Landesinstitut für Schulentwicklung Inhaltsverzeichnis 3.2 Sprachliches Rüstzeug für den sprachsensiblen Fachunterricht: Von Stolpersteinen und Fallstricken……………………………………………………………………...2 3.2.1 Stolpersteine der deutschen Sprache…………………………………………………….5 3.2.1.1 Lautebene…………………………………………………………………………....6 3.2.1.2 Wortebene – Wortbildung……………………………………………………….15 3.2.1.3 Satzebene…………………………………………………………………………..24 3.2.2 Fallstricke der Fachsprache……………………………………………………………….45 3.2.3 Quellen………………………………………………………………………………………...51 1 Landesinstitut für Schulentwicklung 3.2 Sprachliches Rüstzeug für den sprachsensiblen Fachunterricht: Von Stolpersteinen und Fallstricken Allen Schülerinnen und Schülern soll in der Schule gutes Deutsch vermittelt werden. Was heißt das? Sie sollen lernen, die Sprache grammatikalisch richtig und mit dem je nach Kommunikationssituation angemessenen Wortschatz zu benutzen. Ein einsprachig deutsches Kind hat den Erwerb der Grundstrukturen dieser Sprache idealerweise spätestens beim Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe I abgeschlossen.1 Es wird diese Grundlage danach weiter ausdifferenzieren, etwa komplexere Sätze verstehen und produzieren, Fachbegriffe in ihrer Bedeutung und Anwendung kennen und benutzen. Mit steigender Abstraktheit und Komplexität der Unterrichtsinhalte werden auch die Möglichkeiten der sprachlich abstrakteren, fachlich präzisen und letztlich stilistisch differenzierten Darstellung erkannt und angewendet. Es werden also in der Schule Grundstrukturen der Sprache und im weiteren Verlauf differenzierte Strukturen für die Fachsprachen2 als Teil der Bildungssprache erworben. Grundlegende Kompetenzen wie „beschreiben“, „erklären“, „vergleichen“, später „erörtern“ und „analysieren“ haben ihre Struktur, folgen ihrer jeweils eigenen Textlogik und verwenden daher ihren charakteristischen Wortschatz, ihre Funktionswörter und Fachtermini.3 Alle Kinder und Jugendlichen sollten am Ende der Schullaufbahn auf einem angemessenen Niveau am bildungssprachlichen Diskurs teilnehmen können, um ihre weitere Persönlichkeitsbildung betreiben und Ausbildung und Berufsleben meistern zu können. Zunehmend gelingt aber dieser zuletzt genannte Schritt der Beherrschung von Bildungssprache auch bei einsprachig deutschen Kindern und Jugendlichen nicht ohne gezielte Unterstützung. Die Einsprachigkeit gaukelt eine Homogenität der Schülerschaft und ein höheres Niveau der Sprachbeherrschung vor, die es so in der Schulwirklichkeit kaum gibt. Ein erster nützlicher Schritt ist, nicht davon auszugehen, dass Fünftklässler, ob ein- oder mehrsprachig, bereits auf einem erwarteten Niveau Deutsch können, sondern davon, dass sie alle Lerner sind. Daraus folgt, dass sie Fehler machen dürfen, die Lehrkräfte für sie nutzbar machen können. Indem sie z. B. zum Anlass genommen werden, mit Unterstützung die nächste Stufe der 1 vgl. „Meilensteine“ von Tracy (Tracy 2008), S. 77ff., und „Profilstufen“ von Grießhaber (Heilmann 2012), S. 13ff. 2 Fachsprache verstanden als Sprache im Schulfach, die eine Teilmenge der Bildungssprache ist und auch eine große Schnittmenge mit Wissenschaftssprache aufweist. 3 vgl. Feilke (2012), S. 5 2 Landesinstitut für Schulentwicklung Sprachbeherrschung zu erreichen. Kennern der Fremdsprachendidaktik ist das nicht neu, wenn sie sich vielleicht im Zuge einer bilingualen Ausbildung in ihrem Sachfach mit CLIL4 beschäftigt haben. In jeder schulischen Situation findet Sprachlernen sowieso statt, da Inhalte durch Sprache vermittelt werden. Daher liegt es an den Fachlehrkräften, den Unterricht auch dazu zu nutzen, um die Sprachlernsituationen so zu steuern und zu optimieren, dass die Qualität der sprachlichen Unterstützung die Lernenden in ihrem Spracherwerb effektiv weiterbringt. Das heißt nicht, dass Sprachunterricht etwa in Physik im Vordergrund stehen soll, aber die Sprache, die dabei benutzt wird und die die Schülerinnen und Schülern beherrschen sollen, bewusst reflektiert und thematisiert wird.5 Die Lernenden sollen die Chance haben die fachspezifischen sprachlichen Anforderungen zu erfahren, zu verstehen, auszuprobieren und aktiv anzuwenden.6 Eine wichtige Grundlage, um dies möglichst professionell und effektiv zu tun, ist das Wissen um schwierige sprachliche Phänomene, die bei mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern eine große Rolle spielen.7 Das sprachliche Rüstzeug einer Lehrkraft besteht darin, Bescheid zu wissen, wo die Schwierigkeiten von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen liegen können. Das sind zum einen die sogenannten „Stolpersteine“8, strukturelle Besonderheiten der deutschen Sprache, die beim Erwerb für viele Lerner mit einer anderen Erstsprache Hürden darstellen. Ihnen gilt der Schwerpunkt dieses Kapitels. In der Folge dieses Nachholbedarfs grundsätzlicher Art können diese Schülerinnen und Schüler beim rasch zunehmenden Abstraktheitsgrad der Fachsprachen in der Sekundarstufe I nicht auf einem eigentlich erwarteten Sprachniveau aufbauen. Für sie stellen die Fachsprachen deshalb eine besondere Schwierigkeit dar. Natürlich spielt die außerschulische Umgebung eine wichtige Rolle und das bildungssprachliche Register kann auch bei einsprachigen Schülerinnen und Schülern aus 4 i.e. Content and Language Integrated Learning (Coyle, Hood & Marsh (2010). „In der aktiven Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten, Prozessen und Ideen erweitert sich der vorhandene Wortschatz, und es entwickelt sich ein zunehmend differenzierter und bewusster Einsatz von Sprache. Dadurch entstehen Möglichkeiten, Konzepte sowie eigene Wahrnehmungen, Gedanken und Interessen angemessen darzustellen. Solche sprachlichen Fähigkeiten entwickeln sich nicht naturwüchsig auf dem Sockel alltagssprachlicher Kompetenzen, sondern müssen gezielt im naturwissenschaftlichen Unterricht angebahnt und vertieft werden.“ Kernplan für die Gesamtschule – Sekundarstufe I in Nordrhein–Westfalen: Naturwissenschaften Biologie, Chemie, Physik (2011), S. 13. 6 Leisen (2012), S. 60 ff. spricht von einem „CALP-Sprachbad“ – als Immersion nicht als Submersion –, mit dem die Lerner ständig konfrontiert sind, das sie sowohl passiv beobachten und das sie zu Sprachhandlungen anregt und in dem sie „unterstützende[ ] Bedingungen des Fremdsprachenunterrichts" (S. 60) vorfinden. 7 vgl. Tracy (2008), S. 7 8 Unter diesem Begriff von Rösch (2003), S. 213ff., und anderen Bezeichnungen werden solcherlei sprachlichen Phänomene in einigen Publikationen zusammengestellt. Es gibt dort eine große Schnittmenge der sprachlichen Kategorien, die auch hier aufgegriffen und genauer dargestellt werden. 5 3 Landesinstitut für Schulentwicklung einer wenig bildungssprachlichen Umgebung eine Hürde darstellen. Deshalb ist es zum anderen wichtig, sich der besonderen Herausforderungen der Fachsprache bewusst zu sein. Sie werden hier als „Fallstricke“ bezeichnet, weil sie genau das oft sind. Sie können Schülerinnen und Schüler „zu Fall“ bringen, weil an diesem fachsprachlichen Niveau maßgeblich ihr Schulerfolg hängt, vor allem an Gymnasien. Dabei geht es nicht nur um semantische Merkmale von Fachterminologie, sondern auch um spezielle grammatische Strukturen der Fachsprachen. Diesem Thema wird am Ende ein kleineres Kapitel gewidmet, das sich um Phänomene kümmert, die nicht schon bei den Stolpersteinen behandelt werden. Das nachfolgende linguistische Rüstzeug soll es ermöglichen, die Hürden der Lernenden besser zu erkennen, zu beschreiben und dann auch jenseits von vorgefertigtem Sprachfördermaterial, selbstwirksam und eigenständig zu fördern. Man kann beobachten, wo die Schwierigkeiten generell liegen, kann einschätzen, welche Probleme bestimmte Lernende davon aufweisen und dann auf hoffentlich vielfältige Weise individuell und nach Möglichkeiten auf sie eingehen. Bei den ausgewählten Fachtexten kann antizipiert werden, wo Verständnisschwierigkeiten liegen könnten und es bietet sich die Möglichkeit, diese Schwierigkeiten durch Maßnahmen vor dem Lesen, während des Lesens und nach dem Lesen zu entlasten.9 Nützlich ist auch, dass man sich mit ein wenig Hintergrundwissen schneller und treffsicherer mit den Lernenden und mit den Kolleginnen und Kollegen über Beobachtungen und Förderung austauschen kann. Durch die Auseinandersetzung mit den vielen „Stolpersteinen“ und „Fallstricken“ entwickelt sich mit der Zeit ein Gespür nicht etwa für die sprachlichen Schwächen der Kinder und Jugendlichen, sondern viel mehr für deren Stärken. Man beobachtet, je nach Individuum in unterschiedlicher Ausprägung, wie viele von den vielen zu beachtenden Strukturen schon beherrscht werden. Dies festzustellen und auch zu vermitteln ist eine gute Motivation für beide Seiten – Lehrende und Lernende. Zunächst sollten erst eine Zeit lang Schülerinnen und Schüler beobachtet werden. Man kann sich mit ihren Stärken und Schwächen vertraut machen, hier und da freundlich verbessern, bevor konkrete und breiter angelegte Unterstützungsmaßnahmen ergriffen werden. 9 Für Fremdsprachenlehrende nichts Neues: Vorentlasten durch Bildimpulse, daran erarbeiteter Vokabeln, Vokabellisten, Leitfragen, etc. Unterstützung während des Lesens durch Klärung unbekannter Wörter, Identifizierung und Markierung logischer Beziehungen, Formulierung von Zwischenüberschriften, etc. Nachbereitung durch Verständnisfragen, Lückentext, Beantwortung der Leitfragen, etc. 4 Landesinstitut für Schulentwicklung In diesem Beitrag finden sich Anregungen zur Unterstützung in eher allgemeiner Art. Weitere konkrete Beispiele für Sprachförderung bzw. Sprachsensibilität im Fach kann man in den Kapiteln 4.1 - 4.5 dieser Handreichung kennen lernen und auch den Publikationen im Literaturverzeichnis entnehmen. Dies ist eine Handreichung für die Sekundarstufe I aller allgemeinbildenden Schularten und für alle Fächer. Sie richtet sich auch an Deutschkolleginnen und -kollegen, die noch nicht mit den Herausforderungen des Zweitspracherwerbs vertraut sind. Dementsprechend werden hier Lehrkräfte angesprochen, die es mit ganz unterschiedlichen Graden von Sprachförderung zu tun haben. Es werden sowohl sprachliche Phänomene angesprochen, die für Schülerinnen und Schülern mit relativ kurzem Sprachkontakt gültig sind, als auch solche, die längerfristig, je nach Lernbiografie, Thema bleiben. Auch die sprachliche Vorbildung, und wie präsent diese noch ist, wird erwartungsgemäß unterschiedlich ausfallen. Hier findet man die am häufigsten betroffenen sprachlichen Phänomene in einem Fließtext mit Beispielen und deren Erläuterungen besprochen, als Ergänzung zur tabellarischen Darstellung in der Handreichung. 3.2.1 Stolpersteine der deutschen Sprache Stolpersteine einer Sprache, hier des Deutschen, sind sprachliche Besonderheiten, die im Fremd– und Zweitspracherwerb schwierig sind, häufig zu Fehlern führen und somit der verstärkten Thematisierung und Übung im Unterricht bedürfen. Es handelt sich dabei hauptsächlich um Phänomene, die in den Erstsprachen anders strukturiert oder gar nicht vorhanden sind, z. B. die Zuordnung von Genera und der Gebrauch von Artikeln: dt. der Mond (maskulin) gr. το φεγγάρι (neutral) slo. luna (feminin) Wo ein Genus schon fest in der Erstprache zugeordnet ist, ist es auch nicht leicht, dieses durch ein anderes in der Zweitsprache zu ersetzen. Würde man die Lernenden bei den besonderen Herausforderungen des Deutschen nicht gezielt unterstützen, würden sich je nach Erstsprache typische Fehler im Deutschen einschleichen und auch bleiben. In der Folge sind die Themen geordnet nach: 1. Lautebene 2. Wortebene 3. Satzebene 5 Landesinstitut für Schulentwicklung 3.2.1.1 Lautebene Laut-Buchstaben-Zuordnung Hier geht es besonders darum, dass Lernende, die mit einer anderen Erstsprache aufgewachsen sind, zunächst ein anderes Lautrepertoire besitzen, mit dem sie hören und das sich vom deutschen unterscheidet. Sie verfügen eventuell auch über ein anderes Zeichenrepertoire, mit dem sie die Laute aufschreiben, wenn sie ihre Erstsprache auch zu schreiben gelernt haben: [t∫] wird im Deutschen <tsch>, in anderen Sprachen z. B.. <č> oder <tch> geschrieben. Sieht ein slowenischer Deutschlerner ein <l> am Ende eines deutschen Wortes, ist er versucht wie in seiner Erstprache [u] bzw. [ł] zu sprechen, liest er im Deutschen ein <h>, artikuliert er gemäß seiner Gewohnheit ein [χ]. Lernende müssen einerseits Laute dazulernen. Bestimmte lautliche Qualitäten ihrer Erstsprache spielen andererseits keine Rolle mehr, interferieren aber unter Umständen mit der Zweitsprache. Vor allen Dingen aber müssen sie deutsche Laut-Buchstaben-Zuordnungen kennen lernen und einüben. Englischsprachige Deutschlernende beschweren sich bei diesem Thema kaum, da die Entsprechung von Laut und Buchstabe in ihrer Sprache noch willkürlicher ist als im Deutschen. Im Türkischen und in den meisten romanischen Sprachen schreibt man allerdings sehr viel zuverlässiger nach dem Gehörten. Deshalb kann für Mehrsprachige bei der Laut-BuchstabenZuordnung die schriftliche Repräsentation der Laute im Deutschen problematisch sein. Zum einen besitzt die deutsche Phonetik weitaus mehr Vokale als das Buchstabenrepertoire darstellen kann. So können unterschiedliche Laute wie [e], [e:], [ɛ], [ə], [ɐ] alle durch <e> (bzw. <er>) dargestellt werden: heben [he:bən]; Kerze [kɛrtsə]; Kelle [kelə]; Kellner [kɛlnɐ]. Mehrere Laute können sich im Deutschen somit in der Darstellung einer geringeren Anzahl schriftlicher Zeichen zeigen. Bei <kerze> hört man bei schriftsprachlicher Aussprache das [ɛ], das auch oft durch <ä> realisiert wird: Somit gibt es umgekehrt auch für ein und dasselbe Phonem [ɛ] zwei Grapheme, nämlich <e> und <ä>. Das macht die Rechtschreibung nach Gehör schwierig. Bei