SWR2 Musikstunde

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Das kann doch nicht wahr sein! –
Musikalische Irrtümer (2)
Werke – falsch eingeschätzt!
Von Nele Freudenberger
Sendung:
Dienstag, 31. Mai 2016
Redaktion:
Ulla Zierau
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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SWR2 Musikstunde mit Nele Freudenberger
Das kann doch nicht wahr sein! – Musikalische Irrtümer (2)
Werke – falsch eingeschätzt!
Signet
Manche Werke sind bei der Uraufführung sehr erfolgreich und danach
verschwinden sie völlig von den Spielplänen – manchmal ist es andersherum: ein
Flopp wird zum Kassenschlager! Manchmal widmen Komponisten ihre Werke den
falschen Leuten oder beginnen zu komponieren und wollen etwas ganz anderes
schreiben, als dann am Ende herauskommt… Ein weites Feld mit vielen
Möglichkeiten, sich gründlich zu irren! Und unser Thema in der heutigen
Musikstunde. Mein Name ist Nele Freudenberger
Titelmusik
Beginnen wir mit einem der berühmtesten Klavierkonzerte überhaupt: das erste
Klavierkonzert von Peter Tschaikowsky. Bei diesem Konzert irrten sich gleich zwei
Leute: Tschaikowsky der dachte, sein Lehrer Nikolai Rubinstein würde sich freuen,
wenn er ihm dieses Werk widmen würde – doch weit gefehlt – und Rubinstein, mit
seiner Einschätzung des Werks. Als Tschaikowsky es ihm vorspielte, hüllte der sich
erst in eisiges Schweigen und überschüttete Tschaikowsky dann mit so
vernichtender Kritik, dass das Erlebnis schon fast traumatisch für den jungen
Komponisten war.
Rubinstein hielt das Konzert für wertlos, völlig unspielbar! Die Passagen seien so
bruchstückhaft, unzusammenhängend und armselig komponiert, dass es nicht
einmal mit Verbesserungen getan sei.
Das hat gesessen. Tschaikowsky, völlig zu Recht beleidigt, ist aber gottseidank
nicht dem Ratschlag seines Lehrers gefolgt und hat das Werk neu komponiert
oder gar vernichtet, er hat eine viel bessere Lösung gefunden: er hat es
kurzerhand dem Dirigenten und Pianisten Hans von Bülow gewidmet – und nicht
eine Note verändert.
Bülow, damals schon ein angesehener Pianist und Dirigent hatte den deutlich
besseren Riecher und schrieb Tschaikowsky zurück: „ich bin stolz auf die Ehre, die
Sie mir mit der Widmung dieses herrlichen Kunstwerks erwiesen haben, das
hinreißend in jeder Hinsicht ist“.
Na bitte, geht doch.
Bei der Uraufführung saß von Bülow persönlich am Klavier, das Stück wurde
freundlich aufgenommen.
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Aber seinen wirklichen Durchbruch feierte dieses b-Moll Konzert erst in Europa: mit
Rubinstein als Interpret. Der hatte inzwischen nämlich seine Meinung doch
grundlegend geändert und wurde der beste Interpret dieses Werks überhaupt.
Und er hat sich Zeit seines Lebens gegrämt, dass er damals die Widmung nicht
angenommen hatte und das Stück, das zu seinem pianistischen Aushängeschild
wurde, nun den Namen eines anderen trug.
Hier eine Aufnahme, mit keinem der Widmungsträger. Es spielt Ivo Pogorelich.
Musik 1
Peter Tschaikowsky: Klavierkonzert Nr.1, Anfang, 1. Satz
Ivo Pogorelich, London Symphony Orchestra, Claudio Abbado
M0289890.001, 4‘30
Claudio Abbado am Pult des London Symphony Orchestra, Solist war Ivo
Pogorelich und gespielt haben sie einen Ausschnitt aus dem ersten Satz des
Klavierkonzert Nr. 1 von Peter Tschaikowsky. Ein Konzert, das umgewidmet
werden musste, weil der Widmungsträger es nicht wollte.
