DENKEN und HANDELN Band 20 Die Gestalt der Sozialarbeit Andreas Knoll ein methodischer Ansatz institutionsanalytischer Gestalt-Sozialarbeit Herausgegeben ... usw. zum Geleit W. Trautmann Fehler! Textmarke 1 nicht definiert. Inhaltsverzeichnis ____________________________________________________________ _ 1. Einleitung 1.1 Aufbau 2. Das Methodendilemma in der Sozialen Arbeit 2.1 2.2 2.3 2.4 Historische Entwicklung vor dem Krieg Die "klassischen amerikanischen Methoden" Die Methodenkritik nach 68 Der "Psychoboom" und seine Auswirkungen auf die Soziale Arbeit 3. Ganzheitliche Sozialarbeit 3.1 Auf der Suche nach einem eigenständigen Methodenkonzept für die Soziale Arbeit 3.2 Ganzheitliche Ansätze in der Sozialen Arbeit 3.3 Strukturierung und Differenzierung des ganzheitlichen Ansatzes 3.31 EXKURS: Methodentheoretische Erörterung 3.4 Das Konzept der Ganzheitlichkeit 4. Systemorientierte Sozialarbeit 4.1 Ganzheitlichkeit und Systemperspektive 4.2 Die soziologische Systemtheorie 4.21 Die Entwicklung der soziologischen Systemtheorie 4.3 Ganzheitliches und systemisches Denken in der Sozialarbeit 4.4 Personale Kompetenz und ganzheitlich-systemisches Handeln 4.5 Veränderungsprozesse aus ökologisch-systemischer Perspektive 4.6 Die Eigenschaften lebender Systeme 2 5. Instutionale Sozialarbeit 5.1 Die Definition des Institionsbegriffs 5.2 Der praktische Institutionsbegriff 5.3 Der Institutionsbegriff für Sozialarbeit und Sozialtherapie 5.31 Die intrapersonale Institution 5.32 Die interpersonale Institution 5.4 Primäre und sekundäre Institutionen 5.5 Institutionelle Ebenen 5.6 Organisation und instituionalisierte Berufsrollenidentität 5.7 Das Problem der Bürokratie in der sozialen Arbeit 5.8 Die psychosoziale Abwehrfunktion der Institutionen 5.9 Organisationsberatung, Organisationsentwicklung 5.10 Individualisierung und Instituionalisierung in der Industriegesellschaf 5.20 Ort und Gegenstand der Sozialarbeit 5.20.1 Sozialarbeit und Über-Ich 5.30 Exemplarische Zusammenfassung des skizzierten Institutionsansatzes 5.40 Thesenartige Zusammenfassung des skizzierten Institutionsansatzes 5.50 Das systemisch-ganzheitliche Institutionsverständnis 5.60 Anmerkungen/Literatur zu Kapitel 5 6. GESTALT IN DER SOZIALARBEIT 6.1 Definition der Gestalttherapie 6.2 Das Problemverhältnis von Sozialarbeit und Gestalttherapie 6.3 Die Bedeutung des Introjektionskonzeptes für eine institutionsorientierte Sozialarbeit 6.31 Fallbeispiel 6.311 Therapeutische Auseinandersetzung mit dem Feld 6.4 Die Einwirkung des Feldes 6.5 Die Institutionskritik Paul Goodmans 6.51 Goodman - Lapassade Fehler! Textmarke 3 nicht definiert. 6.6 Zusammenfassende theoretische Darstellung der Gestaltherapie 6.61 Quellen und Konzepte der Gestaltherapie 6.611 Psychoanalyse 6.612 Psychodrama 6.613 Östliche Philosophien 6.614 Phänomenologie 6.615 Gestalttheorie 6.62 Konzepte 6.621 Awareness 6.622 Hier und Jetzt 6.623 Vermeidungsmechanismen 6.63 Die Kontaktgrenze 6.7 Anthropologische Konzepte gestaltpädagogischen Handelns 6.8 Phänomenologie - wissenschaftstheoretische und philosophische Grundlage der Gestalttherapie 6.81 Wissenschaftstheoretische Definition 6.82 Der Phänommenologiebegriff Merleau-Pontys 6.83 Heideggers Phänomenologie 6.84 Die Wirkung des phänomenologischen Denkens in der praktischen Gestaltherapie 6.9 Verfahren und Techniken der Gestaltarbeit 6.91 Beratungs- und Gesprächsführungstechniken 6.911 Gestalttechniken zur Einsichtsförderung 6.912 Gestalttechniken zur Förderung von eigener Verantwortlichkeit und Entscheidungsfähigkeit 6.92 Kreative Techniken 6.93 Körper- und Bewegungstechniken 6.94 Rollenspieltechniken 7. Schlusskapitel 4 1. EINLEITUNG Als ich mich im Jahre 1986 um eine Stelle an einer Fachhochschule für Sozialarbeit, im Fach "Methoden der Sozialarbeit" bewarb, konnte ich mich nur noch mit Mühe daran erinnern, was sich hinter dieser Fachbezeichnung verbirgt. Nun war ich zu diesem Zeitpunkt weder Berufsanfänger noch ein ausgebrannter berufsblinder Sozialarbeiter; im Gegenteil: mein Studienabschluß als Sozialarbeiter lag knapp zwölf Jahre zurück, der als DiplomSupervisor sechs Jahre; die Zusatzausbildung zum Gestalttherapeuten hatte ich auch nahezu abgeschlossen. Die etwa neunjährige Berufs- und Supervisionserfahrung hatte mich mit beinahe allen Feldern Sozialer Arbeit in Berührung gebracht, besonders im Suchtbereich fühlte ich mich in Theorie und Praxis bewandert. Die Tatsache, nun mit einer Situation konfrontiert zu sein, in der ich keine inhaltlichen Aussagen zu den Kernvollzügen meiner Profession machen konnte, verunsicherte mich damals erheblich. Die Frage, um was es sich eigentlich bei diesen "Methoden der Sozialarbeit" handelt, beschäftigte mich in den Monaten während meines Bewerbungsverfahrens in hohem Maße. Da ich damals wie heute einige Berufskollegen zu meinem näheren Freundeskreis zählte, konnte ich dieses Thema mitsamt meinen professionellen Verunsicherungsgefühlen in diesem kollegialen Freundeskreis besprechen.. Nun handelte es sich bei den befreundeten Kollegen durchweg um "alte Hasen", die teilweise schon vor 1970 ihr Studium begonnen hatten, bis heute die unterschiedlichsten Zusatzausbildungen absolvierten und langjährig praktisch tätig waren; teilweise in den klassischen Feldern der Sozialarbeit, wie Jugendamt, Allgemeiner Sozialdienst u.ä., teilweise in neueren und alternativen Einrichtungen, wie z.B. Beratungsstellen und bei Selbsthilfeeinrichtungen. Meine Frage nach den "Methoden der Sozialarbeit" löste bei den meisten dann jedoch ähnliche Empfindungen aus, wie ich sie von mir bereits kannte. Es hatte teilweise etwas Peinliches, von Halbwissen geprägtes an sich, vergleichbar mit so unsäglichen Situationen, in denen man sich nicht mehr daran erinnern kann, wie der erste Bundespräsident hieß oder in welchem Jahr die Währungsreform war. Eines wurde mir jedoch schnell deutlich und entlastete mich doch sehr. Es war nicht mein individuelles Problem, es schien so zu sein, daß viele Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen meiner Generation ähnliche Lücken aufwiesen. Natürlich erhielt ich einige vage Angaben, wie z.B. "Einzelfallhilfe", "das kommt aus der Fürsorge", "das ist Alles" usw. Die genauesten Angaben konnte ein Fehler! Textmarke 5 nicht definiert. befreundeter Kollege machen, der seine Ausbildung Anfang der siebziger Jahre in einer kirchlichen Fachhochschule absolvierte, die für mich und viele meiner damaligen Kommilitonen in dem Ruf stand, unsagbar konservativ zu sein. Er zählte Casework, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit auf, er konnte inhaltlich jedoch nicht viel mehr ausführen. Bei der Aufzählung dieser Begriffe begann ich mich dann doch wieder zu erinnern und mir fielen einige Sozialarbeitslehrerrinnen aus den ersten Semestern meines Studiums (70/71) ein, die bei uns Studenten von damals jedoch keinen besonderen Ruf genossen. Die Beschäftigung mit der Frage, wie es kommen konnte, daß gemeinsam mit mir große Teile dieser Berufsgeneration Handlungskonzepte aus der Sozialarbeit nicht, oder nur sehr oberflächlich kennen, schien mir auf einen zentralen Berufskonflikt hinzudeuten. Die Antwort darauf, so hoffte ich, müßte mir auch Aufschluß über meinen beruflichen Identitätskonflikt geben können. Dieser berufliche Identitätskonflikt, bei mir und anderen Kollegen, die sich methodisch fort- und weitergebildet haben, schien mir einen Angelpunkt in der Unkenntnis über die methodengeschichtliche Entwicklung des Berufes zu haben. Diese Unkenntnis führte vielfach dazu, daß man sich in der eigenen methodischen Orientierung unbedenklich von anderen Berufsgruppen definieren ließ. Zu Zeiten des "Psychobooms" handelte es sich bei diesen Berufsgruppen vorwiegend um Psychologen und Psychiater, in jüngerer Zeit auch vermehrt um Juristen. Wie ist das gekommen? Mit Beginn meines Studiums im Herbst 1970 erlebte ich die sozialarbeiterische Methodenentwicklung in einem ungeheuren Spannungsfeld. Das im Jahre 1962 in die Ausbildung an den Höheren Fachschulen für Sozialarbeit/Sozialpädagogik eingeführte Fach "Methoden" wurde nahezu ausschließlich von lehrenden Sozialarbeiterinnen vermittelt (es waren fast uneingeschränkt Frauen). Die endgültige Durchsetzung dieses Faches dauerte noch bis 1971. Marianne Hege erinnert sich noch daran, "welche persönliche Genugtuung die Kolleginnen erfüllte, als dieser Tatbestand auf einer Tagung dieser Dozenten 1971 in Berlin festgestellt wurde."(1) Nahezu zum gleichen Zeitpunkt wurden die Höheren Fachschulen in Fachhochschulen umgewandelt. Meine Ausbildungsstätte wurde darüberhinaus sogar in die erste Gesamthochschule Deutschlads integriert. ( 1) Hege, 1984 6 Diese Umwandlung bedeutete für mich und viele meiner damaligen Studienkollegen und -kolleginnen einen großen Fortschritt und eine Anerkennung der Sozialarbeit auf ihrem Wege zur Wissenschaftlichkeit. Darüber hinaus kamen jetzt viele neue Lehrkräfte - nun Professoren - zu uns, die wir teilweise aus der "achtundsechziger-Zeit" kannten und bewunderten, weil sie als Studenten teils im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) teils in anderen linken Gruppierungen der Studentenbewegung aktiv waren. Im Zuge der "68er-Bewegung" erlebten die Sozialwissenschaften einen enormen Auftrieb und die Studentenzahlen stiegen mächtig an. Diese Sozialwissenschaftler suchten nun ein Betätigungsfeld und fanden es in der Sozialarbeit. "Die neu hinzugekommenen Dozenten und Professoren hofften mit den Studenten dieser Jahrgänge 1971/1972, daß gerade das Feld der Sozialarbeit der gesellschaftliche Ort sein könnte, in welchem sich durch Politisierung Veränderungen in Richtung auf eine Demokratisierung der Gesellschaft, Abbau von Herrschaftsstrukturen und damit Humanisierung des Zusammenlebens am ehesten initiieren lassen könnten. Der im Lehrauftrag der Fachhochschulen geforderte Theorie-Praxis-Bezug schien eine Möglichkeit der direkten Einflußnahme auf die Praxis zu geben. In der gemeinsamen Arbeit von Lehrenden und Studenten im Projekt sollte auch der Lernprozeß selbst zu einem Beispiel neuverstandener Sozialarbeit werden (Abbau des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, Erfahrungen im Feld und theoretische Reflexion im Seminar als didaktischer Prozeß)."(2) Die zu diesem Zeitpunkt, nach langen Kämpfen gerade eingeführten "Methoden der Sozialarbeit", sahen sich nun einer massiven Kritik von gesellschaftskritischen Sozialwissenschaften gegenüber, der die damaligen Methodikerinnen nicht standhalten konnten, zumal sie durch die Einführung der Fachhochschulen eklatante Statusverlußte hinnehmen mußten. Während aus Lehrern, die in der Sozialarbeiterausbildung tätig waren, im Nu Professorinnen und Professoren wurden, bekamen die Sozialarbeiterinnen den Status "Lehrkraft für besondere Aufgaben". Da wundert es mich im Nachhinein nicht, daß mit mir eine Vielzahl meiner damaligen Kommilitoninnen und Kommilitonen die Orientierung an den Methoden der Sozialarbeit zu Gunsten einer gesellschaftskritischen Perspektive aufgaben. Die heutigen Identitätskonflikte scheinen nun damit (2) Hege, 1984 Fehler! Textmarke 7 nicht definiert. zusammenzuhängen, daß auf der einen Seite ein Prozeß der Abspaltung der berufs- und methodengeschichtlichen Dimension stattfand und auf der anderen Seite Handlungsmethoden anderer akademischer Disziplinen weitestgehend unhinterfragt in die Ausbildung übernommen wurden. Klientenzentrierte Gesprächsführung, lerntheoretische Ansätze und die Gruppendynamik hielten nun Einzug. Die gesellschafts- und methodenkritische Phase der Sozialarbeit hat uns zwar einen großen Schritt weitergebracht, indem sie unser Augenmerk auf die Gesellschaft als konstitutiv für soziale Probleme lenkte. Sie konnte jedoch zur Lösung unseres berufsethischen Grundkonfliktes nur wenig beitragen. Mein berufsethischer Grundkonflikt besteht seit Beginn meines Studiums darin, daß ich die Bedingungen für individuelles Unglück größtenteils im politisch-sozialen System verortet sehe, das den einzelnen Menschen unterwirft. Darum muß ich Veränderung als Veränderung am System begreifen. Andrerseits sind es aber die Menschen selbst, die das System ausmachen. Das System kann demzufolge nur verändert werden, wenn die Menschen nicht mehr systemkonform handeln. Muß deshalb die Veränderung doch wieder beim Individuum ansetzen? Mit meinem institutionsanalytisch-gestalttherapeutischen Ansatz versuche ich diesen Widerspruch zu überwinden, indem ich mit "Institution" einen Begriff einführe, den man sowohl als Bestandteil eines individuellen, als auch eines gesellschaftlichen Unbewußten begreifen kann. Die Institution ist sowohl im Individuum, als inneres Normen- und Wertgefüge wirksam (die Psychoanalyse nennt es Über-Ich) als auch auf sämtlichen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, bis hin zu den Gesetzen. Während meiner Tätigkeit als Sozialarbeiter und als Supervisor habe ich ständig die Erfahrung machen müssen, daß das Klientel der Sozialen Arbeit in besonders auffälliger Weise im Umgang mit Institutionen scheitert. Das fängt an im Kindergarten sichtbar zu werden und zieht sich durch den gesamten Lebenslauf bis hin zum Altenpflegeheim. Dieses Scheitern der Menschen in den Institutionen muß nun von der Sozialarbeit in zweierlei Richtungen angegangen werden: eine individuumzentrierte Arbeit hat das Ziel, dem einzelnen Menschen zu inneren Orientierungs- und Wertsystemen zu verhelfen, die es ihm ermöglichen, sich erfolgreich in der Gesellschaft zu bewegen. Eine gesellschaftlich orientierte 8 Arbeit hat das Ziel, Institutionen dergestalt zu verändern, daß die Menschen sich erfolgreich darin bewegen können. Von diesem Standpunkt aus gesehen, hat Gesellschaftsveränderung keinen weltrevolutionären Anspruch mehr, sondern sie setzt an den konkreten Institutionen an, in denen und mit denen Sozialarbeit tätig ist. Mit dem hier skizzierten Ansatz versuche ich ein integriertes Konzept methodischer Sozialarbeit zu entwerfen, welches die allgemeine Basis für methodisches Handeln im gesamten Feld sozialer Arbeit liefern soll. Es geht also nicht um die Entwicklung spezifischer Methoden und Techniken für jeweils anders geartete Felder Sozialer Arbeit, sondern hier soll Sozialarbeit als breites Handlungsfeld verstanden werden, in dem die Professionellen nicht als Spezialisten sondern als Generalisten auftreten und handeln. Diese Überlegungen führen dazu, daß die Begriffe Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit nicht mehr voneinander getrennt werden. Der hier entworfene Methodenbegriff ist für alle Bereiche anwendbar. Der Anspruch, einen Methodenansatz für "generalistische Sozialarbeit" zu entwerfen, macht es zunächst nötig, die Methodengeschichte der Sozialarbeit zu reflektieren. Aus der Reflexion dieser Methodengeschichte ergibt sich der Anspruch nach ganzheitlicher Betrachtungsweise. Die sich aus dem Anspruch nach Ganzheitlichkeit ergebenden Komplexitätsprobleme versucht das systemische Denken theoretisch in den Griff zu bekommen. Den praktischen Ansatz dazu schließlich liefert das Gestaltdenken, welches uns ermöglicht, Ganzheiten zu differenzieren, indem es eine Figur-GrundKonzeption entwirft. Dieses Denken verortet nun die Genese Sozialer Probleme in der Gesellschaft. Diese Gesellschaft wird in Subsysteme differenziert, die ich als Institutionen beschreibe. Individuelle Probleme tauchen als "Figur" vor dem institutionellen "Grund" auf. Institutionelle Probleme tauchen als "Figur" vor dem gesamtgesellschaftlichen "Grund" auf. Sowohl "Figur" als auch "Grund" können Gegenstand der "Behandlung" sein. Meine ersten Erfahrungen mit Gestalttherapie machte ich im Jahre 1975, als ich in einer Langzeittherapie-Einrichtung für Drogenabhängige tätig war. Gleich am ersten Tag meiner Tätigkeit nahm ich an einer Therapiesitzung teil, bei der ein Klient mit größtmöglicher innerer Beteiligung auf eine Matratze einschlug und dabei schrie, "ich schlag Dich tot, Mutter . . .". Fehler! Textmarke 9 nicht definiert. Ich war fasziniert und abgestoßen zugleich und konnte mich der Gedanken an Exorzismus nicht erwehren. Als ich im Anschluß an die Therapiesitzung mit dem Gestalttherapeuten sprach, sagte dieser mir, daß die zurückbehaltenen aggressiven Energien herausgelassen werden müssen, was zu einer Befreiung führen würde. Ich konnte das gut nachvollziehen und erlebte in den nächsten Monaten ähnliche Therapiesitzungen. Meine Skepsis gegenüber der Gestalttherapie entwickelte sich dann erst, als diese Drogenabhängigen, nach teilweise über zwölf-monatiger Therapie entlassen wurden und versuchten, ein bürgerliches Leben zu führen. Völlig kritiklos, ohne jegliches Verständnis gesellschaftspolitischer Zusammenhänge, versuchten diese jungen Leute auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Keiner von ihnen konnte die Gefühle reflektieren, die die soziale Situation in ihm auslöste und fast alle scheiterten nach kurzer Zeit in ihren neu geschaffenen sozialen Bezügen und kehrten in die Drogenszene zurück, wobei das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe (Drogenszene), deren Spielregeln man gut kannte, mitausschlaggebend war. Ich entwickelte damals so ein gewisses Unbehagen der Gestalttherapie gegenüber, was ich auch heute (1992) noch bei vielen meiner Berufskollegen erlebe. Gestaltarbeit erschien mir als einseitig, auf die explosionsartige Entladung von Spannungszuständen ausgerichtete Therapieform, die die soziale Wirklichkeit der Menschen nicht sieht. Erst Jahre später fielen mir Schriften von Paul Goodman(3) in die Hände, die mir ein völlig anderes Bild der Gestalttherapie vermittelten. In diesem Bild erschien mir Gestalttherapie nun als ein Verfahren, das zwar weiterhin zur Heilung und Linderung individuellen Leides beiträgt, darüber hinaus aber auch darauf abzielt, "Bewußtsein" zu schaffen. Dadurch soll die Fähigkeit zu kommunizieren gefördert werden, damit Individuen sich in der Gesellschaft besser orientieren können und zu ihrer Humanisierung beitragen. Paul Goodman war mit seinem Ansatz für mich der eigentliche Sozialpädagoge, der mir dazu verhalf, meinen berufsethischen Konflikt als besondere Chance der Sozialarbeit zu sehen. Ich erlebe individuelles Leiden und bin bemüht, dieses mit Gestalt-Methoden zu lindern, doch stets frage ich mich, welches denn die Bedingungen sind, die verhindern, daß die Menschen ein "gutes Leben" und "glückliches Zusammenleben" führen, stets frage ich (3) Goodman, 1956 10 mich nach den Ursachen für individuelle Unzufriedenheit und soziale Mißstände. Meistens finde ich diese Ursachen in den Institutionen, aus denen diese Gesellschaft besteht. Und dann frage ich danach, wie diese Institutionen zu verändern sind. 1.1 Aufbau Die nun folgenden Ausführungen sind in erster Linie Ergebnis meiner praktischen Erfahrungen, die ich in über 10 Jahren Supervisorentätigkeit, ebensolangem Sozialarbeiterhandelns und sechsjähriger Ausübung von klinischer Soziotherapie habe sammeln können. Die theoretischen Zugänge wurden mir insbesondere durch meine Tätigkeit als lehrender Sozialarbeiter wieder neu eröffnet. Im Kapitel über das Methodendilemma in der Sozialen Arbeit werde ich zunächst die Methodengeschichte grob skizzieren. Hierbei soll aber auch verdeutlicht werden, wie geschichtliche Prozesse dazu geführt haben, daß die Sozialarbeit den Weg zur Wissenschaft und Profession zunächst nur mühsam zu beschreiten im Stande war. Das Kapitel über die ganzheitliche Sozialarbeit greift zunächst auch noch einmal auf die Berufsgeschichte zurück und verankert dort den Ganzheitsbegriff in all seiner Problematik. Im weiteren Verlauf wird dieser oft umstrittene Begriff in Verbindung mit dem ökologisch-systemischen Denken jüngerer Zeit gesehen. Dabei wird erstmals angedeutet, welche Bedeutung der "Paradigmenwechsel" in den Naturwissenschaften für ein modernes ganzheitliches Denken haben kann. Es folgt ein Exkurs, der den Methodenbegriff zu erläutern versucht. Die weiteren Erörterungen des Ganzheitsbegriffs beziehen nun ganz den "Paradigmenwechsel" mit ein. Eine Ausdifferenzierung des Ganzheitsbegriffs wird im Kapitel über systemorientierte Sozialarbeit versucht. Hier werden der Sozialarbeiter und die Sozialarbeiterin stets als ein Bestandteil eines ganzen Klient-HelferSystems betrachtet, wodurch die Notwendigkeit selbstreflektierenden Arbeitens sichtbar gemacht werden soll. Das zentrale Kapitel der Ausarbeitung handelt von "Institutionaler Sozialarbeit". Hier ist bewußt nicht der Begriff "institutionell" verwendet worden, weil hiermit nicht in erster Linie Institution im Sinne von Organisationen Fehler! Textmarke 11 nicht definiert. und Behörden gemeint ist, sondern darüberhinausgehend die Abbildung dieser äußeren Strukturen im inneren Erleben der Menschen. In diesem Kapitel sind einige Fallbeispiele illustriert, die, zuerst gelesen, einen etwas lebendigeren Zugang zur Thematik geben. Den Schluß dieses Teils der Arbeit bildet eine thesenartige Zusammenfassung des institutionalen Ansatzes, die notwendigerweise etwas grob und axiomatisch erscheinen mag. Im Kapitel Gestalt in der Sozialarbeit versuche ich nun Ansätze für ein Handlungskonzept zu entwickeln, welches Methodengeschichte, Ganzheitlichkeitsanspruch und institutionellen Zugang vereinheitlicht. Wahrscheinlich ist mir das nur in Ansätzen gelungen. Obwohl die Gestalttherapie in Deutschland im letzten Jahrzehnt, insbesondere durch Petzold, eine immense Weiterentwicklung erfahren hat, greife ich hier zunächst nur auf die Grundlagen dieses Denkens zurück, weil ich denke, daß die der Gestalttherapie zugrunde liegenden anthropologischen Konzepte mit dem Menschenbild aus der Geschichte der Sozialarbeit "vollkompatibel" sind. Ich bedanke mich bei meinen Lehrern: Ulf Weißenfels, Heiner König, Lothar Nellessen, Hilarion Petzold sowie meiner Frau und Kollegin Andrea Kunze. 12 2. DAS METHODENDILEMMA IN DER SOZIALEN ARBEIT Der Methodenbegriff ist in der Sozialarbeit seit je her unklar und vieldeutig. Während man noch in den frühen fünfziger und sechziger Jahren hoffte, ein klar umgrenztes Methodenkonzept entwerfen zu können, hat die spätere Entwicklung gezeigt, daß eine zunehmende Verwissenschaftlichung der Disziplin zu theoretischen Ausdifferenzierungen führte, denen die praktische Umsetzung kaum noch Rechnung tragen konnte. Es entstand eine Kluft zwischen Theorie und Praxis, die bis heute spürbar geblieben ist. 2.1 Historische Entwicklung vor dem Krieg Der Begriff Sozialarbeit entstand um die Jahrhundertwende als "Social Work" in Amerika. In Deutschland waren Begriffe wie "Fürsorge" und "Wohlfahrtspflege" bis in die fünfziger Jahre gängige Bezeichnungen. Obwohl in Deutschland bereits vor den zwanziger Jahren Ausbildungsstätten für Fürsorgerinnen und Wohlfahrtspflegerinnen bestanden, war lange Zeit das Feld der "helfenden Tätigkeiten" von Menschen besetzt, die keine dieser Schulen besucht hatten. Hunderttausende von Menschen, die keine Ausbildung hatten, waren in kirchlichen Institutionen im Dienste des christlichen Liebeswerkes tätig und machten "irgendwie" die gleiche Arbeit wie diejenigen, die in den Schulen dafür ausgebildet worden waren. Die ersten dieser Schulen wurden schon um die Jahrhundertwende gegründet. Bereits 1901 begann in Frankfurt die drei Jahre zuvor gegründete Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften mit dem Lehrbetrieb. Diese Akademie wurde 1914 in die Universität Frankfurt/Main integriert, wo seit 1912 der erste Lehrstuhl für das Fürsorgewesen bestand. Zwischen 1912 und 1923 gab es in Köln eine Frauenhochschule für soziale Berufe, an der ein viersemestriges Studium auf akademischen Niveau ermöglicht wurde. Dennoch kann man von einer Entwicklung einer FürsorgeWissenschaft zu dieser Zeit noch nicht sprechen, da sich zu wenig Studierende für diesen Bereich interessierten.(4) "In die Zeit der Weimarer Republik fallen daher auch die Ansätze einer Professionalisierung der Sozialarbeit; die Versuche, Berufsbild und Be- (4) vergl. Fehlker, 1989 Fehler! Textmarke 13 nicht definiert. rufsbildung mit den Mitteln der beruflichen Organisation zu kontrollieren und zu stabilisieren."(5) Die "Sozialen Frauenschulen" formulierten in der Zeit zwischen 1921 und 1933 Alternativen zur "naiven christlichen Liebestätigkeit"(6) derer, die Fürsorge nur auf der Grundlage ihrer karitativen Gesinnung ohne wissenschaftliche Reflexion betrieben. Einen erste Blüte erlebten die Ausbildungsstätten für Sozialfürsorgerinnen und Wohlfahrtspflegerinnen in den zwanziger Jahren, und die von Alice Salomon geforderte Verwissenschaftlichung rückte auch mehr und mehr sozialpolitische Aspekte der Armut in den Mittelpunkt der Betrachtung. Alice Salomon kann man als die Repräsentantin einer bürgerlichen Frauenbewegung verstehen, die ihr Ideal von der weiblichen Emanzipation mit Reformansätzen im Bereich von Fürsorge und Wohlfahrtspflege verband. Diese Bewegung ging davon aus, daß die Verfachlichung der Fürsorge zur besonderen Kulturaufgabe der bürgerlichen Frau gehört, da ihr mütterliches Wesen sie besonders qualifiziere, an der Heilung sozialer Schäden mitzuarbeiten. "Die bürgerliche Frauenbewegung setzte sich von dem >gefährlichen Dilletantismus< ab, den sie bei jenen >Wohlfahrtsdamen< anprangerte, die >durch das Taschentuch den Armeleutegeruch fernhalten wollten<."(7) "Alice Salomon war in Deutschland eine Pionierin der sozialen Arbeit und Repräsentantin der Frauenbewegung. Sie hatte ganz wesentlich die Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin mitgestaltet, besonders auch dadurch, daß sie einige weitverbreitete Lehrbücher für diese Ausbildung verfaßt hat; schließlich handelte es sich dabei um die ersten Bücher, mit denen die Methode des amerikanischen >social work< in Deutschland bekannt wurde und woran schließlich die deutsche Berufsbezeichnung >Sozialarbeit< orientiert ist."