noch kleinem Wortschatz 6 Landesinstitut für Schulentwicklung können auch keine Ableitungen von verwandten Wörtern erfolgen, weil diese eventuell noch nicht bekannt sind. Dass Kerze nicht mit <ä> geschrieben wird, weil es keine Ableitung mit <a> dazu gibt, etwa *Karze, *karzen, kann nur erfolgreich erkannt werden, wenn das mentale Lexikon eines Lernenden schon über so viele Einträge verfügt, dass das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines solchen abgeleiteten Wortes dort abgefragt werden kann. Somit ist es für eine gelungene Laut-Buchstaben-Zuordnung von <ä/e> und auch <äu/eu> sinnvoll, dass verwandte Wörter zusammen gelernt und Wortfamilien angelegt werden: Abbildung 1: Wortfamilie "ziehen" Da Umlaute gerne im Plural eines Nomens vorkommen, sollte man bei Vokabelangaben neben dem Genus auch die Pluralform angeben oder zumindest ein verwandtes Wort, das den Umlaut aufweist. Mit geringerem Aufwand kann somit effektiv der Wortschatz vergrößert werden und die Rechtschreibstrategie des Ableitens10 zunehmend erfolgreich angewendet wird. Ein weiteres 10 Ableiten: Wird ein Wort mit <ä/äu/ö/ü> geschrieben, lässt es sich meist von einem verwandten Wort mit <a/au> ableiten: Hähne von Hahn, Bäume von Baum, Höhe von hoch, Kühe von Kuh, u. s. w. Ableiten, Silbenschwingen und Verlängern oder Weiterschwingen sind Strategien aus der „Freiburger Rechtschreibschule“ (FRESCH, entwickelt für Kinder mit LRS von Günter Renk und 7 Landesinstitut für Schulentwicklung Problem besteht darin, dass zwischen der lautlichen und graphemischen Ebene in manchen Fällen kaum Verbindungen bestehen, wie z. B. bei Reduktionssilben, die in der Schreibung Buchstaben enthalten, die gar nicht gesprochen werden, bzw. so schwach gesprochen werden, dass sie ein Lernender nicht hört und somit auch nicht oder falsch schreibt. [fli:gn] <fliegn> oder <flign> anstatt <fliegen>, [hama] <Hamma> oder <Hama> anstatt <Hammer> Der Doppellaut [ɔy], müsste <oi> geschrieben werden, wenn man der Phonetik genau folgte, stattdessen realisiert das Deutsche <eu> oder <äu>. Dementsprechend ist die Laut-Buchstaben-Zuordnung erfahrungsgemäß nicht nur für Lernende des Deutschen schwierig, sondern auch für Erstsprachler. Dialektale Einflüsse können den Erwerbsprozess der Laut- bzw. der Laut-Buchstaben-Zuordnung hierbei noch enorm erschweren.11 Dadurch wird klar, welch große Bedeutung das an der Schriftsprache orientierte Aussprache-Vorbild der Lehrkraft hat und auch die Thematisierung von Abweichungen von einer eindeutigen Zuordnung von Laut und Buchstabe. Wenn man mehrsprachige Kinder in der Klasse hat, hilft man diesen sehr, wenn nicht nur diese in ihrer Aussprache verbessert und zu lautem und deutlichem Sprechen angehalten werden, sondern auch die einsprachigen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden. Keinesfalls sollte aufgrund eines falsch verstandenen Diskriminierungsverdachtes die angemessene Verbesserung mehrsprachiger Schülerinnen und Schülern unterlassen werden, genauso wenig wie bei einsprachigen. Die eigentliche Diskriminierung läge darin, den zu fördernden Jugendlichen die Förderung vorzuenthalten, indem man die Richtigstellung der Aussprache, der Vokabel oder der Satzstellung unterließe. Bedeutungsunterschiede durch gespannte und ungespannte Vokale Ist bei den vorherigen phonetischen Beispielen und ihren graphemischen Umsetzungen eventuell „nur“ die Rechtschreibung betroffen, wird bei Fehlern auf der Lautebene das Verständnis jedoch beeinträchtigt, wenn bedeutungstragende Merkmale betroffen sind und somit ein anderes Wort verstanden wird oder produziert wird als beabsichtigt. Sehr wichtige lautliche Merkmale sind hierbei im Deutschen Länge und Kürze von Vokalen: Sonja: „Man hat gefunden ein /höllenbär/.“12 Heide Buschmann) und tauchen mit diesen oder ähnlichen Begriffen inzwischen in vielen Deutschschulbüchern auf. 11 Paul: „Zu Wainnachten wünsche ich mir ein Feat.“ 12 In dem verwendeten Sprachmaterial von Schülerinnen und Schülern befinden sich oft noch weitere Fehler als die an einer Stelle in den Fokus genommenen. Das authentische, meist 8 Landesinstitut für Schulentwicklung Sonja spricht das [ø] kurz und geschlossen statt lang und geschlossen.13 Das deutsche Ohr hört deshalb Hölle, obwohl sie Höhle meint. Ihre Antwort wird missverständlich. Die Kommunikation kann in diesem Fall misslingen, wenn man nicht durch den Kontext weiß, dass es sich um Geschichts- und nicht um eine seltsame Form des Religionsunterrichts handelt. Und das ist dann der Fall, wenn Sonja die Aussage in der Folge falsch schreibt und der Zusammenhang aufgrund des Fehlens des unmittelbaren Kontextes nicht mehr vorhanden ist. Sonja muss den Unterschied zwischen kurzen, ungespannten und langen, gespannten Vokalen noch lernen zu hören, um ihn dann auch richtig reproduzieren und schreiben zu können. Deshalb muss auch das hörende Erkennen von lautlichen Merkmalen bewusst gemacht, gelernt und geübt werden (phonologische Bewusstheit). Eine sprachsensibel unterrichtende Lehrkraft würde Sonja hier verbessern, sie nachsprechen lassen und ihr vielleicht noch andere Beispiele von Bedeutungsunterschieden durch kurze, ungespannte und lange, gespannte Vokale anbieten, die sich Sonja dann in ihr Sprachtagebuch14 aufschreibt. Dadurch wird Sonjas Aufmerksamkeit auf diesen Stolperstein gelenkt und ihr Sprachbewusstsein geschult. Wenn man die genaue lautliche Umsetzung nicht beachtet, entstehen Wörter mit anderen Bedeutungen. Ein Text wird somit inhaltlich falsch gehört oder es werden Wörter mit den falschen Graphemen und somit mit der falschen Bedeutung aufgeschrieben, die u. U. inhaltlich richtig verstanden worden sind, was man z. B. den folgenden Minimalpaaren sehen kann: verbieten – verbitten: Höhle – Hölle: lasen – lassen ihm – im Haken – Hacken den – denn Hüte – Hütte „Das Gesetz verbitet das Duel.“ (verbietet das Duell) „Man hat gefunden Höllenbär.“ (Man hat einen Höhlenbären gefunden.) „Sie lasen das Foier.“ (Sie lassen das Feuer brennen.) „Er holt im 20 kg Holtz.“ (ihm) „Zuerst muss man ein Hacken in die Wand machen.“ (einen Haken) „..., den es hat vier gleiche Seiten.“ (denn es hat vier gleiche Seiten) „... Hüte aus Lem und Stroh.“ (Hütte aus Lehm und Stroh) schriftliche Material wurde nicht verbessert. Wenn zu einem Phänomen kein Material vorlag, wurden zum Teil Beispiele konstruiert. Sie stehen dann zwar auch abgesetzt, aber nicht in Anführungszeichen. Hier und an einigen anderen Stellen handelt es sich um eine aus dem Gedächtnis notierte mündliche Aussage. 13 Die lautlichen Merkmale „geschlossen“ und „offen“ (auch „gespannt“ und „ungespannt“) haben an sich keine bedeutungstragende Funktion, gehen jedoch mit Kürze und Länge einher. Lange Vokale sind geschlossen und kurze offen. [a] weißt jedoch ausschließlich die offene Variante auf. 14 Das Führen eines solchen Tagebuchs erfordert ein hohes Maß an Disziplin vom Lerner und benötigt deshalb der Ermunterung und Einforderung durch mehrere Lehrkräfte. Diese sollten gelegentlich im Vorbeigehen die Notizen anschauen und gegebenenfalls korrigieren. 9 Landesinstitut für Schulentwicklung Eine Folge des kurzen, ungespannten Vokals ist die Schärfung des nachfolgenden Konsonanten in der Schreibung. Eine Folge des langen, gespannten Vokals ist häufig das Dehnungs-h, die Vokalverdoppelung oder das Dehnungs-e beim /i/-Laut. Wenn man aber als Lernender den Unterschied zwischen kurz und lang, offen und geschlossen (noch) nicht hört, dann erfolgt auch keine Markierung der sich anschließenden Schärfung oder Dehnung. Bei der Aneignung dieser Phänomene kann es eventuell zur falschen Zuordnung und Überverwendung von Schärfungs- oder von Dehnungszeichen kommen, wenn Schärfung und Dehnung als Phänomen bekannt sind, aber noch nicht sicher erkannt wird, ob ein Vokal kurz oder lang gesprochen wird. Die Schärfung von Konsonanten und Dehnungszeichen kommt in vielen Sprachen nicht vor, weil eben Länge und Kürze dort keine bedeutungsunterscheidende Rolle spielen oder weil sie anders angezeigt werden. Folglich muss auf Aussprache sehr viel Wert gelegt werden. Nur wenn ein Wort richtig ausgesprochen wird, können auch altbekannte Regeln für die Rechtschreibung angewendet werden, z. B. nachfolgende Schärfung der Konsonanten bei kurzen Vokalen oder Dehnungszeichen bei langen Vokalen. Auch die Rechtschreibstrategien des Silbenschwingens15, mit der Doppelkonsonanten gut erkannt werden können, macht erst Sinn, wenn diese auch gehört und gesprochen werden. Auch beim lauten Vorlesen kann geübt werden: „Wenn du einen Doppelkonsonanten siehst, dann musst du den Vokal davor kurz und offen sprechen.“ Exkurs zur Orthografie: Silbenanalyse16 Die frühe Einbeziehung von mehrsprachigen Lernenden in die Reflexion der Orthografie, z. B. durch Rechtschreibgespräche, kann gewinnbringend für den Erwerb der Standardlautung, für die Erweiterung des Wortschatzes durch die Ableitungen und generell für den Einblick in strukturelle Eigenschaften des Deutschen eingesetzt werden. Auch umgekehrt sollte mit/nach der Betrachtung von grammatikalischen Phänomenen, wenn es sich anbietet, die Schreibung thematisiert werden. Durch die Analyse sogenannter prototypischer (vorbildlich für weitere verwandte Wortformen), trochäischer (betont auf der ersten Silbe) Zweisilber lassen sich Voraussagen zur Realisierung der Konsonanten treffen, die auf einem tieferen Verständnis von Regelhaftigkeit fußen, als die oben genannten verallgemeinernden Merksätze. Dazu müssen bei einem orthografischen Zweifelsfall solche Formen abgeleitet werden. Bei den Verben bietet sich die Ableitung nach dem Infinitiv, bei 15 Silbenschwingen: Die Wörter werden mit oder ohne rhythmisch schwingende Körperbewegungen in Silben gesprochen: Pol – len – flug, Ra – sen – mä – her, u. s. w. 16 vgl. Müller (2014) und Ossner (2010), S. 64-135 10 Landesinstitut für Schulentwicklung Nomen meist dem Genitiv im Singular oder auch dem Nominativ Plural, bei Adjektiven dem Komparativ an. Komposita werden auseinandergeschnitten und einzeln abgeleitet. <dret>: Zweifel bei <e> prototypischer, trochäischer Zweisilber: dre-hen (dann mit hörbarem, silbeninitialem h, nicht Dehnungs-h!) <Es gefelt mir>: Zweifel bei <e> und bei <l> prototypischer, trochäischer Zweisilber: fallen (ge- als Präfix wird abgeschnitten) <Hannt>: Zweifel bei <nn> und <t> prototypischer, trochäischer Zweisilber: Hände (Genitiv Singular ist nicht produktiv) Es gilt: betonte Silbe A Bei kurzen Vokalphonemen wird die betonte Silbe mit einem Konsonantengraphem geschlossen. Rat-te, Schnit-zel, Fac-kel, käl-ter, Ker-ze, Schnip-sel, B Bei langen Vokalphonemen ist die betonte Silbe nicht mit einem Konsonantengraphem geschlossen, somit ist eine solche Silbe offen. Reduktionssilbe Se-gen, kau-fen, bie-gen, ste-hen C Die Reduktionssilbe besitzt immer das Vokalphonem [ə] (Graphem <e>). Der Anfangsrand ist immer durch ein Konsonantgraphem besetzt. (Ausnahme: wenn in der betonten Silbe ein Diphthong steht, muss das nicht zutreffen, dann ist aber auch kein Konsonant hörbar) Rat-te, Schnit-zel, bie-gen, ABER: bau-en, schlau-er A + C zwei Konsonanten, Silbengelenk möglich die betonte, kurze Silbe schließt mit einem Konsonanten (A) die Reduktionssilbe beginnt mit einem Konsonanten (C) sichtbar durch zwei Konsonanten oder Doppelkonsonanten (Silbengelenk: wenn die betonte Silbe mit dem gleichen Konsonanten endet wie der, der die Reduktionssilbe einleitet), bzw. ck (Hörbar ist aber nur ein Konsonant, weshalb reines Silbenschwingen ohne Hintergrund der Silbenanalyse auch bei vielen Lernern nicht fruchtet.) B + C ein Konsonant die betonte, lange Silbe hat keinen Konsonanten am Endrand (B) 11 Landesinstitut für Schulentwicklung die Reduktionssilbe beginnt mit einem Konsonanten (C) sichtbar an einem einzelnen Konsonanten Betonte Silben, die dennoch mit einem Konsonanten schließen, sind selten (z. B. Mon-de, Mun-des, Wüs-te, pus-ten). Die Eigenschaften des prototypischen Zweisilbers werden an die verwandten Formen „vererbt“, weshalb zur Überprüfung der Rechtschreibung der prototypische Zweisilber (häufig sog. Grundformen wie Infinitive und Nominative, aber auch zu Silben erweiterte einsilbige Grundformen) gebildet werden muss. kalt – käl-ter (A + C) fällt – fäl-len (A + C, Silbengelenk wird „vererbt“) ACHTUNG: (nicht „fällte“ bilden, keine prototypische Form) Konsonantenhäufungen: „Schtonk!“ „Ich habe die Pein, die ein deutscher Dichter leidet, wenn er in allen Fächern seines Gedächtnisses vergeblich nach einem Worte sucht, welches gerade das, was er sagen will, sage und dabei nicht durch irgend ein leidiges »schr« oder »ch« oder ein dreifaches Übergewicht harter Konsonanten den schönen Gegenstand, den es bezeichnen, oder die Stelle, wo es Effekt machen soll, verunziere – zu oft erfahren, als daß ich einen kleinen Unmut über das Rauhe, Wiehernde und Unsingbare unsrer Sprache übel nehmen könnte.“ (Christoph Martin Wieland)17 Sicherlich werden viele heutige, nicht nur deutschlernende, Leserinnen und Leser nicht nur das Problem der Konsonantenhäufungen in Wielands Zitat sehen, sondern auch das der sehr komplizierten Syntax, deren das Deutsche fähig ist. Konsonantenhäufungen sind sehr typisch für die deutsche Sprache und kommen in wenigen anderen Sprachen so ausgeprägt vor. Im Film „Der große Diktator“18 mit Charlie Chaplin wird das aufgegriffen. Es ist genau diese Eigenschaft der deutschen „Schnitzel- und Sauerkrautwörter“, worüber sich die ganze Welt lustig macht. Mit diesem Phänomen der Konsonantencluster wird die Kollokation von Konsonanten innerhalb einer Silbe bezeichnet, die nicht von einem Vokal unterbrochen wird. Gerade Schülerinnen und Schüler aus Sprachen, in deren einzelnen Silben Konsonanten und Vokale meist abwechseln, wie das Türkische oder Italienische, die also sehr vokalisch geprägt sind, setzen im Erwerbsprozess gerne Sprossvokale ein, damit für sie das deutsche Wort zunächst aussprechbar wird. Das schlägt 17 18 Wieland, C. M. (1782): Sendschreiben an einen jungen Dichter. Chaplin C. (Prod.)