Etwas anders verhielt es sich bei Beethoven, auch wenn es hier ebenfalls um eine
„Verwidmung“ geht oder vielmehr um die Legende einer solchen.
Was man mit Sicherheit sagen kann ist, dass Beethovens dritte Sinfonie „Eroica“ in
irgendeinem Zusammenhang mit Napoelon Bonaparte steht, das geht aus
etlichen Briefen hervor. Erst wollte er die Sinfonie Napoleon widmen, dann
Bonaparte nennen – geschehen ist allerdings beides nicht.
Die Geschichte, Beethoven habe die dritte Sinfonie für bzw. auf Napoleon
geschrieben, hält sich hartnäckig – vermutlich wegen des kolportierten
Showdowns, der so schön zu dem griesgrämigen Mann mit wilder Frisur passen
würde, als den wir Beethoven bildlich kennen.
Der soll sich nämlich so zugetragen haben: als Beethoven davon erfuhr, dass
Napoleon sich zum Kaiser krönte, soll er das Deckblatt zerrissen und ausgerufen
haben: „Ist er auch nicht anders als ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch
alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeiz frönen; er wird sich nun
höher, wie alle anderen stellen, ein Tyrann werden!“ Dass es so nicht gewesen
sein kann, ist inzwischen belegt.
Die Tatsächliche Widmung lautet: Sua Altezza Serenissma il Principe di Lobkowitz
– sie ist also einfach dem österreichischen Generalmajor, Kunstliebhaber und
Mäzen Lobkowitz gewidmet, ein Umstand, der sich sicherlich auch finanziell
gelohnt hat, aber es gibt eine Zusatzwidmung, die der Forschung Rätsel aufgibt.
Sie lautet ganz unverbindlich: composta per festeggiare il sovvenire di un grand
Uomo - also: komponiert um das Andenken an einen großen Mann zu feiern.
Man nimmt an, dass es sich bei dem „grand uomo“ um den Prinzen Louis
Ferdinand handelt der gefallen war, einige Tage bevor die Eroica in Druck ging.
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Andere glauben nach wie vor, dass „grand uomo“ eben doch Napoleon
gewesen sein soll. Unwahrscheinlich, aber erfahren werden wir es wohl nie.
Übriggeblieben ist auf jeden Fall eine herrliche Sinfonie, mit vielen Zitaten und
Bezügen, die die Musikwissenschaft noch lange beschäftigen werden. Seien es
die Zitate aus Beethovens Ballett „die Geschöpfe des Prometheus“ oder ein
Vérbunkos – ein ungarischer Werbetanz – oder parodistische Elemente, wie der
„falsche“ Horneinsatz vor der Reprise im ersten Satz der eben wirklich so
komponiert ist, aber den Eindruck erweckt, der Hornist hätte nicht aufgepasst
oder auch die Variation im vierten Satz oder der Anfang des vierten Satzes – all
das wirkt fast übermütig und wenig heroisch! Die Sinfonie ist insgesamt von eher
tänzerischem Charakter, was auf den ersten Blick auch nicht unbedingt zu einem
Heros passt. Aber es ist einfach wunderschöne Musik
Musik 2
Ludwig van Beethoven
Allegro molto, Symphony No. 3 op 55 „Eroica“
Philipp Herreweghe, Royal flemish Philharmonic
Pentatone, LC12686, PTC 5186312, 827949031267
CD1 Track 8
Zeit: 11:09
Der vierte Satz aus der Sinfonie Nr. 3 die „Eroica“ von Ludwig van Beethoven.
Philippe Herreweghe dirigierte die königlichen flämischen Philharmoniker.