(8) Sie erhoffte, mit der von ihr 1908 gegründeten "Sozialen Frauenschule", von der "Partnerin Wissenschaft" nicht nur zu erfahren, was zu tun sei, um die Randständigsten der Gesellschaft zu pflegen und zu fördern, sondern sie wollte auch wissen warum, wozu und wie am besten. (5) (6) (7) (8) Sachße, 1986 Maor, 1975 Helene Lange, zit. in: Fehlke 1989 Simmel, 1981 Die von Simmel erwähnten Bücher sind Soziale Diagnose, Berlin 1926 Soziale Therapie, Berlin 1926 Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927 14 "Aber sogar in dieser Hinsicht war Alice Salomon skeptisch: Die deutschen Universitäten >dienen der reinen Wissenschaft: der Vermittlung intellektueller Inhalte und Methoden der Forschung<, konstatierte Alice Salomon; >nicht unmittelbar der Vorbereitung zum Handeln ... Die Soziale Arbeit braucht (aber) eine auf das praktische Handeln bezügliche Theorie, und zwar auf ein Handeln, das sich um das Wohl des Menschen in seiner Totalität bemüht. Das können die deutschen Universitäten nicht geben.(9) Alice Salomon war eine Methodikerin der ersten Stunde, die dennoch davon überzeugt war, daß es reflektierte, erfahrungswissenschaftlich untermauerte Handlungsprinzipien im Umgang mit sozialen Problemen bedurfte.(10) "Die Universitäten zielten auf systematisches, differenziertes Wissen und nicht - wie die soziale Arbeit - auf ganzheitliches soziales Handeln."(11) Die Sozialarbeit während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft stand ganz im Dienste der NS-"Rassen- und Volkspflege" und wird derzeit vielerorts diskutiert. 1933 löste sich die "Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, die bereits seit 1925 eine eigene Forschungsabteilung betrieb, selbst auf, um der nationalsozialistischen Gleichschaltung zuvorzukommen (vergl. Fehlker). Nach der Machtergreifung wurden dann sämtliche Verbände der freien Wohlfahrt unterdrückt, verboten oder in der >Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt< (NSV) gleichgeschaltet."(12) Während die Fürsorge in Deutschland vor 1933 vorwiegend von jungen mittelständischen Frauen, die über das soziale Elend empört waren, getragen wurde, und die Auseinandersetzungen damit auch mehr und mehr sozialpolitische Fragestellungen aufwarf, war die amerikanische Social Work in erster Linie vom Optimismus der Gründerjahre der USA geprägt, dem selbst die Weltwirtschaftskrise nur vorübergehend Abbruch tat. Während in Deutschland der Nationalsozialismus wütete, entwickelte sich in den Vereinigten Staaten eine "Social Work", die sich stark am Optimismus und den Idealen dieser Nation orientierte und die jetzt noch zusätzliche Impulse von deutschen Emigranten bekam. Diese Sozialarbeit kam nach Kriegsende nach Deutschland zurück. (9) (10) (11) (12) Geisel, Leschmann, 1984, S. 31 Staub-Bernasconi, 1986, S. 14 Goeschel, Sachße, 1986, S. 434 Bellardi, 1980, S. 64 Fehler! Textmarke 15 nicht definiert. 2.2 Die klassischen amerikanischen Methoden In den amerikanischen Methodendefinitionen ist später kaum noch von den Ausgangsbedingungen sozialer Arbeit die Rede; wie Not, Leiden, entwürdigende Arbeits-, Wohn- und Bildungsbedingungen und dem Widerspruch zwischen Arm und Reich. Es erscheinen vielmehr Aussagen, "wie die vermutlich professionell-neutral gemeinte blasse Formulierung, daß es um die >Anpassung zwischen Mensch und Umwelt< geht."(13) So ist es zu verstehen, daß die sozialpolitischen Themen in den 50-ger und 60-ger Jahren in Deutschland zugunsten der Hoffnung aufgegeben wurden, >Demokratie und Wirtschaftswunder< würden soziale Defizite binden. "Der Gedanke der Fürsorge im Sinne der Armenfürsorge gilt als überholt. So gesehen kann Fürsorge wissenschaftlich kaum Bedeutung erlangen."(14) Kulturell gestützt wurde die amerikanische Sozialarbeit durch drei große Wertströme: der Deklaration und der Menschenrechte, einem liberal-demokratischen Gesellschaftsbild und dem christlich-jüdischen Erbe.(15) Die amerikanischen Methoden, die wir als Einzelhilfe (Casework), soziale Gruppenarbeit (social Groupwork) und Gemeinwesenarbeit kennen, formulieren einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, den sie wie folgt begründen: 1. Gliederung der Interventionen nach einem Phasenkonzept von Handlungssequenzen, die es pragmatisch und wissenschaftlich auszuwerten gilt. Dieses Phasenkonzept besteht aus Diagnose- und Behandlungsschritten wie Zielbestimmung, Vertrag, Intervention, Prozeßbegleitung, Stabilisierung und systematische Auswertung. 2. Anstatt normativ zu verurteilen, suchen die Methoden der Sozialarbeit, wie die Wissenschaften auch, nach den Ursachen und Hintergründen von sozialen Problemen. Hierzu wird vorzugsweise auf ein psychoanalytisches Paradigma zurückgegriffen. Aus heutiger Sicht betrachtet, im Anschluß an eine Phase intensiver und kritischer Auseinandersetzung mit den Methoden der Sozialarbeit, muß man feststellen, daß die Wissenschaftlichkeit der Methoden nicht auf die Rezeption von wissenschaftlich überprüften Theorien zur Begründung von Handlungsweisungen zurückzuführen ist, vielmehr handelt es sich hier im (13) (14) (15) Staub-Bernasconi, 1986, S. 15 Hege, 1984, S. 16 Maor, 1975 16 Wesentlichen um Bausteine verschiedener Theorien, die eklektizistisch in die Methodenliteratur Eingang fanden. Bei all diesen Konzepten bleibt stets der Hilfeprozeß im Mittelpunkt, wobei die Aufmerksamkeit auf eine Phasenkonzeption gelegt wird. Diese Phasenkonzeption beschreibt das zentrale methodische Anliegen des Caseworks. Unglücklicherweise wurden jedoch bei der Entwicklung des Caseworks zunehmend Werte, Maximen, Beschreibungen und Erklärungen vielfach in sehr undifferenzierter und unpräziser Weise vermengt und gehandhabt. Dadurch wurden die Methoden einerseits für den Wissenschaftler, der versuchen muß, möglichst präzise Begriffe zu finden, damit er denkerisch und real unterscheiden kann, außerordentlich anfechtbar. Andererseits jedoch wurde das Casework gerade dadurch für den Praktiker so brauchbar, weil die unpräzisen Begriffe alltagsnäher waren als exakte wissenschaftliche Abstraktionen. Die Unschärfe hatte weiterhin den Vorteil, daß all diese Konzepte multifunktional wurden. Sie dienten einmal der Beschreibung, einmal der Erklärung und Klärung, einmal der Beurteilung von Situationen und Personen und schließlich vor allem der Befähigung zu nichtrichtender oder verurteilender Hilfe, sowie zum Ausprobieren und Experimentieren mit neuen Verhaltensweisen. Die Jahre zwischen 1945 und 1968 waren durch ein besonders enges Verhältnis zwischen Deutschland und Amerika geprägt. Deutschlands Lehrkräften und Praktikern der Nachkriegszeit vermittelten die amerikanischen Methoden große Hoffnungen. Insbesondere die Handlungsprinzipien und die ihnen zugrundeliegende Werthaltung ermutigten die hiesigen Fürsorger und Fürsorgerinnen, zu hoffen, die im Nachkriegsdeutschland entstandenen sozialen und psychischen Probleme mitlösen zu können. Durch die im Casework angelegte Zielrichtung der Stärkung der Selbsthilfekräfte wünschte man, dem Kollektivzwang des Nationalsozialismus einen neuen Individualismus gegenüberstellen zu können. Darüber hinaus wurde ein partnerschaftlicher Umgang mit den Klienten postuliert, im Gegensatz zur administrativen Verfügung im Nazideutschland. Die Verbreitung der klassischen amerikanischen Modelle erfolgte im Rahmen der sogenannten Reeducationsprogramme. Hier ist besonders die "social groupwork" zu erwähnen, die im Zuge der Umerziehungsmaß- Fehler! Textmarke 17 nicht definiert. nahmen der Besatzungsmacht einen Beitrag zur Demokratisierung Deutschlands leisten sollte. Grundsätzlich kann gesagt werden, daß die Handhabung der klassischen amerikanischen Methoden, und hier insbesondere die des Caseworks, tatsächlich eine große berufliche Errungenschaft war, gab sie doch der "tätigen Nächstenliebe" erstmals ein ausgearbeitetes Konzept zur professionellen Hilfeleistung an die Hand. Durch die Orientierung am amerikanischen Optimismus der Gründerjahre, die Individualisierung und die spezielle Werthaltung entsprachen diese Konzepte in ganz außerordentlicher Weise dem Zeitgeist im Deutschland der fünfziger Jahre. In späteren Jahren wird die Kritik an der Casework-Methode von Harry Maor folgendermaßen formuliert: "So gesehen ist die psychoanalytische Caseworkmethode (...) aus sich heraus völlig legitimiert. Sie verkennt aber die Richtung unseres >sozialen Vektors<, der auf die Gesellschaft als Hauptkriegsschauplatz verweist, während sie den Klienten auf die Nebenfronten abkommandiert. Dem Caseworker gelingt auch die Handhabung der psychoanalytischen Gegenübertragung, deren Spielregeln er kennt, es mißlingt ihm aber die Bewältigung seiner eigenen soziologischen Gegenübertragung, die er verkennt, indem er charakteristischer Weise dauernd >Gemeinschaft< gegen >Gesellschaft< ausspielt."(16) 2.3 Die Methodenkritik nach 68 Vor 1968 orientierte sich die deutsche Sozialarbeit vornehmlich an den amerikanischen Methoden, Casework, Groupwork und Gemeinwesenarbeit. In den Vereinigten Staaten selbst setzte eine kritische Reflexion der Methoden bereits zu Beginn der sechziger Jahre ein. Die inner-amerikanische Kritik ihrerseits setzte jedoch nie an der "gesellschaftlichen Macht(16 ) Maor, a.a.O. - S. 900 Maor zeigt uns, wie in der Sozialarbeit der fünfziger Jahre die Begriffe >Gesellschaft< und >Gemeinschaft< austauschbar geworden sind und der Sozialarbeiter aus dieser Zeit die demokratische Gesellschaft des Nachkriegsdeutschland im Lichte der amerikanischen Methoden häufig ideologisch als Gemeinschaft definiert. Das Analogon der Sozialarbeit lautet jedoch, "Die heutige >Gesellschaft< ist krank; eine kranke Gesellschaft gefährdet ihre Mitglieder oder macht sie sogar krank; die gefährdeten oder kranken Mitglieder der Gesellschaft bilden ganz oder zum Teil die Klientel der Sozialarbeit. >Gemeinschaft< ist im Gegensatz zu >Gesellschaft< gesund oder verursacht doch weit weniger soziale und psychische Schädigungen ihrer Mitglieder und beugt sozial- und psychopathologischer Auffälligkeit vor. Aufgabe der Sozialarbeit ist es daher, mit den ihr zugänglichen, ganz spezifischen Methoden >Gemeinschaft< herzustellen, das heißt ihre Klienten zu befähigen, innerhalb der Gesellschaft wie in einer Gemeinschaft zu üben, überhaupt erst Gemeinschaftsfähigkeit zu erlangen und dann erfolgreich zu behaupten." 18 struktur, der Dynamik des ökonomischen Sektors, sondern bei der Diskrepanz zwischen den Normen und Werten an, welche sich diese Nation bei ihrer Gründung gegeben hatte und der sich bei Hochkonjunktur präsentierenden Wirklichkeit von individuellen- und Gruppenschicksalen."(17) Die Kritik in Deutschland schien zunächst weniger fachlich als vielmehr politisch motiviert zu sein. Man wollte zunächst das amerikanische Missionierungsgehabe überwinden, mit dem die Sozialarbeit nach dem Kriege zu uns gekommen war. Diese Entwicklung vollzog sich Mitte der sechziger Jahre, begünstigt durch den Glaubwürdigkeitsverlust der einstigen Vorbildnation USA, welcher hauptsächlich durch den Vietnamkrieg ausgelöst wurde. Dabei war der Ausgangspunkt der Kritik jedoch nicht in der Sozialarbeiterschaft selbst zu finden, sondern innerhalb eines wissenschaftlichen Systems, welches in Folge der 68-er Bewegung immer mehr Sozialwissenschaftler produzierte. Diese Sozialwissenschaftler entdeckten sehr bald die Sozialarbeit als geeignetes Analyse-, Lehr- und Berufsfeld. Darüber hinaus schien sich das Feld der sozialen Arbeit dazu anzubieten, gesellschaftliche Veränderungsprozesse zu erproben und einzuleiten. Entsprechend zielte die Kritik auf einer Ebene auf die fehlende Wissenschaftlichkeit der Methoden. Auf der nächsten Ebene ging es weniger darum, die (handlungsleitenden) Methoden wissenschaftlich besser zu begründen, als sie vielmehr durch kritische Analyse und kritische Gesellschaftstheorie zu ersetzen. Die damalige Methodenkritik bestand aus folgenden Kernpunkten: 1. Die Soziale Arbeit ist unwissenschaftlich. Die Sozialarbeitsmethoden sind eine Sammlung von Glaubenssätzen, diffusen Fallanalysen, Prinzipien mit Faustregelcharakter und vielen unüberprüfbaren Annahmen. 2. Die Soziale Arbeit ist durch ihre psychoanalytische Orientierung auf Mittelschichtsklientel ausgerichtet. 3. Soziale Arbeit ist ein Integrations- und Unterdrückungsmechanismus des privatkapitalistischen Systems. Sozialarbeit verhindert, daß die Klienten ihre Lage als Mitglieder der ausgebeuteten Arbeiterklasse erkennen können, sie verschleiert den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit. (17) Staub-Bernasconi, 1986, S. 19 Fehler! Textmarke 19 nicht definiert. Diese Thesen gehen unter anderem auf Hollstein und Meinhold zurück, die jedoch soweit gehen, die Sozialarbeiterschaft, die nicht ihrer Marxistischen Dogmatik folgen, als Agenten des privatkapitalistischen Ausbeutungssystem zu bezeichnen.(18) Diese sozialwissenschaftliche und ideologische Kritik an den Methoden der Sozialarbeit führte schließlich dazu, daß sich die damals lehrenden Methodikerinnen (es waren in der großen Mehrzahl Frauen) in die Defensive gedrängt fühlten und dauernd ihre Existenz rechtfertigen mußten. Hinsichtlich dieses Konfliktes wundert es uns heute nicht, daß die Methodikerinnen im Jahre 1971 bei der Errichtung der Fachhochschulen eklatante Statusverluste hinnehmen mußten; während andererseits die Mehrzahl der Sozialwissenschaftler, Pädagogen, Lehrer und anderer in der Ausbildung tätige Disziplinen relativ problemlos in den Professorenstatus übergeleitet wurden. Das zentrale Problem bis Mitte der siebziger Jahre entwickelte sich nun dergestalt, daß es den Sozialwissenschaften nicht gelang, für das Feld der Sozialarbeit praktische Methoden zu entwickeln.(19) (20) Stattdessen standen vorwiegend die handlungsleitenden Methoden im Brennpunkt der Kritik, ohne jedoch neue, eigene Ansätze zu entwickeln. Dies mündete in eine Phase von hilfloser Selbstkritik auf der einen Seite und zu einer relativ ergebnislosen Machtkritik am politischen System, der staatlichen Fürsorge und dem Wohlfahrtssystem, auf der anderen Seite. So ist beispielsweise für den Rezensenten Lothar Böhnisch, das oben erwähnte Buch von Holstein und Meinhold in seinem "Fazit: Eine wichtige Grundlage für die weitere Diskussion um Sozialarbeit, die allerdings in den praktischen Konsequenzen weit verbindlicher geführt werden müßte, als es in einigen Beiträgen dieses Buches geschieht."(21) Die Folgen der kritischen Phase, die von Ruth Brack 1981 als "pauschale Vermiesung der klassischen Methoden, insbesondere des Casework", beschrieben wurden, sind eine Handlungsunfähigkeit bei den Praktikern und ein zunehmender Legimitationsdruck aus der Fachöffentlichkeit. In der Folgezeit wurde die fachliche Diskussion über Sozialarbeit und deren Weiterentwicklung vornehmlich von anderen Disziplinen, nämlich von (18 ) (19) (20) (21) Hollstein, Meinhold, 1973 Staub-Bernasconi Eichhorn, 1977 Eichhorn legt eine sehr umfassende Bibliographie der Diskussionen um eine "Sozialarbeitswissenschaft" vor. Böhmisch, 1974, S 201 20 Psychologen, Psychiatern, Soziologen, Juristen und Erziehungswissenschaftlern geführt. Hollstein und Meinhold gaben 1977 den praxisnahen Band "Sozialpädagogische Modelle" heraus, in dem 19 Autoren über sozialpädagogische Praxisfelder referierten. Von diesen 19 Praxis-Artikeln sind lediglich 2 Beiträge von Sozialarbeitern/Sozialpädagogen verfaßt, von denen wiederum ein Beitrag aus der Schweiz kommt. Die anderen Autoren sind Pädagogen, Sozialpolitiker, Kriminologen, Philologen, Mediziner, Psychologinnen, Sozialmediziner, Studienrätin, Soziologen.(22) Das führte dazu, daß der Gegenstand der Sozialarbeit aus der Sicht der jeweiligen Disziplin beschrieben wurde und eine Integration der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu einem, für die Sozialarbeit handlungsleitenden Methodenkonzept, nicht zustande kam. Dadurch kam es mehr und mehr zu einem Methodeneklektiszismus, in dem die psychotherapeutischen Methoden im Zuge des allgemeinen "Psychobooms" die Oberhand gewannen. "Den Hang der Sozialarbeiter, sich das bestehende Angebot auf dem Therapiemarkt zunutze zu machen, kann man auch als gesunde Reaktion derer verstehen, die nicht gelebt hatten wohl aber überleben müssen, und sich darum dort eindecken, wo ihnen - auch Ihnen! - Brauchbares versprochen wird."(23) Die Folge: Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen waren nicht mehr Architekten sondern Empfänger ihrer Ausbildung. "Oder: wer sich nicht selbst definiert wird fremddefiniert."(24) Aus heutiger Sicht muß klar erkannt werden, daß man im Rahmen der Sozialarbeit nicht zwischen theoretischer Analyse und Handeln aufgrund bestimmter Handlungsregeln wählen kann. Man kann sich nicht im Rahmen reiner Theorien und kritischer Gesellschaftsanalyse um die Frage nach konkreten Verfahren drücken. So gesehen werden in der Sozialarbeit die handlungsleitenden Methoden stets hinter der Theorieentwicklung zurücksein, nicht weil die Methoden nicht theoretisch ableitbar wären, sondern weil das Feld sozialer Arbeit eine bedeutend größere Reichweite und Komplexität aufweist, als beispielsweise der Gegenstand der Psychotherapie. Deshalb kommen wir nicht umhin zu sehen, daß die praktische Sozialarbeit einer Art "'Unschärferelation" bezüglich ihrer Begrifflichkeit (23) (22) (24) Brack, zit. in: Staub-Bernasconi 1986, S. 26 Hollstein u. Meinhold, 1977 Staub-Bernasconi, 1986, S. 26 Fehler! Textmarke 21 nicht definiert. ausgesetzt ist. Hintergrund für diese Unschärfe ist einerseits das Verwaschen der Begriffe durch die Alltagssprache, welche ihrerseits aber die Voraussetzung für klientenorientiertes sozialarbeiterisches Handeln ist. Andererseits, und das ist sicherlich zentraler, müssen die Begriffe unscharf werden, wenn sie durch unterschiedliche wissenschaftliche Paradigmen betrachtet werden. So werden beispielsweise soziologische Termini undeutlicher, wenn sie in ein psychologisches Paradigma gestellt werden und so weiter. Es ist somit kaum möglich, Begriff und Perspektive (Impuls und Ort) in der Sozialarbeit mit beliebiger Genauigkeit zu definieren. Ein wissenschaftliches Paradigma, welches die Entwicklung handlungsleitender Konzepte für ein so komplexes Feld wie das der Sozialen Arbeit ermöglicht, kann nicht monokausal Ursachen für soziales Elend festmachen. Soziales Elend hat multikausale Ursachen. Sie zu verstehen eignet sich weder ein rein-psychoanalytischer Zugang oder ein nurgesellschaftstheoretischer Ansatz. Ein Ganzheitliches Paradigma wird gefordert. Dabei ist zu beachten, daß es keine "reine" Theorie geben kann; jede präzise Perspektive läßt gegenüberliegende Perspektiven unscharf erscheinen. 22 2.4 Der "Psychoboom" und seine Auswirkungen auf die Sozialarbeit Die Entstehung des Psychobooms geht in den USA bis in die vierziger Jahre zurück, als sich die Notwendigkeit ergab, ökonomisch und zeitlich rationelle Konfliktbewätligungstechniken auf psychosozialem Gebiet zu entwickeln. Es entwickelte sich schon nach relativ kurzer Zeit eine zunächst hauptsächlich gruppendynamisch orientierte Szene, die dann in den sechziger Jahren eine fast explosionsartige Entwicklung erlebte. Man kann kaum übertreiben, wenn man die bunte Exotik dieser "PsychoPopkultur", die sich seit etwa 1970 auch in der Bundesrepublik Deutschland ausbreitete, beschreiben will. Das Spektrum reichte von seriösen Ansätzen zur Verbesserung der Beratung auf allen Gebieten des psychosozialen Lebens bis hin zu völlig bizarren Kulturen.(25) Die Phase der Methodenkritik führte in der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik nicht zur Entwicklung neuer Handlungskonzepte. Es war zu beobachten, daß sich unter den Praktikern mehr und mehr ein Gefühl von Alleingelassensein breit machte. Während auf Seiten der sozialwissenschaftlichen Theoretiker die Forschungen und die Theoriearbeit zu immer komplexeren Sprachgebilden führte, die von den Praktikern kaum noch rezipiert wurden,(26) orientierten die Praktiker sich bei ihren Nachbardisziplinen und gingen in die Lehre von Psychiatern, Psychotherapeuten und Organisationsberatern. Dies führte zu einer wachsenden Spaltung von Theorie und Praxis der Sozialarbeit, bei der die Praktiker den Theoretikern "verdünnte sozial-wissenschaftliche Aufgüsse" (Staub-Bernasconi) vorwarfen, während andererseits die Theoretiker den Praktikern "unreflektierte Psychotherapieschwärmereien" unterstellten. In den Fachhochschulen hielten nun Methoden Einzug, denen man "Wissenschaftlichkeit" zugestehen konnte (wenn auch gelegentlich unter Schmerzen). Bei diesen Methoden handelte es sich beispielsweise um klientenzenterierte Gesprächsführung (Rodgers), Gruppendynamik, Sozialplanung und Sozialforschung. Man bediente sich also bei den anerkannten Nachbardisziplinen, insbesondere der Psychologie. Hierdurch entstand die Situation, daß die fachlichen Diskurse über Sozialarbeit und Sozialpädagogik zwar im verstärkten Maße von Psychologen, Soziologen, Juristen und Erziehungswissenschaftlern geführt wurde und auch die Handlungsmethoden aus diesen Wissenschaften entlehnt wurden, daß es den Sozialarbeitern aber andrerseits kaum möglich gemacht wurde, (25) vergl. Schülein, 1978, S. 931 Fehler! Textmarke 23 nicht definiert. Grenzen zu diesen Nachbardisziplinen durchlässig zu gestalten. So ist es Sozialarbeitern eben nur sehr einschränkt möglich, rechtsberaterisch, psychotherapeutisch oder lehrend tätig zu werden. Rechtsberatungsgesetz, Heilpraktikergesetz und Lehramtsgenehmigungen regeln den Zugang zu diesen Tätigkeiten für Sozialarbeiter äußerst restriktiv. Insbesondere der "Psychoboom" verführte die Sozialarbeit dazu, vielfältige Methodenelemente häufig kunterbunt durcheinander zu mischen, ganz im Sinne eines "Methoden-coctails". Dieser Methodencoctail war häufig aktuellen Modeströmungen unterworfen. Die Ausübung dieser Methoden war aber andererseits kaum einmal rechtlich und institutionell abgesichert. Auf diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, wenn viele Sozialarbeiter über den freien "Psychomarkt", wie er uns häufig in der alternativen Presse präsentiert wird, ihre Dienste in den verschiedensten therapeutischen Methoden anbieten. Dies scheint ein Zeichen dafür zu sein, daß es den Ausbildungsstätten nicht gelungen ist, das kreative Potential, welches sich in Gestalt dieses bunten Psychobooms zeigte, zu integrieren und es auf ein methodologischtheoretisches Gesamtkonzept für Soziale Arbeit zuzuschneiden. "Nun hat sich quasi als Gegenbewegung zu einer stark kongnitiv orientierten Aus- und Fortbildung in den letzten 10 - 15 Jahren an den Fachhochschulen und Universitäten sowie an Fortbildungsinstituten ein selbsterfahrungs- und Therapieboom (...) entwickelt, dem viele Studenten und Professionelle - frustriert von Theorie und gebeutelt durch ihre Lebensgeschichte - ausgiebig huldigen. Da werden in pädagogischen und sozialarbeiterischen Studiengängen wahllos und beliebig Selbsterfahrungsgruppen jedweder Richtung angeboten, ... Die Effizienz und Sinnhaftigkeit intensiver Selbsterfahrungsprozesse für Professionelle im sozialen und pädagogischen Bereich sollen hier keinesfalls abgewertet werden. Diese Art der Selbsterfahrung verschenkt jedoch intensive Möglichkeiten zur beruflichen Qualifizierung, wenn sie nicht konsequent an das zukünftige oder gegenwärtige Berufsfeld angebunden ist. "(27) Stattdessen entwickelte sich die Problematik häufig dergestalt , daß die an den verschiedenen Methoden des "Psychobooms" orientierten Praktiker und Praktikerinnen sich ihr Klientel danach aussuchen mußten, ob es denn nun zu ihrer jeweiligen Methode paßte (Staub-Bernasconi). (26) (27) z.B. Schneider, 1976 Eine Einführung in die Konstitutionsanalyse sozialer Problemlagen und die Funktions- und Restriktionsanalyse staatlicher Interventionsformen Hinte, Springer, 1986, S. 23 24 Aussagen wie die folgenden wurden in den Blütezeiten des Psychobooms, etwa zwischen 1977 und 1984, von vielen in der sozialen Arbeit Tätigen mit Erstaunen vernommen: "Man kann doch mit Unterschichtsklientel nicht non-direktiv arbeiten." "Was macht das mit Dir?" "Ich suche noch einen geeigneten Klienten für eine systematische Desensibilisierung". Oder: "Die Jugendlichen in unserem Jugendzentrum haben einfach nicht das richtige Grounding". Die hier karikierten Zitate wurden häufig von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern gehört, die zwar eine qualifizierte Methodenausbildung nach dem Studium absolviert haben, die aber durch mangelhafte Identifikation mit der Sozialarbeit während ihrem grundständigen Studium keine ausreichende berufliche Identität erlangen konnten. Dadurch erlitten sie oft während ihrer Weiterqualifikation einen völligen Schwund ihrer professionellen Identität, was dann mitunter dazu führte, daß die nun mühsam erworbene Methodenkompetenz nicht in ein Gesamtkonzept von Sozialer Arbeit integriert werden konnte. Silvia Staub-Bernasconi sagt zu diesem Methodenboom: "Wer keine Definitionsmacht hat, muß versuchen seinen unsicheren Status wenigstens durch Teilnahme an Methodenmoden und -wenden wettzumachen."(28) Eine Ursache dafür sieht Silvia Staub-Bernasconi darin, daß die von Sozialwissenschaftlern und Gesellschaftskritikern während der Zeit der "methodenkritischen Phase" erarbeiteten Theoriezugänge durch ihren wachsenden Abstraktionsgrad für die Praktiker und Praktikerinnen immer schwerer zu verstehen waren. Der Transfer zwischen wissenschaftlichen "Elfenbeinturm" und praktischem "Alltagshandeln" war aufgrund einer stetig wachsenden Kluft zwischen Theorie und Praxis immer schwieriger geworden. Es erscheint heute so, daß es notwendig geworden ist, zur Überwindung dieser Kluft, ein Paradigma zu entwickeln, in dem sich Theorie und Praxis aufeinanderzubewegen können. Hierzu scheint mir ein ganzheitliches Paradigma in der Lage zu sein, welches der Sozialen Arbeit ermöglichen sollte, ihr methodisches Handeln theoriegeleitet zu verstehen und dadurch die eigenständige Identität dieser Profession zu sichern. (28) Staub-Bernasconi, 1986, S. 23 Fehler! Textmarke 25 nicht definiert. 3. GANZHEITLICHE SOZIALARBEIT Wenn man die Geschichte der Sozialarbeit verfolgt, stellt man unweigerlich fest, daß überall dort, wo versucht wurde Theorie- und Methodenentwicklung zur Sozialen Arbeit zu betreiben, implizit oder explizit ganzheitliche Gedanken eingeführt wurden. Dies läßt sich bis an den Anfang unseres Jahrhunderts zurückverfolgen. Die Sozialarbeit ist jedoch nie als Miturheberin solch fundamentaler Erkenntnisse gesehen worden, die heute im Zuge der ökologischen Krise zunehmend an Bedeutung gewinnen. 