/United Artists: The Great Dictator, USA 1940 12 Landesinstitut für Schulentwicklung sich teilweise in einer erschwerten Verständlichkeit ihrer Rede, aber auch in der Orthographie nieder: [ʃı’vi:rık] <schiwierig> anstatt schwierig [kəraηκən’ha:us] <Kerankenhaus> anstatt Krankenhaus [’hɛrıbıst] <Heribist> anstatt Herbst Konsonantenhäufungen sind im Deutschen nicht beliebig. Es tauchen immer wieder dieselben Lautmit denselben Buchstabenkombinationen geschrieben auf. Somit kann die Schreibung dieser für Schülerinnen und Schüler gerne unübersichtlichen Lautcluster relativ gut gelernt werden: [ʃport] wird nie *Schport geschrieben, weil es diese graphemische Realisierung im Deutschen nicht gibt. Konsonantenhäufungen können in einer Silbe im Anlaut oder im Auslaut stehen, manchmal auch in einer Silbe an beiden Stellen, z. B. plumpst oder Schnaps. Einige Cluster kommen nur im Anlaut vor, andere nur im Auslaut, wenige an beiden Stellen. Hier werden die Grapheme dargestellt (ergänzend bei <sp> und <st> auch die Phoneme, weil sie von der Schreibung abweichen): Silbenanlaut bl Blatt br Brei dr drehen fl flicken fr frei gl gleich gn gnädig gr Grube kl klein kn Knoten kr Kreis pf Pfanne pfl pflanzen pl pr schl schm schn schr schw sp [ʃp] spl [ʃpl] spr [ʃpr] st [ʃt] str [ʃtr] tr Platte protzen schlagen schmettern Schnabel schreiben Schwester Sport Splitter Spruch stehen Strauch Traube Silbenauslaut chs Flachs chst lachst cht nicht, Nacht cks Klecks ckst leckst gs Bergs gt erübrigt ks Keks lb halb lk Schalk md fremd mp Lump mpf Kampf mpst plumpst mt klemmt nd fand nf Senf 13 nft ngs ngst nk ns,nz nsch nt pf pft ps pst rn rsch rst scht st ts sanft rings längst sank Gans, Prinz Mensch entspannt hüpf gerupft Schnaps schnappst hämmern Hirsch Wurst überrascht Rost Arbeits|amt Landesinstitut für Schulentwicklung Andere Konsonantenkombinationen kommen in deutschen Wörtern nie in einer Silbe zusammen vor, z. B. <pn> oder <sn>, sehr wohl aber in Fremd- und Lehnwörtern: Pneu oder Snack. Man spricht nicht von Konsonantenhäufung, wenn das Zusammentreffen dieser Laute über Silbengrenze hinweggeht. Das ist aber für Lernende des Deutschen nicht immer gut erkennbar. Dabei hilft die Silbenanalyse (s. o.), wenn man Wörter mit Konsonantenhäufungen am Wortende verlängert, fallen sie häufig auf verschiedene Silben und das Wort wird überschaubarer. Bei neuen Vokabeln mit diesem oder vermeintlich diesem Phänomen sind somit Angaben zu Silben- und Wortgrenzen sinnvoll. Manchmal können Silben- und Wortgrenzen Ordnung in das „Wiehernde und Unsingbare“ (Wieland, ebd.) dieser Cluster bringen, indem sie sie verschiedenen Silben oder Wortbestandteilen innerhalb eines Wortes zuordnen. der Ham|mer|schlag, die Wort|be|stand|teile Initialbetonung Herrscht im Deutschen meist die Initialbetonung (Betonung auf der ersten Silbe) vor, sind es in anderen Sprachen z. B. die zweite oder etwa die vorletzte Silbe. Eine falsche Betonung macht einen gesprochenen Text schwer verständlich, auch wenn alle sonstigen Regeln eingehalten werden. Wenn man einen Text laut vorliest, bei dem immer die zweite Silbe betont wird, mag es sich sehr sexy und französisch anhören, aber die Zuhörerinnen und Zuhörer werden Mühe haben inhaltlich folgen zu können: Liebling! Achtung! Streikende auf der anderen Straßenseite! Sie werfen mit Blumentopferde und drücken den Ministern Schnellhefter in die Hände. Doch es ist nicht nur die Verständlichkeit, die leidet, wenn falsch betont wird. Wie im – zwar etwas konstruierten – Beispiel zuvor gesehen, kann auch die Bedeutung betroffen sein. Je nach Betonung sieht das Paar auf der anderen Straßenseite streikende Personen oder das Ende eines Streiks. Die berühmten „Blumentopferde“ entstehen auch durch falsche Betonung und durch falsch gesetzte Wortgrenzen. Das Fremdwort „Ministern“, das auf der zweiten Silbe und eben nicht auf der ersten Silbe betont wird, gelingt hier, gerät bei Initialbetonung aber zu sehr kleinen Sternen. Und bei falscher Betonung drücken die Streikenden den Politikern schnell Hefter in die Hände statt Schnellhefter. 14 Landesinstitut für Schulentwicklung In einem alltäglicheren Beispiel, das auch in der Schule so vorkommen kann, wird deutlich, dass Betonung bedeutungstragend ist und mit einer richtigen Betonung auch die Rechtschreibung besser gelingt: Wir müssen die Puzzleteile zusammensuchen. (Kompositum) Der Dieb wurde freigesprochen. (Kompositum) Wir müssen die Puzzleteile zusammen suchen. (Wortgruppe) Während des Vortrags hat sie frei gesprochen. (Wortgruppe) Im ersten Fall ist „zusammensuchen“ im Sinne von „etwas Verstreutes einsammeln“ gemeint und die Betonung liegt auf dem ersten Wortteil des Kompositums, der verbale Bestandteil erhält keine weitere Betonung. Als zusammengesetztes Wort erhält es eine andere Bedeutung als die einzelnen Wörter und es wird dementsprechend zusammengeschrieben.19 Im zweiten Satz geht es um „gemeinsames Suchen“. Die Betonung liegt auf beiden Teilen der Wortgruppe gleich stark. Es handelt ich um eine Wortgruppe, die demgemäß auch getrennt geschrieben20 wird. Die Orthografie steht in diesem Kapitel aber nicht im Vordergrund. Ein weiteres prosodisches Element ist die Satzmelodie bestimmter Satztypen. Beim normalen schriftsprachlichen Aussagesatz fällt die Satzmelodie im Deutschen zum Ende ab, im Französischen und Türkischen z. B. nicht. Bei der Frage geht sie im Deutschen nach oben. Hält man die festgelegte Satzmelodie nicht ein, entsteht u. U. der Eindruck der Sprecher frage, anstatt festzustellen. 3.2.1.2 Wortebene – Wortbildung Auf der Ebene des einzelnen Wortes gibt es hauptsächlich folgende Schwierigkeiten, die einsprachigen Lehrkräften häufig nicht bewusst sind: Im Allgemeinen ist der im Deutschen sehr fruchtbare Wortbildungsmechanismus der zahllosen Präfixe und Suffixe für Lernende unübersichtlich und verwirrend. Im Speziellen sind die Komposita sowohl wegen ihrer Kompositionsregeln aufgrund ihrer Unregelmäßigkeiten als auch auf der Bedeutungsebene oft Hindernisse beim Verstehen von Texten. Diese sprachlichen Phänomene reflektiert man selbst nie und sie sind auch kein Bestandteil eines herkömmlichen Grammatikunterrichts. 19 20 zusammen gesetzt = gemeinsam gesetzt; zusammen geschrieben = gemeinsam geschrieben getrennt schreiben wird getrennt geschrieben 15 Landesinstitut für Schulentwicklung Wortbildung durch Affixe: allgemein Wenn man die Wortbildung durch Affixe beherrscht, ist schon ein großer Schritt in Richtung eines differenzierten Sprachgebrauchs getan. Man kann einen Wortstamm mit ihrer Hilfe in eine Vielzahl von Wörtern verwandeln und in andere Wortarten überführen. Die Veränderungen bewirken semantisch alles von der Bedeutungsnuance bis hin zum fundamentalen Bedeutungsunterschied: Zwischen Reinfall und Einfall besteht ein großer Bedeutungsunterschied. Zwischen Zufall und Zufälligkeit besteht ein kleiner Bedeutungsunterschied. Die Vielzahl an Möglichkeiten der Verwendung solcher Wortbildungsmorpheme, die dazu zur Verfügung stehen und die man in ihrer Funktion nicht immer eindeutig einer Bedeutung zuordnen kann, sind ein echtes Hindernis. Es handelt sich hauptsächlich um Präfixe (vorangestellt) und Suffixe (angehängt). Präfixe (Verben) echte Präfixe: sind fest mit dem Verbstamm verbunden Be-, er-, hinter-, ver-, zer-, über- (unbetont), unter- (unbetont), ge- (bei Partizip) Partikel: ergibt im Satzzusammenhang u. U. trennbare Verben Ab-, an-, auf-, aus-, bei-, dar-, ein-, hin-, nach-, nieder-, um-, vor-, weg-, wider-, zu-, zusammen-, über(betont), unter(betont) Suffixe Nomen Adjektiv -lich, -isch, -ig, -bar, -er, -heit -keit, -in, -lein, -sam -ler, -ling, -ner, -nis, -sal, -schaft, -sel, -tel, -tum, -ung -chen, -de, -e, -ei, -el, Wortbildung durch Affixe: Verben Ist bei Präfixen, die selbst eine eigenständige Bedeutung z. B. als Präposition oder Partikel haben, die Bedeutung eines solcherart ergänzten Verbs meist noch gut nachvollziehbar: einholen, abholen, wegholen, u. s. w., wird dies bei echten Präfixen wie er- schon schwieriger, weil sie nicht alleine verwendet werden können und somit nicht aus anderen Kontexten heraus in ihrer Funktion verstanden und eingeübt werden können. Es ist nicht so, dass sie keine Bedeutung hätten. Diese ist aber nicht gut zu zeigen oder zu erklären, z. B. erholen. Dazu kommt noch, dass diese Art der Wortbildung häufig zu Mehrdeutigkeiten führt, wo man doch eigentlich erwartet, dass mit der Verwendung einer spezifizierenden Ergänzung Eindeutigkeit erzielt werden kann. Beispiel: aussetzen 16 Landesinstitut für Schulentwicklung Sie setzten das Kätzchen an der Raststätte aus. Die Verhandlungen wurden ausgesetzt. Wir setzen ein Preisgeld in Höhe von 10.000 € aus. Sie hat immer etwas auszusetzen. Er setzte ihn schutzlos der Kälte aus. Was immer als erstes und sicher verstanden wird, ist der Stamm, also „setzen“ oder „holen“. Welche Art von „setzen“ oder „holen“ bei dem neuentstandenen Derivat gemeint ist und dass das entstandene Verb vielleicht kaum mehr mit dem ursprünglichen, einfachen Verb aus dem Grundwortschatz zu tun hat, ist je nach Affix schon schwieriger auszumachen und führt zu Missverständnissen. Beispiel: überholen Das Auto wird überholt. a) Es wird überprüft und gegebenenfalls repariert. b) Ein schneller fahrendes Fahrzeug setzt an ihm vorbei. Noch verwirrender sind Verben wie „aberkennen“ und „verunzieren“. Sie sind mit ihrer Zweifachausstattung an Präfixen auch unübersichtlicher. Sie können von Lernern zum Teil erst verstanden werden, wenn sie vorher kurz analysiert wurden und sie erkennen, dass es sich um Kombinationen von echten und Partikel-Präfixen handelt. Die abtrennbare Partikel steht am Anfang, das fest mit dem Verb verwachsene echte Präfix folgt. „Verunglimpfen“ und „veruntreuen“ gaukeln eine Basis „glimpfen“ und „treuen“ vor, die es ohne die Präfixe schon gar nicht mehr gibt. Jens: „Er musste jeden Toten übersetzen.“ Ayla: „Was übersetzt er denn dabei? Seinen Namen?“ Hier spielt wieder die Betonung eine Rolle deren bedeutungsunterscheidende Rolle Ayla aber (noch) nicht klar ist. Sie betont zwar richtig, ist sich aber nicht bewusst, dass trotz gleichem Präfix eine andere Betonung auch eine veränderte Wortbedeutung mit sich bringen kann. Das muss ihr in dieser Situation erklärt werden, indem umschrieben oder auch ein Synonym gegeben wird. Das ist für Ayla eine wichtige Sprachlernsituation, die eine Lehrkraft erkennen und in der sie dafür sorgen muss, dass die Schülerin einen nachhaltigen Lerneffekt hat. Aylas Missverständnis zeigt übrigens auch ihre Kreativität im Verstehen. Sie bastelt sich sofort einen Sinn zurecht, der ihr zwar komisch vorkommt, der aber auch zeigt, dass sie versucht das Verstandene sinnvoll in das bereits 17 Landesinstitut für Schulentwicklung vorhandene Wissen zu integrieren. Das ist ein Segen, aber häufig auch ein Fluch, denn wie oft wird einfach falsch – wenn auch kreativ – verstanden, ohne dass nachgefragt wird? Manche seltsame Antwort, z. B. in Klassenarbeiten, enthüllt sich als Missverständnis, wenn man unter o. g. Aspekten das Unverständliche beleuchtet. Wortbildung durch Affixe: Partizip II mit „ge-“ Als problematisch wird auch oft die Bildung des Partizip II empfunden, weil man das Präfix „ge-“ bei trennbaren Verben – die also schon ein Präfix haben – dazwischen setzt: abholen, abgeholt, nicht *geabholt. „Ge-“ verhält sich wie ein echtes Präfix und dockt deshalb direkt an das Verb an. Verben mit echten Präfixen haben beim Partizip II kein „ge-“. Hast du dieses Zitat hinterfragt? Da aber die meisten einfachen und zusammengesetzten Verben das Partizip II mit ge- bilden, kommt es in Analogie dazu, dass auch bei den echten Präfixen das ge- fälschlicherweise zum Einsatz kommt. Ein Lernender muss also schon erkannt haben, dass es sich um ein trennbares Verb handelt, damit er das Partizip korrekt bilden kann. Schön ist es immerhin, dass man die Unterschiede in der Partizip II–Bildung erklären kann, aber nur die Übung bringt Sicherheit in der Anwendung. Das Partizip II ist auch bei der Adjektivbildung beteiligt, wobei dann aber kein weiteres Affix mehr benötigt wird: gekocht: gekochtes Gemüse, verliebt: verliebte Jungs Es wird lediglich die passende Endung zur Herstellung der formalen Kohäsion mit dem dazugehörigen Nomen angehängt wird. Wortbildung durch Affixe: Nomen Adjektive und Verben können mittels Suffixe zu Nomen werden wie z. B. mit -heit, -keit, -nis, -ung, etc. Diese aus den Nominalisierungssuffixen entstandenen Derivate sind für mehrsprachige Schülerinnen und Schüler im Verständnis meist weniger ein Problem als bei der Sprachproduktion. Warum es Freundlichkeit und nicht *Freundlichheit heißt, erklärt sich nicht logisch von selbst: Adjektive auf -lich oder -ig werden mit -keit in Nomen transponiert. Warum heißt es aber Heiterkeit und nicht *Heiterheit? Es heißt ja auch Sicherheit. 18 Landesinstitut für Schulentwicklung Eugenia: „Die Süßigkeit von Äpfeln ist kleiner als bei Honig.