SWR2 DIE BUCHKRITIK

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal.
Hanser Verlag
17,90 Euro
Rezension von Stefan Berkholz
Donnerstag, 25.09.2014 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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SWR2 MANUSKRIPT
Von Stefan Berkholz
Autor:
Jeder Schriftsteller schreibe in Wirklichkeit
nur ein Buch, nörgeln jene, die der
Literatur den Zauber nehmen wollen. Bei
Wilhelm Genazino aber leuchtet die
Behauptung ein. Sein Szenario und seine
Machart, auch seine Figuren sind leicht
wiederzuerkennen: Es sind Gescheiterte
oder solche auf dem Weg dahin,
Tagträumer, Außenseiter.
Zitator:
Ich hatte mir tatsächlich vorgestellt, dass
ich in der akademischen Welt Karriere
machen würde. Über diese Illusion konnte
ich heute kaum sprechen, ohne mich zu
genieren. // Es war möglich, dass meine
akademische Naivität einer der Gründe
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SWR2 MANUSKRIPT
war, warum Sonja mich eines Tages zu
lieben begann. Denn ein so schlichter,
zuweilen fast schon einfältiger Mensch
wie ich musste von einer starken
realistischen Frau geliebt werden, damit
weitere, größere Irrtümer unterblieben.
Autor:
Das ist autobiographisch grundiert, das
zeigt einen Flaneur und Schriftsteller, der
die Skurrilität der Gewöhnlichkeit
schmunzelnd veranschaulicht. Und all das
ist mit zarter Melancholie überzogen,
denn jünger werden nun mal alle nicht.
O-Ton 1,
Genazino:
(0'30)
Die Spur ist gut erkennbar, sagen wir so. Es
ist ebenso viel drin: Heiterkeit, Faulenzerei,
Trödelei, Flaneurtum. (...) Im Grunde sind
die Dinge auch untereinander vernetzt.
Ich glaube nicht, dass es einen Flaneur
gibt, der völlig ohne Melancholie seinen
Job ausüben kann. Flaneure sind Leute,
die im bürgerlichen Leben einen Knicks
abgekriegt haben und den durch
Umhergehen mildern.
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SWR2 MANUSKRIPT
Autor:
Die Hauptfigur ist ein Mann Anfang
vierzig, der partout nicht erwachsen
werden will, jede Bindung scheut,
unentwegt in Kindheitserinnerungen
versinkt und sich durchs Leben treiben
lässt. Er ist promovierter Philosoph, doch
sein Auskommen hat er als Barkeeper und
Redakteur einer Provinzzeitung. Ein
offenes Grab, wie ihm seine Partnerin
Sonja drastisch veranschaulicht. Nur beim
Sex mit ihr ist dieser Antiheld ganz eins mit
sich und der Welt.
Zitator:
Wie so oft lagen wir angenehm zutraulich
miteinander im Bett. Sonja hatte die Beine
geöffnet, was mir immer noch gut gefiel.
Ich genierte mich nicht, ihr mit langen
Blicken die Schenkel entlangzuschauen,
was ich mich nicht jeden Tag traute. Die
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Schamlippen hatten sich ein wenig
geöffnet, als würden sie endlich zu
sprechen anfangen, womit ich insgeheim
rechnete.
Autor:
So wunderlich und heiter geht es bei
Genazino zu. Daneben erfreuen die
Beobachtungen im Park und auf der
Straße, der verlotterte
Junggesellenhaushalt, ein Leben im
Wartestand, die Schrullen dieses
"Modernisierungsverweigerers", wie ihn ein
Kumpel nennt, die Verwunderung über
den Zustand der Welt und der Menschen.
O-Ton 2,
Genazino:
(0'35)
Das ist autobiographisch, diese
Gefühlsregung der Verwunderung. Ich
hab mich tatsächlich sehr häufig
gewundert, eigentlich über alles. Nicht
nur über die Schule, dass es so etwas gibt,
sondern auch über meine Eltern und über
die Zeit. Ich bin '43 geboren. Und ich
habe erst langsam gemerkt, dass kurz
davor ein Weltkrieg zu Ende gegangen
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ist. Und dass meine Eltern mit knapper Not
entkommen sind. Die hätten ebenso gut
tot sein können. Darüber habe ich mich
natürlich auch sehr gewundert.
Autor:
"Meine Uraufführung" nennt er sein
Staunen in den Trümmerlandschaften der
Nachkriegszeit. Fortan leitet ihn ein
allgemeines Wundern, das ihn nicht mehr
loslässt. Daraus macht der Schriftsteller
Literatur. Es ist seine Rettung. Im neuen
Roman ist Wilhelm Genazino düsterer als
sonst, das Älterwerden drückt, die
Langeweile und die Gewöhnung
schmerzen, wehmütig beklagt er allerlei.
Doch auf der letzten Seite kriegt der
Schriftsteller ein Happyend hin, das dann
doch überrascht, viele Leser aber sicher
zufrieden stellen wird. Der Flaneur
Genazino hat uns wieder Blicke auf die
Welt geschenkt, die ungewöhnlich sind
und vor allem sehr genau und
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verlangsamt.
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