3.1 Auf der Suche nach einem eigenständigen Methodenkonzept für die Soziale Arbeit Zusammenfassend ist die Entwicklung der Sozialarbeit durch folgende verschiedenen Phasen gekennzeichnet: Die Phase der "klassischen Fürsorge"(29) wurde in Deutschland hauptsächlich von Alice Salomon geprägt und gelangte in den zwanziger Jahren zu einem Höhepunkt. Es handelte sich dabei um eine pragmatische, sozialpolitisch engagierte "Armenfürsorge", die nahezu ausschließlich von Frauen ausgeübt wurde. Teile dieser Frauen, insbesondere Alice Salomon, erkannten den sozialpolitischen Kontext und strebten nach einer eigenen Wissenschaftlichkeit. In der nationalsozialistischen Zeit wurden diese Ansätze zerschlagen und die Wohlfahrtspflege wurde weitestgehend gleichgeschaltet. Die Nachkriegszeit und die fünfziger Jahre kann man als die Phase der "klassischen, amerikanischen Methoden" bezeichnen. Diese Phase ist durch Handlungsprinzipien gekennzeichnet, die im Schnittpunkt der amerikanischen Wert- und Gesellschaftsvorstellungen lagen, wie Menschenrechte, liberal-demokratisches Gesellschaftsbild und jüdisch-christliches Erbe. Die Zeit zwischen 1968 und 1975 nennen wir gemeinhin die "Phase der Methodenkritik". Sozialwissenschaftler nehmen das Feld sozialer Arbeit in den kritischen Blick und bescheinigen ihr weitestgehende Unwissenschaftlichkeit. Die (29) Geisel / Leschmann, a.a.O. - S. 26 Methodenentwicklung wurde allgemein abgelehnt, weil Methoden den "Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit" verschleiern (Hollstein, a.a.O.). Der wesentliche Fortschritt aus der kritischen Phase bestand darin, daß sie den teilweise unkritischen Optimismus und Fortschrittsglauben aus den fünfziger Jahren überwinden half und endlich wieder das Verhältnis zwischen Sozialer Arbeit und Gesellschaft thematisierte. In der darauf folgenden Phase des "Psychobooms" eigneten sich Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen vielfältige Methoden aus der Psychotherapie an. Die Methoden, die Sozialarbeiter von anderen Disziplinen empfingen, wurden häufig eklektizistisch aneinandergereiht und kaum in ein sozialarbeiterisches Gesamtkonzept integriert. Einhergehend mit dem Zeitgeist entdeckten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mehr und mehr die eigene Person, Selbsterfahrung und Eigentherapie gewannen an Bedeutung. Unglücklicherweise lösten die verschiedenen Phasen einander dergestalt ab, daß man von den jeweilig neuen theoretischen Ansätzen und deren Richtigkeit dermaßen überzeugt war, daß man allzu oft alles was vorausgegangen war, als falsch ansah. So wird man heute kaum einem in klientenzentrierter Gesprächsführung ausgebildeten Kollegen vermitteln können, daß das Casework eine große Errungenschaft war und der Sozialarbeit einen wesentlichen Impuls zur Entwicklung eines eigenen Berufsbild gab. Eines bleibt allerdings während aller Phasen der sozialarbeiterischen Entwicklungsgeschichte mehr oder weniger zentraler Bestandteil der Überlegungen und Werthaltungen. Es ist der seit den Anfängen der Sozialarbeit immer wieder formulierte Anspruch auf Ganzheitlichkeit; auf Betrachtung des ganzen Menschen in der Gesellschaft. Während der Phase der Methodenkritik stieß man hier auf Probleme, da die Versuche Soziale Arbeit zu verwissenschaftlichen, zunächst häufig zu monokausalen Erklärungsmustern führte. Die Praxis bewies jedoch nicht selten die Begrenztheit von monokausalen Ansätzen. Und so kommen wir gerade heute dahin, daß wieder von Vielen ein ganzheitlich-ökologisches Paradigma im Sinne von Capra(30) gefordert wird. Damit schließt sich nun der Kreis zu den Anfängen der Sozialarbeit, die ein ganzheitliches Menschenbild als grundlegende Werthaltung verstanden wissen will. (30) Capra, Friedjof - Wendezeit, München, 1988 Fehler! Textmarke 27 nicht definiert. Bei der oben beschriebenen historischen Entwicklung bin ich nicht auf die objektiven Ursachen, also die sozial- und gesellschaftspolitische Entwicklungen in den siebziger Jahren eingegangen. Im Laufe der siebziger Jahre haben sich gravierende Veränderungen vollzogen, die die Handlungsspielräume Sozialer Arbeit deutlich beschnitten haben und ihren Ausdruck in einer verstärkten Normierung und Institutionalisierung auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens fanden. Auf diese gesellschaftspolitischen Fragestellungen gehe ich an dieser Stelle deshalb nicht ein, weil die Diskussionen und Analysen hierzu ausführlich und umfangreich sind. Das Anliegen dieser Arbeit zielt in erster Linie auf Handlungskonzepte und Veränderungsstrategien. 3.2 Ganzheitliche Ansätze in der Sozialarbeit Obwohl Ganzheitlichkeit als Anspruch von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern immer wieder, schon seit Alice Salomons Zeiten gefordert wurde, hat die Entwicklung eines diesbezüglichen wissenschaftlichen Ansatzes bis in jüngster Zeit auf sich warten lassen. Ein Hauptgrund dafür mag darin liegen, daß der Begriff der "Ganzheitlichkeit" mit dem klassischen Wissenschaftlichen Paradigma schlecht zu greifen ist, und daß die Sozialarbeiter ihrerseits in den siebziger Jahren sehr um Wissenschaftlichkeit bemüht waren. Erst die Systemperspektiven aus der Soziologie und in deren Gefolge die systemische Familientherapie als Handlungsmethode haben der Sozialen Arbeit einen Weg zu einem wissenschaftlichen Ganzheitsbegriff gewiesen. Ganzheitlichkeit war bis dahin von den wissenschaftlichen Einzeldisziplinen häufig als etwas idealistisch, schwärmerisch und metaphysisches belächelt worden. Darüber hinaus wurde die Idee der Ganzheit verfemt, weil sie häufig mit dem Denken aus dem Nationalsozialismus assoziiert wurde (z. B. das Volksganze geht vor das Einzelschicksal). Mit dem ökologischen Denken bekam der Ganzheitsgedanke wieder einen aktuellen Stellenwert. Das führte dazu, daß zu Beginn der achtziger Jahre die ersten ganzheitlich-ökologischen Konzepte für die Sozialarbeit entworfen wurden. 28 Germain und Gittermann führen mit ihrem "Live-Modell" in einen ökologischen Ansatz praktischer Sozialarbeit ein.(31) Sie entwerfen damit ein integriertes Konzept, das die ökologische Beziehung zwischen Mensch und Umwelt in den Blick nimmt. Umwelt meint in diesem Modell hauptsächlich die sozialen und materiellen Bedingungen, die Menschen vorfinden oder in die sie hineingeraten. Aus dieser Sicht bilden Mensch und Umwelt ein System; Störungen können von beiden Seiten kommen. Von der deutschsprachigen Sozialarbeit wird anerkannt, daß Germain und Gittermann ein brauchbares Methodenkonzept liefern, das der Sozialen Arbeit auf der Mikro-Ebene eine hilfreiche Handlungspraxis geben kann. Hier wird erstmals der ursprüngliche Anspruch der Sozialarbeit, nämlich lebensumweltorientiert zu arbeiten, in einem anspruchsvollen Gesamtrahmen dargestellt. Es gelingt den Autoren auch, ein integratives Konzept von Techniken zu entwickeln, in dem sie beispielsweise Verbalisierung von Gefühlen, Psychodrama, Genogramm, Ökoplan, Soziometrie und Verhandlungstechniken in einen praktischen Bezug stellen. Die zentrale Kritik an Germain und Gitterman zielt wiederum auf die gleichen Schwächen, die auch frühere amerikanische Konzepte aufwiesen. Es handelt sich wieder um einen rein funktionalistischen Ansatz, der die gesellschaftliche Machtverteilung kaum hinterfragt. Es wird nicht gesehen, daß die "Starrheit" der Institutionen auch auf einen Konflikt zurückzuführen ist, der davon bestimmt wird, daß bestimmte gesellschaftliche Gruppen von sozialen Problemen profitieren, unter denen andere Gruppen und Individuen leiden. Einen der profiliertesten Ansätze systemisch-ganzheitlicher Sozialarbeit im deutschsprachigen Raum liefert Silvia Staub-Bernasconi, die resümiert: "dass ich in der Sozialen Arbeit durchaus ein Potential sehe, die gesellschaftlich wie akademisch vorgeschriebene, ja erzwungene Atomisierung des Wissens und Könnens exemplarisch zu überwinden. Ihre Praktiker wie AusbilderInnen müßten sich zur Vorstellung durchringen, daß die sogenannte Komplexität und Diffusität ihres Gegenstandes als auch die fast unübersehbare Aufgabenfülle keine Schwäche und Verlegenheit, sondern eine Stärke der Sozialen Arbeit ist. Sie könnte zur Herausforderung werden, das, wovon heute viele reden, nämlich die Notwendigkeit, interdisziplinären, systemischen Denkens und konzertierten Arbeitens, nicht nur für ökologische, sondern auch für soziale Problematiken (...) ernsthaft auszuprobieren."(32) (31) (32) Germain, C. B. / Gittermann, A. - Praktische Sozialarbeit - Das "Live-Modell" an der Sozialen Arbeit, Stuttgart, 1983 Staub-Bernasconi, a.a.O. S. 58/59 Fehler! Textmarke 29 nicht definiert. 3.3 Strukturierung und Differenzierung des Ganzheitlichen Ansatzes Für die folgenden Überlegungen erscheint es mir an dieser Stelle wichtig zu werden, einige Begriffe zu klären. Die Unklarheit der Begriffe hat in den klassischen oder amerikanischen Methoden zu viel Verwirrung geführt, so daß man heute dahin gekommen ist, die "Methoden", Einzelhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit nur noch als "Arbeitsformen" zu verstehen.(33) Für das Konzept von "Integrativer Sozialarbeit" möchte ich eine Systematik vorschlagen, die die formalen Begriffsbestimmungen von Geißler und Hege aufgreift. Zunächst einmal ist es jedoch nötig eine Abgrenzung von zwei unterschiedlichen wissenschaftlichen Methodenbegriffen zu schaffen. Erkenntnisleitende Methoden sind wissenschaftliche Forschungsmethoden. Handlungsleitende Methoden sind die Anwendung von Wissenschaft in der Praxis. 3.31 EXKURS Methodentheoretische Erörterung Laut Brockhaus kommt der Begriff "Methode" aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie, "ein nach Sache und Ziel planmäßiges (methodisches) Verfahren". Unter Methode verstehen wir "die Kunstfertigkeit einer Technik zur Lösung prakt. und theoret. Aufgaben (...), speziell das Charakteristikum wissenschaftlichen Vorgehens." Entsprechend geht die Methodenlehre (Methodologie) als Teil der Logik jeder Wissenschaft voraus; sie bildet das Kernstück der modernen Wissenschaftstheorie. Darüber hinaus haben die Einzelwissenschaften ihre eigentümlichen Methoden entwickelt, insbesondere solche der Forschung und solche der Darstellung (Lehre). Die Hauptstücke der klassischen und moderne Methodologie bilden die Lehre von der Definition und vom Beweis, allgemein: (34) die Lehre von der Begriffsbildung und von den Begründungsverfahren." Erkenntnis- und handlungsleitende Methoden Eine grobe Unterteilung der Methoden ist nach ihren Aufgaben möglich. Methoden können zur Lösung praktischer und theoretischer Aufgaben dienen. Praktische Aufgaben werden mit Hilfe handlungsleitender Methoden gelöst. Wissenschaftlich sind handlungsleitende Methoden dann, wenn sie die Erkenntnisse der Forschung in der Praxis umsetzen. Die systematische (33) (34) Brack, Ruth in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge - S. 577 Fachlexikon der sozialen Arbeit, Frankfurt, 1986 vergl. Brockhaus, 1971 - S. 479 30 Reflexion dieser Praxis wird dann wieder Erkenntniswissenschaft, wenn dadurch Theorien generiert werden. Theoretische Aufgaben werden durch erkenntnisleitende Methoden gelöst. Handlungsleitende Methoden in der Sozialarbeit sind im Gegensatz zu erkenntnisleitenden Methoden in den klassischen Naturwissenschaften direkt mit dem Anwender (Sozialarbeiter, Therapeut) verbunden. Eine klare Trennung von handlungsleitenden- und erkenntnisleitenden Methoden ist somit nicht möglich, man kann jedoch von einem fließenden Übergang sprechen. Kennzeichnend für erkenntnisleitende Methoden sind dabei: - Objektivität - Reproduzierbarkeit - Falsifizierbarkeit - Zuverlässigkeit - - - Glaubwürdigkeit - Allgemeingültigkeit - Eindeutigkeit - Exaktheit - - - - Demgegenüber sind für handlungsleitende Methoden zusätzlich kennzeichnend: - Einfühlungsvermögen - Begriffsunsicherheit - verborgene Variablen - - - - Irrelevanz von Experimenten - Unbeweisbarkeit von Theorien - - - - - - - - Kultureller Relativismus - Arbeitsfeldbezogenheit - Verbindung zwischen Beobachter und Untersuchungsgegenstand - Einsatz der eigenen Person - (35) Allerdings führt die Entwicklung in den neueren Naturwissenschaften nun auch zunehmend dazu, daß die Kennzeichen der handlungsleitenden Methoden für die Erkenntniswissenschaften wachsend an Bedeutung gewinnen, wie z.B. die Quantentheorie oder die Theorien zur Berechnung komplexer Systeme (Chaosforschung) so eindrucksvoll belegen. Erkenntnisleitende und praktische Methoden können sich durchdringen, reine Wissenschaftlichkeit ohne Verzerrungen durch die unterschiedlichsten Praxiseinflüsse ist jedoch nur möglich bei stringenter Einhaltung der wissenschaftlichen Methodik, wie es unter Laborbedingungen vorstellbar ist. Hielte sich jedoch Praxis streng an die erkenntniswissenschaftliche Methodologie, müßte sie ihre Klientel an die Methode anpassen, also vom Alltag entfremden. Von daher sind handlungsleitende Methoden von Alltäglichkeit und Zeitgeist geprägt und auch stetigen Veränderungen bzw. Fortentwicklungen unterworfen. Am Beispiel der Gruppendynamik läßt sich das gut verdeutlichen: Gruppendynamik ist: 1. Das Teilgebiet der erkenntniskritischen, empirischen Sozialforschung, das das Wissen über die soziale Einheit der Gruppe, ihre Entwicklung, ihre Beziehung zu anderen Gruppen, Organisationen und dem sozialen Umfeld umfaßt. (35) vergl. Ziman, John Wie zuverlässig ist wissenschaftliche Erkenntnis?, S. 130 ff Fehler! Textmarke 31 nicht definiert. 2. Angewandte Gruppendynamik ist die spezifische Praxis absichtsvollen, durch Theorie und Forschung abgesicherten Handelns, in und mit Gruppen, die durch Verbesserung der Selbst- und Fremdwahrnehmung die soziale Kompetenz erhöhen, das Verständnis für psychosoziale Phänomene vertiefen und angemessene Verhaltensweisen festigen will(36). Wenn ich im weiteren den Begriff Methode verwende, meine ich damit Handlungsmethoden im Sinne des Beispiels der "angewandten Gruppendynamik". Geißler und Hege haben sich in ihrer Systematik für eine formale Begriffsbestimmung von "Konzept - Methode - Verfahren" entschieden, um eine "integrative Betrachtung von Zielen, Inhalten und Methoden herzustellen"(37). Konzept wird als Handlungsmodell verstanden, in welchem Ziele, Inhalte, Methoden und Verfahren in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht werden. Das Konzept, welches ich im Folgenden darstelle, entwickelte ich aus den anthropologischen Konzepten der Ganzheit des Menschen, von der Begegnung zwischen Menschen und dem Eingebundensein in den Lebensraum. Ausgangspunkt ist folgende anthropologische Grundformel: "Der Mensch ist ein Leib-Seele-Geist-Subjekt, in seinem sozialen und ökologischen Umfeld, mit dem er in einem unlösbaren Verbund steht. In Interaktion mit diesem Umfeld gewinnt es seine Identität"(38). "Methoden sind - formal betrachtet - (konstitutive) Teilaspekte von Konzepten. Die Methode ist ein vorausgedachter Plan der Vorgehensweise"(39). Aus dem Konzept der Ganzheitlichkeit leite ich die Gestalt-Methode als zentralen Bestandteil eines integrativen Methodenansatzes ab. (36) (37) (38) (39) Nellessen, Lothar in: Deutscher Verein, a.a.O. - S. 379 Geißler, Karlheinz a. / Hege, Marianne - Konzepte sozialpädagogischen Handeln, Weinheim und Basel, 1988 - S. 22 Petzold, Hilarion G. / Sieper, Johanna Quellen und Konzepte integrativer Agogik in: Petzold / Brown - Gestaltpädagogik, München, 1977 - S. 25 Geißler / Hege, a.a.O. - S. 25 32 Verfahren sind Einzelelemente von Methoden. Man kann hier auch von Techniken sprechen. In einem ganzheitlich-integrativen Ansatz können Techniken nicht unabhängig vom Konzept angewandt werden. Während der Phase des Psychobooms geschah dies leider häufig dergestalt, daß Techniken aus der Gestalttherapie eingesetzt wurden, ohne daß vorher eine ernsthafte und fundierte inhaltliche Analyse auf der Grundlage der Konzepte erfolgt war. Hierbei kommt es dann wieder sehr schnell zu Sozial- oder Psychotechnologien, die den Menschen zum Objekt der jeweiligen Technologie machen und ihn dadurch entfremden. Techniken aus Gestalttherapie und anderen psychotherapeutischen Verfahren, müssen sich im Rahmen der Sozialarbeit an deren komplexen Problemfeldern orientieren und somit häufig in dem Sinne modifiziert werden, daß eine einseitig psychotherapeutische Perspektive zu Gunsten einer psycho-sozialen Gesamtschau überwunden wird. 3.4 Das Konzept der Ganzheitlichkeit Im Zuge der Ökologiebewegung ist das Konzept der Ganzheitlichkeit wieder zu neuem Ansehen gekommen. Lange Zeit war der Ganzheitsbegriff aus dem wissenschaftlichen Denken ausgeschlossen und sogar verfemt. Im gleichen Maße wie die Sozialarbeit als unwissenschaftlich betrachtet wurde, war die Idee von der Ganzheitlichkeit aus dem wissenschaftlichen Denken ausgeschlossen. Dies war so lange der Fall, wie der Positivismus in der Wissenschaftstheorie unangefochten blieb. Heute nennen sich Strömungen ganzheitlich, die im weitesten Sinne mit der Ökologiebewegung zusammenhängen. Diese Strömungen finden wir in der Heilkunde, in Medizin oder Psychotherapie, in der Philosophie und in Weltanschauungen, die sich selbst als Kritik an den bestehenden akademischen Disziplinen verstehen. Gemeinsam ist allen ganzheitlichen Ansätzen das Bestreben, die zerbrochenen Zusammenhänge von Natur und Gesellschaft, Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft wieder herzustellen. Eine ganzheitliche Sicht der Wirklichkeit geht von der Erkenntnis aus, daß alle Phänomene, seien sie physikalischer-, biologischer-, psychischer-, kultureller- oder gesellschaftlicher Art, miteinander verbunden sind und aufeinander einwirken. In der heutigen Psychotherapie und Medizin wird die Wechselwirkung von Körper und Geist zunehmend mit einbezogen. Fehler! Textmarke 33 nicht definiert. Die Gestalttherapie geht noch darüber hinaus, indem ihr Ganzheitsbegriff die soziale Verbundenheit sieht. Die Gefahren des Ganzheitsbegriffs sind dort zu sehen, wo er allzuleicht von metaphysischen, ideologischen und pseudowissenschaftlichen Disziplinen besetzt werden kann. Dies geschah einst durch die Nationalsozialisten und ist heute auch wieder bei verschiedenen Abkömmlingen der "New-Age-Bewegung" zu erkennen. Der profilierteste Vertreter dieser Bewegung, Friedjof Capra, legt uns allerdings einen ernstzunehmenden Ansatz vor, in dem er die Welt als komplexes Gewebe beschreibt. Er beschreibt ein Netzwerk, in dem alle biologischen, psychischen, gesellschaftlichen und ökologischen Phänomene voneinander abhängen. Er verbindet die Quantentheorie der neuen Physik mit östlicher Mystik, die psychosomatische Medizin mit Wachstums-, Wirtschafts- und Ökologiekrisen unserer heutigen Zivilisation und leitet daraus die Forderung nach einem neuen wissenschaftlichen Paradigma ab, in der Hoffnung mit dem "Paradigmawechsel" die ökologische Weltkrise zu überwinden.(40) Capra seinerseits wurde in seinem Denken entscheidend von Gregory Bateson, dem Schöpfer des "Double-Bind"-Begriffes geprägt. Das Denken von Bateson reicht weit über seinen psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich hinaus: "Er darf als Mitbegründer und -entwickler der ökologischen oder besser: ökosystemischen Sicht der Lebensprozesse gelten. Heute ist es schon fast ein Gemeinplatz zu sagen: das Überleben der Menschheit wird davon abhängen, ob, wieweit und wann sie sich solche Sicht zu eigen macht. (...) Das schließt für Bateson auch die Korrektur jener beiden Verstehensansätze ein, die das geistige Klima unserer heutigen Welt überwiegend zu bestimmen scheinen - des psychoanalytischen und des marxistischen Ansatzes."(41) In der Praxis der Sozialen Arbeit hat sich seit Mitte der siebziger Jahre mehr und mehr ein familientherapeutischer Ansatz etabliert. Dieser Ansatz überwindet das klassische medizinische Krankheitsmodell und überschreitet in Diagnostik und Therapie die Grenzen des Einzelindividuums. Stattdessen steht die Familie als Ganzheit, bzw. System in der Klientenrolle, während der Einzelne lediglich als Symptomträger gesehen wird(42). (40) (41) (42) Capra, a.a.O. - S. 15 - 48 Stierlin, Helm in: Bateson, Gregory - Ökologie des Geistes - S. 7, Frankfurt, 1988 vergl. Wnuk-Gnete, Gisal /Wnuk, Werner - Fortbildung in Familientherapie in: Neue Praxis, Sonderheft 1978, Sozialarbeit und Therapie und: Ridder, Paul - Liebe als Steuerungssprache 34 Louis Lowy hat erkannt, daß systemtheoretische Ansätze in der Sozialen Arbeit bereits seit den fünfziger Jahren bekannt waren. "Seither fand die Systemtheorie (Theorie sozialer Systeme) eine fast universelle Anerkennung als bedeutende basis-theoretische Formulierung von SA/SP. Sie ermöglicht die Erfassung von >Problem - Person und Situation< als Gestalt des sozialarbeiterischen/sozialpädagogischen Geschehens und gestattet, Zusammenhänge von Struktur und Prozeß wie auch von deren Veränderung zu erkennen und zu konzipieren."(43) (43) Ein Beitrag zur familientherapeutischen Umorientierung - Neue Praxis, a.a.O. Lowy, Louis Sozialarbeit / Sozialpädagogik als Wissenschaft im angloamerikanischen und deutschsprachigen Raum - S. 99 f, Freiburg, 1983 Fehler! Textmarke 35 nicht definiert. 4. SYSTEMORIENTIERTE SOZIALARBEIT Einen Ansatz systematischer Sozialarbeit liefern Germain und Gitterman (a.a.O.). Mit dem Life-Modell oder Lebensvollzugsmodell entwerfen sie einen Ansatz, der einen theoretischen Ausgangspunkt darstellt, der Wissen über biologische, psychische und soziale Entwicklungsphasen von Individuen, Familien, Kleingruppen und Organisationen abruft. Silvia StaubBernasconi kritisiert an den Autoren, daß sie nicht darauf eingehen, "dass es gerade die Stärke der Sozialarbeit seit ihren Anfängen war, >ökologisch<, d.h. Klienten immer zusammen mit ihrer human- und sozialökologischen Umwelt zu denken und entsprechend zu handeln."(44) 4.1 Ganzheitlichkeit und Systemperspektive Der ganzheitliche Ansatz führt uns zur Systemschau. Aus der Sicht des systemischen Ansatzes besteht das Ganze aus einer Summe von Systemen, die wiederum integrierte Ganzheiten sind. Dabei sind die einzelnen Teilsysteme offen und stehen im beständigen Austausch miteinander. In der Soziologie geht der Systembegriff auf Durkheim zurück, der bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts mit ihm arbeitete. Heute ist uns der Systembegriff insbesondere dadurch hilfreich, weil wir mit ihm die Komplexität der Ganzheitlichkeit reduzieren können, ohne den Ganzheitsansatz aufgeben zu müssen, da offene Systeme ihrerseits in Abhängigkeit zueinander stehen. Einen funktionalistischen Ansatz verfolgt hierbei insbesondere Luhmann, der Ganzheiten differenziert: "Ergiebig werden komplexitätsbezogene Aussagen erst, wenn man sie von Einheit auf Differenz umstellt, und dazu dient die Unterscheidung von System und Umwelt. Sie ermöglicht uns die Aussage, mit der wir die folgende Überlegung einleiten, daß für jedes System die Umwelt immer komplexer ist als das System selbst."(45) Voraussetzung für eine ganzheitlich-systemische Sicht der Wirklichkeit ist die Annahme, daß die einzelnen Teilsysteme offen sind und im beständigen Austausch miteinander stehen. Der Prozeß, den die Systeme dabei (44) (45) Staub-Bernasconi, S. 43 - a.a.O. Luhmann, Niklas, Ökologische Kommunikation S 33, Opladen, 19869 36 entwickeln, wird als Transaktion bezeichnet. Dabei handelt es sich um gleichzeitige und voneinander abhängige Wechselwirkungen vielschichtiger Komponenten. Die Systemeigenschaften würden zerstört werden, wenn wir das System physisch oder theoretisch auseinandernähmen. Obwohl in jedem System Einzelteile zu unterscheiden sind (die ihrerseits allerdings wieder komplexe Ganzheiten sind) ist das Ganze immer etwas anderes als die Summe seiner Teile, da alle Teile in beständigem Austausch miteinander stehen und fluktuieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Systeme ist die ihnen innewohnende Dynamik. Die Formen der Systeme bilden keine starren Strukturen, sondern sind flexible und dennoch stabile Manifestationen der zugrundeliegenden Prozesse. Um das Systemdenken zu verstehen, erscheint mir eine Beschreibung in Abgrenzung zu einem Mechanismus sehr hilfreich. Hier eignet sich besonders gut die Darstellung eines Uhrwerkes, welche man im 17. Jahrhundert benutzt hat, um eine Weltbeschreibung aus Sicht der mechanistischen Philosophie zu geben. Der zuerst ins Auge fallende Unterschied ist der, daß Maschinen gebaut werden, während Organismen wachsen. Dieser fundamentale Unterschied bedeutet, daß ein Organismus als ein Geschehen begriffen werden muß. So ist es beispielsweise unmöglich, ein genaues Bild von einer Zelle durch eine statische Zeichnung oder die Beschreibung der Zelle als statische Form zu liefern. Wie alle lebenden Systeme sind Zellen Vorgänge, in denen die dynamische Organisation des Systems zum Ausdruck kommt. Während die Aktivitäten einer Maschine von ihrer Struktur bestimmt werden, ist es im Organismus gerade umgekehrt - die organische Struktur wird durch dynamische Vorgänge bestimmt. Maschinen werden gebaut, indem eine genau vorgeschriebene Zahl von Teilen auf präzise und vorbestimmte Art zusammengesetzt wird. Dagegen verfügt ein Organismus über ein hohes Maß an interner Flexibilität und Gestaltungsfähigkeit. Die Formen seiner Teile können in gewissen Grenzen variieren, und es gibt nie zwei Organismen mit absolut identischen Teilen. Obwohl der Organismus als Ganzes genaue Regelmäßigkeiten und Verhaltensmuster erkennen läßt, sind die Zusammenhänge zwischen seinen Teilen nicht genau festgelegt. An vielen eindrucksvollen Beispielen wurde nachgewiesen, daß das Verhalten der einzelnen Teile wirklich so einzigartig und unregelmäßig sein kann, daß nicht der geringste relevante Zusammenhang mit der Ordnung des ganzen Systems erkennbar ist. Diese Ordnung wird durch koordinierende Aktivitäten geschaffen, die den Teilen Fehler! Textmarke 37 nicht definiert. keinen starren Zwang auferlegen, sondern Raum lassen für Variationen und Flexibilität, und genau diese Flexibilität ist es, die lebende Organismen in die Lage versetzt, sich neuen Umständen anzupassen. Maschinen funktionieren nach einer linearen Kette von Ursache und Wirkung, und wenn eine Panne auftritt, kann dafür in der Regel eine einzige Ursache nachgewiesen werden. Im Gegensatz dazu wird das Funktionieren eines Organismus gelenkt durch ein zyklisches Muster von Informationen, das als Rückkoppelungsschleife bekannt ist. Ein Beispiel: Komponente A kann Komponente B beeinflussen; B kann seinerseits auf C einwirken, und C kann die Einwirkung auf A >rückkoppeln< und auf diese Weise die Schleife vollenden. Bricht ein solches System zusammen. dann ist die Panne meist durch multiple Faktoren verursacht, die sich durch voneinander abhängige Rückkoppelungsschleifen gegenseitig verstärken. Welcher von diesen Faktoren den Zusammenbruch des Systems schließlich ausgelöst hat, das ist oft belanglos.