“ Im Bemühen eine regelhafte, abstrakte Aussage zu treffen, hat Eugenia das Adjektiv „süß“ mit einem passenden Suffix in ein Nomen verwandelt. Sie hat nicht *Süßheit gewählt, was rein morphologisch auch möglich wäre (vgl. Freiheit), sondern das ihr bekannte „Süßigkeit“. Hier wäre aber „Süße“ richtig.21 Der Bedeutungsunterschied muss ihr hier erklärt werden. Zusätzlich könnte sie davon profitieren, wenn sie noch lernen würde, welche Adjektive sie noch mittels -e in Nomen verwandeln kann (mit Umlaut: Schwäche, Säure, Länge; ohne Umlaut: Breite, Ebene, ...). Wortbildung durch Affixe: Adjektive Bei der Adjektivbildung gibt es ebenfalls eine Reihe von Suffixen, die teilweise auf den unterschiedlichen Ursprung entweder aus einem Verb, einem Nomen oder einem Adjektiv verweisen: Nomen (mit und ohne Umlaut) Holz > hölzern Glück > glücklos Fehler > fehlerhaft Erfinder > erfinderisch Gewalt > gewaltsam Zufall > zufällig Bild > bildlich Verb (mit und ohne Umlaut) mitteilen > mitteilsam essen > essbar misstrauen > misstrauisch kaufen > käuflich rutschen > rutschig lachen > lachhaft folgen > folglich Adjektiv und Adverbien (mit und ohne Umlaut) rot > rötlich heute > heutig zwei > zweierlei mehr > mehrfach allein > alleinig national > nationalistisch lang > langsam Aber auch hier gibt es, wie Sie sehen, keine eindeutigen Zuordnungen. Es heißt undurchsichtig, kurzsichtig, aber sichtbar und unsichtbar. Mustafa: „Aber die Glasfänster waren undurchsichtbar.“ Nicht die Kollokation mit -sicht- entscheidet über die Wahl des Suffixes, sondern die Bedeutung des Suffix selbst: -ig wird angehängt, wenn sich das Adjektiv direkt auf eine Qualität des mit dem Bezugsnomen benannten Gegenstands bezieht: Der Gegenstand ist aus sich heraus undurchsichtig. -bar hingegen hat die Bedeutungsnuance, dass er mit „können“ umschrieben werden kann, vergleichbar mit dem englischen -able: Man kann nicht sehen. Es beschreibt also eine Qualität, die sich aus dem Umgang mit dem näher beschriebenen Gegenstand ergibt. Es ist aber 21 Es handelt sich in diesem Fall genau genommen nicht um eine Derivation, sondern um eine Konversion. 19 Landesinstitut für Schulentwicklung nicht so, dass man frei entscheiden kann, welches Suffix angehängt wird: *undurchsichtbar gibt es nicht. Die Liste der Affixe im Deutschen, die als Wortbildungsmorpheme fungieren, ist also sehr, sehr lang. Man hat nicht immer eine Erklärung parat, warum im speziellen Fall eine Endung so und nicht anders lautet. Das bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler immer wieder unterstützt werden müssen, indem solche Derivate von vorneherein vorentlastet und falscher Gebrauch verbessert wird. Die neu gelernten Formen sollten aufgeschrieben werden. Wortbildung durch Komposition: allgemein Lange, unübersichtliche, mit Bedeutung überfrachtete Komposita sind eine weitere Spezialität des Deutschen. In anderen Sprachen werden dieselben Gegenstände oder Sachverhalte zwar länger, aber meist auch leichter verständlich umschrieben. Komposita bestehen aus Kern und Kopf. Der Kopf steht in germanischen Sprachen rechts. In der festen Verbindung mit dem Kern im Deutschen bestimmt er das grammatikalische Verhalten des gesamten Kompositums. Der Kern trägt häufig die den Kopf determinierende Information. Beispiel: Teekanne Kern: der Tee Fugenelement: Ø Kopf: die Kanne folglich: die Teekanne Auch bei mehrteiligen Komposita gibt es immer einen Kern, der Kopf kann mehrteilig sein, die Genera der Bestandteile des Kopfes spielen aber keine Rolle für das Genus des Kompositums. Beispiel: Dunstabzugshaube Kern: Dunstabzug (selbst wieder ein Kompositum mit Kern (der Dunst) und Kopf (der Abzug)) Fugenelement: s Kopf: die Haube, folglich: die Dunstabzugshaube In anderen, auch germanischen Sprachen sind die Bestandteile nicht immer fest miteinander verbunden. In romanischen Sprachen steht der Kopf links und die einzelnen Bestandteile sind nicht miteinander in einem Wort verbunden, sondern gehorchen anderen Kohäsionsregeln. 20 Landesinstitut für Schulentwicklung dt. das Übungsheft fr. le cahier d’exercices dt. der Geländewagen fr. la voiture tout terrain Im folgenden türkischen Beispiel kann man sehen, dass hier keine Zusammenschreibung erfolgt und die Kohäsion innerhalb des Wortes nicht durch ein Fugenelement, sondern durch ein Affix –sı am rechtsstehenden Kopf hergestellt wird. dt. Geländewagen tr. arazi arabası Lernende von Deutsch als Zweitsprache haben u. U. noch kein automatisiertes Verständnis der Rollen und Funktionsweisen der Bestandteile von Komposita. Auch wenn sie die einzelnen Wörter verstehen, erschließt sich der neue Begriff oft noch nicht von selbst. Wortbildung durch Komposition: Fugenelemente Die Elemente von zusammengesetzten Wörtern können im Deutschen unterschiedlich zusammengefügt werden und die Entscheidung darüber, mit welchem Fugenelement sie gebildet werden, oder ob überhaupt eines nötig ist, ist kaum durch Regeln festgelegt und in einigen Fällen durchaus diskutierbar.22 Lediglich Suffixe wie -heit, -ion, -keit, -schaft, -tät, -tum, -ung, -ut und bereits mehrteilige Kerne werden immer mit einem Fugen-s mit dem Kopf verbunden. Möglich sind aber auch -e-, -es-, -en-, -n-, -er-, -ens- oder die Nullfuge (Ø)23: Tätigkeit Straßenbegrenzung Bad Leib dokument rabe Herz Koch s s e es en n ens Ø bericht pfosten wasser fülle echt schwarz angelegenheit topf Bei den Fugenelementen, die aus der Genitivendung des Kerns kommen (-s- und -e(n)s-), hat man oft noch eine klare Vorstellung vom Verhältnis der beiden zusammengefügten Wörter. Man könnte 22 Nicht nur Karl Valentin besteht auf seinen „Semmelnknödeln“, jeder Bayer wird seinen „Schweinsbraten“ gegen einen „Schweinebraten“ von jenseits des „Weißwurschtäquators“ verteidigen. Haben Sie schon einmal in der Inhaltsliste Ihres Verbandskastens – pardon – Verbandkastens nach einem Dreieckstuch gesucht, aber nur ein Dreiecktuch gefunden? 23 Die Fugenelemente können auch als Flexionsendungen des Kerns beschrieben werden, etwa -(e)s- als Genitivform des Kerns, -en- häufig als Pluralform, usw. 21 Landesinstitut für Schulentwicklung das Kompositum durch eine Genitivkonstruktion ersetzen: Bericht der Tätigkeit, Pfosten der Straßenbegrenzung, Fülle des Leibes, Angelegenheit des Herzens. In Analogie zu ähnlichen Formen werden von mehrsprachigen Lernern ungebräuchliche bzw. falsche Fugenelemente benutzt, am häufigsten die Nullfuge, weil diese ja den meisten Herkunftssprachen entspricht, die keine Fugenelemente kennen. Aber auch falsche Analogiebildungen und die Überverwendung einer besonders häufig vorkommenden Variante kommen vor: Tan: „Er soll ihr einfach einen Liebebrief schreiben.“ Teofila: „Wir essen viel Schafejoghurt zu Hause.“ Wortbildung durch Komposition: Semantik I Besonders bei der Nullfuge gibt es keinerlei Hinweis darauf, in welcher Art Verhältnis die beiden zusammengefügten Wörter stehen. Somit kann die genaue Bedeutung eines Kompositums für Mehrsprachige unklar sein. Ein Beispiel eines solcherart missverständlichen Kompositums für Lernende ist der Geisterfahrer. Er ist mitnichten der Fahrer von Geistern und es handelt sich auch nicht um Geister als Fahrer. Das Verhältnis ist eher modal, es beschreibt die Art des Fahrers. Der Kern ist dabei auch noch in übertragener Bedeutung gebraucht, der Fahrer ist ja nicht wirklich ein Geist. Ein anderes Beispiel ist: Wattwanderung. Handelt es sich um ein lokales Verhältnis: eine Wanderung, die im Watt stattfindet? Oder wandert das Watt, wie etwa auch eine Düne wandern kann: eine Wanderdüne? Für einen Lernenden der deutschen Sprache sind diese Zusammenhänge nicht offensichtlich, zumal diese Sprache so viele unterschiedliche Verhältnisse zwischen den Bestandteilen von Komposita kennt, die man einfach für jedes einzelne wissen muss. Ist ein Märchenonkel eine Onkelfigur in einem Märchen (lokal) oder ein toller, märchenhafter Onkel (modal) oder ein Onkel, der Märchen erzählt (vielleicht am ehesten als instrumental zu beschreiben)? Ist ein Gartenhaus ein Haus mit Garten oder ein Haus im Garten? Einsprachige Sprecher konnotieren ein kleines Häuschen im Garten, ohne dass diese Information im Kompositum enthalten wäre. Schiller hätte bei seinem Gartenhaus in Jena aber auch nicht an einen Geräteschuppen oder eine Gästewohnung im Grünen gedacht, sondern an ein richtiges Wohnhaus mit großem Garten. Wortbildung durch Komposition: Semantik II In manchen Fällen haben Kerne von Komposita auch ihre Eigenständigkeit als Lexem eingebüßt und können nicht mehr alleine stehen: Sonja: „Sie haben Beeren gesammelt von Bromsträuchen oder Himsträuchen.“ 22 Landesinstitut für Schulentwicklung Dabei hat Sonja im Hinblick auf die Bildung von Komposita schon viel verstanden und „Brom-“ und „Him-“ bereits als Kern für mögliche Komposita erkannt und in Analogie aus „Brombeere“ und „Himbeere“ die passenden (leider sprachlich so nicht existierenden) Sträucher dazu gebildet. Semantisch sind Komposita auch deswegen nicht unproblematisch, weil Wortbestandteile dort oft in übertragener Bedeutung oder einer dem Lernenden bisher unbekannten Bedeutungsvariante vorkommen, die er erstmal kennen muss, bevor er das Wort als Ganzes versteht: Taucherglocke (eine Glocke, die der Taucher mit in die Tiefe nimmt und mit der er dann läutet?), Bergkamm (ein konvex gebogener Kamm oder ein baumbestandener Berg, der aus der Ferne wirkt, als habe er Zähne?), Dauerwelle (ein Surfertraum?), Nagelbett (Arbeitsgerät eines Fakirs?), u. s. w. In diesem Zusammenhang gilt natürlich, dass Metaphern – ob tot oder lebendig – generell für alle Lernende ein weites Feld für Verständnisprobleme sind, weil sie einer Sprache, einer Kultur eigen sind und von anderen meist nicht geteilt werden. Oft hilft natürlich der Kontext, aber ein sicheres Verständnis wird man nur erreichen, wenn man solche Wörter im Unterricht thematisiert oder z. B. visuell vorentlastet. Besonders komplizierte und mit Fremdwörtern gespickte, abstrakte Komposita kommen hauptsächlich im schriftlichen Kontext vor, behindern also zuerst einmal das Textverständnis ungeübter und mehrsprachiger Leserinnen und Leser.24 Sie bieten den Vorteil von wenig Raum und viel Inhalt, sind aber für viele Schülerinnen und Schüler ambig und müssen vorentlastet werden, z. B. Demokratieverständnis, Verfassungssystem, Staatsräson, u. s. w. In der Sprachproduktion werden sie von Lernern eher vermieden, aber manchmal auch nicht, und dann kommt es zu Fehlern in der Zusammenstellung der zwei oder drei Komponenten, deren richtiger Aufbau einfach eingegeben werden muss. 24 Die deutsche Wissenschaftssprache ist aufgrund dieser Wortungetüme auch bei fremdsprachigen Lesern berüchtigt. 23 Landesinstitut für Schulentwicklung 3.2.1.3 Satzebene Die deutsche Syntax: allgemein Die deutsche Sprache ermöglicht zum einen einen komplizierten, zum anderen einen flexiblen Satzbau. Das liegt daran, dass man den Satzgliedern etwa durch Flexionsendungen und durch die Kollokation mit Präpositionen ihre Funktionen ansieht, egal wo sie stehen. Auf der Satzebene haben wir es also mit grammatikalischen und semantischen Kategorien zu tun, die innerhalb einer Aussage, eines Textes formal und inhaltlich einen logischen Zusammenhalt herstellen, um eine sinnvolle, nachvollziehbare Botschaft zu senden. Das sind erstens die Positionen der Satzglieder, zweitens die Kohäsion sich aufeinander beziehender Wörter durch Flexion und drittens inhaltliche Kohärenz erzeugende Bausteine wie Konjunktionen, Pro-Formen (Bezugswörter wie Pronomen) und Adverbien. Herkunftssprachen von Lernern haben u. U. eine sehr viel starrere Syntax und setzen Satzglieder mit einer bestimmten Funktion immer an eine bestimmte Stelle, z. B. weil sie keine Flexionsendungen (mehr) haben. So ist einer mehrsprachigen Schülerin womöglich nicht klar, dass sich der Sachverhalt in den folgenden Sätzen 13 m3 Erde kann der neue Bagger in 10 Minuten aus der Baugrube ausheben. Aus der Baugrube kann der neue Bagger 13 m3 Erde in 10 Minuten ausheben. In 10 Minuten kann der neue Bagger 13 m3 Erde aus der Baugrube ausheben. Der neue Bagger kann aus der Baugrube in 10 Minuten 13 m3 Erde ausheben. u. s. w. nicht verändert und mit allen Aussagen z. B. die gleiche Rechnung angestellt werden kann: Wie viele Kubikmeter Erde hebt der Bagger an einem 7½-stündigen Arbeitstag aus der Baugrube? Ein Text ruft ein mentales Bild des Sachverhalts hervor, dessen Agens und Patiens dann in eine Form der (Inter-)Aktion treten und so eine nachvollziehbare Handlung oder Konstellation entsteht, auf deren Basis dann weitergedacht werden kann. Wenn dieses Bild aber durch eine sprachliche Inversion, die nicht als gültig erkannt wird, nicht klar wird und die „handelnde“ und „erleidende“ Partei nicht identifiziert werden kann, dann geschieht eventuell auch keine angemessene Weiterverarbeitung im Sinne eine richtigen Errechnung des Aushubvolumens. Ungewöhnliche Satzstellungen sollten vorentlastet werden, indem Hürden antizipiert werden. Arbeitsanweisungen und Aufgaben sollten in möglichst naheliegenden, überschaubaren Strukturen gestaltet werden. Je komplexer und verdichteter Aufgaben und Arbeitsanweisungen gestellt werden, 24 Landesinstitut für Schulentwicklung desto mehr testet man die sprachlichen und nicht die fachspezifischen Fertigkeiten der Schülerinnen und Schüler. Das gilt vor allem für ad hoc gestellte mündliche Arbeitsanweisungen, die beim Sprechen erst geplant werden. Nachdem bis hier ein grober Überblick über die Zusammenhänge im Satz gegeben wurde, soll der Fokus in den folgenden Unterkapiteln auf spezielle sprachliche Phänomene gerichtet werden, mit denen man als Lehrkraft dabei häufig zu tun hat. Es wird dabei auf das nachfolgend erläuterte Feldermodell (vgl. auch Anhang der Handreichung) zurückgegriffen, da es eine Matrix bietet, die immer angewendet werden kann, um den Schülerinnen und Schülern Syntax schnell zu verdeutlichen. Die Felder sind Positionen in einem Satz, deren Besetzung nicht beliebig ist, sondern Konstanten aufweist, die mit diesem Modell besonders deutlich werden. Dabei ist die klassische Satzgliedlehre mit ihren Benennungen zunächst zweitrangig. Sie