Bei unserem nächsten Stück in der SWR2 Musikstunde irrt sich der Komponist, der
eigentlich dachte, er schriebe ein Klavierkonzert – heraus kam aber ein Ballett.
Da fragt man sich doch, wie so etwas passieren kann.
Nach dem bahnbrechenden Erfolg mit dem Ballett „der Feuervogel“ nahm sich
Strawinsky erst einmal eine kleine Auszeit, fuhr in den Urlaub um in aller
Abgeschiedenheit – zunächst in der Bretagne und dann in Lausanne – ein Thema
umzusetzen, das ihn schon bei der Arbeit am Feuervogel eingefallen war:
„Bei dieser Arbeit hatte ich die hartnäckige Vorstellung einer Gliederpuppe, die
plötzlich Leben gewinnt und durch das teuflische Arpeggio ihrer Sprünge die
Geduld des Orchesters so sehr erschöpft, dass es sie mit Fanfaren bedroht.
Daraus entwickelt sich ein schrecklicher Wirrwarr, der auf seinem Höhepunkt mit
dem schmerzlich-klagenden Zusammenbruch des armen Hampelmannes
endet“.
Soweit also die Idee. Die Besetzung stand für Strawinsky auch schon fest: ein Werk
für Klavier und Orchester sollte es werden.
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Und dann stand eines Tages der Ballettimpresario Sergeij Djagilew vor der Tür. Er
wollte wohl nach dem Rechten sehen, nachdem er mit seinem untrügerischen
Talentinstinkt auf Strawinsky gesetzt hatte.
Er sah die Skizzen zu Petrouschka und war sofort überzeugt: das wird ein
Meisterwerk – aber eines, das wiederum von den Ballets Russes getanzt werden
muss!
Auch diesmal täuschte Djagilew sich nicht: nachdem Strawinsky es
balletttauglich um- bzw. fertigkomponiert hatte, wurde es ein riesen Erfolg!
Vermutlich nicht zuletzt deswegen, weil Strawinsky die Fähigkeit besitzt einen mit
nur wenigen Takten in eine völlig eigene Welt zu versetzen: in diesem Fall in das
bunte Treiben auf einem Jahrmarkt.
Musik 3
Igor Strawinsky
Petrushka, erstes Bild: Der Rummelplatz
Ernest Ansermet, L’Orchestre de la Suisse Romande
Decca, LC0171, 443467-2, 028944346725
CD1 Track 1 ab 7:30
Zeit: 2:30
Musik aus Igor Strawinskys Ballett Petruschka, das ursprünglich ein Klavierkonzert
werden sollte. Das war aus dem ersten Bild – der Rummelplatz, gespielt hat das
L’Orchestre de la Suisse Romande, am Pult war Ernest Ansermet.
Noch einen Fall von gescheitertem Solokonzert gibt die Musikgeschichte her:
diese Geschichte ist allerdings sehr viel dramatischer, als die von Strawinsky.
Alban Berg arbeitete an einem Violinkonzert – einer Auftragsarbeit des
amerikanischen Geiger Louis Krasner.
Er hatte keinerlei Vorgaben, aber war auch etwas uninspiriert, was Form und
Gestalt des Konzertes anging.
Die fehlende Inspiration kam durch einen tragischen Todesfall: die 18 jährige
Manon Gropius, zu der Berg ein väterlich-freundschaftliches Verhältnis hatte,
starb an den Folgen der Kinderlähmung.
Manon war die Tochter der femme fatal Wiens: Alma Schindler, besser bekannt
als Alma Mahler-Werfel auch mit Walter Gropius war sie verheiratet, mit
Kokoschka unterhielt sie lediglich eine Liebesbeziehung. Der Vater von Manon
war also Walter Gropius.