(46) Auf der Grundlage einer so beschriebenen Sichtweise hat sich die Familientherapie als funktionalistische Handlungsmethode entwickelt. Durch die oben beschriebenen Erkenntnisse von den Eigenschaften lebender Systeme hat sich unsere Sichtweise über das Funktionieren von Familiensystemen beträchtlich erweitert. Es ist der Wandel vom Denken in linearen Zusammenhängen - jede Ursache hat eine Wirkung also hat jede Wirkung eine Ursache - zu einem Denken in zirkulären Zusammenhängen, das sowohl die Wechselwirkung zwischen Ursache und Wirkung als auch den Beobachter dieser Zusammenhänge miteinbezieht. Sozialwissenschaftlicher und psychologischer Wegbereiter des ganzheitlich-systemischen Denkens war neben Kurt Lewin J. L. Moreno, der neben dem Psychodrama und der Soziometrie auch den Begriff vom Menschen als "soziales Atom" geprägt hat. "Es geht darum, das menschliche Universum in all seinen Formen als eine Summation, wechselseitige Durchdringung (Interpenetration) und dynamische Multiplikation von sozialen Atomen zu begreifen, denn wenn wir auf eine Gemeinschaft schauen ..., werden wir zuerst zahlloser Konflikte gewahr, die auf ihrer Oberfläche schwimmen: Familien, Arbeitsgruppen, rassische und religiöse Gruppen etc., und wir erkennen, daß diese Gruppe keine wilden Formationen sind, sondern sich um bestimmte Kriterien zentrieren."(47) Petzold weist darauf hin, daß in den Arbeiten Morenos die Beziehungen im sozialen Atom, als abhängig von den Konditionen der jeweils umgebenden (46) (47) vergl. Capra, a.a.O. - S. 296 f Moreno, zit. in: Petzold, Hilarion Der Mensch ist ein soziales Atom In: Integrative Therapie, 3/1982 - S. 161 38 historisch-kulturellen Situation beschrieben werden. Die kleinste funktionale Einheit innerhalb eines kulturellen Musters wird daher als "kulturelles Atom" beschrieben. Durch seine Theorie vom "Sozialen Netzwerk" hat Moreno deutlich gemacht, "daß eine Familie abhängig ist von den sozialen Gruppen, mit denen sie verbunden ist, daß also die systemische Betrachtungsweise ausgedehnt werden muß auf Schul- und Arbeits-, Wohn- und Einkommenssituation und daß diese Perspektiven von zentraler Bedeutung für die Entwicklung adäquater Interventionsstrategien sind."(48) Lapassade geht in seiner Beurteilung der Arbeiten Morenos noch weiter: "Moreno hat im übrigen die gesellschaftlichen und politischen Implikationen seiner Untersuchungen sehr wohl gesehen: Seine >Soziometrische Revolution< ist nicht bloß der Ausdruck einer Bevorzugung der kleinen Gruppe in einem Programm sozialer Veränderungen; sie bringt ebensosehr den Gedanken einer permanenten Revolution innerhalb der gesellschaftlichen Revolution selbst zum Ausdruck und erhebt die Forderung, daß die neuen Gesellschaften sich nicht wiederum bürokratisieren lassen, um damit den Elan zu verlieren, der allein imstande ist, die entscheidenden Veränderungen hervorzurufen, die alten Strukturen umzustoßen und eine Zeitlang die schöpferische Spontaneität der >fusionierenden< gesellschaftlichen Gruppen wiederzufinden. Somit erweist sich die Soziometrie als eine Technik des gesellschaftlichen Veränderns."(49) Wir werden später auf Lapassade zurückkommen. 4.2 Die soziologische Systemtheorie Die systemtheoretische Soziologie nimmt für sich in Anspruch, einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung der Soziologie als Wissenschaft herbeiführen zu können. Bis zur Entwicklung der Systemtheorie stand die Soziologie in einem Spannungsfeld zwischen spekulativer Philosophie auf der einen und positivistischer Naturwissenschaft auf der anderen Seite. Mit der Systemtheorie wird nun der Versuch unternommen, eine allgemeine Theorie sozialer Systeme mit universellem Anspruch in dreierlei Hinsicht zu entwerfen. (48) (49) Petzold a.a.O., S. 164 Lapassade, Georges Gruppen, Organisationen, Institutionen - S. 42, Stuttgart, 1972 Fehler! Textmarke 39 nicht definiert. 1. 2. 3. (50) Hinsichtlich einer fachspezifischen Universalität nimmt die Systemtheorie für sich in Anspruch, einen einheitlichen Forschungsansatz für alle Ebenen sozialer Beziehungen zu liefern. Dabei handelt es sich um Dyade, Gruppe, Organisation, gesellschaftliches Teilsystem, Gesellschaft und internationale Systeme. Die Einheitlichkeit der zugrundeliegenden Systemprobleme läßt bei diesem Forschungsansatz durchaus unterschiedliche Interpretationen zu. Hinsichtlich einer interdisziplinären Universalität ist die Systemtheorie besonders gut als integrierende Wissenschaft geeignet, weil die Systemprobleme in allen Wissenschaften auszumachen sind. Unterschiedliche, aber doch vergleichbare Systemkonzepte sind aus der Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Betriebswirtschaft, Medizin, Erkenntnistheorie und Philosophie bekannt. Für die Sozialarbeit kann die Systemtheorie eine Integration der zentralen Grundlagenwissenschaften Soziologie und Psychologie leisten. "Die soziologische Systemtheorie kann sich dadurch als Teil eines umfassenden Erkenntnisprogramms betrachten, wobei es viel weniger auf Abgrenzung gegenüber anderen Wissenschaften und territoriale Eifersüchteleien ankommt, als auf interdisziplinäre Zusammenarbeit, die Schaffung von Anknüpfungsmögolichkeiten von und zu Nachbarwissenschaften, die Kumulation der Anstrengungen unterschiedlicher Wissenschaften zur Lösung übergreifender Probleme."(50) Hinsichtlich der Universalität des Komplexitätsproblems stellt die soziologische Systemtheorie fest, daß sich soziale Beziehungen nicht auf einfache Kategorien und Gesetzmäßigkeiten reduzieren lassen. Die Tatsache, daß es im Vergleich zu den klassischen Naturwissenschaften keine klaren und eindeutigen Gesetze gibt, kann nicht als Schwäche, sondern muß als Stärke der Systemtheorie angesehen werden. Die Systemtheorie muß sich von Anbeginn an dem Problem der Komplexität stellen, einem Problem, welches für die Naturwissenschaften erst in ihrer jüngeren Geschichte wieder an Bedeutung gewinnt. Die neuere Entwicklung der Naturwissenschaften macht immer wieder deutlich, daß ihre Kausalgesetze nur für einen "mittleren Willke, Helmut, Systemtheorie - S. 2, Stuttgart, New York, 1982 40 Bereich" Gültigkeit besitzen. Außerhalb dieses Bereichs nehmen Unschärfe, Relativität und Wechselwirkung derartige Formen an, daß auch die Naturwissenschaften zu keinen eindeutigen Aussagen mehr kommen können, da sie vor dem neuen Problem der Komplexität stehen. Die Physik hat im Bereich der großen Entfernungen die Relativitätstheorie und im Bereich der kleinen Entfernungen die Quantentheorie entwickelt. In neueren Ansätzen versucht man das Problem der Komplexität mit Hilfe einer "Chaostheorie" in den Griff zu bekommen. Die Systemtheorie der Soziologie versucht seit ihren Anfängen die Komplexitätsproblematik ernstzunehmen und kontrollierbare Verfahren zum wissenschaftlichen Umgang damit zu entwickeln. 4.21 Die Entwicklung der soziologischen Systemtheorie 1. Die strukturell-funktionale Systemtheorie Diese Theorie geht auf Talcott Parsons zurück und ist dadurch gekennzeichnet, daß der Strukturbegriff dem Funktionsbegriff vorgeordnet ist. Demzufolge wird davon ausgegangen, daß die bestimmten Strukturen, die soziale Systeme notwendigerweise aufweisen, der Forschungsgegenstand sind. Es wird also danach gefragt, welche funktionalen Leistungen ein System erbringen muß, damit dieses System in seinen Strukturen erhalten bleibt. Kritisiert wird an diesem Ansatz, daß die Strukturen weitgehend als gegeben angenommen werden und nicht hinterfragt werden. 2. Der system-funktionale Ansatz In diesem Ansatz werden soziale Systeme als wandlungsfähige Gesamtheiten gesehen, die sich geänderten Umweltbedingungen dadurch anpassen können, daß sie ihre Struktur verändern oder ausbauen, wenn dies nötig sein sollte. Es wird danach gefragt, welche strukturellen Anpassungsleistungen ein System erbringen muß, um bei geänderten Umweltbedingungen seine Funktion erhalten zu können. Kritisiert wird an diesem Ansatz, daß die Umweltbedingtkeit zwar gesehen wird, daß aber vorwiegend die Strukturveränderung des Systems Gegenstand der Analyse bleibt. 3. Der funktional-strukturelle Ansatz Dieser, im wesentlichen von Luhmann entwickelte Ansatz, stellt die Frage nach der Funktion von Systemen, vor dem Hintergrund ihrer Komplexi- Fehler! Textmarke 41 nicht definiert. tätsreduktions-Fähigkeit in den Mittelpunkt. Systeme haben demzufolge nur einen Sinn in ihrer Relation zur Umwelt. Indem mittels Systemen ausgegrenzte Bereiche geschaffen werden, wird die Komplexität der Welt dergestalt reduziert bzw. differenziert, daß es dem Menschen ermöglicht wird, die Welt zu erfassen und in seiner Aufnahmekapazität nicht von der Komplexität der Welt überwältigt zu werden. Systeme schaffen somit eine Differenz zwischen sich selbst und der Umwelt, zwischen Innen und Außen. Man muß darüber hinaus davon ausgehen, daß die Welt nicht Systeme schafft, sondern aus Systemen besteht. Diese System-Umwelt-Konzeption zielt auf die Frage der Auseinandersetzung zwischen System und Umwelt. Zusammenfassend kann man sagen, daß die System-Umwelt-Konzeption, wie sie Luhmann vorschlägt, soziale Gebilde als komplexe, sinnhaft konstituierte Einheiten begreift, die eine Vielzahl von Problemen lösen müssen, wenn sie in ihrer Umwelt bestimmte Ziele erreichen wollen. Das Hauptproblem was sie lösen müssen ist allerdings die Verarbeitung von Komplexität, weil dies als die Vorbedingung für das Erreichen aller anderen Ziele angesehen wird. Die Kritik an diesem Ansatz zielt im wesentlichen auf die hohe Eigenkomplexität der Theorie selbst. 4. Der funktional-genetische Ansatz Dieser Ansatz fragt verstärkt nach den evolutionären Entwicklungen von Systemen und schenkt dadurch den systeminternen und systemexternen Prozessen seine besondere Aufmerksamkeit. Systeme können evolutionäre Entwicklungsmechanismen hervorbringen, mit deren Hilfe sie sich selbst reproduzieren und evolutionär verändern können. Diese Veränderungsprozesse folgen aber keiner determinierten Richtung, sondern lassen in einem begrenzten Bereich mögliche Variationen und Unbestimmtheiten zu. Die Frage ist nun, welche Bedingungen dazu geführt haben, daß schließlich sich eine ganz bestimmte Option durchgesetzt hat und ein ganz spezifischer Entwicklungsstand erreicht wurde und nicht irgend ein anderer. Aus diesem Ansatz entwickelt sich auch die Frage nach möglichen Steuerungsverfahren. 42 4.3 Ganzheitliches und systemisches Denken in der Sozialarbeit Das Postulat der Ganzheitlichkeit war seit je ein zentraler Anspruch in der Sozialarbeit. Das wird besonders in den Arbeiten von Alice Salomon deutlich, die immer wieder die Forderungen nach einer ganzheitlichen Betrachtungsweise von sozialem Elend erhoben hat.(51) Der Ganzheitlichkeitsgedanke prägt explizit oder implizit die Werthaltungen vieler sozialer Organisationen; und so heißt es beispielsweise in der Satzung des Diakonischen Werkes von 1975: "Da die Entfremdung von Gott die tiefste Not des Menschen ist und sein Heil und Wohl untrennbar zusammengehören, vollzieht sich Diakonie in Wort und Tat als ganzheitlicher Dienst am Menschen."(52) Sylvia Staub-Bernasconi belegt in ihrer Arbeit über die Methodenentwicklung in der Sozialarbeit, daß "bereits Ende des 19. Jahrhunderts ... der Suche nach Wissen eine Ahnung über die Systemizität der Welt, der Gesellschaft, wie des Menschen vorausging, das heisst es zeichnete sich ein Weltbild ab, das die Soziale Arbeit seit je her versteckt oder offen prägt."(53) Dieser ganzheitliche Gedanke konnte offensichtlich in der Vergangenheit nie adäquat in den wissenschaftlichen Blick genommen werden, und erst mit der Erschließung des Systemansatzes öffnete sich für das Feld der Sozialen Arbeit die Perspektive auf eine Wissenschaftlichkeit, die sich mit dem traditionellen Postulat von der Ganzheitlichkeit des Menschen in Übereinstimmung bringen läßt. Seit dem der systemische Ansatz in der Sozialen Arbeit wachsenden Zuspruch findet, zielt die sozialarbeiterische Intervention nun in vielen Fällen in erster Linie darauf ab, eine Veränderung von Beziehungsmustern zu ermöglichen. Dabei ist es für eine systemische Haltung ganz wesentlich, daß Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen sich selbst als einen Teil des Systems betrachten. Dadurch wird ein technokratisches, von außen kommendes Interventionsverhalten unmöglich. Methoden können somit nicht mehr als bloße Techniken verstanden werden; sie beziehen stets die Gesamtperson des Sozialarbeiters mit ein. "Der systemische Ansatz impliziert, daß der Sozialarbeiter sein eigenes Handeln als Teil des zirkulären Prozesses versteht, an dem er selbst, der Hil(51) (52) (53) Geisel/Leschmann, a.a.O. Diakonisches Werk - Satzung, 1975 Staub-Bernasconi, a.a.O. - S. 3 Fehler! Textmarke 43 nicht definiert. fesuchende, Angehörige, andere Bezugspersonen und Helfer beteiligt sind. ... So wird die Fähigkeit, die eigenen Interaktionsanteile ... in diesem vernetzten System >metalogisch< zu reflektieren (z.B. in Supervision) wichtiger Bestandteil der Arbeit."(54) Enders weist weiterhin auf die Probleme der sozialen Arbeit im behördlichen Auftrag hin. Administratives Vorgehen zwinge den Sozialarbeiter, die Sozialarbeiterin zu linearem Denken. Aktenführung und die mit dem Amtsauftrag verbundene Parteinahme machten es nötig, komplexe Vorgänge aus ihren Zusammenhängen zu isolieren, und auf auf das Individuum bezogene Zuschreibungen zu reduzieren. Diese Haltung erscheint resignativ insbesondere dann, wenn man davon ausgeht, daß ja die große Mehrheit der Sozialarbeiterschaft unter den Bedingungen der behördennahen Sozialen Arbeit tätig ist. Ziel einer Sozialarbeit, die sich dem systemischen Ansatz verpflichtet fühlt, muß es selbstverständlich auch sein, der unter diesen Bedingungen beschäftigten Sozialarbeiterschaft eine methodische Vorgehensweise zu ermöglichen, die sie dazu in die Lage versetzt, das linear-kausale Denken der Bürokratie zu überwinden. Die neuere Diskussion in der Sozialarbeit greift als Weiteres den Netzwerkgedanken als Spezifizierung des systemischen Ansatzes auf. Im Unterschied zu formellen und funktionalen Verknüpfungen durch Organisationssysteme entwickeln sich "soziale Netzwerke" aus informellen Beziehungen sozialer Nähe. Dieses wird besonders deutlich bei Selbsthilfegruppen, die die soziale Problembewältigung aus den traditionellen Feldern der Solidarität, wie die der Familie herausholen und demgegenüber bewußte Gruppenbeziehungen stellen. Hierdurch entwickelt sich auch eine Alternative zur individualisiernden Fallarbeit der traditionellen Sozialarbeit, weil durch die gemeinsamen Gruppenerfahrungen von Schicksalsgenossen (z.B. in Selbsthilfegruppem von Alkoholkranken) deren Leiden zu einem gemeinsamen Anliegen wird. Dadurch kann das Leiden nun entindividualisiert werden, und infolge dessen um die gesellschaftspolitische Dimension erweitert werden. Erst das gemeinsame Handeln behinderter Menschen beispielsweise hat zu gesellschaftlichen Bewußtseinsprozessen geführt, in deren Folge öffentlicher Einrichtungen zunehmend behindertengerecht gestaltet werden. (54) Enders, Manfred in: Deut. Verein, a.a.O. - S. 841 44 Mit diesen Gedanken werden wieder die Vorstellung von J. L. Moreno aufgegriffen, der auch als Urvater des Netzwerk-Gedankens gelten kann. Die Lösung sozialer Probleme ist nicht mehr die Individualisierung derselben, vielmehr wird das Individuum in seinem sozial-psychologisch-politischen Kontext gesehen. "Die Schaffung bzw. Wiederbelebung von Netzwerken hebt in dieser Perspektive die soziale Unterstützung bei der Lösung sozialer Probleme in einer umfassenden sozialen Umgestaltung auf. Dabei steht Moreno in der Tradition des utopischen Sozialismus, wenn er die Umgestaltung nicht politisch, also auf Eroberung der Macht im Staate, ausrichtet, sondern sozial, also auf den Gewalt vermeidenden Umbau der sozialen Verhältnisse von unten. Und damit kann er auch der Selbsthilfe bzw. Alternativbewegung Orientierung bieten. Vor allem aber hat Moreno immer wieder neue Methoden kreiert, die die Analyse der sozialen Wirklichkeit, die Konsensfindung über ihre wünschenswerte Gestaltung, wie die Umsetzung dieser Entwürfe in der sozialen Aktion von Gruppen - also in Reichweite von jedermann - als einheitlichen Prozeß begreift."(55) Gaertner, einer der profiliertesten Kritiker der Psychotechniken steht den Arbeiten Morenos hingegen mehr skeptisch gegenüber: "Im Fall der Lehre Morenos werden ähnlich wie in der Urschreitherapie Janovs oder der Gesprächspsychotherapie Rogers weltrevolutionäre Ansprüche erhoben. Diese Größenvorstellungen kontrastieren eigenartig zur Armut der Theorien. Zumeist ist nur die psychotherapeutische Technik einigermaßen ausführlich beschrieben und durch Beispiele belegt. Konsistente Annahmen über Sozialisationsprozeß, Krankheitslehre und Gesellschaftstheorie bestehen demgegenüber allenfalls auf der Ebene gängiger Ideologien und alltagsweltlicher Vorannahmen."(56) Im Gegensatz zu vielen anderen Methodenkritikern, vor allem aus den siebziger Jahren, akzeptiert Gaertner zumindest die technische Kompetenz von Moreno, Rogers, Cohn u.a. und bescheinigt diesen Konzepten, Aspekte zu besitzen, deren Erfahrungen im Rahmen der Sozialtherapie durchaus produktiv einsetzbar sind. (55) (56) Buer, Ferdinand, Soziale Netze, selbstaktive Felder Sozialökologie & Co. in: Neue Praxis, 2/1988 - S. 103 Gaertner, a.a.O. S. 28 Fehler! Textmarke 45 nicht definiert. 4.4 Personale Kompetenz und ganzheitlich-systemisches Handeln Da die systemische Sichtweise den Helfer stets als Bestandteil des Systems sieht, muß sich der Helfer dieser Situation bewußt sein und sich zunächst selbst reflektieren können. Die Reformbemühungen in den siebziger Jahren und die Anstrengungen der Sozialarbeit, wissenschaftliche Profession zu sein, haben dem personalen Aspekt der Professionalität zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und es stellt sich heute die Frage, ob nicht das Steckenbleiben der Reformbemühungen neben den objektiven Gründen (politischer-, wirtschaftlicher- und rechtlicher Art), auch auf, im Subjekt des Sozialarbeiters liegenden Gründe zurückzuführen ist. Dieser Fragestellung gehen Hinte und Springer nach und sie stellen die Hypothese auf, daß "die zentrale Fehleinschätzung der Reformer im sozialen Sektor darin liegt, daß die Person des Professionellen in diesem Bereich (...) als filterlose Durchgangsstation für wissenschaftliche, d.h. kognitiv-rational planerische Konzepte und Handhabungen gesehen worden ist."(57) Diese Überlegungen decken sich grundsätzlich mit den oben beschriebenen Systemansätzen sowie mit den aus der Geschichte der Sozialarbeit immer wieder erhobenen Ansprüchen auf Ganzheitlichkeit, auf die "Besorgung des ganzen Menschen" (Alice Salomon). Für Schmidtbauer ist darum auch der Selbsterfahrungsaspekt der therapeutischen Konzepte für die Soziale Arbeit von besonderem Wert, denn: "durch die Unfähigkeit (der Sozialarbeiter) ihre eigene Rolle kritisch zu sehen, werden sie zwangsläufig zu Komplizen des Systems, das die Schäden produziert, die sie behandeln."(58) Eine systemische Einstellung zwingt uns dazu, die Person des Helfers als Bestandteil des Systems zu betrachten. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen können von daher nur dann systemisch-denkende professionell Helfende sein, wenn sie in der Lage sind, ihre eigene Person als Teil des Systems zu reflektieren und einzusetzen. (57) (58) Hinte, Wolfgang/Springer, Werner Personale Kompetenz und professionelles Handeln in: Sozialmagazin, 12/1983 - S. 19 Schmidtbauer, Wolfgang An den Bedürfnissen vorbei in: Sozialmagazin, 12/1983 - S. 19 46 Dies trifft nicht nur auf die Arbeit mit Einzelnen oder Familien zu, sondern auch, wie Mara Selvini Palazzoli so eindrucksvoll beschreibt, auf das Arbeiten in Organisationen und Institutionen.(59) Die heute vielfach festzustellende resignative Einstellung und der mangelnde Arbeitserfolg vieler Sozialarbeiter wird in den meisten Fällen an den Bedingungen der äußeren beruflichen Realität festgemacht. Die Bemühungen, diese Realität zu verändern, bleiben häufig im institutionellen Gestrüpp hängen. Hierfür gibt es unbestreitbare äußere Gründe. Es wird aber hierbei übersehen, daß der Sozialarbeiter, die Sozialarbeiterin selbst Bestandteil dieser veränderungwürdigen Realität sind und demzufolge sich als Teile des Systems betrachten müssen, sich also auch reflektieren und verändern müssen. "Die eher resignative oder zumindest zurückhaltende Einstellung vieler Professioneller im sozialen Sektor gegenüber den Veränderungsnotwendigkeiten in ihrem Bereich ist unseres Erachtens besonders darauf zurückzuführen, daß die Widerständigkeit der äußeren sozialen Realität und der inneren, kongnitv-emotionalen, lebensgeschichtlichen Realität unterschätzt worden ist."(60) 4.5 Veränderungsprozesse aus ökologisch-systemischer Perspektive Während der methodenkritischen Phase der Sozialarbeit wurde die Forderung nach einem gesellschaftsorientierten Veränderungsansatz erhoben, anstelle einer am Individuum orientierten Hilfe. In der nachfolgenden Phase der psychotherapeutischen Methoden geriet das Individuum wieder in den Mittelpunkt. Die Polarität dieser beiden Perspektiven sollte in einem systemischen Ansatz sozialer Arbeit überwunden werden, dadurch, daß das ökosystemische Prinzip eingeführt wird. Die Systemschau betrachtet die Welt im Hinblick auf Zusammenhänge und Integration. Systeme sind integrierte Ganzheiten, die miteinander interagieren. Ähnlich, wie die in der Natur vorkommenden Ökosysteme, weisen auch gesellschaftliche Systeme diese Merkmale der Ganzheitlichkeit auf. Demzufolge besteht das System "Gesellschaft" aus einer Vielzahl interagierender Subsysteme. Veränderungsprozesse können auf allen (59) (60) Selvini-Palazzoli, Mara Hinter den Kulissen der Organisation, Stuttgart, 1984 - S. 219 ff Hinte/Springer, a.a.O., S. 546 Fehler! Textmarke 47 nicht definiert. Ebenen der Gesellschaft stattfinden. Veränderungen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene finden durch Revolution oder politische Willensbildung statt. Veränderungen auf der individuellen Ebene finden durch Psychotherapie oder Erziehung statt. Zwischen der individuellen Ebene und der gesamtgesellschaftlichen, liegt die Ebene der Subsysteme. Zu diesen Subsystemen gehören insbesondere die "Institutionen". Sozialarbeit findet in der Regel auf dieser Ebene statt. Der Ökosystemische Veränderungsansatz heißt: Denke global, handle lokal. Erfreulicherweise hat dieses Postulat in den letzten Jahren auch Einzug in die Praxis der Sozialen Arbeit gehalten. Joachim Wieler betitelt mit diesen Worten seinen Beitrag über internationale Zusammenarbeit in der Sozialarbeit.(61) Auf die soziale Arbeit vor Ort bezogen bedeutet das, daß der Ort der Veränderung auch nicht mehr statisch ist, sondern dem beständigen Wandel, in Anpassung an die jeweilige Situation unterworfen ist. Das bedeutet für die Soziale Arbeit, daß eine Diskussion über Werte beständig geführt werden muß. Diese Diskussion schließt immer die vorangegangene Entwicklung der Sozialen Arbeit mit ein. 4.6 Die Eigenschaften lebender Systeme (psycholog. Systemtheorie) Wenn wir eine Methodik zur Veränderung von Systemen entwickeln wollen, so erscheint es sinnvoll, zunächst die Eigenschaften von Systemen zu erforschen. Die psychologische Systemtheorie hat solche Eigenschaften beschrieben und in einigen Systemgesetzen dargestellt. Diese Arbeiten gehen besonders auf die Studien von Paul Watzlawick(62) zurück und bilden die Grundlage der Kommunikationstheorie. Der Theorie liegt eine Definition zugrunde, wonach ein System ein Ensemble ist, welches aus verschiedenen Bausteinen oder Elementen besteht. Diese Bausteine sind durch Beziehungen untereinander verknüpft. Die Eigenschaften der Systeme werden durch die nachfolgenden Systemgesetze beschrieben. Alle lebenden Systeme bestehen aus Subsystemen und einer sie umgebenden Umwelt. Das trifft für die Zelle ebenso zu wie für ein Organ, einen einzelnen Menschen oder eine Organisation wie z.B. ein Jugendamt. (61) (62) Wieler, Joachim, Global denken, lokal handeln Internationale Vernetzung in der Sozialen Arbeit in: Sozial, 2/1986 - S. 33 ff Watzlawick, Paul - Beavin, H. - Jackson, Don D. Menschliche Kommunikation - S. 118 ff, Stuttgart, Wien, 1985 48 Nachfolgend stelle ich die wichtigsten Systemgesetze dar. 1. Ganzheit Jeder Teil eines Systems ist mit anderen Teilen so verbunden, daß eine Änderung in einem Teil eine Änderung in allen Teilen zur Folge hat. Es handelt sich also nicht um eine Zusammensetzung von einander unabhängiger Einzelelementen, sondern um ein zusammenhängendes untrennbares Ganzes. "Man kann sagen, daß sich Systeme immer durch einen relativen Grad von Ganzheit auszeichnen." (Watzlawick) 2. Übersummation Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das System ist also nicht einfach eine Summe seiner Bestandteile sondern mehr, denn die Bestandteile stehen ihrerseits in Austausch miteinander, wodurch dem Gesamtsystem zusätzlich Qualitäten verliehen werden. In der Psychologie ist der Begriff der Gestalt Ausdruck des Prinzips der Übersummation. So nehmen wir beispielsweise in einer kreisförmig angeordneten Summation von Punkten nicht einfach nur eine Anzahl von Punkten wahr, sondern auch einen Kreis; in der Musik ist eine Melodie ebensowenig eine Anzahl von Tönen, sondern eine Gestalt eigener Qualität. 