ist zugleich eine Reflexionshilfe, wenn man Satzstellungsvarianten und die eventuell damit verbundenen Bedeutungsveränderungen vergleichen will. Man kann die Felder etwa auf einer Folie im Unterricht immer wieder verwenden und mit aktuellen Satzbeispielen füllen und daran zeigen, wie ein Satz regelgerecht aufgebaut werden kann. 25 Landesinstitut für Schulentwicklung Abbildung 2: Feldermodell aus dem Geschichtsunterricht Die Einführung dieses Modells kann nicht Sache des Fachunterrichts sein und muss im Deutschunterricht erfolgen. Die Position der Satzglieder im Feldermodell: Satzklammer Was die Positionen der Satzglieder betrifft, gibt es bei aller Flexibilität in der deutschen Sprache eine Eigenart und eine wichtige Konstante und das ist die Position des Verbs (als Satzglied das Prädikat). Danach sortieren sich alle anderen Elemente in umliegende Felder: Vorfeld Der neue Bagger linke Satz– klammer schaufelt Mittelfeld aus der Baugrube in 10 Minuten 13 m3 Erde. rechte Satz– klammer (nicht besetzt) Das Phänomen der trennbaren Verben und Konstruktionen mit Hilfs- oder Modalverben führt sehr oft zu einer Zweiteiligkeit des Prädikats, sodass eine Satzklammer entsteht, also der verbale Anteil 26 Landesinstitut für Schulentwicklung eines Satzes an zweiter und letzter Stelle auftaucht. Dieses Charakteristikum wird durch die visuelle Darstellung im Feldermodell für Lernende schnell augenfällig: Das gilt so für Aussagesätze und W-Fragen: Vorfeld Der neue Bagger Der neue Bagger Der Bagger Was Wie viel Erde Wenn man den alten Bagger genommen hätte, linke Satz– klammer hebt kann hat hebt hebt Mittelfeld aus der Baugrube in 10 Minuten 13 m3 Erde aus der Baugrube in 10 Minuten 13 m3 Erde in 10 Minuten 13 m3 Erde aus der Baugrube der Bagger aus der Baugrube der Bagger aus der Baugrube rechte Satz– klammer aus. ausheben. ausgehoben. aus? aus? wäre man nicht fertiggeworden. Die Position der Satzglieder im Feldermodell: Verbstellung Bei den Beispielsätzen oben kann man sehen, dass das finite Verb bei allen an zweiter Stelle steht, das infinite oder das getrennte Präfix an letzter. Deswegen spricht man auch von der V/2–Stellung, der Verbzweitstellung des Verbs, und der deutschen Sprache als V/2–Sprache, weil diese Struktur die allermeisten Äußerungen (Kernsätze) beschreibt. Der neue Bagger aus der Baugrube hebt in 10 Minuten 13 m3 Erde aus. Der Satz im letzten Beispiel, in dem ein Glied aus dem Mittelfeld zusätzlich ins Vorfeld gezogen wird, vergrößert nicht, wie man denken könnte, die Anzahl der Satzglieder im Vorfeld. Vielmehr bekommt das Satzglied im Vorfeld eine andere Bedeutung, weil diese adverbiale Bestimmung aus dem Mittelfeld dort als Attribut nur Teil des Satzgliedes (des Subjekts) wird. Es sagt aus, woher der Bagger kommt (aus der Baugrube) und nicht mehr wo die Erde ausgehoben wird. Die Zweitstellung des Verbs und die Satzklammer sind anfänglich für Lerner aus nicht V/2-Sprachen problematisch. Eventuell steht das finite Verb in der Erstsprache an einem anderen Ort, z. B. im Türkischen am Ende; oder es gibt dort keine trennbaren Verben; oder die Modalität wird durch Endungen oder adverbial umgesetzt und nicht durch ein eigenes Modalverb; oder Modalverb bzw. Hilfsverb und Vollverb stehen beieinander, wie im englischen Aussagesatz (The digger can excavate 3 m3 of soil in 10 minutes. bzw.: The digger has excavated 3 m3 of soil in 10 minutes.). Durch das häufige Vorkommen wird die V/2–Struktur zwar im Erwerbsprozess bald bewältigt. 27 Landesinstitut für Schulentwicklung Es kommt aber längere Zeit zur Überverwendung dieser V/2–Struktur auch bei anderen Satzarten, z. B. beim Nebensatz, bei der Frage ohne Fragewort und beim Befehlssatz, bei denen man ebenfalls von einer Satzklammer spricht, die jedoch keine Verbzweitstellung aufweisen. Teofila: „Wenn kommt der Tyrann an die Macht, er macht alles ganz allein.“ Manuel: „Uns les laut das vor!“ Ein durch eine Konjunktion oder Pronomen eingeleiteter Nebensatz, der, wenn man den vollständigen Satz betrachtet, meist entweder im Vor- oder im Nachfeld steht, wird selbst folgendermaßen eingeteilt: Der neue Bagger hebt in 10 Minuten 13 m3 Erde aus der Baugrube, – Nebensatz – Nachfeld Vorfeld (nicht besetzt) (nicht besetzt) linke Satz– klammer wohingegen der Mittelfeld rechte Satzklammer der alte (, der sechs Stunden dort im Einsatz war,) nur 45 m3 sechs Stunden dort im Einsatz ausheben konnte. war. Hier bildet das den Nebensatz einleitende Wort (Pronomen, Konjunktion) die linke Satzklammer, der Verbkomplex (das finite und eventuell infinite Verb) in Verbendstellung (V/L–Stellung) die rechte Satzklammer. Fragesatz und Befehlssatz: Vorfeld (nicht besetzt) (nicht besetzt) linke Satz– klammer Hat Mittelfeld rechte Satzklammer der Bagger weniger als 60 m3 Erde ausgehoben? Lies den folgenden Text genau durch! Nebensätze weisen also eine V/L-Stellung auf, Fragen und Imperativsätze eine V/1-Stellung. Liegt keine V/2-Stellung vor, dann ist das Vorfeld nicht besetzt. 28 Landesinstitut für Schulentwicklung Die Position der Satzglieder im Feldermodell: Die Felder Zusammenfassend noch einmal die für die Felder gültigen Aussagen, die schon getroffen wurden, und weitere: Vorfeld: In der Regel ist das Vorfeld nur mit einem Satzglied oder einem satzgliedwertigen Nebensatz gefüllt, woraus sich ja die Verbzweitstellung von Kernsätzen ergibt. Nebensätze mit einleitender Konjunktion oder Pronomen (Spannsätze), Fragen ohne Fragewort und Befehlssätze (Stirnsätze) haben kein Vorfeld. Daraus folgt: Liegt keine V/2-Stellung vor, dann ist das Vorfeld nicht besetzt. linke Satzklammer: Sie enthält beim Kernsatz, der W-Frage und beim Befehlssatz das finite Verbelement des Prädikats. Sie enthält beim Nebensatz die unterordnende einleitende Konjunktion bzw. das Pronomen. Sie ist immer besetzt. Mittelfeld: Im Mittelfeld können alle Satzglieder stehen, die nicht schon im Vorfeld stehen. Es gibt noch weitere Bedingungen für die Abfolge von Subjekt, Dativobjekt und Akkusativobjekt, die aber als Erklärungen für die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I wenig hilfreich sind. Hier bewirken wieder das Beispiel und die Menge der Sätze die Einprägsamkeit der Struktur und nicht die haarkleine Erklärung. rechte Satzklammer: Sie ist nur gefüllt, wenn das Prädikat zweiteilig ist: bei der Kombination von Modalverb/Hilfsverb und Vollverb oder bei trennbaren Verben. Sie enthält beim Hauptsatz das infinite Verbelement des mehrteiligen Prädikats oder das Präfix des trennbaren Verbs. Sie enthält beim Nebensatz den Verbkomplex, also beim mehrteiligen Prädikat beide, finite und infinite, Verbformen. Nachfeld: Es befindet sich außerhalb der Satzklammer, weshalb man davon spricht, dass Satzglieder und Nebensätze, dorthin (meist aus dem Mittelfeld oder Vorfeld) ausgelagert werden. Dies dient der Übersichtlichkeit vor allem bei längeren Nebensätzen. Subjekt, Objekte, Adverbialbestimmungen, Modalpartikel können im Allgemeinen nicht im Nachfeld stehen. 29 Landesinstitut für Schulentwicklung Lernende profitieren, was die Satzstellung im Deutschen betrifft, von diesem überschaubaren Modell. Sowohl im Deutsch als auch vergleichend im Fremdsprachenunterricht können Sprachreflexionsphasen hiermit veranschaulicht werden. Die Unterschiede zwischen dem strengen SPO-Aufbau im Englischen und der Verbzweitstellung im Deutschen, wo SPO nur eine mögliche Satzstellung unter vielen ist, können so verdeutlicht werden. Mit dieser Matrix können Lernende Satzmuster üben und sie als Satzbaukasten verwenden, indem sie verschiedene Bestandteile an verschiedenen Stellen ausprobieren und so Erfahrung und immer mehr Gefühl für die richtige Position bekommen und somit den gleichen Sachverhalt in mehreren Anordnungen verstehen. In einem weiteren Schritt können aber auch gerade Feinheiten in der Bedeutungsveränderung erfasst werden, die durch Umstellen erreicht werden. Kohäsion durch Flexion: allgemein Die Zusammengehörigkeit von Elementen eines Satzes kann man im Deutschen, wie oben schon gesagt, weniger an der Position im Satz, sondern viel mehr an ihrer aufeinander abgestimmten Flexion (Beugung) erkennen. Nicht alle Erstsprachen haben einen durch Flexion solch ausgeprägten Endungsreichtum wie das Deutsche. Das gilt hauptsächlich für die Verbendungen, weniger für die Endungen der Nomen, die weniger umfangreich ist. Im Zusammenhang mit Artikeln und Adjektiven steigt allerdings die Herausforderung bei der Deklination und auch die Beugung der verschiedenen Pronomen ist nicht leicht. Der neue Bagger hebt feuchten Lehm aus der Baugrube. Drei Beispiele für Kohäsion durch Flexion im oben genannten Satzbeispiel: Innerhalb der Nominalphrase „Der neue Bagger“ mit „Bagger“ als Kopf ist das Nomen maskulin, steht im Nominativ Singular und braucht somit „der“ (nicht die, das, den, dem, des) als bestimmten Artikel, des Weiteren erfolgt die Anpassung des Adjektivs „neu“ zu „neue“ (nicht neuer, neues, neuem, neuen) zwischen bestimmtem Artikel und Nomen durch schwache Deklination (bei Indefinitartikel durch starke Deklination: ein neuer Bagger). Das Prädikat muss sich dem Nomen „Bagger“ als Agens, das im Singular steht, anpassen, sodass auch der Numerus des gebeugten Verbs das Singular ist, in diesem Fall in der 3. Person (der Bagger = er): hebt. Innerhalb der Verbalphrase mit „hebt“ als Kopf und dem von ihm abhängigen Objekt „feuchten Lehm“ wird der Zusammenhang verdeutlicht, indem „heben“ ein Akkusativobjekt verlangt und dies 30 Landesinstitut für Schulentwicklung dementsprechend an der Endung des Adjektivs „feuchten“ (nicht feuchter, feuchte, feuchtes, feuchtem) sichtbar wird. „Lehm“ ist ein Singularwort und bekommt wie alle Maskulina im Akkusativ keine Kasuskennzeichnung und nur im Genitiv überhaupt eine Endung. Kohäsion: Konjugation – allgemein Das Verb ist schon in der Satzstellung der Dreh- und Angelpunkt. Durch seine Flexion werden wichtige Informationen der Satzaussage determiniert. Das finite Verb des Prädikats muss in Person und Numerus kongruent zum Subjekt sein, es regiert den Kasus des vom ihm abhängigen Objekts. Es zeigt das Tempus, das Genus Verbi und teilweise oder ganz den Modus der Satzaussage. Finite Modalverben und Hilfsverben verlangen, dass ein Vollverb in einer infiniten Form folgt. Kurz gesagt, die korrekte Flexion des Verbs ist essentiell für eine präzise und richtige Aussage. Die Beugung von Verben ist im Deutschen recht kompliziert, da es nicht nur verschiedene Personalendungen und Hilfsverben zur Bildung zusammengesetzter Zeiten, sondern auch Änderungen im Stammvokal gibt. Das kennen die Schülerinnen und Schüler meist aus ihren Erstsprachen nicht. Kohäsion: Konjugation – Tempora Auch die Zahl und Art der Tempora im Deutschen findet sich so u. U. nicht in anderen Sprachen. Gerade das Präteritum, das in der Alltagssprache wenig vorkommt, wird auch von vielen Einsprachigen bei unregelmäßigen Verben (manchmal auch starke Verben genannt) falsch gebildet. Es besteht generell eine Tendenz zur regelmäßigen Beugung ohne Änderung im Stammvokal und mit der Endung -te/ -test/ -ten/ -tet. Bei einigen Verben sind sowohl schwache als auch starke Formen akzeptiert, z. B. bei senden (sandte, sendete), scheinen (schien, scheinte) und backen (buk, backte). Und es gibt auch Verben, die die Änderung im Stammvokal aufweisen, aber gleichzeitig die schwachen Endungen, wie z. B. rennen (rannte), kennen (kannte) und senden (sandte). Oliver: „Dennis rufte in den Becher.“ Thanis: „Sie helften alle ...“ Die Konjugation von starken, unregelmäßigen Verben ist aber nicht nur für das Präteritum wichtig, sondern auch für die Bildung des Passivs und der zusammengesetzten Zeiten. Das Partizip II, das dazu benötigt wird, hat bei starken Verben die Endung -en, bei schwachen hingegen -(e)t. Etem: „Wir haben das Lamm selbst geschlachten.“ 31 Landesinstitut für Schulentwicklung Es führt kein Weg daran vorbei, die starken Verben eigens zu lernen. Jeder Fachunterricht kann die aktive richtige Verwendung dann je nach Bedarf durch Korrektur und kurzes Thematisieren und Wiederholen der richtigen Form unterstützen. Eine Liste von starken und gemischten Verben sollte in jedem Unterricht als Hilfsmittel vorhanden sein, am besten in Schüler- und in Lehrerhand. Kohäsion: Konjugation – Hilfsverben Anders als im Deutschen bilden Verben z. B. in slawischen Sprachen zusammengesetzte Zeiten nur mit dem Hilfsverb „sein“, das je nach Position des Prädikats im Satz nach dem Partizip II steht. Das Partizip II weist sich im Unterschied zum Deutschen anders aus als mit einem Präfix und hat noch eine Genusmarkierung. deutsch: sprechen / gehen ich spreche ich gehe ich habe gesprochen ich bin gegangen slowenisch: govoriti / iti govorim govoril sem (mask.) govorila sem (fem.) gesprochen bin grem šel sem (mask.) šla sem (fem.) gegangen bin Im Deutschen gibt es Verben, die mit „sein“ und welche, die mit „haben“ gebildet werden: Verben der Bewegung mit „sein“, alle anderen mit „haben“. Die Verben mit „haben“ sind weit in der Überzahl, somit wird die Struktur schnell gelernt und dann in der Folge überverwendet. Auch einsprachige Lernende machen hier Fehler.25 Janine: „Der Korken hat geschwommen, weil viel Luft drin ist.“ Ist man sich dieses Phänomens als Fachlehrkraft bewusst, kann man Lernende schnell daran erinnern, dass Verben der Bewegung im Deutsch mit „sein“ gebildet werden und hat mit seinem kleinen Beitrag zur Festigung dieser Regel beigetragen. Kohäsion: Konjugation – Passiv Ein weiteres Phänomen ist für viele Lernende ein schwieriges Thema und zwar die Ähnlichkeit des Tempus Futur und des Genus Verbi Passiv. Beim Futur handelt es sich um ein Tempus, das in der Umgangssprache selten gebraucht wird, denn meistens benutzt man das Präsens in Verbindung mit einer adverbialen Bestimmung der Zeit, um auf die Zukunft zu verweisen: „Wir werden nachher abgeholt.