Alban Berg und Alma Mahler waren gute Freunde, die regelmäßig Kontakt
hatten und die Beziehung zu Manon ging über „die Tochter einer Freundin“ bei
weitem hinaus. Sie war Berg selbst eine Freundin. Er schätzte ihr Wesen so sehr,
dass er also beschloss, das Violinkonzert ihr zu widmen, ihre Wesenszüge in
musikalische Charaktere umzusetzen.
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Das Ergebnis ist das vielleicht schönste Violinkonzert, das die Neue Musik zu bieten
hat.
Das Konzert besteht aus nur zwei Sätzen: der erste soll die Kindheit Manons und
ihren Charakter nachzeichnen, der zweite Satz ist eine Musik des Sterbens und
der Verklärung.
Angefüllt mit musikalischen Anspielungen ist dieses Violinkonzert eher ein
Requiem als ein Solokonzert. Die zwei Sätze werden zumindest strukturell so auch
nicht eingehalten. Ständige Tempowechsel schaffen eine Reihe kleinerer
Abschnitte, die eben nur unter die beiden thematisch gliedernden Sätze
subsumiert sind.
So kommt beispielsweise ein Kärntener Volkslied im ersten Satz vor, weil Berg
Manon das erste Mal in Kärnten begegnet ist.
Besonders berührend und beeindruckend: seine Adaption von Bachs Choral „es
ist genug, Herr wenn es dir gefällt“ aus der Kantate „oh Ewigkeit, du Donnerwort“.
Berg setzt die Klarinetten hier so, dass sie wie eine etwas verstimmte Orgel in einer
kleinen Dorfkirche klingen.
Doch dieses Werk ist nicht nur ein Requiem für Manon Gropius: es ist zugleich
Alban Bergs letztes vollendetes Stück. Er starb im Dezember des gleichen Jahres –
nämlich 1935
Uraufgeführt wurde Konzert das den Beinamen „dem Andenken eines Engels“
trägt, tatsächlich von Louis Krasner
Hier ein Ausschnitt von dem Requiem, das eigentlich ein Violinkonzert werden
sollte und genau genommen beides geworden ist. Thomas Zehetmair wird vom
Philharmonia Orchestra unter Heinz Holliger begleitet
Musik 4
Alban Berg
Adagio (Ausschnitt)
Heinz Holliger, Philharmonia Orchestra
Thomas Zehetmair
Teldec, LC6019, 0630-19607-2, 706301960721
Track 4 Anfang- ca. 2:30
Ein Ausschnitt aus dem Violinkonzert „dem Andenken eines Engels“ das eigentlich
ein Requiem ist, von Alban Berg.
Heinz Holliger dirigierte das Philhamonia Orchestra, der Solist war Thomas
Zehetmair – Sie hören die SWR2 Musikstunde über musikalische Irrtümer.
Manchmal sehen Menschen nicht richtig hin. Sie nehmen einen Titel wahr und
recherchieren dann nicht weiter.
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Nur so ist es eigentlich zu erklären, dass ausgerechnet der Hochzeitsmarsch aus
Richard Wagners Oper Lohengrin eine der beliebtesten Musiken ist, mit der
Bräute zum Altar geführt werden.
Ja, der Text gibt dazu Anlass zu glauben, diese Musik wäre angemessen: „treulich
geführt, ziehet dahin wo euch der Segen der Liebe bewahr“ ja und auch der
weitere Verlauf des Textes deutet darauf hin, dass es sich um ein Musikstück
handelt, dass praktisch eigens zu diesem Zweck komponiert wurde: die Braut stolz
zum Altar schreiten zu lassen.
Aber schon hier der erste Irrtum: im Lohengrin schreitet die Braut gar nicht zum
Altar, sondern, gemeinsam mit dem fast-Gatten in Richtung Schlafgemach.
Zugegeben, bei Wagner sind die beiden allein, aber im Mittelalter war man an
sich weniger zimperlich: es war durchaus üblich, dass der Hofstaat bei dem
Vollzug der Ehe anwesend war – als Zeugen.