3. Rückkopplungs- oder Feedback-Prinzip Innerhalb eines Systems gibt es sogenannte Rückkopplungsmechanismen, die dafür sorgen, daß das System sich selbst Auskunft über seinen Zustand gibt und sich dadurch selbsttätig regelt. Wenn z.B. eine Rockband seine Verstärkeranlage aufbaut, kommt es gelegentlich zu einem Rückkopplungston, der als schrilles Pfeifen wahrgenommen wird. Dieser Ton gibt dem System die Auskunft darüber, daß die Mikrofone, die durch die Lautsprecher abgegebene Wiedergabe aufnehmen und erneut verstärken. Der Techniker oder eine Automatik regelt nun das System so, daß die Beschallung auf ein Niveau gesenkt wird, in dem die Lautstärke den räumlichen Gegebenheiten und der Technik angepaßt wird. Wenn ein System sich nicht mehr Auskunft über sich selbst geben kann, ist die innere Reglungsfähigkeit gestört. Familientherapie will beispielsweise diese Feedback-Fähigkeit des Familiensystems fördern. Fehler! Textmarke 49 nicht definiert. 4. 6. Der zyklische Charakter von Systemen Da ein System seinerseits immer auch gleichzeitig Subsystem vom nächst größeren System ist, steht es als solches auch in Beziehung und im Austausch mit anderen Systemen. Wir sprechen daher davon, daß lebende Systeme offen sind. Dennoch hat ein System Grenzen. An diesen Grenzen spielt sich aber der Kontakt und der Austausch mit anderen Systemen ab. Wenn sich ein System nach Außen abschließt, ist es auf Dauer nicht überlebensfähig oder es entwickelt sich zumindest dysfunktional. Beispiel: Die Familie, die "sich selbst genug" ist, der Staat der sich hinter Mauer und Stacheldraht abschließt usw. Prinzip der negativen Entropie Jedes System hat die Tendenz sich in Richtung von Desorganisation, Chaos oder Tod zu entwickeln, also zu zerfallen und abzusterben. Je offener ein System ist, desto mehr wird dieser Entwicklung entgegengewirkt, da durch neue Einflüsse von außen Feedback gefördert wird, was zur Erschließung neuer Ressourcen führen kann. 7. Differenzierung und Integration Offene Systeme entwickeln sich in Richtung größerer Differenzierung, Rollen-, und Arbeitsteilung. Beispiel dafür ist die Familie, wo aus Kindern Leute werden, aus Eltern Großeltern usw. Diesem Prozeß wird in Organisationen durch integrierende Arbeitsformen entgegengewirkt. (z. B. durch Teamarbeit) 8. Das dynamische Gleichgewicht Dieses Gesetz besagt, daß jedes System in der Lage ist, selbst seinen spezifischen Zustand herzustellen, auch wenn unterschiedliche äußere Einflüsse auftreten. Dies bewirkt, daß ein System trotz ständigem Aufnehmen und Abgeben von Energie im Prinzip seinen Charakter bewahrt. Allerdings müssen wir heute erkennen, daß diesem Prinzip Grenzen gesetzt sind. So hat beispielsweise das Wasser, oder besser gesagt Flüsse und Seen ein Selbstreinigungspotential, wodurch sie sich von Schadstoffen befreien und wieder ihren ursprünglichen Zustand herstellen können. Durch das massive Eingreifen von Menschen und die Einleitung von vielfältigen Schadstoffen ist aber das dynamische Gleichgewicht von manchen Seen und Flüssen bereits derart gestört, daß diese "umzukippen" drohen. 50 9. Äquifinalität Jedes lebende System kann den gleichen Endzustand auf unterschiedlichen Wegen erreichen. Also: viele Wege führen nach Rom. Es ist nicht festgelegt, welches der "richtige" Weg ist, bzw. welches der "ursächliche" Ausgangspunkt ist. Aus diesen Erkenntnissen folgt, daß es keine monokausalen Erklärungsmuster für bestimmte Phänomene gibt. Es kann jemand zum Alkoholiker geworden sein, weil er eine überfürsorgende Mutter hatte oder weil ihm alles versagt geblieben ist, weil er zu streng oder zu nachgiebig erzogen wurde, weil die Eltern reich und anspruchsvoll waren oder weil sie ärmlich und entsagend waren, weil er unter- oder überfordert wurde, usw., usw., usw... Erklären können wir den Alkoholismus dieses Menschen nur, wenn wir das System selbst betrachten. Das System selbst ist seine beste Erklärung. 10. Selbstorganisation Dieses Systemgesetz ist umstritten, es widerspricht eigentlich dem sechsten Gesetz. Dennoch hat gerade die Gestalttheorie bewiesen, daß Wahrnehmung immer die wahrgenommenen Objekte, auch wenn sie zunächst chaotisch wirken, zu sinnvollen Ganzheiten organisiert. Dieses Selbstorganisationsprinzip trifft nun auch auf Organisationen zwischen Menschen zu, was wir an dem Beispiel sehen können, wie sich Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen bilden. Diese Auswahl von Gesetzmäßigkeiten lebender Systeme kann man als eine Grundlage für die, von Watzlawick ausgearbeitete Kommunikationstheorie betrachten. Das Verständnis dieser Gesetze liefert uns darüber hinaus grundlegende Anhaltspunkte für die Entwicklung erfolgreicher Interventionsstrategien in sozialen Systemen. Diese Gesetze beschreiben, daß lebendige Systeme keinen monokausalen Erklärungsmustern folgen. Die hohe Effizienz der monokausalen Frage nach dem "Warum" scheint sich auf Erklärungen von geschlossenen Systemen zu beschränken. Dort haben "Warum-Fragen" zweifellos ihren Platz. Offene Systeme sind aber durch ihre Äquifinalität, Ganzheit, Übersummation, Rückkopplungsmechanismen usw. so vielschichtig, daß wir sie nur verstehen können, wenn wir ihre Struktur erfassen. Die Struktur der Systeme erfassen wir aber nicht durch die Frage nach dem "Warum", sondern nur durch die Frage nach dem "Wie". Fehler! Textmarke 51 nicht definiert. 5. INSTITUTIONALE SOZIALARBEIT Die Differenzierung des traditionellen Ganzheitsbegriffes aus der Sozialarbeit führt mich von der Ganzheit über das System hin zur Institution. Die Institution beschreibe ich als Ort und Gegenstand der Sozialarbeit. Sie wird deshalb von mir mit besonderem Interesse betrachtet. Dieses Anliegen welches derzeit zwar vielerorts diskutiert wird, findet jedoch in der praktischen Sozialarbeit zunächst nur als formales Problem Resonanz. Um die Institutionen begreifen zu können, müssen wir jedoch weit über ihre formellen Ausprägungen hinausgehen und beobachten lernen, wie sie sich auch in der Persönlichkeit der Menschen repräsentieren. Besonders die Gestalt-Soziotherapie erhebt hier Forderungen, auf die bisher jedoch kaum mit der Entwicklung eigenständiger Konzepte geantwortet wurde; und so sind die Worte von Jürgen Lemke aus einem Protokoll der 1. Deutschen Tagung für Gestalttherapie vom September 1984 zunächst ein Appell, der bis heute nur wenig Gehör fand: "Der Kontext der Institutionen, in denen die meisten Psychologen und Sozialarbeiter tätig sind, muß mitgesehen werden. Man muß sich auch über kontextverändernde Maßnahmen und den dazugehörigen Theorien und Methoden auseinandersetzen. Die Institutionsdiskussion (z.B., Subversionsstrategien, Organisation) ist bisher gar nicht geführt worden. Lieber weichen die Leute in ein altes Traumfeld von Psychotherapie aus oder in politische Aktion, die so global ist, daß sie die Institution nicht mehr erreicht. Vor der Veränderung der Institution liegt die Wahrnehmung derselben. Hier könnte vielleicht Soziotherapie angesiedelt werden."(63) In der weiteren Entwicklung der Sozialarbeit muß die Institution sowohl Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, als auch Gegenstand sozialtherapeutischer Interventionen werden. Um dies zu verdeutlichen, werde ich in einem ersten Schritt den Institutionsbegriff aus der Praxisperspektive zu definieren versuchen. (63) Lemke, Jürgen, Soziotherapie, Protokoll eines Podiumsgespräch in; Petzold/Schmidt, Gestalttherapie - Wege und Horizonte - S. 206, Paderborn, 1985 52 5.1 Die Definition des Institutionsbegriffs Im Laufe der Geschichte hat sich der Begriff der Institution deutlich gewandelt. Im 19. Jahrhundert verstand Marx unter Institutionen im wesentlichen die juristischen Systeme, das Recht und das Gesetz. Gemeinsam mit den Ideologien bildeten sie den "Überbau" der Gesellschaft, während die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse die "Basis" darstellten. Um die Jahrhundertwende entwickelte Durkheim die Soziologie als eine Wissenschaft von den Institutionen. Seit etwa den sechziger Jahren wird an einer neuen Definition der Institution gearbeitet, die die institutionelle Praxis reflektiert. Dieser Institutionsbegriff geht insbesondere auf Goffman(64) zurück, und bezieht die Praxis aus den Bereichen Psychiatrie, Pädagogik und Sozialtherapie mit ein. Für die Praxis der Sozialen Arbeit erscheint besonders der französische Ansatz der Institutionsanalyse interessant. Die "analyse institutionelle" war eine Bewegung französischer Intellektueller, die ihren Ursprung in den 68ger Maiunruhen hatte und deren profiliertester Vertreter Georges Lapassade war. Lapassade versteht unter Institutionen: "- offizielle gesellschaftliche Gruppen: Betriebe, Schulen, Gewerkschaften; - Regelsysteme, die das Leben dieser Gruppen bestimmen."(65) Die "analyse institutionelle" baut auf dem klassischen französischen Institutionsansatz auf, dem die folgende Definition zu Grunde liegt: "Die Institutionen sind ein vollständig eingerichtetes Ganzes aus Handlungen und Gedanken, das die Menschen vorfinden und das sich ihnen mehr oder weniger aufzwingt. Es gibt keinerlei Grund, diesen Ausdruck ausschließlich - wie das gewöhnlich geschieht - auf fundamentale gesellschaftliche Einrichtungen zu beschränken. Wir verstehen unter diesem Wort also ebenso die Gewohnheiten und Bräuche, die Vorurteile und abergläubischen Vorstellungen wie die politische Verfassung oder die wesentlichen juristischen Organisationen; denn all diese Phänomene sind von derselben Art und unterscheiden sich nur graduell voneinander. Die Institution ist, kurz gesagt, innerhalb der Sozialforschung das, was die Funktion in der biologischen Ordnung ist, und so wie die Wissenschaft vom Leben die Wissenschaft von den Lebensfunktionen ist, so ist die (64) (65) Goffman, Erving, Asyle, Frankfurt, 1972 Lapassade, Georges, Gruppen, Organisationen, Institutionen - S. 172, Stuttgart, 1977 Fehler! Textmarke 53 nicht definiert. Wissenschaft von der Gesellschaft die Wissenschaft von den so bestimmten Institutionen. (Artikel >Sociologie< in der >Grande Encyclopédie<)." (Herv. AK)(66) Die neuere französische Institutionsdefinition und hier besonders die Praxis der Institutionsanalyse geht noch über diesen Institutionsbegriff hinaus, indem sie die Erfahrungen der Gruppendynamik reflektiert und die rein soziologischen Definitionen dadurch erweitert, daß sie die These aufstellt, "daß die Institution auch auf der Ebene des Unbewußten der Gruppe besteht."(67) Diese Erkenntnisse zwingen zu der Unterscheidung zwischen Institution als gesellschaftlicher Tatsache (offizielle gesellschaftliche Gruppen) und der Institution als gelebte Praxis (verinnerlichte Regelsysteme). Lapassade differenziert seinen "psycho-soziologischen" Institutionsbegriff weiterhin in zwei anthropologische Perspektiven. Dieser unterscheidet zwischen primären und sekundären Institutionen. Primäre Institutionen findet der Mensch vor. Sie wirken auf die Grundpersönlichkeit ein und formen diese. Sekundäre Institutionen werden von der, durch primäre Institutionen geprägten Grundpersönlichkeit geschaffen. So gesehen besitzt die Herkunftsfamilie den Status einer primären Institution, auf deren Hintergrund das Individuum seine eigene Familie als sekundäre Institution gründet. Die Erweiterung des ursprünglich rein soziologischen Institutionsbegriffs ist hauptsächlich auf die Erkenntnisse der Psychoanalyse zurückzuführen. Freuds Entdeckung des Ödipuskomplexes und des Inzesttabus werden von Lapassade als Strukturen institutionellen Ursprungs gesehen, die dazu dienen, die individuelle Lebensgeschichte zu organisieren. Durch Gruppenerfahrungen wird der Einzelne institutionalisiert, d.h. er bildet eine eigene Prägung aus, die von seinen frühen Gruppenerfahrungen bestimmt wird. So gesehen ist der ödipale Konflikt die erste "Gruppenerfahrung", die ein Mensch macht, tritt doch mit dem Vater ein dritter in sein Leben, mit dem er die Liebe der Mutter teilen muß. In diesem Konflikt hat der Vater die mächtigere Position, der sich das Kind aus Angst vor Vernichtung (Kastration) unterwerfen muß. Dadurch werden dem Kind erste Rollenerfahrungen ermöglicht. Diese elementaren Erfahrungen instituieren Strukturen, die später auch die konkreten Verwandtschaftsbeziehungen be(66) (67) zit. in: Lapassade, a.a. O. - S. 172 Lapassade, a.a.O. S. 174 54 stimmen und Vorschriften und Verbote determinieren. Diese Erfahrungen sind universal und prägen daher unser gesamtes gesellschaftliches Gefüge. "Die Universalität des Ödipuskomplexes bedeutet, daß im individuellen Erleben die universelle Struktur der Verwandtschaftsinstitution präsent ist. Unser Unbewußtes ist instituiert."(68) Das zentrale Anliegen der "analyse institutionelle" ist also das soziale Unbewußte zu begreifen, welches in Gruppen und Organisationen wirksam ist. Dabei versteht sich diese Schule als Institutionskritik, die das institutionell unbewußte transparent machen will. Bisher beschränkte sich die Forschung auf die Ebene der Organisations- und Machtstruktur und selbst die Kritik des Marxismus ging nicht über diese Problematik hinaus. Der institutionelle Ort ist, nach Lapassade, das Verborgene, das Flüchtige und Vergessene. Es ist das politisch Unbewußte. Diese unbewußten Mechanismen gilt es mit Hilfe der "institutionellen Analyse" sichtbar zu machen und zu verändern. Johann August Schülein resümiert in seiner neueren, umfassenden Arbeit "Theorie der Institutionen" über die "analyse institutionelle", daß diese "den Rahmen akademischer Debatten (verläßt) und begibt sich (ohne allerdings ihre universitäre Basis aufzugeben) in das Feld bestimmter sozialer Praxis. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um pädagogische Einrichtungen: Universitäten, Schulen, Organisationen, die mit Ausbildung und >Animation< beschäftigt sind, Beratungsstellen u.ä. (...). Pointierter gesagt: Die AI ist eine >pädagogische Dienstleistungs-Bewegung<; sie reagiert auf die zunehmende Unzulänglichkeit traditioneller PädagogikVersorgungs-Betreuungs-Konzepte und -Strategien, denen im Übergang zur modernen Industriegesellschaft quantitativ neue Aufgaben zugewiesen wurden, ohne daß sie die Möglichkeit gehabt hätten, sich entsprechend weiterzuentwickeln. Daraus ergab sich ein erheblicher Problemstau, auf den die AI in bestimmter Weise reagierte, wo von Seiten der sozialen und politischen Steuerung produktive Impulse ausblieben."(68) Dieser Ansatz blieb bisher leider für das Feld der Sozialen Arbeit weitestgehend unentdeckt. Eine Ausnahme bildet hier Gaertner, der seine Sozialtherapie auf Psychoanalyse und Institutionsanalyse stützt und zu Lapassade bemerkt: "Auch wenn nur direkte politische Aktionen strukturelle Veränderungen hervorbringen können, besteht der Sinn der Institutionsanalyse darin, in den Lebensbereichen der Subjekte, der Gruppen und In(68) (68) Schülein, Johann-August, Theorie der Institutionen - S. 113, Opladen, 1987 Schülein, Johann-August, Theorie der Institutionen - S. 113, Opladen, 1987 Fehler! Textmarke 55 nicht definiert. stitutionen also, Störungen und Probleme der Identitätsbildung in einer über den Rahmen der klassischen Psychoanalyse hinausgehenden kollektiven Weise zu bearbeiten. Zugleich soll die Interventionspraxis dazu beitragen, theoretisch den gesellschaftlichen Prozessen in Gruppen und Institutionen auf die Spur zu kommen und in ihren Sozialisationswirkungen zu erforschen."(69) 5.2 Der praktische Institutionsbegriff Die für die Sozialarbeit relevanten Systeme möchte ich im Folgenden als "Institutionen" bezeichnen. "Unter Institutionen verstehen wir: offizielle gesellschaftliche Gruppen: Betriebe, Schulen, Gewerkschaften; Regelsysteme, die das Leben dieser Gruppen bestimmen." (Lapassade, s.o.) Hierunter fallen beispielsweise Familien als gesellschaftliche Gruppen. Aber auch der Einzelne mit seinen verinnerlichten Regelsystemen ist institutionalisiert. Das bedeutet, daß verinnerlichte Normen und Werte zu teilweise unbewußten Regelsystemen gerinnen, die uns das Zusammenleben in der Familie oder auch in größeren gesellschaftlichen Organisationen erst ermöglichen. Je strukturierter, differenzierter und reflektierter diese inneren Regelsysteme beim Einzelnen sind, desto besser gelingt ihm der Anpassungs- und Abgrenzungsprozeß in und von gesellschaftlichen Gruppen. Institutionen sind für das menschliche Überleben und eine differenzierte Fortentwicklung unerläßliche Gebilde. Wir kennen aus der Soziologie zwei zentrale Ansätze, die die Institution definieren: Der kulturanthropologische Ansatz von Gehlen betrachtet die Institution vor allen als gesellschaftlichen Instinktersatz, der das menschliche Verhalten stabilisieren soll. Durch die automatische Regulierung von Handlungsabläufen und Beziehungsabläufen ermöglichen uns Institutionen eine erhebliche Entlastung, die schließlich zur Sicherung von Bedürfnissen des Einzelnen beiträgt. Die Formen, in denen Menschen miteinander leben (Familie, WG, Altenheim) oder arbeiten (Schule, Fabrik, Büro), in denen sich die Herrschaft (69) (70) Gaertner, Adrian, a.a.O. - S. 37 Gehlen, Arnold, Anthropologische Forschung - S. 72, Reinbeck bei Hamburg, 1980 56 ausgestaltet (Polizei, Justiz) oder der Kontakt mit dem Übersinnlichen (Kirche, Sekten), gerinnen alle zu Gestalten eigenen Gewichts. Das sind die Institutionen, die schließlich den Individuen gegenüber eine eigene Macht gewinnen, die durch die verschiedenartigsten Regeln gefestigt wird. Dadurch gelingt es einem Mitglied einer Institution in der Regel, das Verhalten eines anderen Institutionsmitgliedes ziemlich sicher vorauszusagen, vorausgesetzt, daß man dessen Stellung und Rolle im System der Gesellschaft kennt und weiß, von welchen Institutionen er getragen wird. "Wenn auch die Institutionen uns in gewisser Weise schematisieren, wenn sie mit unserem Verhalten auch unser Denken und Fühlen durchprägen und typisch machen, so zieht man jedoch gerade daraus die Energiereserven, um innerhalb seiner Umstände die Einmaligkeit darzustellen, d.h. ergiebig, erfinderisch, fruchtbar zu wirken. Wer nicht innerhalb seiner Umstände, sondern unter allen Umständen Persönlichkeit sein will, kann nur scheitern." (Hervorh. AK)(70) Die strukturell-funktionale Schule nach Parsons betont vorwiegend die Bedeutung der Institution für die Erhaltung des sozialen Systems. Hierbei geht es um die Frage, auf welche Weise sich das soziale System erhält und fortsetzt, obwohl die Generation, die die jeweilige Gesellschaft trägt einem natürlichen Ausscheidungsprozeß unterworfen ist. Das systemisch-ganzheitliche Denken zwingt uns dazu, von der Offenheit und dem Wachstum der Systeme auszugehen. Demzufolge sind Institutionen keine geronnenen monolithisch unwandelbare Blöcke, vielmehr sind sie ständig im Fluß; ständig einem organischen Prozeß des Wandels und der Veränderung, in Abhängigkeit zu dem sie umgebenden kulturellen Umfeld unterworfen. Demzufolge sind geschlossene oder starre Institutionen zwar bewahrend aber entwicklungsfeindlich. Dadurch werden sie pathologisch, wie beispielsweise ein geschlossenes Familiensystem, das dadurch, daß es den natürlichen Wachstums- und Austauschprozessen nicht Rechnung trägt, Prozesse psychischer Erkrankungen begünstigt. (71) Goffman, a.a.O. - S. 74 f Fehler! Textmarke 57 nicht definiert. 5.3 Der Institutionsbegriff für Sozialtherapie und Sozialarbeit In der Sozialtherapie wird in jüngster Zeit zunehmend ein an der Institution orientiertes Methodenkonzept gefordert. Gaertner mißt in seinem sozialtherapeutischen Ansatz den soziodynamischen Wirkungsweisen von Institutionen eine besondere Bedeutung als pathogenisierendem Faktor bei. (Gaertner, Sozialtherapie a.a.O.) Ein Konzept methodischer Sozialarbeit, welches die soziodynamischen Wirkungsweisen von Institutionen reflektiert, könnte für die Sozialarbeit bedeuten, daß diese Disziplin Kernvollzüge erhält, die einer "Profession Sozialarbeit", in Abgrenzung zu anderen Handlungswissenschaften, wie Psychologie, Medizin, Pädagogik usw. einen eigenständigen Gegenstandsbereich verleihen. In diesem Sinne wäre Gegenstand der sozialarbeiterischen Intervention stets die Institution und zwar: 5.31 Die intrapersonale Institution Wie oben bereits angedeutet gehe ich davon aus, daß das Unbewußte institutionalisiert ist (Lapassade). Diesen Teil des Unbewußten bezeichnet die Psychoanalyse mit dem topischen Begriff des ÜberIchs. Das Über-Ich ist diejenige psychische Instanz, in der von außen kommende Wert- und Normsysteme verinnerlicht sind. Diese Verinnerlichung wirkt zum großem Teil unbewußt und macht dadurch das Individuum unabhängig von äußeren Kontrollinstanzen oder permanenter bewußter Reflexion. Ein gutes Beispiel dafür stellt der Straßenverkehr dar: Während der Fahrschüler bei seinen ersten Fahrstunden permanente Rückmeldungen über sein Verhalten durch den Fahrlehrer benötigt, kann er sich als Fahranfänger diese Rückmeldungen selbst geben und in einer weiteren Entwicklungsstufe unterläßt er auch diese Selbstreflexion; Kuppeln, Schalten, in den Spiegel schauen usw. sind zu unbewußten Automatismen geworden, die für den Fahrzeuglenker eine derart große Entlastung darstellen, daß es diesem außerdem noch möglich ist eine Rundfunksendung zu verfolgen. Damit nicht genug: institutionalisiert ist der Einzelne erst dadurch, daß er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, daß sich alle übrigen Verkehrsteilnehmer genauso verhalten werden, daß er deren Verhalten sozusagen voraussagen kann. 58 Das Beispiel des Straßenverkehrs nun läßt sich auf sämtliche Ebenen sozialer Interaktion übertragen. Sozialarbeit als Handlungswissenschaft hat es mit Phänomenen zu tun, bei denen diese Institutionalisierungsprozesse von zentraler Bedeutung sind. Im Kindergarten und der Vorschulerziehung werden soziale Rollen eingeübt. In der Jugendarbeit setzen sich die Klienten vorwiegend mit ihrer Geschlechterrolle auseinander, in der Familienberatung und Familientherapie steht das familiäre Werte- und Normensystem im Mittelpunkt. Rehabilitative Sozialarbeit ermöglicht ihrem Klientel ein Wiedereinüben von geänderten Rollenanforderungen. Diese Beispiele lassen sich leicht für alle Bereiche sozialer Arbeit ausweisen. Der Sinn und die Notwendigkeit von sozialer Arbeit auf dieser Ebene wird deutlich, wenn wir uns mit dem Strafvollzug befassen. Bereits 1961 hat Erving Goffman beschrieben, daß Insassen von "Totalen Institutionen" (Strafvollzug, Armee, Psychiatrie, Schiffahrt), sich um so kontraproduktiver zur Institutionsalisierung von sozialen Normen und Werten verhalten, je rigider die äußeren, durch die "totale Institution" gesetzten Regelsysteme sind.(71) Von daher nimmt es nicht wunder, wenn die Sozialtherapie im Strafvollzug heute die weiteste Verbreitung findet.(72) 5.32 Interpersonale Institutionen Wir können Institutionen als ausgesprochene oder unausgesprochene Vereinbarungen zwischen Individuen oder sozialen Gruppen verstehen. So gesehen befindet sich die Institution zwischen den Menschen. Sie stellt sozusagen den Kontext dar, in dem sich die zwischenmenschliche Interaktion vollzieht. Es geht hierbei also um die Regelsysteme, die das Leben in "offiziellen gesellschaftlichen Gruppen" bestimmen. Diese Regelsysteme können sowohl durch Gesetze, Erlasse, Verfügungen usw. festgeschrieben sein, als auch unausgesprochenen Sitten und Gebräuchen folgen (man spuckt nicht auf den Flur, raucht nicht in der Kirche und bestellt beim Kassierer einer Bank kein Omelett). (72) (73) Weber, Hartmut-M., Sozialtherapie als Herrschaft: Beispiel Strafvollzug in: Gaertner, a.a.O. - S. 145 ff Lapassade, a.a.O. - S. 10 Fehler! Textmarke 59 nicht definiert. Offiziell wird eine gesellschaftliche Gruppe, sobald sie sich ein Regelsystem gibt. Demzufolge ist beispielsweise die Ehe und die nichteheliche Lebensgemeinschaft eine Institution, während Freundschaften und Liebesbeziehungen zunächst keinen institutionellen Status besitzen, im Gegensatz zur Peergroup, die sozusagen den Übergang zur Institution darstellt. Entwickelt sich nämlich aus der Peergroup ein regelmäßiges Treffen, gar ein Club oder Verein, wird auch die Peergroup zur Institution. Beispielsweise sind die jugendlichen Madonna-Fans, die sich in einem Haus der offenen Tür unregelmäßig zum Plattenhören treffen, keine Institution. Erst dann, wenn diese Jugendlichen einen Madonna-Fan-Club gründen, wird dieser zur Institution. Diese Entwicklung kann man in mannigfaltigen Erscheinungsformen beobachten, wie beispielsweise auch bei Fußballfans und Motorradclubs. Wie bereits oben erwähnt, machen bestimmte Phänomene, wie offizielle Regel- und Gesetzeswerke eine Institution aus. Nicht so offensichtlich wie die offiziellen Regelsysteme ist die Wirkung von Sitten, Gebräuchen und allgemeinen kulturellen Umgangsformen. Diese sind in den seltensten Fällen schriftlich fixiert und zum größten Teil unbewußt. Die nicht-offiziellen Regelsysteme bestimmen darüber hinaus unser Handeln weniger über den kognitiven Bereich als vielmehr über unser Gefühlsleben. Psychoanalytisch ausgedrückt heißt das, daß institutionelle Regelsysteme, die das Zusammenleben von Menschen eigentlich erst ermöglichen, Teil der individuellen Persönlichkeitsstruktur werden und zwar dergestalt, daß sie unbewußt oder vorbewußt als Funktion des Über-Ichs wirksam sind. Was bedeutet das nun für unseren "Madonna-Fanclub"? Zunächsteinmal ist da eine Ansammlung junger Menschen, die ungeregelt, gemeinsam Schallplatten ihres Idols hören und eventuell darüber sprechen. Der Schritt zur Institution wird dann gemacht, wenn diese jungen Menschen sich darüber verständigen, in Zukunft regelmäßig Musik ihres Idols hören zu wollen und darüber zu reden. Auf der formalen Ebene, also der "Ebene der Gesetzgebung" steht nun der gemeinsame Termin. Also: montags um 20 Uhr wird über Madonna geredet und die Musik gehört. Auf der "Ebene der Sitten 60 und Gebräuche" stehen nun bestimmte Umgangsformen und Moden, die zu diesem Anlaß ausgeübt werden (Kleidung, Haartracht Tanzstil usw.) Auf der unbewußten "Ebene der Gefühle" liegt beispielsweise das schlechte Gewissen, was man hat, wenn man zu spät kommt, das Unbehagen, was einen beschleicht, wenn man bestimmte Verhaltensrituale (z.B. Tanzstil) nicht beherrscht. Der entscheidende Schritt zur Institutionalisierung setzt dann ein, wenn die Clubmitglieder sich über die Verteilung von Rollen organisieren. Im Vereinsleben kennen wir Vorsitzende, Geschäftsführer, Kassenwart usw. Durch diese Rollenverteilung bekommt der Madonna-Fanclub mehr und mehr den Status einer "Organisation". Die Rollen in Organisationen zeichnen sich durch Konstanz aus, und auch dadurch, daß sie nicht mehr hinterfragt werden. Wenn der Madonna-Fanclub sich nun dergestalt weiterentwickelt, daß die Zeit, die zum Schallplattenhören aufgewendet wird, immer geringer wird und wenn stattdessen der Organisations- und Verwaltungsaufwand zunehmend in den Mittelpunkt gerät, können wir gar von einer "Bürokratisierung" sprechen. 