“ Und auch das Passiv kommt vermehrt eher in elaborierteren Zusammenhängen vor. und 25 Es gibt auch regionale Unterschiede, was die Verben der Bewegung betrifft. In süddeutschen Dialekten werden auch Verben der Nichtbewegung mit „sein“ gebildet: „Ich bin an der Bushaltestelle gestanden.“ „Er ist noch lange gesessen und hat gelesen.“ 32 Landesinstitut für Schulentwicklung wird ansonsten gerne vermieden. Beide Formen verwenden „werden“ und treffen sie zusammen in „Wir werden abgeholt werden.“ hört sich das für viele Einsprachige nach eigenem Bekunden schon komisch an. „Wir werden abgeholt.“ klingt für die meisten Schülerinnen und Schüler schon nach Futur, obwohl es lediglich ein Passiv im Präsens ist. „Werden“ scheint für die Lernenden zunächst mit dem Futur verbunden zu sein. Beim Leseverstehen führt dies gelegentlich zu Missverständnissen darüber, ob ein Ereignis gerade stattfindet oder erst noch stattfinden wird: Lehrkraft: „Dampf wird ausgestoßen.“ Begüm: „Aber ich kann ihn jetzt schon sehen.“ Das Präfix „ge-“ kann in ähnlicher Weise für Konfusion sorgen, da es sowohl in aktivischen als auch in passivischen Formen auftaucht: Wir sind gefahren. (Perfekt, Aktiv) Wir werden gefahren. (Präsens, Passiv) Da das Perfekt in der Umgangssprache sehr häufig vorkommt, wird die Verbform mit ge- womöglich zunächst als per se aktivisch verstanden. Taucht sie dann in einem Passiv auf, das ja in der Umgangssprache viel weniger oft verwendet wird, wird sie aktivisch verstanden. Zumal wie oben gesehen das Hilfsverb „werden“ ja auch nicht zuerst als Element des Passivs gesehen wird. „Wir werden fahren.“ ist von „Wir werden gefahren.“ für manche mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler nicht klar unterscheidbar. Für das Futur II lässt sich sagen, dass es – durch die große Menge an Hilfsverben und ihre Anordnung sowie aufgrund des seltenen Gebrauchs in der Alltagssprache – gleichfalls ein großes Übungsfeld für alle Lernenden ist. Wenn dann der Sachverhalt auch noch passivisch ausgedrückt wird, kann es sehr schnell vor allem für Mehrsprachige zu unübersichtlichen Strukturen kommen: „Er wird ausgelacht worden sein.“ Kohäsion: Deklination – allgemein Auch bei der Deklination spielen die Verben eine wichtige Rolle. Sie bestimmen nämlich die Kasus der von ihnen abhängigen Nomen, Artikel, Pronomen und den dazugehörigen Attributen. Die Deklination ist auch von Präpositionen abhängig, die bestimmte Kasus verlangen. Manchmal sind diese wiederum von Verben abhängig, z. B. warten auf + Akkusativobjekt. 33 Landesinstitut für Schulentwicklung Beherrschen die Schülerinnen und Schüler die Deklination nicht, verstehen sie die Zusammenhänge in einem Text nicht richtig und produzieren auch missverständliche Aussagen. Etem: „Die Familie wartete auf dem Zug.“ Es entsteht der Eindruck, dass sich die Familie wartend auf dem Zug befindet, statt dass sie auf den Zug wartet. Kohäsion: Deklination – Endungen Die Deklination bietet mehrere Schwierigkeiten: erstens die Endungen der Nomen, Artikel, Pronomen und Adjektive, die im jeweiligen Kasus gebildet werden und die sich je nach Numerus und Genus dann noch verändern. Damit haben teils in komplexen Zusammenhängen sogar einsprachige Akademiker bis ins hohe Alter Probleme und müssen einen so gestalteten Satz selbst genau hinterfragen, um ihn richtig zu bilden. Vor allem wenn zwischen einem Artikel und dem dazugehörigen Nomen noch Einschübe stehen, die auch noch mitdekliniert werden müssen: Es findet eine Erholung der zuvor durch den großen Bestand von Räubern verringerten Population der Beutetiere statt, da durch die aufgrund geringerer Überlebenschancen kleiner gewordene Anzahl der Beutetiere die immer prekärer werdende Ernährungslage der Prädatoren soweit verschlechtert wird, dass durch deren deutlich gesunkene Geburtenrate weniger Beute geschlagen werden kann. Zweitens: Einige Artikelformen und Endungen sind mehrfach verwendet und können missverstanden werden. Lehrkraft: „Der Stimme fehlt die Spannung.“ Selma: „Das ist weil der Stimme immer so gleich ist.“ Lehrkraft: „Die Stimme. Die Stimme verändert sich nicht, meinst du?“ Selma: „Ist es jetzt der Stimme oder die Stimme?“ Lehrkraft: „Die Stimme ist laut. Wer oder was ist laut? Der Stimme fehlt Spannung? Wem fehlt Spannung? Der Stimme glaube ich nicht. Wem glaube ich nicht. Wem höre ich zu?“ Selma: „Der Stimme. Ich höre der Stimme zu.“ Hier wird auch klar, dass meist kaum zu entscheiden ist, ob ein Lernender einen Kasusfehler macht oder schon das Genus, das zugrunde gelegt wird, falsch ist. 34 Landesinstitut für Schulentwicklung Kohäsion: Deklination – Plural Das dritte Phänomen verdient ein eigenes Unterkapitel: Bei der Bildung des Plurals vieler Nomen kommt es zur Umlautung des Stammvokals und es werden verschiedene Endungen angehängt. Bei der Pluralbildung gibt es wenige offensichtliche Regeln26. Manchmal haben Lernende Glück und sie bilden in Analogie zu einem ähnlich klingenden Nomen, dessen Plural sie kennen, einen weiteren richtigen Plural. Häufig genug klappt die Analogiebildung aber auch nicht. Die Pluralendungen sind ohne sprachgeschichtliches Studium nicht vorhersagbar. Es gibt etliche Pluralmorpheme: -en, -n, -er, -s, reiner Umlaut, mit Endung kombinierter Umlaut, Ø-Morphem. kombinierter Umlaut (+e, bzw. +er) der Hut – die Hüte der Turm – die Türme der Sturm – die Stürme aber: der Wurm – die Würmer reiner Umlaut, bzw. Ø–Morphem der Magen – die Mägen der Faden – die Fäden der Laden – die Läden aber: der Wagen – die Wagen Die Tochter melken die Kühe. Ist der Plural nicht richtig markiert – hier ist es ein fehlender Umlaut –, kann es zu Missverständnissen kommen. Wer melkt wen? Bei all diesen Phänomenen hilft nur Übung. Erklärungen in der akuten Verwendungssituation im Fachunterricht sind langwierig und bewirken keine aktive Beherrschung. Wenn falsche Artikel, Formen und Endungen verwendet werden, dann müssen sie pragmatisch korrigiert und, wenn möglich, kurz eingeübt werden. Kohäsion: Deklination – Adjektive Viertens: Die Flexionsendungen von Adjektiven können sich, je nachdem, ob ein bestimmter, unbestimmter oder gar kein Artikel verwendet wird, ändern. Ein im Artikel angelegtes -r, -s oder -n wird im Adjektiv nicht mehr wiederholt: Definitivartikel + schwache Deklination: Der neue Kühlschrank sorgt für einen niedrigen Stromverbrauch. Indefinitivartikel + starke Deklination: Ein neuer Kühlschrank sorgt für niedrigen Stromverbrauch. 26 Eine Regel, ist z. B., dass Umlaut und „-er“ bei Feminina nicht zusammen vorkommen. Ein Lernender jedoch wendet sich bei der Überprüfung einer Sprachhandlung nicht an solche Kategorien, sondern bildet lautliche Analogien/Formen, die schon im Ohr sind. 35 Landesinstitut für Schulentwicklung Sonja: „Das schlechtes Wetter in den Bergen war gut für Ägypten.“ Lehrkraft: „Das schlechte Wetter. Oder ohne Artikel: Schlechtes Wetter in den Bergen war gut für Ägypten. – Wo ist das schlechte Wetter? Das ...“ Sonja: „Das schlechte Wetter ist in den Bergen.“ Lehrkraft: „Wo genau ist das schlechte Wetter?“ Sonja: „Das schlechte Wetter ist in – Äthiopien?“ Lehrkraft: „Ja, genau. Wie heißt schlechtes Wetter, das in den Tropen jedes Jahr wiederkehrt?“ Sonja: „Regenzeit.“ Kohärenz Zusätzlich zum formalen „Klebstoff“ der aufeinander jeweils abgestimmten Endungen, muss in einem Text auch die inhaltliche Kohärenz stimmen, um eine logische Aussage zu treffen. Das geschieht durch Bezugswörter wie verweisende Proformen, also Pronominaladverbien und Pronomina, und Konjunktionen. Der neue Bagger hebt in 10 Minuten 13 m3 Erde aus der Baugrube, wohingegen das alte Gerät, das sechs Stunden dort im Einsatz war, nur 45 m3 ausheben konnte. Ein Bezug zwischen Haupt- und Nebensatz wird durch das Pronominaladverb „dort“ hergestellt, das „Baugrube“ aufgreift oder den Ort des Geschehens, der die Baugrube mit einschließt. Inhaltliche Kohärenz zwischen den beiden Nebensätzen wird durch das Relativpronomen („das“) erzeugt, das „das alte Gerät“ aufgreift und das auch den formalen Kohäsionsregeln in Kasus, Numerus und Genus folgen muss. Welche Art des logischen Zusammenhangs zwischen Hauptsatz und Nebensatz besteht, wird in diesem Fall mit der Konjunktion „wohingegen“, die einen Adversativsatz einleitet, dargestellt. Das Aufgreifen eines Nomens durch ein Pronomen ist ein Schritt in Richtung Abstraktion, der nicht von allen Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I selbstverständlich vollzogen wird, zumal von mehrsprachigen. Falls Sie dies noch nicht beobachtet haben, lassen Sie Pronomen und Pronominaladverbien in einem Text einmal den Nomen zuordnen, die sie aufgreifen. Es fällt vielen schwerer als gedacht und ist häufiger ein Grund von Missverständnissen, weil falsche Bezüge 36 Landesinstitut für Schulentwicklung hergestellt werden. Die Aufgabe die Proformen mit Pfeilen mit den passenden Nomen zu verbinden, ist oftmals eine wichtige Voraussetzung für das Leseverstehen. Gerade bei den Pronomina, die ja auch in der Form mit dem ursprünglichen Nomen übereinstimmen müssen, kommt es oft zu Fehlern. Im folgenden Beispiel hängt das sicherlich auch damit zusammen, dass „sie“ sowohl Nomen im Singular also auch Plural aufgreifen kann: Thanis: „Die Klasse 6a war in einen Schulandheim. Sie waren eine Woche lang im Schulandheim.“ Um einen sinnvollen, eindeutigen deutschen Satz zu verstehen oder zu konstruieren, braucht es für einen später startenden oder unsicheren Lernenden sehr viel abstraktes Wissen über die Formenlehre oder – realistischer – sehr viel Übung mit immer gleichen Satzmustern, sodass sich die richtige Verwendung automatisiert. An diesem Punkt wird überdeutlich, wie wichtig es ist, dass diese Art von Sprachlernen an möglichst vielen Stellen im Schulalltag bewusst stattfinden muss, da nur so mit einer genügenden Menge an richtigem oder berichtigtem Sprachmaterial umgegangen werden kann. Genuszuordnung Neben ihrer Rolle bei der Deklination, wie schon gesehen, zeigen Artikel zunächst einmal in der Grundform des Nomens, also im Nominativ, das grammatische Geschlecht an. Die Zuordnung des Genus zu einem Nomen unterscheidet sich zwischen den Sprachen, vor allem zwischen den Sprachfamilien stark, innerhalb von Sprachfamilien kaum. Viele Sprachen haben nur zwei Genera, gar keine oder keine, die sich als eigene Morpheme zeigen und flektiert werden. Daher müssen Lernende aus anderen Sprachfamilien im Deutschen das Genus zu einem Nomen immer gleich mitlernen. Das fällt bei häufig gebrauchten Nomen aus der Erstsprache mit anderem Genus aber öfter schwer. Wenn ein neues Wort aus dem Kontext (etwa einem Fachtext im Unterricht) gelernt wird, taucht es dort womöglich nicht mit dem es kategorisierenden Artikel im Nominativ auf, sondern gebeugt mit einem für einen mehrsprachigen Schüler missverständlichen Artikel (s.o. „Stimme“). Es ist deshalb wichtig, neue Vokabeln mit dem Genus vorzugeben. Ganz willkürlich sind die Genera im Deutschen aber nicht vergeben und es gibt für eine ganze Reihe von Nomen festgelegt Genera: Nomen mit dem Artikel „der“ im Nominativ Singular (Maskulina): Nomen mit natürlichem männlichen Geschlecht 37 Landesinstitut für Schulentwicklung alle Tage, Tageszeiten (außer die Nacht), Monate, Jahreszeiten (außer das Frühjahr), Winde, Niederschläge und Himmelsrichtungen Steine, Edelsteine die meisten Nomen auf -er, alle Nomen auf -ich, -ig und -ling Fremdwörter auf -and, -ant, -ar, -är, -ast, -end, -ent, -eur (-ör), -ier, -iker, -ismus, -ist, -oge, -or von einem Verbstamm abgeleitete Nomen ohne Endung Nomen mit dem Artikel „die“ im Nominativ Singular (Feminina): Nomen mit natürlichem weiblichen Geschlecht, außer: das Mädchen, das Fräulein, das Weib alle Nomen auf -heit, -keit, -schaft und -ung alle substantivierte Zahlen die meisten Fremdwörter auf -age, -äne, -anz, -enz, -erie, -esse, -ette, -euse (-öse), -ie, -ik, -ität, -itis, -tive, -ose, -ur, -üre die meisten Blumen, Bäume und Früchte die meisten zweisilbigen Nomen, die auf -e oder -ei enden die meisten Flüsse in Europa alle Länder auf -e, -ei und -ie Nomen mit dem Artikel „das“ im Nominativ Singular (Neutra): von einem Verbstamm abgeleitete Nomen mit Endung von Adjektiven, Pronomen abgeleitete Nomen Diminutive auf -chen und -lein Nomen auf -tum Fremdwörter auf -ett, -ma, -um, -ment viele Nomen auf -nis die meisten Metalle und chemischen Elemente Noten (Musik), Buchstaben, Farben, Wortklassen die meisten physikalischen Einheiten Kollektivbegriffe auf Ge- Nicht nur welches Genus ein Nomen hat und somit welcher Artikel gewählt werden muss, ist im Deutschen problematisch. Ob überhaupt ein Artikel vor einem Nomen stehen muss, ist auch nicht 38 Landesinstitut für Schulentwicklung leicht zu entscheiden. Die Regeln für die Verwendung von Artikeln vor Nomen in einem Satz sind zahlreich und somit schwer zu überblicken. Lernende mit slawischen Erstsprachen z. B. haben keine Artikel und verwenden diese auch in ihrer Zweitsprache Deutsch zu Beginn nur selten und häufig an falscher Stelle. Olga: „Man legt Schalter um.“ Sonja: „Kuh gibt die Milch, weil es ist für sein Kalb.