Man möchte meinen, dass dieser Umstand nur den wenigsten Bräuten bekannt
ist, die Wagners Hochzeitsmarsch für den schönsten Tag ihres Lebens wählen.
Und apropos schönster Tag im Leben: ob denjenigen, die sich für eben diesen
Hochzeitsmarsch entscheiden wohl klar ist, dass aus der Ehe mit Elsa und
Lohengrin gar nichts wurde? Oper hat eben in den seltensten Fällen ein Happy
End.
Die Musik ist wie bei Wagner zu vermuten wirkungsvoll und erhaben und zum
huldvollen Schreiten wie gemacht – aber ob man sich zu dieser Musik wirklich
zum Altar bringen lassen möchte, sollte man vielleicht noch mal überdenken.
Musik 5
Richard Wagner
„treulich geführt“, Lohengrin, dritter Aufzug
Daniel Barenboim, Chor der deutschen Staatsoper Berlin/Staatskapelle Berlin
WCJ/Teldec, LC04281, 256467899-4, 825646789948
CD3 Track2
Zeit: 4:11
Daniel Barenboim dirigierte den Chor der deutschen Staatsoper Berlin und seine
Staatskapelle Berlin, gespielt haben Sie den Chor „treulich geführt“ aus Richard
Wagners Oper Lohengrin. Der Hochzeitsmarsch Nr. 1 – was sich eigentlich nur
durch mangelnde Auseinandersetzung mit dem Thema erklären lässt.
Ein anderer echter Gassenhauer der klassischen Literatur stammt von Maurice
Ravel: der Bolero. Sein wohl bekanntestes Stück. Es wäre allerdings falsch
anzunehmen, dass er selbst das Stück ebenfalls für sein gelungenstes hielte.
Während einer Amerika Reise hatte Ravel die Idee: „ein einsätziger Tanz, sehr
langsam und ständig gleich bleibend, was die Melodie, die Harmonik und den
(ununterbrochen von einer Rührtrommel markierten) Rhythmus betrifft. Das
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einzige Element der Abwechslung ist das Crescendo des Orchesters“ – schon das
eine ausgesprochen präzise Beschreibung des etwa 15minütigen Stücks.
Die Tänzerin Ida Rubinstein hatte Ravel schon vor seiner Reise gebeten, ihr ein
„spanisches Ballett“ zu komponieren. Erst wollte Ravel Musik aus Albeniz
Klavierzyklus Iberia instrumentieren, aber dann kam ihm die Idee zum Bolero – der
übrigens erst ein Fandango werden sollte.
Die Uraufführung war ein voller Erfolg. Rubinstein tanzte als einzige Tänzerin in
einem Kreis von 20 Männern – das entsprach durchaus dem Charakter, den
Ravel seinem Bolero zugestand. Er hielt ihn für eine Musico-sexuel.
Als unter donnerndem Applaus eine einzige Frau im Publikum rief „Hilfe, ein
Verrückter!“ soll Ravel zu seinem Sitznachbarn gesagt haben: „Die hat’s kapiert!“
Obwohl Ravel selbst den Bolero als eine Art Experiment betrachtet hat – und zwar
eins, das in eine sehr begrenzte Richtung lief – wurde dieses Stück quasi über
Nacht Ravels Meisterwerk, stellte alle anderen Werke in den Schatten.
Dem Komponist selbst war das nicht geheuer. Nach dem Bolero als seinem
Meisterwerk gefragt, antwortete Ravel in der Regel: Schade nur, dass er
überhaupt keine Musik enthält.
So erging es Ravel übrigens meistens: wann immer eins seiner Stücke sich
besonderer Beliebtheit erfreute, betrachtete er es mit größtem Argwohn! Ein
Phänomen das man bei der „Pavane pour une infante défunte“ oder auch bei
„la valse“ beobachten kann.