5.4 Primäre und sekundäre Institutionen Für die Praxis erscheint die anthropologische Unterscheidung zwischen primären und sekundären Institutionen hilfreich. Primäre Institutionen finden die Menschen vor, sie zwingen sich ihnen förmlich auf und prägen die Grundpersönlichkeit. Sekundäre Institutionen schafft der Mensch nun auf dem Hintergrund seiner, durch die primären Institutionen geprägten Grundpersönlichkeit. Wie oben bereits erwähnt, kommt der Herkunftsfamilie der Status einer primären Institution zu, während die eigene Familie dann als sekundäre Institution bezeichnet wird. Dieses Modell läßt sich nun auch auf die berufliche Sozialisation übertragen; Ausbildung stellt hier die primäre, der Beruf stellt die sekundäre Institution dar. Fehler! Textmarke 61 nicht definiert. 5.5 Institutionelle Ebenen Die Gruppenforschung und hier insbesondere die experimentelle Gruppendynamik ist in den letzten Jahrzehnten "endgültig zu der Feststellung gelangt, daß eine >Gruppe< - und unter >Gruppe< verstehen wir auch eine >soziale Organisation< - immer durch Institutionen überdeterminiert ist".(73) Primäre und sekundäre Institutionen werden, topisch gesehen, auf drei unterschiedlichen Ebenen wirksam: Auf der ersten Ebene finden wir die Gruppe. Dabei handelt es sich um eine Schulklasse, ein Büro oder eine Werkstatt. Die Institutionen auf dieser Ebene bestehen aus Arbeitszeiten, Arbeitsrythmus, Arbeitsnormen, Kontrollsystemen, Status und Rollen. Durch diese Institutionen wird das Funktionieren der Gruppen ermöglicht. Auf der zweiten Ebene ist die Organisation anzusiedeln. Herbei handelt es sich um einen Betrieb als Ganzes, eine Universität oder eine Verwaltungsbehörde. Die institutionelle Ebene ist hier die der Apparate und Kontrollinstanzen. Die Institutionen nehmen hier bereits juristische Formen an und verwirklichen sich in der bürokratischen Organisation. Die dritte Ebene ist die des Staates. Hier werden Gesetze geschaffen, die den Institutionen juristisches Gewicht verleihen. Das Institutionierende steht auf der Seite des Staates, also an der Spitze des Systems. Diese Sichtweise von Lapassade verkennt jedoch, daß sowohl die erste Ebene als auch die Ebene der Organisationen auf den Staat einwirken kann. So wird beispielsweise der Staat durch ein verändertes Sexualverhalten auf der ersten Ebene dazu gezwungen, Veränderungen im Familienrecht vorzunehmen, wie die Diskussion um nichteheliche Lebensgemeinschaften deutlich zeigt. Die zweite Ebene hingegen wirkt durch ihre Interessenvertretungen ebenfalls auf den Staat ein, wie durch die Konflikte um die Gesundheitsreform eindrucksvoll zu beobachten war. Für die Soziale Arbeit stellt sich nun die Frage, wie diese Disziplin ihrerseits instituierend wirken kann. (74) Lapassade, a.a.O.. - S. 84 62 5.6 Organisation und institutionalisierte Berufsrollenidentität Der allgemeine Ort der Sozialen Arbeit ist in der Regel eine komplexe Institution. Den spezifischen Ort der Sozialen Arbeit bezeichnen wir hingegen als Organisation. So verstehen wir beispielsweise das "Jugendamt" als Institution, während wir das "Jugendamt der Stadt Essen" als Organisation bezeichnen. Von dieser Definition her gesehen, bezeichnet der Begriff "Organisation" stets ein spezifisches institutionelles Gebilde. "Das Wort Organisation hat mindestens zwei Bedeutungen: Es bezeichnet auf der einen Seite das Organisieren, das sich in Institutionen vollzieht; Es zielt auf der anderen Seite auf gesellschaftliche Gebilde: eine Fabrik, eine Bank oder eine Schule sind Organisationen."(74) Als für die Soziale Arbeit relevante soziale Organisationen bezeichnen wir Kollektive, die im Hinblick auf bestimmte Ziele der Sozialarbeit eingerichtet wurden. Diese sozialen Systeme sind beispielsweise ein Jugendamt, eine Drogenberatungsstelle, ein Kinderheim, ein psychiatrisches Krankenhaus usw. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen sind stets Mitglieder dieser Organisationen und deren Zielen verpflichtet. In den oben benannten sozialen Organisationen treffen nun Mitglieder verschiedener Berufsgruppen aufeinander, die gemeinsam die Organisation institutionalisieren, d.h. Wert- und Normhaltungen aus ihrer speziellen Berufssozialisation einbringen. Ein gutes Beispiel hierfür liefert uns die Psychiatrie: Ärzte/innen, Psychologen/innen, Sozialarbeiter/innen, Ergotherapeuten/innen, Pflegepersonal, Hauswirtschaftspersonal und Verwaltungsangestellte bringen sich in die Organisation ein und institutionalisieren diese von unten, während der Staat durch Gesetze und Erlasse von oben wirkt. Die Praxis zeigt uns, daß diejenige Berufsgruppe, die den höchsten Status und die deutlichste Identität besitzt, die größte Macht hat, institutionalisierend zu wirken. Das ist im Falle der Psychiatrie häufig die Berufsgruppe der Ärzte. Diese Institutionalisierung der Organisation schlägt sich nun in der Psychiatrie sowohl auf der formellen Ebene als auch im informellen Be(75) Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen, 14947 Fehler! Textmarke 63 nicht definiert. reich nieder. Formell sind Konzepte, Behandlungspläne, Tagesablauf usw., informell sind die Haltungen des Personals gegenüber der Patienten und die unterschiedliche Gewichtung der therapeutischen Maßnahmen. Institutionalisiert werden die in der Psychiatrie tätigen Berufsgruppen zunächst durch ihre Ausbildung. Der Arzt erlebt seine "primäre Berufssozialisation" innerhalb seines Medizinstudiums (also außerhalb des Krankenhauses). Hier werden nun die grundlegenden berufsethischen Normen und Werte vom angehenden Arzt verinnerlicht. Je mehr Bedeutung diesen spezifisch ärztlichen Werten beigemessen wird, umso stärker und haltbarer prägt sich die spezielle Berufsidentität als Bestandteil der individuellen Persönlichkeitsstruktur aus. Der Medizinerausbildung ist es in ihrer Geschichte gelungen, hochidentifikatorisch zu wirken und dies mit außerordentlichem Statusgewinn abzusichern. Demgegenüber steht die Berufsgruppe des Pflegepersonals. Diese Berufsgruppe absolviert einen Großteil ihrer Ausbildung innerhalb des Krankenhauses und wird dadurch bereits durch die Organisation, die sie später anstellen wird, institutionalisiert. Dadurch ist das Pflegepersonal in der Regel in anderer Weise mit der Anstellungsorganisation identifiziert und weniger mit spezifischen berufsethischen Normen und Werten, die durch ausgewiesene Wissenschaftlichkeit die Anstellungsorganisation transzendieren. Die Berufsgruppe der Sozialarbeiter nun, wird auch außerhalb der sie später einstellenden Organisationen sozialisiert. Die spezifische Berufsidentität jedoch, geht nicht wie bei den Ärzten von ausgewiesenen Kapazitäten der eigenen Disziplin aus; sondern Sozialarbeiter werden von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen ausgebildet, die die soziale Arbeit aus dem jeweiligen Blickwinkel ihrer eigenen wissenschaftlichen Disziplin definieren. Im Gegensatz zum Medizinstudium, wo eine hohe Zahl von Fachwissenschaften gleichsam im Sinne einer Bringschuld, die Erkenntnisse ihrer Disziplin einbringen, die dann von Wissenschaft "Medizin" integriert werden, ist der Sozialarbeit diese Integration noch nicht oder kaum gelungen. Im Gegenteil: durch das Nebeneinanderstehen der unterschiedlichen Einzelwissenschaften wie, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Recht, Politik, Sozialmedizin, Verwaltung usw. findet eine Atomisierung des Wissens 64 statt, mit der Folge, daß die angehenden Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen keine Stabilität in ihrer Berufsidentität entwickeln können. Dadurch, daß die ordnende bzw. integrierende Hand fehlt, die ihrerseits nur eine Hand der Disziplin Sozialarbeit/Sozialpädagogik sein kann, wird das Berufsbild nur fragmentarisch institutionalisiert. Dies führt dazu, daß der später berufstätige Sozialarbeiter zwischen vielfältigen Legitimationskonflikten taumelt. Auf einer Ebene steht er in dem Konflikt, sich zwischen Berufsethik und Organisationszielen entscheiden zu müssen; auf der nächsten Ebene muß er darum bemüht sein, das Wissen der verschiedenen Disziplinen, die ihn ausgebildet haben, zu einer einheitlichen Berufsidentität zusammenzuführen; und schließlich befindet er sich auf einer weiteren Ebene nur allzu häufig in professionellen Auseinandersetzungen mit gerade den Disziplinen, die ihn während seines Studiums mit dem Spezialwissen aus ihrer Disziplin geprägt haben (z.B. Juristen, Ärzte, Psychologen usw.). Für Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, die im Rahmen ihrer Berufsausübung den institutionellen Kontext zum Gegenstand ihres methodischen Handelns machen wollen, ist es daher nötig, daß sie durch Sozialarbeit institutionalisiert werden, d.h. daß die Identifikation mit dieser speziellen Disziplin durch die Ausbildung, zum Bestandteil ihrer individuellen Persönlichkeitsstruktur werden muß. Dies erscheint jedoch unter der aktuellen politischen Situation nicht kurzfristig erreichbar. Deshalb besteht für diese Berufsgruppe derzeit die einzige Möglichkeit ihr spezifisches professionelles Wissen einzubringen darin, zunächst die eigene Situation zu analysieren und auf dem Hintergrund einer institutionellen Analyse, Veränderungsstrategien zu entwickeln. Der ständig wachsende Bedarf an Supervision ist aus einem Leidensdruck zu verstehen, dessen Bedingungen in erster Linie mit diesen institutionellen Konflikten zusammenzuhängen scheinen, und erst in zweiter Linie mit persönlichen und klientellen Problemen. Für die Patienten und Patientinnen der Psychiatrie beispielsweise würde eine selbstbewußte Sozialarbeit bedeuten, daß die soziale Wirklichkeit der psychisch erkrankten Menschen endlich gleichrangig mit derer körperlichen und psychologischen Realität gesehen werden könnte. Soziale Arbeit hat heute allerdings ihre größte Verbreitung im verwaltungsund behördennahen Bereich und muß sich hier auch als Eingriffsbehörde Fehler! Textmarke 65 nicht definiert. verstehen. Sozialamt, Jugendamt, Allgemeiner Sozialdienst sind Institutionen, die etwa dreiviertel des für die Soziale Arbeit zur Verfügung stehenden Arbeitsmarktes ausmachen. Von daher erscheint es vordringlich, Soziale Arbeit hier besonders zu institutionalisieren. Weil die Sozialarbeit im behörden- und bürokratienahen Bereich den besonderen Mechanismen der verwalteten Welt ausgesetzt ist, müssen gerade hier die besonderen Wirkungsweisen der Institutionen reflektiert werden, wenn die Disziplin nicht scheitern will. 5.7 Das Problem der Bürokratie in der sozialen Arbeit Sozialarbeit handelt ausgehend von komplexen Institutionen für Menschen, die signifikant häufig im Umgang mit Institutionen gescheitert sind. Das Jugendamt beispielsweise ist eine vom Staat eingerichtete Institution, die dann eingreift, wenn die Institution Familie die Erziehung des Kindes nicht mehr adäquat, d.h. im Sinne bestehender Rechtsnormen gewährleisten kann. All diese Institutionen, heißen sie nun Jugendamt, Bewährungshilfe, Knast, Psychiatrie oder Heimerziehung, haben ähnliche Aufgaben und ihre Zielgruppe sind nahezu immer Menschen, die in den bestehenden Institutionen scheitern. Nun haben sich diese Institutionen wieder zu eigenen, oftmals mächtigen Verwaltungs- und Organisationssystemen entwickelt, die ihrerseits wieder einer eigenen "Organisationsdynamik" unterliegen. Diese Dynamik tendiert, mit Max Weber gesprochen, "zur vollständigen Rationalität"(75). Max Weber führt eine Reihe von Merkmalen an, die bürokratische Organisation bestimmen. Alle diese Merkmale lassen sich heute auch in Organisationen ausmachen, in denen Sozialarbeiter mit Menschen zusammentreffen, denen es nicht gelingt, ihre Bedürfnisse in der verwalteten Welt angemessen durchzusetzen. Und so müssen wir die Konflikte zwischen Sozialarbeitern und Verwaltungsbeamten in all den Behörden, in denen Sozialarbeiter tätig sind, stets auch als einen Konflikt um Bürokratisierungstendenzen verstehen. Die bürokratische Ordnung ist nach Max Weber durch folgende Merkmale gekennzeichnet: (76) Weber, Max, a.a.O. - S. 559 f 66 1. Das Prinzip der festen, durch Regeln und Gesetze oder Verwaltungsrichtlinien generell geordneten behördlichen Kompetenzen. 2. Die Bürokratie ist hierarchisch geordnet. "Das Prinzip des hierarchischen Instanzenzugs findet sich ganz ebenso wie bei staatlichen und kirchlichen, auch bei allen anderen bürokratischen Gebilden, etwa großen Parteiorganisationen und privaten Großbetrieben, gleichviel ob man deren private Instanzen auch >Behörde< nennen will."(76) 3. Die Bedeutung von Schriftstücken und Akten, die oft Jahrzehnte lang aufbewahrt werden. Dabei handelt es sich nicht nur um Aktenvermerke und Vorgänge, sondern auch um Rundschreiben und Dienstanweisung aller Art, die häufig einen Großteil der Arbeitskraft des Sozialarbeiters, der Sozialarbeiterin in Anspruch nehmen. 4. Die bürokratische Amtstätigkeit setzt eine eingehende Fachschulung voraus, deren Absolvierung den späteren Status bestimmt. Hier sei nur an die vielfältigen Prüfungen erinnert, wie z.B. erste und zweite Verwaltungsprüfung, Zwischenbeurteilung, Lehrgänge usw., die entscheidenden Einfluß auf die Laufbahn haben. 5. Das Amt und die Amtsführung selbst setzt technische Kenntnisse voraus, wie Verwaltungslehre und Rechtskenntnisse. 6. "Vor allem aber bietet die Bürokratisierung das Optimum an Möglichkeit für die Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung in der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten, unter Verteilung der einzelnen Arbeiten auf spezialistisch abgerichtete und in fortwährender Übung immer weiter sich einschulende Funktionäre. >Sachliche< Erledigung bedeutet in diesem Fall in erster Linie Erledigung >ohne Ansehen der Person< nach berechenbaren Regeln."(77) (77) Weber, Max, a.a.O. - S. 570 Mentzos, Stavros, Interpersonale und institutionalisierte Abwehr, Frankfurt, 1988 - S. 11 (78) Fehler! Textmarke 67 nicht definiert. Was diese bürokratischen Prinzipien für die Praxis sozialer Arbeit in komplexen Organisationen bedeutet, läßt sich am besten durch einen Fall aus einer Supervisionsgruppe mit Berufspraktikanten aufzeigen. Eine Berufspraktikantin, die zu Beginn ihrer praktischen Ausbildung ein dreimonatiges Verwaltungspraktikum bei einem Sozialamt absolviert, erzählt in der Supervisionsgruppe folgenden Traum: Das Büro, in dem sie sitzt, hat sich in einen Frisiersalon verwandelt. Ihr Praxisanleiter, ein Verwaltungsangestellter, bittet sie nun, sich auf den Frisierstuhl zu setzen, man müsse ihr die Haare abschneiden, da sie Läuse habe. Während sie die Haare abgeschnitten bekommt, gehen ständig die Klienten durch den Raum, für die sie an den vergangenen Tagen Wohngeldanträge aufgesetzt hat. Diese Klienten schütteln kurz den Kopf und gehen vorbei. Je weiter die Prozedur des Haarschneidens vorangeschritten ist, umso undeutlicher werden die Klienten, bis sie sie schließlich nicht mehr unterscheiden kann. Als das Haarschneiden beendet ist und sie aufstehen will, stellt sie fest, daß sie nun auch nackt ist. In diesem Moment fühlt sie sich ratlos. Ihr Anleiter, der ihr die Haare geschoren hat, gibt ihr seinen Kittel, den sie sogleich anzieht. Nachdem sie den Kittel zugeknöpft hat, überfällt sie ein Gefühl tiefer Scham, mit dem sie erwacht. Der Traum löst in der Supervisionsgruppe starke Affekte aus. Andere Gruppenteilnehmerinnen, die sich in ähnlichen beruflichen Situationen befinden, fühlen sich stark angesprochen und beginnen zu weinen. Unter Tränen berichtet nun die Berufspraktikantin von ihren großen Schamgefühlen den Klienten gegenüber. Sie sitze mit einem Sachbearbeiter in einem Büro und bearbeite Wohngeldanträge. Dabei spüre sie täglich, wie die Menschen, die zu ihr auf das Amt kommen und einen Antrag auf Wohngeld stellen, oftmals unter individuellen Lasten leiden und nach einer persönlichen Ansprache suchen, und wie diese Menschen sich einen menschlichen Umgang wünschen. Vom Amt jedoch - und besonders auch von ihrem Anleiter - wird vertreten, daß man sich möglichst nicht mit den persönlichen Dingen der Klienten aufhalten dürfe. Das allgemeine Prinzip im Amt ist, daß möglichst alles schnell und restriktiv gehandhabt werden soll, und daß die Sozialarbeiter sich die Flausen aus dem Kopf (Läuse !) schlagen sollen, den Leuten mit Gesprächen helfen zu wollen. Der Schreibtisch ist aufzuarbeiten, dafür gibt es klare Verwaltungsrichtlinien und Gesetzesgrundlagen, für etwas anderes 68 bleibe keine Zeit. Vor allen Dingen sei es gefährlich, sich mit den persönlichen Dingen der Antragsteller zu befassen, da man dann nicht mehr objektiv urteilen könne. Diese Einstellung brachte die Praktikantin in massive Konflikte und Selbstzweifel, die dazu führten, daß sie sich fragte, ob ihr Interesse an einer menschlicheren Beziehung zu ihrem Klientel nicht "nur ihrem Helfersyndrom" entsprungen sei, und ob sie sich nicht vielmehr "an die Praxis anpassen" müsse und so ähnlich denken müsse wie ihr Anleiter. Im Traum wird dieser Identitätskonflikt deutlich: dadurch, daß ihr die Haare geschoren werden, werden ihr die sozialarbeiterischen Flausen genommen. Die zuvor individuell unterscheidbaren Klienten verblassen nun und lassen sich nicht mehr unterscheiden. Damit werden sie zu bürokratischen Vorgängen (Entscheidungen ohne Ansehen der Person). Nachdem die Haare der Praktikantin geschnitten sind, ist diese nun auch nackt und fühlt sich ratlos. Hierbei wird deutlich, wie sie nun den Verlust ihrer Identität als Sozialarbeiterin im Traume erlebt. Hier schämt sie sich nicht, sondern sie ist ratlos. Erst nachdem sie den Kittel des Anleiters übergezogen hat - also eine fremde Identität angenommen hat schämt sie sich. In diesem Konflikt wird ein zentrales Problem der Sozialarbeit deutlich. Es ist der immer wieder auftauchende "Theorie-Praxis-Konflikt". Dieser Theorie-Praxis-Konflikt erscheint hier in Form einer beruflichen Paradoxie: Organisationsratio versus Berufsethos. Offensichtlich ist es der Fachhochschulausbildung nicht gelungen, eine deutliche Berufsidentität in der Person der Sozialarbeiterin zu institutionalisieren. Fragmentarisch ist das zwar bei der Berufspraktikantin vorhanden, aber sie hat gelernt, in erster Linie kritisch der Sozialarbeit gegenüberzustehen und so ist es kein Wunder, wenn sie zuerst selbstkritisch ihr "Helfersyndrom" ausmacht. Damit werden jetzt die berufsethischen Normen und Werte der Sozialarbeit erneut geschwächt und die Sozialarbeit kann vom bürokratischen Denken überformt werden. Sozialarbeit verliert ihre eigene Identität und wird Bestandteil des jeweiligen Einstellungsträgers. Glücklicherweise hatte die oben beschriebene Berufspraktikantin die Gelegenheit, ihren Identitätskonflikt innerhalb ihrer Supervision zu reflektieren. Dadurch konnte sie ihr persönliches Erleben in einen institutionellen Kontext stellen und über die Individualisierung des Konfliktes hinausgehen. Ausschlaggebend für diesen Identitätskonflikt scheint zu sein, daß es nicht ausreichend gelungen ist, die "Profession Sozialarbeit" in der Person der Studentin zu institutionalisieren. Somit wird es möglich, daß die Fehler! Textmarke 69 nicht definiert. Anstellungsorganisation die Berufspraktikanten institutionalisiert. Normen und Werte werden dann nicht mehr der Sozialarbeit an sich entnommen, sondern den Trägern von Sozialarbeit. Will Sozialarbeit aber als Profession aus sich heraus bestehen, muß die Sozialarbeit als solche auch Institution werden. Damit kann der "bürokratischen Tendenz zur Versachlichung" das sozialarbeiterische Ziel zur "Vermenschlichung" entgegengestellt werden. Das bedeutet, daß Sozialarbeit auch die Aufgabe haben muß, in den Behörden und Ämtern verändernd zu wirken; und zwar in der Weise, daß Verwaltungsstrukturen so beeinflußt werden, daß die Menschen, die die Verwaltung in Anspruch nehmen müssen, sich eben nicht wie "Vorgänge" gesehen fühlen, sondern wie Individuen mit unterscheidbaren Persönlichkeiten. Handlungsstrategien, die darauf abzielen eine Veränderung in der Haltung des bürokratischen Typs zu erzielen, müssen jedoch auch berücksichtigen, daß neben sachbezogenen und machtpolitischen Belangen auch irrationale Bedürfnisse von maßgebender Bedeutung sind. Diese irrationalen bzw. neurotischen Bedürfnisse stellen eine massive Bastion gegen Veränderungen innerhalb von Institutionen dar, so daß sie einer eingehenderen Betrachtung bedürfen. 5.8 Die psychosoziale Abwehrfunktion der Institutionen Nun haben sich im Laufe der Zeit Behörden und Ämter zu oftmals mächtigen Organisationen entwickelt, die einer eigenen inneren Dynamik unterliegen. Diese innere Dynamik ist nicht nur von der zweckmäßigen Organisationsstruktur geprägt, sondern in einem sehr hohen Maße von den zwischenmenschlichen Beziehungen ihrer Mitglieder. Zunächsteinmal sollen Institutionen vital wichtige Funktionen erfüllen. Sie sind, wie schon erwähnt, für das Überleben und eine differenzierte Fortentwicklung unerläßlich. Institutionen haben sich also zunächst Linie aus rein zweckrationalen Beweggründen gebildet, nämlich der rationalen Arbeitsteilung, der Macht- und Profitmaximierung, der Stabilisierung bestimmter Wertsysteme usw. Beim genaueren Hinsehen drängt sich jedoch die Frage auf, wieso manche Menschen sich in das System integrieren lassen und sich gelegentlich in schwer nachvollziehbarer Weise verhalten, ohne daß ihnen daraus sichtbare Vorteile erwachsen. Der Frage nach den nicht-zweckrationalen Gratifikationen durch die Institutionen geht die psychoanalytische Institutionsanalyse nach. 70 Stavros Mentzos stellt in seinem Buch, "Interpersonale und institutionalisierte Abwehr" die These auf, daß die individuellen neurotischen Konflikte, Ängste und Schuldgefühle ein neurotisches, psychosoziales Arrangement mit der Institution eingehen. "Es findet also eine Verzahnung zwischen dem individuellen Bedürfnis nach Entlastung von neurotischen Spannungen des einzelnen und bestimmten, dazu komplementären >Angeboten< der Institution statt".(78) Sozialarbeit findet nun in der Regel in institutionellen Gebilden statt, die sich auf Grund ihres spezifischen Auftrages im höchsten Maße dazu anbieten, neurotische Konflikte auszuleben. Dies ist besonders darauf zurückzuführen, weil diese Institutionen einerseits stets mit den psychosozialen Konfliktkonstellationen ihrer Klientel konfrontiert sind, andererseits aber den eigenen Mitarbeitern nur relativ bescheidene materielle Gratifikation gewähren. Bei diesen Sozialgebilden ist es sinnvoll von Institutionen zu sprechen, weil es sich nicht so sehr um die konkrete Organisation einer Behörde, einer Klinik oder eines Heimes handelt, "sondern um die Summe der für die Motivation des einzelnen relevanten, feststehenden Handlungs- und Beziehungsmuster, die den Umgang der Mitglieder regulieren".(79) Diese Institutionen zeichnen sich besonders auch dadurch aus, daß Struktur und Prinzipien nicht nur zweckrational aufgebaut sind, sondern daß sie sich darüber hinaus auf gemeinsame Werte, Einstellungen und gefühlsmäßige, oft nicht klar erkennbare und definierbare Motivationen stützen. Deutlichstes Beispiel dafür sind manche Einrichtungen in konfessioneller Trägerschaft, deren Mitglieder stets dazu gezwungen sind, zumindest so zu tun, als stünden sie voll hinter den Zielen ihres Trägers, wollen sie nicht ihren Arbeitsplatz gefährden. Institutionen befriedigen einen großen Teil unserer Grundbedürfnisse und vermitteln uns ein gewisses Sicherheitsgefühl. Aber menschliche Bedürfnisse entstehen nicht nur aus realen, objektiv gegebenen biopsychosozialen Situationen und wären dadurch leicht erkennbar und klar, sondern auch irreale, infantile, narzißtische, also sogenannte neurotische Bedürfnisse streben nach Befriedigung. So kann es kommen, daß die Institutionen durch die Verschiedenartigkeit ihrer Beziehungsmuster und (79) (80) Mentzos, a.a.O. - S. 81 vergl. Schmidtbauer, Wolfgang, Die hilflosen Helfer, Stuttgart 1977 Fehler! Textmarke 71 nicht definiert. Machtstrukturen, den Individuen ermöglichen, ihre spezifischen Spannungen, Ängste und Konflikte auszuleben. Das sogenannte "Helfersyndrom"(80) beispielsweise, ist in der Sozialarbeit schon zum geflügelten Wort für einen dieser Berufsgruppe typischen neurotischen Konflikt geworden. Leider verblassen dahinter oft typische neurotische Konfliktkonstellationen anderer Berufsgruppen, wie "Zwanghaftigkeit" im Verwaltungsbereich, "Rachebedürfnisse" in der Justiz, "Sadismus" in Bereichen der Medizin, "Konkurrenzängste" an den Universitäten usw. Neben dieser etwas auf die Spitze getriebenen Typologie, sind Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen innerhalb der Institutionen noch einem weitaus größerem Spektrum individueller nicht rationaler Verhaltensweisen der Mitarbeiterschaft auf sämtlichen Hierarchieebenen ausgeliefert. Und so wundert es nicht, daß die These, die Hauptbelastung in diesem Beruf würde weniger vom Klientel verursacht als vielmehr von institutionellen Konflikten, breite Zustimmung in der Kollegenschaft findet. Wenn ich im vorigen Kapitel die Forderung aufgestellt habe, Sozialarbeit müsse auch in die Institutionen hinein als verändernde Kraft wirken, so muß bei den hierzu nötigen Handlungsstrategien berücksichtigt werden, daß ebenso wie bei der individuellen neurotischen Konfliktkonstellation auch bei institutionellen Strukturen neurotische Abwehrbastionen einer Veränderung im Wege stehen. Abwehrmechanismen schützen das Ich jedes Individuums vor Unlustgefühlen bis hin zu drohender Desintegration. Die Veränderung von Institutionen verändert somit auch gewohnte Abwehrkonstellationen, wodurch es für den einzelnen zu schwerwiegenden Konflikten kommen kann. "Befaßt man sich mit Zielen und Strategien bei der Veränderung von Institutionen unter Berücksichtigung ihrer Abwehrfunktionen, so empfiehlt es sich, eine Vorgehensweise sich zu eigen zu machen, die wir aus der Psychotherapie kennen: dort setzt man sich nicht zum Ziel, sofort - koste es was es wolle und unabhängig von Diagnose und Persönlichkeitsstruktur des Patienten alle Abwehrmechanismen auszurotten! Vielmehr versucht man abzuwägen, ob dies auf lange Sicht überhaupt ratsam ist, ob ein auf erworbenen oder konstitutioneller Basis geschwächtes Ich durch eine völlige Befreiung von allen mühsam aufgebauten Abwehrmechanismen in seiner labilen Integration nicht eher ernsthaft gefährdet würde."