Ein Vogel flog fort, brachte etwas
Gras und legte es neben dem Toten ab. Eine zweite tat dasselbe. Alle vier
standen einige Sekunden lang Spalier, bevor sie fortflogen."
*****
* Zum Autor:
Volker Sommer hat am University College London einen Lehrstuhl für
Evolutionäre Anthropologie inne und gilt laut dem letzten Cicero-Ranking als
einer der wichtigsten Naturwissenschaftler Deutschlands, die zur öffentlichen
Meinungsbildung beitragen. Schwerpunkt seiner Forschungen ist die
Verhaltensökologie von Primaten. Gleichgeschlechtliches Sexualverhalten
thematisierte er zunächst in seinem Klassiker „Wider die Natur?
Homosexualität und Evolution" (München: C.H. Beck 1990) und zuletzt (als
Herausgeber, mit Paul Vasey) in „Homosexual Behaviour in Animals. An
Evolutionary Perspective" (Cambridge: Cambridge University Press, 2006).
Bücher (Auswahl):
- Menschenaffen wie wir. (zus. mit Jutta Hof). Edition Panorama.
- Darwinisch denken: Horizonte in der Evolutionsbiologie. Hirzel-Verlag.
- Schimpansenland – Wildes Leben in Afrika. Verlag C. H. Beck.
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