Es ist also ein Irrtum anzunehmen, dass der Geschmack von Publikum und
Komponist deckungsgleich ist – oder den Komponisten unweigerlich erfreut,
wenn seine Werke gut ankommen.
Musik 6
Maurice Ravel
Finale Bolero
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg / Sylvain Cambreling
M0235738.001, 2‘45
Sylvain Cambreling am Pult des SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und
Freiburg mit dem Finale aus dem Bolero. Musik von Maurice Ravel – die das
Publikum bis heute feiert und die einen neuen Begriff der „Einfachheit“, des
„Primitiven“ in der Musik geprägt hat, die Ravel eher nicht so gelungen fand.
Ich habe in der SWR2 Musikstunde „Musikalische Irrtürmer“ noch einen
Publikumsliebling für Sie: Gioacchino Rossinis Oper „der Barbier von Sevilla“.
Rossini selbst fand den allerdings durchaus auch gelungen – aber die
Uraufführung war ein derartiger Flopp, dass man nicht damit rechnen konnte,
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dass dieses Stück eines der meist gespielten Werke des Musiktheaters würde –
und zwar schon zu Rossinis Zeit!
Schon die Vorgeschichte ist kurios. Der 23-jährige Rossini unterschrieb am 15.
Dezember 1815 einen Vertrag, dass er zur nächsten Karnevalssaison – also in zwei
Monaten – eine komische Oper komponiere, einstudiere und uraufführe.
Sportlicher Zeitplan. Das Libretto war zur Vertragsunterzeichnung übrigens noch
nicht festgelegt, man würde ihm eines stellen und die Partitur solle bis zum 20.
Januar abgegeben sein, Aufführung wäre dann am 5. Februar 1816.
Sforza-Cesarini, der Impressario des Teatro Argentina in Rom und der
Auftraggeber, hatte selbst Probleme mit der Organisation und der Finanzierung,
was das Chaos noch vergrößerte. Man entschied sich für den ersten Teil der
Figaro-Trilogie von Beaumarchais: der Barbier von Sevilla.
Auch kein kluger Schachzug, denn das Werk war bereits mehrfach vertont
worden – unter anderem von Paisiello, dessen Fassung sich allergrößter
Beliebtheit erfreute.
Rossini ahnte offenbar, in was für eine Situation er sich da begab und schrieb
vorsichtshalber schon einen Entschuldigungsbrief vorab, in dem er Paisellos Werk
über den Klee lobte und seines demütig herabsetzte. Kunststück. Er hatte ja noch
nicht einmal angefangen.
Am 18. Januar BEGINNT Sterbini mit dem Libretto. Es war ohnehin schon knapp –
aber jetzt scheint eine pünktliche Fertigstellung eigentlich unmöglich. Erste Teile
liefert Sterbini am 29. Januar an Rossini, am 6. Februar übergibt der wiederum
den ersten Akt – die Proben sollen am Tag darauf beginnen. Der Impresario
Sforza-Cesarini macht auf tragikomische Art das Chaos perfekt: er stirbt in der
Nacht an einem Herzanfall, ein Nachfolger muss her.
Wie lange Rossini nun wirklich gebraucht hat, um die komplette Oper fertig zu
stellen, kann man nur mutmaßen: irgendwas zwischen acht und vierzehn Tagen.
Was für eine Leistung! Am 20. Februar, also 14 Tage später als geplant, wird der
Barbier von Sevilla uraufgeführt.
Diese Aufführung ist allerdings selbst schon fast eine opera buffa: Claqueure –
vermutlich von Paisiello bestellt oder zumindest Anhänger seiner Musik – zerbuhen
die Aufführung, wann es nur geht. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen: eine
Panne jagt die nächste.
Während der Aufführung stolpert der alte Musiklehrer Don Basilio über die Falltür
und fällt direkt auf’s Gesicht, so dass er blutüberströmt weitersingen muss. Blutend
singt er die Verleumdungsarie – die schon unter normalen Umständen nicht ohne
ist. Immer wieder muss er sich mit einem Taschentuch das Blut abwischen und bei
jedem Mal bricht das Publikum in Pfeifen, Johlen, buhen und Gelächter aus.