“ Oft sind Unterschiede bei Verwendung und Nichtverwendung in der Bedeutung auch für Einsprachige kaum auszumachen, wenn sie auch vorhanden sind: Deutschland ist ein Einwanderungsland. (eines aus einer Gruppe von Einwanderungsländern) Deutschland ist Einwanderungsland. (absolut, kein Bezug auf andere Länder, Gattungsbegriff) Generell werden bestimmte Artikel verwendet, wenn der Referent bekannt ist oder er generalisiert wird. Unbestimmte Artikel werden verwendet, wenn er nicht bekannt oder identifiziert ist, z. B. in einer Frage. Mit dieser Richtschnur machen die Lerner schon einmal mehr richtig als falsch. Das Raubtier (ein bestimmtes vorher auf einem Bild gesehenes, beobachtetes) hat sich dem Beutetier genähert und .... Hast du schon einmal ein Raubtier auf eurem Bauernhof gesehen? Das Raubtier (generell) sorgt für die (schon festgestellte) geringe Populationsdichte beim Beutetier. Präpositionen/Wechselpräpositionen: Präpositionen rufen im Deutschen beim Bezugsnomen einen bestimmten Kasus hervor. Hier machen auch einsprachig deutsche Sprecher häufig Fehler, wie immer wieder zu hören und nachzulesen ist: Der Titel „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ von Bastian Sick27 bezieht sich auf die Wahl des falschen Kasus nach Präpositionen und bei Genitivattributen. Unsicherheiten bestehen aber meist vorher schon bei der Wahl der Präposition.28 Nina: „Dank dem Spruch von dem Orakel von Delphi suchten sich die Leute von Thera neues Land.“ statt: Dank des Spruchs des Orakels / von Delphi... 27 Sick (2004). Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Fröhlich, Barbara (2003): Schwierigkeiten bei der Verwendung deutscher Präpositionen in gebundener Struktur. Theorie und Beispiele. http://www.linse.uni– due.de/linse/esel/pdf/praepositionen_verwendung.pdf. S. 37 ff. 28 39 Landesinstitut für Schulentwicklung Franziska: „Die Griechen hatten Interesse für neues Land.“ statt: Die Griechen hatten Interesse an neuem Land. (aber: sich interessieren für etwas/jemanden!) In den Erstsprachen der mehrsprachigen Schülerinnen und Schüler verlangen dieselben (übersetzten) Präpositionen eventuell andere Kasus. dt. aus der Schule (Dativ) slo. iz šole (Genitiv) Auf der semantischen Ebene gibt es die Schwierigkeit, dass in mehreren Sprachen gleichbedeutende Formulierungen mit Präpositionen andere oder keine Präpositionen nutzen, also das gleiche Verhältnis anders ausgedrückt wird: ein Dauerbrenner beim Fremdsprachenlernen. Besonders türkische Schülerinnen und Schüler, die kaum Präpositionen kennen tun sich mit dieser Wortart, die im Deutschen so vielfältig auftreten kann, an sich schwer. dt. sich um jemanden kümmern engl. to take care of sb dt. an etw. interessiert sein engl. to be interested in sth. tr. biriyle igilenmek (keine Präposition) fr. s’interesser à qc. Dass sich einige Präpositionen mit Artikeln verbinden können (zum, am, ...), macht die Sache nicht einfacher. Die richtige Präposition zu wählen, ist sehr wichtig, weil sie ein bestimmtes Verhältnis ausdrückt. Dieselbe Präposition kann in verschiedenen Kollokationen verschiedene Bedeutungen haben: David ist um drei Zentimeter gewachsen. (134 cm + 3 cm = 137 cm) Die Höhe der beiden Kegel unterscheidet sich um drei Zentimeter. (12 cm – 9 cm = 3 cm) Hilal: „Die Höhe der beiden Kegeln unterscheidet sich von drei Zentimetern.“ (Verwechslung oder Vermischung: sich unterscheiden von etwas) Benutzt man eine andere Präposition, verändert sich die Bedeutung: David ist über drei Zentimeter gewachsen: mehr als drei Zentimeter. Aber manchmal auch nicht: Die Präposition ändert sich, dementsprechend auch die Konstruktion und der Kasus, aber die Bedeutung bleibt gleich. Auch das kann zu Vermischungen führen: 40 Landesinstitut für Schulentwicklung sich für etwas interessieren = an etwas interessiert sein Olga: „Die Leute aus Athen interessierten sich schon sehr an Physik und so.“ Es können auch Unklarheiten entstehen, da Präpositionen mehrdeutig sein können: In der Evolution kommt der Homo sapiens nach dem Neandertaler. nach jemandem kommen: 1. „nach“ in der Verbindung mit dem Verb „kommen“: jemandem ähneln 2. zeitlich „nach“ jemandem kommen: erst der Neandertaler, dann der Homo sapiens 3. örtlich „nach“ jemandem kommen: hier z. B. in einem Schaubild des Stammbaum des Menschen Gerade weil das Genitivobjekt eine eher seltene Erscheinung im Deutschen ist, werden die Verben, die den Genitiv regieren, gerne mit Präpositionen und den zugehörigen Kasus versehen, obwohl gar keine benötigt werden und sich das Attribut im 2. Fall einfach anschließt: Nina: „Die Spartaner waren sich über die Gefahr nicht bewusst.“ (sich der Gefahr nicht bewusst) Franziska: „Man beschuldigte Sokrates mit Gottlosigkeit.“ (beschuldigte Sokrates der Gottlosigkeit) Die Liste der Verben, die Genitivobjekte nach sich ziehen, ist aber überschaubar und kann mit den Schülerinnen und Schülern im Deutsch- oder Sprachförderunterricht relativ schnell eingeübt werden. anklagen* sich annehmen bedürfen beschuldigen* entbehren sich enthalten sich erfreuen gedenken verdächtigen* Die Verben mit * brauchen außerdem noch ein Akkusativobjekt: bezichtigen* sich rühmen Man klagte den König des Hochverrats an. (Wen? Den König; Wessen? Des Hochverrats) Somit braucht die informierte Sachfachlehrkraft nur noch darauf zu verweisen und kann einen weiteren Ort für die Festigung dieser Struktur bieten. Einige Präpositionen können zwei verschiedene Kasus regieren. Man nennt sie Wechselpräpositionen. Sie antworten in lokaler Bedeutung auf die Frage „Wo?“ mit dem Dativ und mit der Frage „Wohin?“ mit dem Akkusativ. Können sie eine temporale Bedeutung haben, dann verlangen sie fast alle den Dativ (außer „über“). Abgesehen davon kann der Kasus auch abhängig davon sein, ob eine Präposition fest mit einer Phrase verknüpft ist, z. B. „wundern über jemanden“: über wen wundern? „Ansprüche an jemanden stellen“: an wen Ansprüche stellen? 41 Landesinstitut für Schulentwicklung Dativ interessiert an dem Plan, am Fenster stehen auf auf dem Tisch liegen, auf der Theorie fußen hinter er steckt hinter der Idee, hinter dem Eisernen Vorhang in im Glashaus sitzen, in dem Glauben lassen neben neben dem Reagenzglas steht, neben seinem Studium jobbt er über über allem schwebt, über der Nase befindet sich unter ein Kind unter dem Herzen tragen, unter der Kontrolle der Stasi stehen vor vor den Toren Berlins, sich vor etwas schützen zwischen zwischen den beiden Parallelen, zwischen den Formen unterscheiden meist Antwort auf die Frage „Wo?“ (außer „zu“ und „nach“: Wohin? Zum Frisör, nach ) an Akkusativ an die Tür lehnen, Ansprüche an jemanden stellen auf den Berg klettern, auf jemanden warten hinter den Widerstand schalten, sie stellten sich hinter ihn in die Flamme halten, Vertrauen in jemanden setzen links neben das Reagenzglas stellen, sich neben jemanden setzen sich über jemanden wundern, über das Jahr (temporal!) unter den Teppich kehren, unter die Leute kommen vor die Tür schicken, sich vor jemanden stellen zwischen die Stäbe klemmen, zwischen die erste und zweite Zahl gehört ein Plus meist Antwort auf die Frage „Wohin?“ In festen Verbindungen müssen die Präpositionen mitgelernt werden und bei Vokabelangaben ist es somit sehr wichtig, die Kollokation mit der Präposition anzugeben. Nicht nur bei schwierigen oder neuen Vokabeln ist dies angezeigt, sondern auch bei eigentlich bekannten Phrasen, bei denen alle Schülerinnen und Schülern gerne Fehler bei der Wahl der Präposition und/oder des Genus machen: Interesse haben an etwas (an wem/was, Dativ) dank des Aufschwungs (dank wessen, Genitiv) trotz dem hohen Gewicht (trotz wem/was, Dativ) sich der Brisanz bewusst sein (keine Präposition, wessen bewusst sein, Genitiv) viele enthielten sich der Stimme (keine Präposition, wessen enthalten, Genitiv) Modalpartikel Modal- oder Abtönungspartikel (sogar, nur, ja, wohl, ...) sind ein „weites Feld“ für Lernende des Deutschen. Es gibt im Vergleich zu den meisten Erstsprachen mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler in der deutschen Sprache sehr viele solcher Wörter, die sie gar nicht in ihre eigene Sprache übersetzen können. Es gibt außer den Partikeln auch noch andere Möglichkeiten, die Einstellung des Sprechers zu seiner Aussage auszudrücken: Modalverben, Adverbien, die Modi der Verben, 42 Landesinstitut für Schulentwicklung rhetorische Mittel wie z. B. die doppelte Verneinung, wie auch Intonation und Satzzeichen tragen alle dazu bei, die Satzaussage individuell in ihrer Nachricht zu modulieren: Ja, er hätte sogar erst um ein Uhr nachts losfliegen können! Zunächst ist verwirrend, dass die betroffenen Partikel kontextabhängig auch zu anderen Wortarten gehören können, z. B. „aber“ kann eine Konjunktion, aber auch eine Modalpartikel sein. Konjunktion: Dein Versuch ist nicht gelungen, aber das Ergebnis ist richtig. Modalpartikel: Der Versuch ist dir aber nicht gelungen! „Aber“ hat also nicht immer die gleiche Bedeutung und die Bedeutung der Modalpartikel genau zu erfassen, geschweige denn in andere Sprachen zu übersetzen, ist schwierig. Der Duden definiert erstens: „drückt eine Verstärkung aus“ und führt Beispiele an wie: „aber ja“ und „aber dalli!“ oder zweitens: „nur emphatisch zur Kennzeichnung der gefühlsmäßigen Anteilnahme des Sprechers, der Sprecherin und zum Ausdruck von Empfindungen“, z. B. „du spielst aber gut“ oder „aber ich bitte dich!“.29 Diese Wörter könne also kaum als Vokabeln im herkömmlichen Sinn verwendet werden, da ihre Funktionen und Bedeutungen eine gewisse nicht klar umrissene Variationsbreite, Ambiguität und Vagheit haben. Möchte man sie mit anderen Konstruktionen umschreiben, muss man viel weiter ausholen und hat doch die Bedeutung eventuell leicht verschoben: Du spielst aber gut. (Erstaunen, Lob) Du spielst besser, als ich gedacht habe. (Erstaunen) Mit der zweiten Formulierung legt man viel deutlicher seine Einschätzung offen, dass man in Wirklichkeit jemandem etwas nicht zugetraut hat. Die Bedeutung der modalen Gestaltungsmittel ist sehr empfängerabhängig und kann aufgrund ihrer Ambiguität je nach Individuum und nach „Ohr“30, auf dem sie gehört werden, u. U. unterschiedlich verstanden werden. Die Vielzahl an Möglichkeiten sie aufzufassen und ihre Bedeutungsnuancen zu begreifen und vor allem der angemessene Gebrauch der Modalpartikel bleiben lange ein Thema für Lernende des Deutschen. Der Erwerbsprozess wird bei bemühten Lernern gerne deutlich, wenn sie eine Modalpartikel überverwenden, letztlich um ihren Gebrauch in verschiedenen Situationen zu testen. 29 Duden online: Eintrag „aber“ als Partikel. www.duden.de vgl. das Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun: Miteinander Reden1. Reinbek b. Hamburg 1981. 30 43 Landesinstitut für Schulentwicklung Sie brauchen gerade an dieser Stelle Korrektur und ein Sprachvorbild, um zu einer angemessenen Verwendung zu kommen. Beim Leseverstehen naturwissenschaftlicher Sachtexte spielen sie eine weniger große Rolle, sie sind eher ein Phänomen der argumentativen Sprache in den Geisteswissenschaften und in der Literatur. In der gesprochenen Sprache sind Modalpartikel häufig weniger mit Bedeutung aufgeladen und fungieren als Füllwörter. Mehrsprachige Lernende haben aufgrund dessen im gesellschaftswissenschaftlichen und literarischen Unterricht mit solchen Texten teils nicht unerhebliche Probleme mit Missverständnissen. Zur ad hoc-Unterstützung kann man in der Klasse einen fraglichen Satz mit und ohne ein bestimmtes Partikel vergleichen und die Bedeutungsunterschiede reflektieren lassen. Eine mehrsprachige Schülerin kann hier von den einsprachigen profitieren, wenn sie die Bedeutungsnuance nicht selbst erkennt. 44 Landesinstitut für Schulentwicklung 3.2.2 Fallstricke der Fachsprachen: Wie würde es Sheldon31 sagen? Abbildung 3: Konzeptionelle Mündlichkeit – konzeptionelle Schriftlichkeit Abstraktion: allgemein Fallstricke tauchen in den Fächern vor allen Dingen dann auf, wenn es auf die Ebene der konzeptionellen Schriftlichkeit geht. Kann man ein Experiment, dass alle im Unterrichtsraum sehen können, noch gut alltagssprachlich, gespickt mit deiktischen Begriffen – konzeptionell mündlich – wie „das da muss dorthin“, „jetzt mach ich das so“ und „hier wird es dann heiß“ beschreiben, so geht das nicht mehr, sobald das Experiment nicht mehr sichtbar ist. Die Begrifflichkeit muss dann zumindest so präzise sein, dass das abwesende Experiment nachvollzogen werden kann. Man kann sich noch mit umgangssprachlichen Umschreibungen behelfen, die ein konkretes Bild vermitteln, aber die deiktischen Begriffe taugen jetzt nicht mehr: „Ich habe das Glasröhrchen mit der Flüssigkeit 31 gemeint ist die Figur Sheldon Cooper aus der Serie „The Big Bang Theory“. Sheldon ist ein theoretischer Physiker, der sich oft einer, für die meisten Zuschauer unverständlichen, naturwissenschaftlichen, formelhaften Fachsprache bedient. 45 Landesinstitut für Schulentwicklung über das Feuer gehalten und das Pulver unten drin etwas aufgeschüttelt. Dann ist es heiß geworden und hat sich aufgelöst.