(81) (82) Selvini-Palazzoli, Mara, Hinter den Kulissen der Organisation 72 Man muß heute davon ausgehen, daß die weitere gesellschaftliche Entwicklung dazu führt, daß den Institutionen eine wachsende Bedeutung im Leben der einzelnen zukommt. Dies wird besonders im Umgang unserer Gesellschaft mit den alten Menschen deutlich, wo Sozialleistungen, die einst fraglos Aufgabe der Familien waren, von diesen nicht mehr wahrgenommen werden können und somit in institutionelle Hände gegeben werden (vgl. Kapitel: Individualisierung und Institutionalisierung ...). Für die Sozialarbeit wird nun in Zukunft die Aufgabe darin bestehen, Einfluß darauf zu nehmen, daß diese Institutionen im Sinne ihres Auftrages funktionieren. Das bedeutet, daß neurotische Mechanismen in Institutionen erkannt werden müssen. Bei diesen Erkennen wäre dann herauszuarbeiten, ob, und in jeweils welcher konkreten Weise strukturelle Komponenten der Institution der individuellen neurotischen Abwehr dienlich sind. Ein Beispiel: Die neue Sozialarbeiterin eines Altenheims erlebt bei ihrem morgendlichen Rundgang über eine Station, wie das Altenpflegepersonal die Bewohner der Station duscht. Im Badezimmer, das aus einer Duschkabine, einer Badewanne und einem kleinen Vorraum besteht, sind gleichzeitig drei Heimbewohnerinnen anwesend. Während eine Bewohnerin geduscht wird, wird die Vorgängerin neben der Badewanne wieder angekleidet und die Nachfolgende im Vorraum entkleidet. Vor dem Badezimmer warten weitere Bewohnerinnen. Die Sozialarbeiterin ist empört über diese Behandlung der alten Leute und bestellt die beteiligten Pflegekräfte in ihr Büro, wo sie eine mündliche Abmahnung erteilt und bei Wiederholung dieser Behandlung einen Personalaktenvermerk androht. In den nächsten Wochen hört die Sozialarbeiterin von ähnlichen Vorgängen, geht diesen aber nicht nach, teils, weil es sich um Gerüchte handelt, teils, weil sie es vergessen hat oder mit anderen Arbeiten gerade zu sehr belastet ist. Bei einem erneutem Rundgang über die oben beschriebene Station findet sie die gleiche Situation vor; die alten Leute werden wieder zu dritt geduscht. Auf ihre Vorhaltungen reagiert nun das Pflegepersonal verärgert, sie wüßte doch ganz genau,, wie überlastet die Pflege sei, insbesondere seit die neue Pflegedokumentation und die Tätigkeitsnachweise eingeführt seien. Im übrigen sei diese Art des Duschens schon seit langer Zeit üblich und noch nie hätte es Beanstandungen gegeben, wieso sie denn außerdem nichts bei den anderen Stationen gesagt habe. Fehler! Textmarke 73 nicht definiert. An diesem Beispiel wird deutlich, wie institutionelle Strukturen mit individuellen (neurotischen) Abwehrvorgängen korrespondieren. Durch eine Belastung des Pflegepersonals mit Verwaltungstätigkeiten, wie dem Führen von Pflegedokumentationen, Tätigkeitsnachweisen, Dienstplänen usw. wird es dem Personal ermöglicht, die alten Menschen mehr und mehr als Vorgänge oder als Sachen zu betrachten. Erstaunlicherweise wird das Anwachsen von Verwaltungstätigkeiten des Pflegepersonals mit Qualifizierung und rechtlicher Absicherung begründet. Tatsache ist jedoch, daß die eigentlichen pflegerischen Aufgaben zunächst rein zeitlich reduziert werden müssen, um die Verwaltungstätigkeiten zu bewältigen. Gleichzeitig wird die menschliche Beziehungsebene reduziert, zugunsten einer technisch-rationellen Verwaltungsperspektive (Handeln ohne Ansehen der Person). Diese technisch-rationelle Verwaltungsperspektive erfüllt nun für die beteiligten Pflegekräfte eine wichtige Abwehrfunktion, die mit Verdrängung oder Verleugnung beschrieben werden kann. Mit Verdrängung und Verleugnung ist hier die Fernhaltung vom Bewußtsein gemeint. Es stellt sich also die Frage, was vom Bewußtsein ferngehalten wird? Zunächsteinmal fällt uns ja das gänzlich fehlende Einfühlungsvermögen in die alten Leute auf. Einfühlungsvermögen bedeutete ja, sich zu identifizieren, nachzuspüren, wie ich mich als der alte Mensch fühle. Die Reduzierung des alten Menschen (Klient, Patient) auf einen Vorgang, ermöglicht es jedoch, von der tatsächlichen zwischenmenschlichen Beziehung Abstand zu nehmen, die Tatsache des eigenen Altwerdens zu leugnen und, was in solchen Fällen von oftmals entscheidender Bedeutung ist, die Schuldgefühle den eigenen Eltern gegenüber nicht zu spüren. Diese Abwehrfunktionen werden nun durch die Institution und deren Rechtsvorschriften unterstützt. Oberste Prinzipien sind beispielsweise Sauberkeit, die insbesondere durch die Heimaufsicht eingeklagt wird, lückenlose Pflegedokumentation, damit kein Angehöriger wegen vermeintlicher Pflegefehler klagen kann. Da die Sozialarbeiterin diese Dimensionen der institutionellen Abwehrvorgänge zunächst nicht erkennen konnte, sah sie die Problematik als individuelle "Gedankenlosigkeit" der Pflegerinnen. Von diesen individuellen Problemen fühlte sie sich schnell überfordert, so daß sie den weiteren Gerüchten nicht mehr nachging, also ebenfalls verdrängte und schließlich 74 resignative Züge verspürte, die sie dazu veranlaßten, die Problematik in ihrer Supervisionsgruppe anzusprechen. Diese neurotischen Abwehrfunktionen lassen sich in ähnlicher Weise in vielen Institutionen der sozialen Arbeit aufspüren. Nicht immer handelt es sich dabei um Verdrängung und Verleugnung, wie im vorliegenden Fall. Oftmals bestimmt der Gegenstand des institutionellen Auftrages und die Besonderheiten des jeweiligen Klientel die Art und Weise des neurotischen Agierens der Institution. Da Sozialarbeit in Institutionen geschieht und für Menschen tätig wird, die signifikant häufig in Institutionen gescheitert sind, müssen sich Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen dieser neurotischen und dadurch für das Klientel schädlichen Strukturen der Institutionen bewußt sein. Veränderungsstrategien muß zunächst eine sehr gründliche Analyse der Institution und der eigenen Person vorausgehen, wollen sie nicht scheitern. Zu den Veränderungsstrategien gehören neben machtpolitischen Interventionen auch therapeutische Verfahren. Allen Veränderungsstrategien muß aber zunächst eine breitere Solidarisierung mit einer gemeinsamen Zieldefinition vorangehen. Dafür ist eine Bearbeitung der Beziehung der einzelnen Kollegen zueinander Voraussetzung. Mit Veränderungsstrategien in Organisationen befaßt sich heute eine immer größerwerdende Disziplin der Organisationssoziologie und Organisationspsychologie. Zwar ist es nicht vorrangige Aufgabe der Sozialarbeit, organisationsverändernd zu arbeiten, jedoch ist es von entscheidender Bedeutung, Konflikte in Organisationen in ihrer institutionellen Dynamik zu erkennen, um Konflikte besser verstehen zu können und das Klientel unter diesen Umständen besser zu schützen. Wie oben schon beschrieben, können Veränderungsstrategien nur von einer breiteren und solidarischen Basis ausgehen. Mit Veränderungsstrategien in "pathogenen Organisationen" aus systemischer Sicht befaßte sich auch Mara Selvini-Palazzoli, die ihre Diagnose von neurotischen (pathogenen) Organisationen in folgende Behauptung kleidet: "immer wenn eine Institution ihre (menschlichen, sozialen, ökonomischen) Energien vorwiegend darauf verwendet, sich allein dem eigenen intrainstitutionellen Bereich zuzuwenden, ist die Gefahr einer dysfunktionalen und pathologischen Entwicklung gegeben."(82) Als Systemtheoretikerin geht Sevini-Palazzoli davon aus, daß Institutionen, die ein "geschlossenes System" darstellen, sich gewissermaßen totlaufen, (83) Selvini-Palazzoli, a.a.O. - S. 95 Fehler! Textmarke 75 nicht definiert. da die nach innen gerichteten Energien ein Anwachsen der "Entropie" bewirken. Ein Beispiel: Der Supervisor wird von einem Verein gerufen, der Träger mehrerer Übergangseinrichtungen ist. Eine dieser Einrichtungen ist ein offenes Heim für straffällig gewordene junge Frauen, die teilweise auch der Prostitution nachgingen. Im Heim arbeiten 6 hauptamtliche Mitarbeiter, Sozialarbeiter, Erzieherin, Dipl.-Pädagogin, Hauswirtschafterin, Zivildienstleistender, Praktikant, teilweise finanziert über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Diese Mitarbeiter machen beim ersten Kontakt mit dem Supervisor einen völlig überarbeiteten und erschöpften Eindruck. Sie berichten von der starken Arbeitsüberlastung und vielen Überstunden. Als Grund dafür wird genannt, daß man sich häufig zusammensetzen müsse, um die Vorgehensweise abzustimmen und pädagogisch adäquat auf die Mädchen zu reagieren, die als besonders schwierig beschrieben werden. In der ersten Supervisionssitzung wird deutlich, daß die größte Belastung den häufigen Mitarbeiterbesprechungen entspringt, über die Klientinnen wird kaum gesprochen. Erst am Ende der ersten Sitzung fragt der Supervisor nach der Belegzahl des Heimes und erfährt, daß von 10 Plätzen lediglich 3 belegt seien, für mehr Bewohnerinnen reiche auch das Personal nicht aus. Es wird sehr bald deutlich, daß der hohe Arbeitsanfall mit den vielen Teamsitzungen dadurch zustande kommt, weil man beschlossen hat, ein "demokratisches Team" zu sein, in dem alle Mitarbeiter die "gleichen Rechte" haben und in allen Entscheidungen Mitspracherecht haben. Das führte zu derart kuriosen Situationen, daß bei Speiseplanänderungen beispielsweise ein einheitlicher Teambeschluß herbeigeführt werden mußte und die Diskussionen darüber oftmals mehr als eine Stunde der Arbeitszeit des Gesamtteams (bis zu 6 Mitarbeiter) in Anspruch nahmen. Aus systemischer Sicht definiert Selvini-Palazzoli diese Problematik wie folgt: "Wenn eine Institution mehr als ein Drittel ihrer Zeit und all ihr zur Verfügung stehenden Energien auf den eigenen Binnenbereich verwendet (indem sie ihre Angehörigen immer wieder im Interesse der Koordinierung ihrer Tätigkeit zusammenruft, immer neue Projekte ausarbeitet, sich immer wieder mit der eigenen Rolle beschäftigt), dann kommt es hier in erheblichem Umfang zur Entropie, das heißt zum Energieschwund in den 76 Rückmeldungen zwischen der Institution und ihrem äußeren Umfeld und zur Verfestigung der inneren homöostatischen Mechanismen."(83) Das oben beschriebene Beispiel ist eine Extremvariante eines in der Sozialarbeit häufig anzutreffenden Abwehrmechanismus. Hierbei handelt es sich um die Verdrängung von Autoritäts-, Macht-, Kontroll- und Abhängigkeitsstrukturen, für die man bereit ist, jedes Detailproblem bis zur Erschöpfung zu diskutieren. Eine Strukturierung und Kompetenzverteilung im Team würde dazu führen, daß man von manchen Informationen abgeschnitten ist. Das wäre unerträglich, seien die Informationen auch noch so marginal, wie z.B. Nudeln oder Kartoffeln zum Mittagessen. Da der Sozialarbeit immer häufiger die Installation von Einrichtungen zufällt, ist es für die Kolleginnen und Kollegen von wachsender Bedeutung, institutionelle Mechanismen zu erkennen. Auch für die Sozialarbeiter, die in behördlichen Strukturen tätig sind, ist diese Sicht Voraussetzung dafür, um auf dem >langen Weg durch die Institutionen< nicht von der Institution verschlungen zu werden. Gezielte Veränderungsstrategien können von Sozialarbeitern erst dann eingesetzt werden, wenn sie sich neben den oben beschriebenen machtpolitischen Wegen auch Kenntnisse über Organisations- und Institutionsdynamik verschafft haben, die über das Grundstudium hinausgehen. Hierzu kann die Beschäftigung mit der Gruppendynamik einen wichtigen Beitrag leisten. Die Zeitschrift "Gruppendynamik" greift diese Thematik immer wieder auf(84) und auch in der Gestalttherapie(85) sind in jüngster Zeit Bücher erschienen, deren Studium für den institutionskritischen Sozialarbeiter sicherlich von hohem Erkenntniswert sind. Neben dem theoretischen Studium institutioneller Gesetzmäßigkeiten ist jedoch Selbstreflexibilität, sei es durch Supervision oder Selbsterfahrung Voraussetzung allen institutionsverändernden Handelns. (84) (85) (86) vergl. Gruppendynamik, Heft 1 - 1988 Aus dem Amerikanischen: 1. Nevis, E.C., Organizational consulting, A Gestalt approach, Cleveland, 1987; 2. Merry, U./Brown, G.I., The neurotic behavior of organizations, Cleveland, 1987; 3. De Vries, K./Miller, D., The neurotic organization, San Francisco, 1984 Gotthardt-Lorenz, Angela, Organisationsberatung - Hilfe und Last für Sozialarbeit, Freiburg, 1989 - S. 27 Fehler! Textmarke 77 nicht definiert. 5.9 Organisationsberatung und Organisationsentwicklung Ein Teilgebiet des institutionsbezogenen Ansatzes der Sozialarbeit ist, wie bereits erwähnt, die Organisationsentwicklung, bzw. -beratung. Die beiden Begriffe sind nicht scharf von einander zu trennen, jedoch soll an dieser Stelle deutlich werden, daß der Blick auf die Organisation und deren Entwicklung nur einen Teilaspekt des hier skizzierten Methodenansatzes der Sozialarbeit ausmachen kann. Dieser Teilaspekt wurde allerdings bisher weitestgehend vernachlässigt. Unter Institution wird, wie schon erwähnt und wie noch weiter auszuführen sein wird, viel mehr verstanden als unter den Begriffen der Organisation. Unter Institution verstehe ich im ganz besonderen Maße, die dem Menschen innewohnenden Instanzen. Dennoch muß sich die Sozialarbeit auch verstärkt mit den Fragen der Organisationsentwicklung und -beratung auseinandersetzen, insbesondere dann, wenn wir es, wie oben beschrieben, zunehmend mit Organisationen zu tun haben, die in der Gefahr einer "pathogenen Entwicklung" stehen. Organisationsentwicklung ist in den vierziger Jahren in der amerikanischen Privatwirtschaft entstanden und befaßt sich mit Fragen der Erhöhung der Leistungsfähigkeit und Humanisierung von Organisationen. Heute bedienen sich vermehrt Sozialorganisationen der Organisationsberatung, und für den institutionell denkenden Sozialarbeiter sind die Arbeiten dieser Disziplin von äußerst hohem Entlastungswert, wie die hohe Nachfrage nach Supervision belegt. Die Organisationsberaterin Angela Gotthard-Lorenz stellt in ihrem 1989 erschienenen Band "Organisationsberatung - Hilfe und Last für Sozialarbeit" fest, daß die Nachfragen nach Supervision, Fortbildung oder Therapie oft ihren Ursprung in organisationsspezifischen Konflikten haben. "Der Anlaß für Beratungsanfragen aus Sozialorganisationen sind meist unterschiedliche Organisationsprobleme, zum Beispiel Konflikte zwischen Abteilungen oder zwischen einer Gruppe und den Vorgesetzten, diffus wahrgenommen oder bereits geplante Veränderungen von Strukturen oder auch Umstellungen, Überprüfungen oder Erneuerungen von Arbeitskonzepten. Oft werden gerade solche Interessen in Form von Anfragen nach Supervision, Fortbildung oder wissenschaftlicher Begleitung formuliert."(86) (87) Beck, Ulrich, Risikogesellschaft, Frankfurt, 1986 78 Die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse der letzten Jahrzehnte scheinen darauf hinauszulaufen, daß den Institutionen eine immer größere Bedeutung im sozialen Leben zukommt. Am überzeugendsten geht diesen Überlegungen der Soziologe Ulrich Beck nach. 5.10. Individualisierung und Institutionalisierung in der Industriegesellschaft Für die Sozialarbeit ist es unerläßlich, stets die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung zu reflektieren. In der aktuellen soziologischen Debatte kommt den Arbeiten von Ulrich Beck ein herausragender Stellenwert für eine reflexsive (d.h. ihre Auswirkung hinterfragende) Sozialarbeit zu.(87) Ulrich Becks soziologisches Grundargument geht von der These einer reflexiven Modernisierung der Industriegesellschaft aus. Die Industriegesellschaft produziert unbeabsichtigte, latente und unkontrollierbare Nebenwirkungen, die früher noch problemlos in die Umwelt abgeleitet werden konnten. Diese Risiken werden nun gesellschaftlich "verteilt"; der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich mehr und mehr von einer >reichtumsverteilenden< zu einer >risikoverteilenden< Gesellschaft. "Systemisch argumentiert, beginnen sich gesellschaftsgeschichtlich früher oder später in der Kontinuität von Modernisierungsprozessen die sozialen Lagen einer >reichtumsverteilenden< mit denen einer >risikoverteilenden< Gesellschaft zu überschneiden. In der Bundesrepublik stehen wir - das ist eine These - spätestens seit den siebziger Jahren am Beginn dieses Überganges."(88) Diese These bezieht sich augenscheinlich zunächsteinmal darauf, daß die Industriegesellschaft als Nebenprodukt Gefährdungspotentiale wie z.B. Luft- Gewässer und Bodenverschmutzung produziert, deren Risiken verteilt werden ohne Rücksicht auf Klassenschranken. "Die Verteilungslogik von Modernisierungsrisiken, wie sie (... oben ...) entfaltet wurde, ist eine wesentliche, aber nur eine Dimension der Risikogesellschaft. Die so entstehenden Globalgefährdungslagen und die in ihnen enthaltene soziale und politische Konflikt- und Entwicklungsdynamik sind neu und beträchtlich, werden jedoch überlagert durch gesellschaftliche, biographische und kulturelle Risiken und Unsicherheiten, die in der (88) (89) Beck, a.a.O. - S. 27 ibid. S. 115 Fehler! Textmarke 79 nicht definiert. fortgeschrittenen Moderne, das soziale Binnengefüge der Industriegesellschaft - soziale Klassen, Familienformen, Geschlechtslagen, Ehe, Elternschaft, Beruf - und die in sich eingelassene Basisselbstverständlichkeit der Lebensführung ausgedünnt und umgeschmolzen haben."(89) Beck begründet die neue soziale und politische Entwicklungsdynamik mit seiner Individualisierungsthese. Sie besagt, daß in der Risikogesellschaft sich die kollektiven Bindungen und Regelmäßigkeiten, wie z.B. Klassen, Nachbarschaften, Geschlechterrollen, Partnerschaften, Familien- und Verwandschaftsverhältnisse und die Eckpunkte der Biographien, immer mehr verflüchtigen. Als Folge für die betroffenen Individuen entstehen Verlust von Orientierung, Identität und Sinnerfüllung einerseits, sowie Überbeanspruchung durch immer neue Entscheidungsarten und auf das Individuum selbst gekehrte Verantwortungszuschreibung andererseits. Die Sozialarbeit sieht sich heute also vor einer gesellschaftlichen Situation, in der traditionelle Instanzen, die in der Vergangenheit für die Orientierung der einzelnen von Bedeutung waren, sich mehr und mehr verflüchtigen. Diese Instanzen, wie Familie, Kirche, Gemeinde, Klasse, Stand, Nachbarschaft usw. verlieren für die Individuen zunehmend an Bedeutung. Sinn- und orientierungsstiftender Mittelpunkt des Lebens wird mehr und mehr der Arbeits- und Bildungsmarkt. Die Familie verliert ihre herkömmliche Rolle zunehmend, das gesamte familiäre Bindungs- und Versorgungsgefüge gerät unter wachsenden Individualisierungsdruck. "Es bildet sich der Typus der Verhandlungsfamilie auf Zeit heraus, in der die bildungs-, arbeitsmarkt- und berufsorientierten Individuallagen, (...) ein eigenartig widerspruchsvolles Zweckbündnis zum geregelten Emotionalitätsaustausch auf Widerruf eingehen."(90) In dieser >Verhandlungsfamilie< werden die Individuallagen organisiert und das Familienleben muß mehr und mehr mit dem Terminkalender abgestimmt werden. Im Zentrum der Lebensführung stehen Beruf und Bildung. Partnerschaft und Familie werden zu Zweckbündnissen. Dadurch werden die Individuen andererseits immer institutionsabhängiger. Die vormals durch familiäre Lebenslaufrhythmen geprägten Einzelbiographien werden vermehrt überlagert oder ersetzt durch "institutionelle Lebenslaufmuster: Eintritt und Austritt aus der Erwerbsarbeit, sozialpolitische Fixierung des Rentenalters, und dies sowohl im Längsschnitt des Lebenslaufes (Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Pensionierung und Alter) (90) (91) ibid. S. 208 ibid. S. 211 f. 80 als auch im täglichen Zeitrhythmus und Zeithaushalt (Abstimmung von Familien-, Bildungs- und Berufsexistenz)."(91) Diese institutionellen Lebenslaufmuster werden im großen Maße von Sozialarbeit und Sozialpädagogik mitgeprägt, und in der zukünftigen Entwicklung wird der sozialen Arbeit hier vermutlich eine immer größer werdende Bedeutung zukommen. Nach Becks Analyse des Individualisierungsschubes in der BRD ist dessen Folge das Anwachsen der Institutionsabhängigkeit. "Mit dieser Institutionsabhängigkeit wächst die Krisenanfälligkeit der entstehenden Individuallagen."(93) Soziale Arbeit wird also mehr und mehr in die Situation geraten, Krisen zu bearbeiten, die sich für einzelne aus ihrer institutionsabhängigen Situation ergeben. Auf die heutige Sozialarbeit kommt in vielen Bereichen vermehrt die Aufgabe zu, den Individuen Hilfe, Orientierung, Organisation und Kontrolle in ihren institutionellen Lebenslagen zu geben. Im gleichen Maße jedoch muß Sozialarbeit reflektieren können, inwieweit die Institutionen ihren Aufgaben überhaupt gewachsen sind. Sozialarbeit ist somit stets gezwungen, selbstreflexiv die Auswirkungen der Institutionen und ihres eigenen Handelns zu hinterfragen. Außerdem muß der Frage nachgegangen werden, wie es kommt, daß bestimmte Individuallagen signifikant häufig im Umgang mit Institutionen scheitern und welche Hilfestellungen hier möglich sind. Der Ansatz der Sozialarbeit ist unter diesen Bedingungen ein vielfacher: 1. ein organisatorischer Ansatz Bereitstellung von Mitteln (materielle Hilfe) und Institutionen (Heim-, Therapieplätze usw.) 2. ein kontrollierender Ansatz bei Ausfall von traditionellen Instanzen, Bereitstellung von institutionellen Möglichkeiten (Jugendamt, Bewährungshilfe, usw.) 3. ein pädagogischer Ansatz lernen, sich in Institutionen zu bewegen (Kindergarten, Schule, Jugendzentrum). 4. ein beratender Ansatz Information über institutionelle Möglichkeiten vor dem Hintergrund der individuellen Biographie (Beratungsstellen). (92) (93) ibid. S. 214 ibid. S. 212 Fehler! Textmarke 81 nicht definiert. 5. ein therapeutischer Ansatz Bearbeitung von Persönlichkeitskonflikten, die den Umgang mit Institutionen behindern (Beratungsstellen, Kliniken, Anstalten) 6. ein organisationsanalytischer Ansatz Überprüfung der eigenen Institution auf ihre Funktionalität hinsichtlich der definierten Ziele (in allen Institutionen). Nach Ulrich Becks Thesen bedeutet die zunehmende Individualisierung gleichzeitig eine wachsende Standardisierung und Institutionalisierung. Die Vision einer Gesellschaft aus Einzelpersonen, die aus Ein-ZimmerAppartements alle die gleichen Fernsehbotschaften verfolgen, ist die utopische Überspitzung dieses Bildes. Durch die Individuallagen wird also auf der anderen Seite mittels der Medien das Leben immer stärker standardisiert und von außen gesteuert, gleichzeitig nimmt die Kommunikationsfähigkeit ab. "Gerade Individualisierung bedeutet also: Institutionalisierung, institutionelle Prägung, und damit: politische Gestaltbarkeit von Lebensläufen und Lebenslagen."(92) Unter diesen Umständen muß die Sozialarbeit auf ein verändertes Sozialgefüge reagieren, indem sie den Menschen innerhalb dieses Sozialgefüges Orientierungshilfen bietet und auch Einfluß auf diese sozialen Strukturen nimmt, um sie für die Menschen >bewohnbar< zu gestalten. 5.20 Ort und Gegenstand der Sozialarbeit Oben habe ich schon einmal angedeutet, daß Ort und Gegenstand der Sozialarbeit stets die Institution ist. Institution versteht sich dabei als intrapersonal und interpersonal. Erstes bedeutet also das Werte- und Normensystem des einzelnen Menschen; Zweites meint die auf diesem Hintergrund errichteten sozialen Systeme, die das Leben der Menschen regeln. Diesem Gedanken möchte ich im Folgenden paradigmatisch - gleichsam in Form eines Gedankenexperimentes - nachgehen. Die bildhafte Sprache des Gedankenexperimentes hat ihrer Natur nach etwas holzschnittartiges, etwas grobes, undifferenziertes und zum Wider(94) Laplanche/Ponzalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, 1972 - S. 230 f. 82 spruch herausforderndes. Es ist keine Abbildung der Wirklichkeit, sondern bestenfalls eine Landkarte, die uns skizzenartig zur Orientierung verhilft. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist der, der schnellen, oberflächlichen Orientierung. Ich bitte daher mir die folgende Vergröberung nachzusehen und sie eher in ihrem landkartenähnlichen Orientierungswert zu würdigen, als sie an der exakten Abbildung der Wirklichkeit zu messen. Meine These lautet: Ort der Sozialarbeit ist die Institution, Gegenstand der Sozialarbeit ist das individuelle Über-Ich. Darüber hinaus ist Sozialarbeit Teil des gesellschaftlichen Über-Ichs. Mit der Behandlung von menschlichem Leiden im weitesten Sinne sind heute in erster Linie drei akademische Professionen beteiligt: Medizin, Psychologie und Sozialarbeit. Dort wo diese Berufsgruppen auf Zusammenarbeit angewiesen sind, kommt es gelegentlich zu Abgrenzungskonflikten. Ursache dafür ist in den meisten Fällen die Unklarheit darüber, wer was behandelt, wo der Fokus des jeweiligen Ansatzes liegt. Bei der Verordnung von Medikamenten ist es noch relativ klar, daß dies nur durch die ärztliche Kompetenz geschieht. Aber schon die Erstellung eines Sozialberichtes beispielsweise wird nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit, nur durch Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterinnen gewährleistet. Das Modell, das den professionellen Fokus dieser drei Berufsgruppen beschreiben kann, entnehme ich aus dem psychoanalytischen Instanzenmodell und zwar der 2. Freudschen Topik.(93) Freud unterteilt in seiner 2. Topik den psychischen Apparat des Menschen in Es - Ich und Über-Ich. "Das Es bildet den Triebpol der Persönlichkeit; seine Inhalte, psychischer Ausdruck der Triebe, sind unbewußt einesteils erblich und angeboren, andernteils verdrängt und erworben."