Als wäre das noch nicht genug, erscheint plötzlich – unaufgefordert – eine Katze
und spielt mit. Das ohnehin schon völlig aufgestachtelte Publikum bricht in
kollektives Miauen aus.
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Wer die Uraufführung gesehen hat, hat die sicherlich sein Lebtag nicht vergessen
– allerdings wird er auch niemals angenommen haben, dass die Oper später –
genau genommen schon einen Tag später – ein solcher Erfolg werden würde!
Musik 7
Gioacchino Rossini
Verleumdungsarie, der Barbier von Sevilla
Schwedisches Radio-Sinfonieorchester / Paul Daniel
Bryn Terfel
CD2 Track 2
M0251076.012 Zeit: 3:20
Paul Daniel dirigierte das Schwedische Radio-Sinfonieorchester, der Don Basilio
war Bryn Terfel und gesungen hat er die Verleumdungsarie aus Rossinis Oper „der
Barbier von Sevilla“ ein Publikumsliebling mit leichten Startschwierigkeiten. Rossini
gehört und gehörte bekanntlich zu den besonders beliebten Komponisten. Und
so wundert es auch nicht, dass er einen Platz in Saint-Saens „Karneval der Tiere“
bekommen hat. Als: die Fossilien. Denn diese berühmte Komposition von Camille
Saint-Saens für Kinder führt nicht nur Tiere, sondern eigentlich Kollegen vor.
Das Stück für Kammerorchester und zwei Klaviere wirkt wie aus einem Guss –
dabei ist es alles andere als das und es ist auch keines der Werke, auf die SaintSaens besonders stolz gewesen wäre.
Er hat es eher als Freundschaftsdienst aufgeschrieben und arrangiert, für das
Faschingskonzert des Cellisten Charles Lebouc. Einer privaten Aufführung, bei der
Saint-Saens selbst Klavier spielte.
Die Suite war nämlich eine Ansammlung von Stücken die er komponierte,
während er Klavierunterricht gab. Das spricht nicht unbedingt für die Schüler,
dafür aber für Saint-Saens Langeweile und multitasking Fähigkeit. Außerdem hat
er in fast allen diesen Stücken in irgendeiner Weise etliche Kompositionskollegen
parodiert.
Die waren zwar schon alle tot und hätten sich nicht mehr beschweren können,
Saint-Saens war es aber trotzdem peinlich. Wollte nicht, dass man ihn für
überheblich hielt.
Wie gesagt, es war ein Freundschaftsdienst und im Leben wäre er nicht auf die
Idee gekommen, das Stück zu veröffentlichen. Deswegen trägt es auch keine
Opuszahl.
Erst nach seinem Tod wurde das Stück verlegt und erstmals offiziell aufgeführt.
Keiner hat gelacht, niemand hielt ihn für anmaßend, es ist einfach eins der
schönsten Stücke für Kinder und natürlich auch Erwachsene die es gibt.
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Musik 8
Camille Saint-Saens: Aquarium aus Carneval der Tiere
Güher und Süher Pekinel, Klavier
Orchester Orchestre Philharmonique de Radio France
Dirigent Jankowski, Marek
M0404519.012, 2’08
Güher und Süher Pekinel wurden vom Orchestre Philharmonique de Radio
France unter Marek Janowksi begleitet, gespielt haben sie Aquarium aus dem
Karneval der Tiere von Camille Saint-Saens.
In der SWR2 Musikstunde geht es in dieser Woche um musikalische Irrtümer und
Morgen will ich Ihnen zeigen, wie die Musikgeschichte sich in puncto Personen
immer wieder geirrt hat.
Mein Name ist Nele Freudenberger, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.
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