“ Diese Formulierungen sind aber nur funktional, wenn sich der Zuhörer auch an das Experiment erinnert. Kennt der Zuhörer oder Leser das Experiment nicht, müssen noch einige Aussagen präzisiert werden. Vor allen Dingen das leidige „es“, dessen Bezugsobjekt so selten klar ist, muss hier kritisch betrachtet werden. Soll dann am Ende eine allgemeingültige, für alle Welt verständliche und nachvollziehbare Aussage formuliert werden, darf das Subjekt, der Experimentator, nicht mehr sichtbar sein, denn ein Experiment und sein Ergebnis soll nicht von einer Person abhängig sein, sondern Allgemeingültigkeit erreichen. Die passenden Fachtermini müssen benutzt werden wie Reagenzglas, Flamme des Bunsenbrenners, H2O, das Kochsalz, u. s. w., die die Bezugsobjekte präzise benennen, sodass das Experiment mit genau denselben Komponenten immer und überall wiederholt werden kann. Konjunktionen, Adverbien und Pronomen, die eine Information wieder aufgreifen, müssen klar zuzuordnen sein, damit die formale und inhaltliche Logik des Satzes nachvollziehbar ist. Von der konzeptionell mündlichen Handlungssprache beim Experimentieren steigt also in der weiteren Verwertung des Beobachteten im Unterrichtsgespräch über den Aufschrieb des Versuchsaufbaus bis hin zur eindeutigen Formulierung einer allgemeingültigen Regel der Abstraktionsgrad der Sprache bis zu einer maximalen konzeptionell schriftlichen Form, die dem jeweiligen Fach angemessen ist. Fachsprachen, gerade die Naturwissenschaften und die Mathematik32 haben ihre eigenen immer wiederkehrenden sprachlichen Standardsituationen, die mit Satzmustern eingeübt werden können, z. B. „je ..., desto ...; wenn ..., dann-Zusammenhänge, u. s. w. Auch innerhalb des Satzes tauchen typische Konstruktionen und Phrasen auf: „kleiner/größer als“, „im Verhältnis zu“, u. s. w. Es treten dort Wörter auf, die in anderen – alltäglichen – Kontexten eine andere Bedeutung haben (Kegel, Wurzel, ...). Es gibt hier also Besonderheiten, die sich hauptsächlich auf der Wort- und auf der Satzebene abspielen. Es ist wichtig, dass man sich als Fachlehrkraft seines fachspezifischen Sprachgebrauchs und Vokabulars bewusst ist und unterscheiden kann, was als versteh- und produzierbar bei den Lernenden vorausgesetzt werden kann und was vorentlastet und eingeübt werden muss. Neben der kontextabhängigen Polysemantik der Begriffe sind Phrasen in Fachsprachen durch Allgemeingültigkeit und Präzision gekennzeichnet. Häufig führt diese Qualität aber dazu, dass in 32 Gerade wenn es um die Beschreibung und Auswertungen von Statistiken und anderen Schaubildern geht, trifft dies aber auch auf viele geisteswissenschaftliche Fächer zu. Überall dort, wo es um Gesetzmäßigkeiten, wiederkehrende Strukturen bei gleichen/ähnlichen Mustern, also nicht um Kreativität, Individualität und Narrativik geht, ist das Einüben von Satzmustern hilfreich. 46 Landesinstitut für Schulentwicklung wenigen Worten viel an Abstraktion und Bedeutung transportiert wird und die inhaltliche Dichte einer Aussage sehr hoch sein kann. Enorm viel Wert wird auf die passenden logischen Verknüpfungen gelegt. Die komplexen Zusammenhänge lassen sich am besten in abhängige Nebensätze gießen, die die Verhältnisse des beobachteten Phänomens spiegeln. Das wird im Deutschen außer syntaktisch, durch Hypotaxen und darin verwendeten aufgreifenden Wörtern, durch Nominalisierungen, Komposita, Fremdwörter, das Passiv und den unpersönlichen Ausdruck erreicht. Gerade das Zurücktreten eines aktiv handelnden Subjekts und der von ihm abhängigen Verbalphrasen machen den Inhalt solcher Sätze für den sprachlich-kognitiv noch nicht so weit entwickelten Lernenden unverdaulich. Quereinsteigern fällt der Gebrauch und das Verstehen der Fachsprachen oft gar nicht so schwer, wenn sie ihre Erstsprachen gut beherrschen und dort schon mit diesem Sprachregister und seinen Erfordernissen bekannt geworden sind. Daran sieht man, dass es sich im Wesentlichen nicht um speziell deutsche Sprachphänomene handelt, die dieses Register an sich ausmachen, sondern die Fähigkeit zur Abstraktion an sich. Die Hürden der Fachsprachen verknüpfen sich aber mit den speziellen Eigenarten der deutschen Sprache. Abstraktion: unpersönliche Formulierungen Es ist nachvollziehbar, das aktive Strukturen nach dem Muster: „Ich kann Dampf sehen.“ geläufig und einfach zu bewältigen sind, weil sie sich aus dem unmittelbaren Erleben des Sprechers ergeben und den Sender als Agens und ein real beobachtetes Patiens zum Inhalt haben. Somit sind sie sprachlich leichter umzusetzen als „Man kann Dampf sehen.“ oder „Es ist Dampf sichtbar.“, die beide eine Abstraktionsleistung beinhalten. Bei der unpersönlichen Formulierung mit „es“ ist gar kein Agens mehr vorhanden und das „Es“ referiert nicht auf einen Bezugsgegenstand in der Realität. Die Form der Aussage hat sich wesentlich verändert und ist komplexer geworden. Im naturwissenschaftlichen Unterricht aus Agens-Patiens-Konstruktionen immer wieder unpersönliche Formulierungen zu formen, ist eine wichtige Übung, um die Struktur verstehen und verwenden zu lernen. Abstraktion: Passiv Ähnlich verhält es sich mit dem Passiv, bei dem das Agens vernachlässigt wird und wegfallen kann und das Patiens in die Subjektrolle rückt: „Das Austreten von Dampf wird beobachtet.“ Dadurch wird eine Allgemeingültigkeit erzeugt, die von der individuellen Beobachtungssituation abstrahiert. „Das Volumen eines Quaders kann mit der Formel V = a · b · c berechnet werden.“ Das Passiv kann bei intransitiven Verben auch unpersönlich realisiert werden, so dass auch kein Patiens mehr sichtbar ist: „Hier darf nicht gerundet werden.“ 47 Landesinstitut für Schulentwicklung Vor allem für Schülerinnen und Schüler, die noch mitten im Spracherwerb stecken, ist das Verstehen und Produzieren solcher Strukturen eine große Hürde, bei der sie viel Unterstützung und Übung brauchen. Abstraktion: Nominalisierung und ausgedehnte Nominalphrasen Die Verdichtung in der Fachsprache geschieht des Weiteren durch Operationen, wie sie am folgenden übertriebenen Beispiel nachvollzogen werden können: „Viele Füchse fressen viele Mäuse. Diese werden weniger. Es werden mehr gefressen wie geboren. Viele Füchse können nur noch wenige Mäuse fressen. Sie können sich nur noch schlecht ernähren und bekommen weniger Junge. Die Füchse werden weniger und fressen weniger Mäuse. Es werden mehr Mäuse geboren wie gefressen. Die Mäuse erholen sich. Alles beginnt wieder von vorn“ (nach einem Unterrichtsgespräch über ein Schaubild) Es findet eine Erholung der zuvor durch den großen Bestand von Räubern verringerten Population der Beutetiere statt, da durch die aufgrund geringerer Überlebenschancen kleiner gewordene Anzahl der Beutetiere die immer prekärer werdende Ernährungslage der Prädatoren soweit verschlechtert wird, dass durch deren deutlich gesunkene Geburtenrate weniger Beute geschlagen werden kann. Dieser zyklische Prozess wird Räuber-Beute-Verhältnis genannt. Was hier vor allem ins Auge fällt ist das Verhältnis von Nomen und Verben in den beiden Texten. Kommen im ersten nur drei Nomen und diese in mehrfacher Wiederholung vor (insgesamt neun), sind es beim zweiten (bewusst übertrieben gestalteten) Text sechzehn weitestgehend unterschiedliche und fachspezifische. Umgekehrt gibt es im ersten Text elf Verben, im zweiten vier. Fachsprachliche Texte tendieren zur Nominalisierung von Verben und Adjektiven. In Nominalphrasen lassen sich platzsparend auf engstem Raum weitere Informationen in Form von präzisierenden Ergänzungen aller Art unterbringen, z. B. adverbiale Bestimmungen, Adjektive, Genitivattribute, logische Verknüpfungen durch Konjunktionen u. s. w. Dadurch kann ein komplexer Zusammenhang mit den passenden textlogischen Verknüpfungen auch formal als eine Einheit in einem Satz dargestellt werden. Demgemäß braucht der fachsprachliche Text bei der Darstellung des Sachverhalts nur zwei Sätze hypotaktischer Natur, der erste umgangssprachliche neun. Für unsichere Leserinnen und Leser ergibt sich beim Verständnis eine gewisse Unübersichtlichkeit, da die Verbklammer sehr gespreizt wird und man die rechte Satzklammer regelrecht suchen muss. Außerdem muss genau hingeschaut werden, wo sich Satzglieder ergeben und wie diese 48 Landesinstitut für Schulentwicklung aufeinander bezogen sind. Schließlich muss formal analysiert werden, worauf sich die Attribute beziehen, wozu sie also genauere Auskunft geben. Je nach Alter und Niveau der Sprachbeherrschung ist man manchmal gut beraten in der Vorbereitung einen Text mit hoher sprachlicher Verdichtung zu vereinfachen oder zumindest ein Adhoc-Verstehen nicht zu erwarten. Um eine wissenschaftlich exakte, vollständige Darstellung zu erreichen, sind solche Satzungetüme manchmal nötig; Schülerinnen und Schüler finden sie in den Lehrbüchern, zumal der höheren Klassen, sowie auf Internetseiten und sollten lernen, damit umzugehen. Hier bedarf es umfangreicher sprachlicher Unterstützung und langsamer Heranführung an die zunehmende Komplexität. Hypotaxe Grundsätzliches zum Satzbau wurde oben schon besprochen und es ist klar, dass die Verwendung von Nebensätzen die Komplexität eines Satzes erhöht und ihn dadurch auch potenziell schwieriger macht. Man muss sowohl beim Verstehen als auch bei der Produktion auf Satzstellung und die Kohäsion achten: Worauf bezieht sich der Nebensatz? Wird etwa beim Relativsatz die korrekte Form des Relativpronomens ausgewählt, damit der Bezug stimmt? In den meisten fachsprachlichen Texten genügen parataktische Strukturen nicht, da sie einen komplexen Zusammenhang beschreiben, der auch so dargestellt werden muss; im wissenschaftlichen Kontext sind hauptsächlich kausale, konditionale und finale Zusammenhänge wichtig, die somit auch häufig Kausal-, Konditional- und Finalsätze mit den passenden Konjunktionen benötigen. Oben wurde bereits von typischen Satzmustern gesprochen, wie „wenn ..., dann ...“. Eine häufig verwendete Variante davon ist die verkürzt auftretende Konstruktion, die ohne das konditionale „Wenn“ und das konsekutive „Dann“ als Signale trotzdem eine Bedingung ausdrückt. Sie ist eine verkürzte Form der Darstellung, die es einem Lernenden schwer macht, die Zusammenhänge in einer solchen Aussage zu verstehen: Wird Sokrates verurteilt, dann muss er sterben.33 Hier kann Hilfestellung geleistet werden, indem man die längere Formulierung mit „wenn ..., dann ...“ angibt und die Umformung an mehreren Beispielen immer wieder üben lässt. 33 Im Feldermodell liegt hier die seltene Form eines Nebensatzes vor, der eine V/1-Stellung aufweist: der Nebensatz ohne einleitende Konjunktion. 49 Landesinstitut für Schulentwicklung Interferenz zwischen Alltagssprache und Fachsprache Auf Fremdwörter soll hier nur im Vorübergehen eingegangen werden. Sie sind für alle Lerner gleichermaßen fremd und müssen in ihrer korrekten Form und ihrem angemessenen Gebrauch mit ihren Kollokationen eingeübt werden. Schwierige fachsprachliche Komposita wurden weiter oben schon ausführlich in ihrer Problematik besprochen. Deutsche Fachwörter und gebräuchliche Fremdwörter haben oft mehrere Bedeutungen, eine alltagssprachliche und eine fachsprachliche, bei denen es zu Verwechslungen und Missverständnissen kommen kann: abziehen ziehen Energie Satz Tiefe fachsprachliche Bedeutung umgangssprachliche Verwendung Ziehe ich ein Fenster ab, bleiben nur noch fünf. (subtrahieren) eine Gerade ziehen, Schlüsse aus etwas ziehen, die Wurzel aus ... ziehen Energieerhaltungssatz Ich ziehe das Fenster beim Putzen mit einer Gummilippe ab. einen Karren ziehen, einen Zahn ziehen Energieerhaltungssatz (naturwissenschaftliche Formel) Bei dreidimensionalen Objekten kommt zur Höhe und Breite die Tiefe. (Ausdehnung im Raum, zAchse) Energieverbrauch (widerspricht dem physikalischen Fachbegriff geradezu, pseudofachsprachlich) Sprich bitte in vollständigen Sätzen! Einen Satz Briefmarken, bitte! Er stürzte in die Tiefe. (nach unten) In der Umgangssprache gebrauchte Wörter können im fachsprachlichen Kontext in anderen Kollokationen auftauchen, so z. B. Verben in so genannten Funktionsverbgefügen, die alleine – ohne ihr Gefüge – kaum mehr Bedeutung tragen und die Schülerinnen und Schüler als Ganzes kennen müssen, weil ihnen die Kenntnis des Verbs alleine und oft auch des ergänzenden Präpositionalobjekts alleine nicht mehr weiterhilft.34 Sie können sie also selten in ihrer Bedeutung erschließen und deshalb sollten solche Konstruktionen thematisiert werden. Man kann oft gleichbedeutende Phrasen dafür finden. Hier kommt das Demokratieverständnis der Athener zum Ausdruck. (Hier sieht man ...) Sokrates steht unter Anklage. (Sokrates ist angeklagt.) Paris trifft eine Wahl. (Paris wählt.) 34 Eine sehr nützliche Liste von Funktionsverbgefügen ist auf den Seiten von Dr. Gunther Dietz zu finden: http://www.dietz-und-daf.de/GD_DkfA/Gramminfo/txt_MII2/FVG-Liste2.pdf 50 Landesinstitut für Schulentwicklung Viele alltagssprachliche Begriffe taugen oberflächlich für die Beschreibung von fachlichem Inhalt und werden dementsprechend von Lernenden, die in der Alltagssprache fit sind, herangezogen. Es mangelt ihnen aber an Präzision und sie sagen wenig über die genaue Beschaffenheit des bezeichneten und über die genaue Handlung: Lehrkraft: „Wie konstruiere ich ein rechtwinkeliges Dreieck?“ Nils: „Sie müssen drei Striche machen. Alle Enden müssen sich mit dem Ende eines anderen Striches berühren und zwei Enden müssen senkrecht aufeinander stehen.“ Es gibt allerhand „Striche“ in der Geometrie, aber eine fachsprachlich richtige Verwendung von „Strich“ findet sich in der Analysis bei Ableitungen von Funktionen ƒ’(x) = n·x0n–1. Alle anderen „Striche“ sind je nach Kontext „Seiten“, „Geraden“, „Strecken“, „Halbgeraden“, „Parallelen“, u. s. w. Hier gilt es, den Wortschatz der Schülerinnen und Schüler bewusst zu erweitern und ihr Vokabular nicht nur en passant, sondern explizit auf eine präzisere und eindeutige Verwendung bei fachlichen Inhalten hin zu bearbeiten, indem man die Handlungssprache aufgreift und auf das neue Niveau der fachsprachlichen Begrifflichkeit bringt. Diese muss dann auch in Aufgabenstellungen im Unterricht, Hausaufgaben und bei der Leistungsmessung eingefordert werden. Durch häufige Verwendung, auf die geachtet werden muss, schleift sich dann die neue Bedeutung ein. Eine Anekdote zur Polysemantik von Begriffen und dem unabsichtlichen, unangemessenen Gebrauch einer Bedeutung in einem anderen Kontext: Eine griechische Schülerin hat mir ein Päckchen Kaugummi geschenkt mit folgender Aufschrift: Die kleine Freundschaftsgabe, als die sie tatsächlich gedacht war, geriet zur Sprachlernsituation, aus der sich die Schülerin mit hochrotem Kopf verabschiedete, aber auch mit einer neuen Bedeutungsvariante des Nomens „Geschmack“. 3.2.3 Quellen s. im Innenteil der Handreichung unter 3.2.3 51