(94) Da das Es demzufolge zum somatischen hin offen ist, erscheint es folgerichtig, daß die Behandlung auf dieser Ebene durch den Arzt erfolgt, der eben auf dem Gebiet der Somatik eine sehr gründliche Ausbildung genossen hat. Nebenbei bemerkt, entspricht das recht genau der historischen Entwicklung der Psychoanalyse, die sich ja zunächst im wesentlichen mit den Triebschicksalen beschäftigte und dadurch folgerichtig dem ärztlichen Berufsstand die besten Zugangsmöglichkeiten eröffnete. (95) Laplanche/Pontalis, a.a.O. - S. 147 Fehler! Textmarke 83 nicht definiert. Das Ich stellt die eigentliche zentrale psychologische Instanz dar. Mit der Einführung dieses Begriffes hat sich in der Psychoanalyse etwa seit 1920 eine tiefgreifende Wende vollzogen, aus der sich viele neue Schulen entwickelt haben, die sich zunächst von der Analyse unbewußter Triebschicksale abwandten und der Analyse des Ichs und seiner Abwehrmechanismen zuwandten. Ich-Psychologie, Sozialpsychologie, Narzißmustheorie und auch die humanistische Psychologie sind ohne Freuds Einführung des Ich-Begriffes nicht denkbar. Das Ich ist der bedeutsamste Gegenstand der Psychologie, denn es ist das zentrale Teilgebiet der Persönlichkeit und wird durch seine Funktionen bestimmt. Zum Ich gehören auch autonome Funktionen, wie z.B. Wahrnehmung, Bewegungskontrolle, Reizschutz und Gedächtnis, die unabhängig von Triebkonflikten entstehen und Prozessen der Reifung und des Lernens unterworfen sind. Aus diesen Prozessen entwickeln sich spezialisierte Ich-Funktionen, wie Denken, Sprache und Realitätsprüfung. Die Ich-Funktionen gehören zusammen mit Begabung, Interesse und Fertigkeiten zur konfliktfreien Sphäre des Ich, die Abwehrmechanismen entstehen hingegen aus den Triebkonflikten. Die Psychoanalyse beschreibt als Hauptaufgabe des Ich, die Vermittlerfunktion zwischen den Triebimpulsen des Es und den Anforderungen des Über-Ichs und der Realität. Ein starkes, entwickeltes Ich ist Grundvoraussetzung für eine autonome Persönlichkeit. Insbesondere die Funktionen des Ich, sind das klassische Forschungsgebiet der akademischen Psychologie. Daraus leitet sich folgerichtig ab, daß der Gegenstand der Psychologie bei der Behandlung von Menschen in erster Linie das Ich sein sollte. Als Gegenstand der Sozialarbeit bezeichne ich schließlich das Über-Ich. Das Gedankenexperiment sieht also folgendermaßen aus: Die drei Disziplinen, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit fokussieren die drei Instanzen des psychoanalytischen Persönlichkeitsmodells: Es Ich Über-Ich = = = Medizin Psychologie Sozialarbeit Das Über-Ich ist institutionellem Ursprungs. Es ist ebensowenig wie das Ich vom Es, vom Ich scharf abzugrenzen. Aus der Erkenntnis des institu- 84 tionellen Ursprungs des Über-Ichs, folgt die Forderung, daß Sozialarbeit sich zur Handlungswissenschaft von den Institutionen entwickeln muß. 5.20.1 Sozialarbeit und Über-Ich Soziales Leben kommt ohne Normen und Werte nicht aus. Unsere Normen und Werte werden von der Instanz getragen, die Freud mit dem Terminus Über-Ich beschrieben hat. Das Über-Ich bildet sich etwa ab dem 3. Lebensjahr durch die Verinnerlichung elterlicher Gebote und Verbote, sowie die Wahrnehmung unterschiedlicher Rollen in der Familie (Ödipale Phase). Freud sprach vom Ich-Ideal eines Menschen, das sich aus dem Vorbild der idealisierten Eltern bildet und dadurch zum Maßstab für die Selbstbewertung wird. Freud weist indirekt darauf hin, daß das Über-Ich institutionellen Ursprungs ist, und nicht so sehr als Identifizierung mit konkreten Personen (Eltern) verstanden werden darf. "So wird das ÜberIch des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Weg über Generationen fortgepflanzt haben."(95) Die Über-Ich-Bildung geschieht in Folge des Ödipuskomplexes zunächst durch Introjektion der elterlichen Gebote und insbesondere der Erkenntnis der Unterlegenheit gegenüber dem Vater. Das Kind gewinnt die Einsicht, daß der Vater stärker ist und unterwirft sich so zunächst dessen Geboten und Verboten. Dadurch lernt es das elterliche Werte- und Normensystem und kann es später durch die Liebe zu den Eltern als sein eigenes Werteund Normensystem integrieren und in erneuten Auseinandersetzungen mit den Eltern (Pubertät, Adoleszens) modifizieren und abwandeln. Die Über-Ich-Entwicklung verläuft krisenhaft und entwickelt sich pathologisch, wenn es dem Kind nicht gelingt, die zunächst erzwungenen Wertund Normensysteme der Eltern über die Liebe zu diesen zu integrieren oder später, während der Pubertät, erfolgreich zu hinterfragen. Da Sozialarbeit hauptsächlich in diesen Krisen gefragt ist, muß man davon ausgehen, daß der Fokus der Sozialarbeit das Über-Ich ist. Dies jedoch in mehrfacher Hinsicht: einmal als Hilfestellung für Menschen, deren eigenes Über-Ich aufgrund einer pathogenen Entwicklung nicht in der Lage ist, (96) (97) Freud, S., zit. in: Laplanche/Pontalin, a.a.O. - S. 542 Goffman, a.a.O. - S. 15 ff Fehler! Textmarke 85 nicht definiert. Orientierung in der institutionalisierten Welt zu stiften. Das trifft im gleichen Maße für ein zu schwach ausgeprägtes Über-Ich zu und führt zu Normüberschreitungen bis zu Kriminalität, wie auch für ein zu starkes Über-Ich, welches zu Überängstlichkeit im Umgang mit der institutionalisierten Welt führt, bis hin zum paranoiden Rückzug und der wahnhaften Wahrnehmung von Institutionen, wie es beispielsweise im Werk von Franz Kafka so bedrückend zum Ausdruck kommt. Auf einer zweiten Ebene muß Sozialarbeit aber auch mehr und mehr in die Rolle des gesellschaftlichen Über-Ichs kommen, indem sie die wissenschaftliche Erkenntnis aus der Reflexion der eigenen Arbeit zunehmend ins gesellschaftliche Bewußtsein bringt und dadurch die Öffentlichkeit zwingt, sich z.B. mit ihrer Randgruppenproblematik auseinanderzusetzen. Man könnte nun auf den naheliegenden Gedanken kommen, daß sich Sozialarbeit, die das Über-Ich der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft zum Hauptgegenstand ihres Handelns macht, anderen staatlichen Kontrollund Eingriffsinstitutionen wie Polizei und Justiz annähert. Mit dem Gefängnis beispielsweise hat der Staat eine "totale Institution"(96) geschaffen, die dem Insassen mit einem alle Lebensbereiche einschließenden äußeren Regelsystem begegnet. Das hat zur Folge, daß der Häftling, der kaum noch auf ein inneres Regelsystem angewiesen ist, bestenfalls subkulturelle Normen der Insassenkultur verinnerlicht. Das zumeist nur schwach oder pathogen ausgeprägt innere Regelsystem kann sich nicht entwickeln, im Gegenteil, es verfällt mehr und mehr, wodurch das äußere Regelsystem der Anstalt zur einzigen Kontrollinstanz wird. Man kann also sagen, daß sich der Staat mit seinem Polizei- und Justizapparat ein Machtinstrument zugelegt hat, das auf die fehlenden inneren Kontrollinstanzen seiner Bürger mit der Installation von äußeren Zwangsstrukturen reagiert. Diese Zwangsstrukturen können nur solange funktionieren, wie der Einzelne kontrollierbar ist und Sanktionen befürchten muß. In der Sprache der Psychoanalyse ausgedrückt heißt das, daß Polizei und Justiz den Status eines strafenden Über-Ichs haben, dem das Kleinkind sich nur aus Angst vor dem übermächtigen Vater unterwirft. Sobald die Angst vor dem Vater nicht mehr besteht - z.B. während dessen (97) Eicke, Dieter, Das Über-Ich, Eine Instanz, Richtungsgebend für unser Handeln in: Eicke, Dieter (Hrsg.), Siegmund Freud - Leben und Werk, Weinheim und Basel, 1982, Band 1 - S. 504 86 Abwesenheit - entfällt die Funktion, die väterlichen Gebote werden nicht mehr eingehalten. Ein entlastendes Über-Ich kann sich nur über die liebevolle Zuwendung der Eltern zum Kind herausbilden. Über die Liebe des Kindes zu seinen Eltern integriert es Normen und Werte, die diese ihm vermitteln und bildet daraus eigene Persönlichkeitsstrukturen, die es unabhängig von äußeren Kontrollmechanismen macht. Diese Liebe und Zuwendung erfahren Delinquenten durch den Staat nicht, wodurch sich der Resozialisierungsgedanke der Justiz von selbst ad absurdum führt. Dem kindlichen Über-Ich fällt die Aufgabe zu, darüber zu wachen, daß das Kind in Anlehnung an die Bedingungen seiner jeweiligen Umwelt Liebeszuwendungen erhält. Dies geschieht dadurch, daß es sich den Normen seiner Eltern anpaßt, etwa durch Gehorsam. Dieser für Kinder notwendige Anpassungsvorgang kann für Erwachsene jedoch fatale Folgen haben und zu schweren Abhängigkeiten führen. Daher kommt der Auseinandersetzung mit den Normen und Werten der Eltern während der Adoleszenz eine herausragende Bedeutung zu, wodurch sozialpädagogisches Handeln in der Jugendarbeit einen zentralen Sinn in der Unterstützung des Jugendlichen bei der Suche nach eigenen Werthaltungen bekommt. "Dergestalt ist es eine Aufgabe des Jugendlichen, sich von den Inhalten des Über-Ichs zu distanzieren und unabhängige, eigene Wert- und Normvorstellungen sowie schöpferische Kräfte zu entwickeln ..."(97) Der Sozialarbeit fällt also die Aufgabe zu, die Individuen bei der Entwicklung eines entlastenden Über-Ichs zu unterstützen. Werte und Normen des menschlichen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft werden sozusagen pädagogisch reflektiert, hinterfragt und entsprechend der jeweiligen Individualität integriert. Diese Funktion der Sozialarbeit erhält besonders dann wachsende Bedeutung, wenn man die von Beck aufgestellte Individualisierungshypothese zugrunde legt. Durch den Fortfall von sinn- und wertvermittelnden Instanzen, wie Familie, Verwandtschaft, Klasse, Nachbarschaft, Kirche usw. wird der Einzelne mehr und mehr auf sich selbst zurückgeworfen. D.h. er (99) vergl. zu Kap. 5.30., Rost, Detlef, Psychoanalyse des Alkoholismus, Stuttgart, 1988 Fehler! Textmarke 87 nicht definiert. wird abhängig von eigenen Bewertungsinstanzen. Diese Aufgabe muß ein funktionierendes Über-Ich erfüllen, da wir heute in einer Zeit leben, in er individuelle Entscheidungslasten in bisher nicht erkanntem Ausmaße gefragt sind. Diese Konzeption von institutionaler Sozialarbeit, sieht die Konflikte in denen sich ihre Klienten befinden, als notwendige Folge der Widersprüche der Industriegesellschaft an. Vor diesem Hintergrund sind sowohl die Unzulänglichkeiten des Individuums als auch die des Familien- und Gesellschaftssystem "normal". In Folge dieses Ansatzes, haftet dann den Eingriffen der Sozialarbeit auch kein Stigma mehr an. Sozialarbeit wird somit zum gesellschaftlichen Dienstleistungssystem, das persönliche und soziale Beziehungen fördert. Dadurch soll es dem Einzelnen ermöglicht werden, seine Fähigkeiten und sein Wohlbefinden in Einklang und in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft voll zu entwickeln. Dabei zielen die Interventionen: 1. auf die intraindividuellen Institutionen (Über-Ich) 2. auf die interindividuellen Institutionen (Organisationen, Regeln und Normen) Einer solchen Sozialarbeit wird für das Funktionieren des Lebens in der postmodernen Gesellschaft sicherlich eine wachsende Bedeutung zukommen. 5.30. Exemplarische Darstellung des skizzierten Institutionsansatzes Die psychiatrischen Anstalten hatten sich in der Vergangenheit mehr und mehr zu "totalen Institutionen" entwickelt, die ihre Patienten durch die institutionelle Abhängigkeit zusätzlich krank machten. Die Symptome, die sich aus der langjährigen Aufbewahrungssituation in totalen Institutionen entwickelten, waren hospitalismusähnlich und machten den Insassen die Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben mehr und mehr unmöglich. In jüngerer Zeit, insbesondere in Folge der Psychiatrie Enquete von 1975, hat sich das Verständnis von psychiatrischen Institutionen geändert. Das Konzept der Großkrankenhäuser wurde zu Gunsten eines Konzeptes der Gemeindenähe mit kleinen, überschaubaren Einheiten aufgegeben. 88 Durch die Einrichtung von kleinen Stationen, therapeutischen Gemeinschaften, Patientenclubs, Tageskliniken und Übergangseinrichtungen wurde es möglich, die Institution als "therapeutisches Milieu" zu gestalten, das als solches förderlich auf den Heilungsprozeß wirkt. Diesen Weg ist die stationäre Suchtbehandlung schon lange vor der klassischen Psychiatrie gegangen. Popularität erlangte die Suchtbehandlung, als sie in Folge der "Drogenwelle" zu Beginn der siebziger Jahre sogenannte therapeutische Wohngemeinschaften entwickelte. Auch in der Alkoholismusbehandlung gab es schon seit langer Zeit Einrichtungen, die sich als Lebensgemeinschaft verstanden und über gemeinsames Tun zur Heilung des Einzelnen gelangen wollten. Heute sieht das Konzept einer sozialtherapeutisch-institutionsorientierten Suchtbehandlung in der Klinik folgendermaßen aus: Die Klinik besteht aus Stationsgruppen von 10 bis 12 Patienten. In dieser Gruppe gestaltet sich das Leben des Patienten in einer 4- bis 12-monatigen Therapie. Durch die Gruppentherapie und das allgemeine Leben auf der Station entwickelt sich eine Gruppendynamik, die die einzelnen Gruppenmitglieder mit den unterschiedlichsten Konfliktsituationen konfrontiert. Der Tagesablauf wird weiterhin strukturiert durch ein breit gefächertes Angebot an Anforderungen durch Arbeits- und Beschäftigungstherapie, die außerhalb der eigenen Stationsgruppe mit Klienten anderer Stationen stattfindet. Diese Arbeits- und Beschäftigungstherapiemaßnahmen sind dabei sehr alltags- und versorgungsnah, wie z.B. die gesamte Hausversorgung (Kochen, Putzen, Waschen, Instandhaltung usw.), Versorgung der Außenanlagen, Tierpflege und eigene Werk- und Produktionsstätten. Die tägliche Arbeitsdauer beträgt dabei zwischen 4 und 6 Stunden. Es wird also ein Milieu installiert, welches Konfliktsituationen innerhalb der eigenen Gruppe, wie auch außerhalb derselben erzeugt. Das zwingt die Klienten dazu, sozial adäquate Konfliktbewältigungsstrategien zu entwickeln. Die Konfliktbewältigung muß sich jedoch innerhalb gewisser institutioneller Spielregeln vollziehen (z.B.: Hausordnung). Diese Spielregeln werden für den einzelnen transparent und sind von der Vollversammlung der Patienten im Rahmen bestehender äußerer Gesetze veränderbar. Die hier beschrieben Maßnahmen werden aber erst dann therapeutisch wirksam, wenn sie durch eine Bezugsperson liebevoll begleitet werden. In der Suchtbehandlung geht es ja weniger um die Entwicklung eines reifen Fehler! Textmarke 89 nicht definiert. Über-Ichs, als vielmehr um die Stabilisierung von Ich-Funktionen, wie beispielsweise der Erhöhung von Frustrationstolleranz. Die Über-IchEntwicklung ist dabei mehr als ein Nebenprodukt zu verstehen. Dem Bezugstherapeut, der Bezugstherapeutin kommt also die Aufgabe zu, dem Klienten Entlastung von seinen Alltagskonflikten aus der Stationsgruppe oder der Arbeitstherapie zu ermöglichen. Er gleicht einer Mutter, die tröstende Worte für ihr Kind hat, wenn dieses eine enttäuschende oder schmerzhafte Erfahrung mit der Welt gemacht hat. Dabei muß der Bezugstherapeut der Versuchung widerstehen, die reale Situation für den Klienten ändern zu wollen (etwa indem er dafür sorgt, daß ihm weniger unangenehme Arbeiten aufgetragen werden). Stattdessen muß er in der Lage sein, dem Klienten Verständnis für die Schwierigkeiten seiner aktuellen Situationen entgegenzubringen. Der Therapeut wird gleichsam zu einer Station, die dem Klienten ein emotionales Auftanken ermöglicht, welches ihn dann befähigen soll, die Konflikte aus der Realität mit höherer Frustrationstolleranz zu bewältigen. Dies ist zwar eine sehr vereinfachte Darstellung des komplexen Beziehungsgeflechtes zwischen Klient, Realität und Therapeut (die Problematik der Objekt- und Selbstrepräsentanzen bleibt ausgeklammert). Zusätzlich handelt es sich hierbei noch um ein künstlich geschaffenes Milieu, und es muß sich zeigen, inwieweit die Erfahrungen aus der Klinik in den Alltag nach der Behandlung umgesetzt werden können. Gründliche Nachuntersuchungen haben jedoch ein sehr deutliches Bild vom Erfolg dieser Behandlungsform ergeben, im Gegensatz zur klassisch psychiatrischen Suchtbehandlung.. In unterschiedlich modifizierter Weise finden ähnliche Konzeptionen heute Eingang in verschiedene sozialtherapeutische Felder. Für eine "integrative Sozialarbeit" stellt sich nun die Frage, wie sich der Ansatz, der hier für die stationäre Suchtbehandlung skizziert wurde, in dieser Grundidee auf andere Felder sozialer Arbeit übertragen läßt.(99) Hier bietet sich nicht nur die Heimerziehung an, sondern alle Bereiche stationärer Sozialarbeit und Sozialpädagogik könnten konzeptionell von den Erfahrungen, die die Suchtbehandlung in den letzten 25 Jahren gemacht hat profitieren. (100 ) Ulrich/Probst, Anleitung zum ganzheitlich-systemischen Handeln, Bern, 1988 90 5.40. Thesenartige Zusammenfassung des institutionellen Ansatzes - Sozialarbeit arbeitet ausgehend von komplexen Institutionen mit Menschen, die signifikant häufig im Umgang mit Institutionen gescheitert sind. INSTITUTION - soziologisch - Institutionen sind: 1. offizielle gesellschaftliche Gruppen: Betriebe, Schulen, Gewerkschaften usw. 2. Regelsysteme, die das Leben dieser Gruppen bestimmen. - Institutionen sind für das menschliche Überleben und einer differenzierten Fortentwicklung unerläßliche Gebilde. - Institutionen sind von innen und außen veränderbar - Primäre Institutionen findet der Mensch vor, sie prägen seine Grundpersönlichkeit (Herkunftsfamilie) sekundäre Institutionen werden von dem, durch primäre Institutionen geprägten Individuum geschaffen (eigene Familie, Verein usw.) INSTITUTION - psychoanalytisch - Durch die Psychoanalyse wird der soziologische Institutionsbegriff erweitert. Ursprung der Institution ist hier der Ödipuskonflikt. Ödipuskonflikt und Institution sind durch die Struktur der Familie (Vater, Mutter, Kind) universell. Dadurch sind im Unbewußten aller Menschen Institutionen repräsentiert. - Die Psychoanalyse versteht Institutionen als Funktion des Über-Ichs. Fehler! Textmarke 91 nicht definiert. INSTITUTION - psycho-soziologisch - In der psycho-soziologischen Definition der französischen "analyse institutionelle" stellen Institutionen das gesellschaftliche Unbewußte dar. - Der psycho-soziologische Ansatz der "analyse-institutionell" reflektiert den soziologischen und den psychoanalytischen Ansatz. - Intrapersonale Institutionen sind innere Regelsysteme des Individuums (Werte, Normen). Interpersonale Institutionen sind ausgesprochene oder unausgesprochene Vereinbarungen zwischen Individuen oder Gruppen. - Topisch gesehen finden wir interpersonale Institutionen auf drei Ebenen. 1. Die erste Ebene ist die Gruppe (z.B. Schulklasse, Werkstatt, Büro usw.). 2. Die zweite Ebene ist die der Organisation (Schule, Fabrik, Verwaltungsbehörde usw.). 3. Die dritte Ebene schließlich ist der Staat (wirkt durch Gesetz und Erlasse). Auf allen drei Ebenen wirken Institutionen (z.B. 1.E.: Arbeitsrhythmus; 2. E.: Arbeitsvertrag; 3. E.: Arbeitsrecht) INSTITUTION - Sozialarbeit - Sozialarbeiter, die auf der ersten Ebene (Team, Abteilung) angesiedelt sind, sind den Zielen der zweiten Ebene (Behörde, Träger) und dritten Ebene (Staat) verpflichtet. - Je schwächer die Berufsrollenidentität durch die Ausbildung institutionalisiert ist, umso leichter fällt es der nächsthöheren Ebene, die Ziele der darunterliegenden Ebene zu definieren, auch gegen deren Ziele. - Je stärker die Berufsrollenidentität, umso höher der Professionalisierungsgrad, desto leichter die Abgrenzung gegenüber der höheren Ebene. 92 ORGANISATION - Sozialarbeit - BÜROKRATIE - Sozialarbeit ist in der Regel in Institutionen verortet, die als offizielle gesellschaftliche Gruppe verstanden werden. - Die offiziellen gesellschaftlichen Gruppen entwickeln sich vielfach zu mächtigen Organisationen, die in der Gefahr stehen, sich ihrerseits zu Bürokratien zu entwickeln. - Ein zentrales Merkmal der Bürokratie ist nach Max Weber die "sachliche Erledigung" von Vorgängen "ohne Ansehen der Person" nach berechenbaren Regeln. Diese "Versachlichung" widerspricht dem sozialarbeiterischen Ziel der "Vermenschlichung". - Die bürokratische Organisation tendiert dazu, ein geschlossenes System zu werden. Dadurch entwickelt sie einen Veränderungswiderstand, der dazu führt, daß sie in ihrem Sein verharrt. Das Ergebnis davon sind "Dysfunktionalität" und "pathogene Entwicklung". INSTITUTION - irrationale Entwicklungen - Neben zweckrationalen Bedürfnissen befriedigen Institutionen auch irrationale Bedürfnisse. - Individuelle neurotische Strukturen können ein psycho-soziales Arrangement mit dazu komplementären Strukturen in Institutionen eingehen. - Institutionen in den Sozialarbeit verortet ist, bieten besonders viele Möglichkeiten zum Agieren von individuellen neurotischen Konflikten. - Institutionsverändernden Maßnahmen stellt sich häufig ein Widerstand entgegen, der vergleichbar ist mit individuellen neurotischen Abwehrmechanismen. Fehler! Textmarke 93 nicht definiert. - Konflikte zwischen Individuen oder Gruppen in Institutionen können nur vor dem Hintergrund der gesamtinstitutionellen (neurotischen) Abwehrorganisation gesehen werden. - Funktionierende Institutionen sind für die entwickelte Industriegesellschaft lebensnotwendig. INSTITUTION und moderne Industriegesellschaft - Die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft hat dazu geführt, daß traditionell sinnstiftende Instanzen (Familie, Klasse, Gemeinde) zunehmend an Bedeutung verlieren. An ihre Stelle treten vermehrt Berufstätigkeit und Institutionen - Die Menschen in der modernen Industriegesellschaft werden immer institutionsabhängiger. Die Sozialarbeit bekommt die Aufgabe, dem Einzelnen in der institutionalisierten Welt zur Orientierung zu verhelfen und den Institutionen zum Funktionieren zu verhelfen. - Institutionelle Lebenslaufmuster werden verstärkt von Sozialarbeit mitgeprägt. INSTITUTION - Sozialarbeit - INDIVIDUUM - Ort und Gegenstand der Sozialarbeit sind sowohl das gesellschaftliche als auch das individuelle Über-Ich. - Die Interventionen der Sozialarbeit zielen auf: 1. intraindividuelle Institutionen (Über-Ich) 2. interindividuelle Institutionen (Organisationen) - Ziel Sozialer Arbeit ist die "Assimilation" von "introjezierten " Institutionssubstraten (vergl. Kapitel: Der Introjektionsbegriff in der Gestalttherapie) 94 5.50 Das ganzheitlich-systemische Institutionsverständnis Ulrich und Probst fassen in ihrer Arbeit. "Anleitung zum ganzheitlichen Denken und Handeln"(100) die Grundannahmen einer ganzheitlichen Perspektive folgendermaßen zusammen: Die Welt: ist dynamisch, komplex, zirkulär vernetzt, sich selbst organisierend und lenkend weist Ordnungsmuster auf besteht aus miteinander verknüpften Ganzheiten Der Mensch: ist selbst eine Ganzheit ist Teil der Natur und von kulturellen Ganzheiten ist >das Wesen auf der Suche nach Sinn< (V. Frankl) Gesellschaftliche Institutionen: sind kulturelle Ganzheiten höherer Ordnung sind Teil von Natur und Gesellschaft sind vollkommene Nachbildungen natürlicher, lebensfähiger Systeme weisen eine werthafte, sinngebende Dimension auf Fehler! Textmarke 95 nicht definiert. 6. GESTALT IN DER SOZIALARBEIT 6.1 Definition der Gestalttherapie "Gestalttherapie ist ein tiefenpsychologisch fundiertes Verfahren der Psycho-, Sozio- und Leibtherapie, das psychoanalytisches und phänomenologisches Gedankengut zu einem Ansatz dialogischer und ganzheitlicher Behandlung verbindet. Durch Zentrierung auf leibliches Erleben, emotionalen Ausdruck und kognitive Einsichtsprozesse soll ein integriertes Selbst erhalten, entwickelt und - wo erforderlich - wiederhergestellt werden."(101) 6.2 Das Problemverhältnis von Sozialarbeit und Gestalttherapie Die Gestalttherapie ist ein Verfahren, welches im Zuge des Psychobooms im Laufe der siebziger Jahre in der Sozialarbeiterschaft auf Interesse und Ablehnung zugleich gestoßen ist. Eine Kurzumfrage von Schubert vom Herbst 1980 ergab, daß von 247 befragten Gestalttherapeuten, 34 Sozialarbeit als Grundausbildung angaben. Was etwa 13,7 Prozent entspricht.(102) Die im Sommer 1981 durchgeführte Umfrage von Heekerens kommt auf etwa 16 Prozent Sozialarbeiter bei den Gestalttherapeuten.(103) Eine von mir selbst im Herbst 1988 durchgeführte Pilotstudie bei 19 Ausbildungsleiterinnen für Sozialarbeit / Sozialpädagogik hat u.a. ergeben, daß 9 Ausbildungsleiter/innen die Gestalttherapie als wertvolle Methode für die Sozialarbeit eingestuft haben. Fünf der Befragten bekundeten Interesse an Gestalttherapie und 3 hielten Gestalt für wenig sinnvoll. Diese Erhebung beansprucht zwar nicht repräsentativ zu sein, jedoch sind die Ergebnisse insofern bemerkenswert, als sie die Mehrheit der Ausbildungsleiter/innen im Ruhrgebiet erfaßt. Die Ausbildungsleiter/innen organisieren die Praktikantenausbildung für Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen bei den (101) (102) (103) Petzold, Hilarion, Die Gestalttherapie von Fritz Perls Lore Perls und Paul Goodman in: Integr. Therapie, 1-2/1984 - S. 5 Schubert, Klaus, Überblick über den Anwendungsbereich und die Indikation der Gestalttherapie, Ergebnisse einer Kurzumfrage, durchgeführt in der Zeit von Okt. - Dez. 1980 in: Integr. Therapie, 2-3/1983 - S. 246 Heekerens, Hans-Peter, Aspekte der Berufstätigkeit von Gestalttherapeuten in: Integr. Therapie, 1-2/1984 - S. 164 96 öffentlichen Trägern und den Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege. Hier haben sie über die Praxisanleiter eine starke Multiplikatorenfunktion. Demgegenüber steht eine nahezu vollständige Ignoranz der Gestalttherapie durch die Fachpresse der Sozialarbeit, die erst in jüngerer Zeit, infolge des Familientherapiebooms überwunden zu werden scheint. Beispiel dafür mag der Aufsatz von Rolf Bick, "Gestalt und System"(104) sein, den das Sozialmagazin im Januar 1987 veröffentlichte. Die Skepsis der Sozialarbeit an der Gestalttherapie schlägt sich auch in den entsprechenden Fachlexika nieder und hat ihren Angelpunkt in einer unterstellten Individualisierung sozialer Probleme durch die Gestalttherapie, die von Marianne Hege folgendermaßen beschrieben wird: "Man mag den >Psychoboom< als Entpolitisierung beklagen (...) oder als rettende Wende bejubeln, eine Heimkehr oder Rückkehr zum Individualismus stellt er nicht dar, wenn sich auch in Einzelformen groteske Individualisierungen zeigen (Perls, Gestaltgebet)."(105) Das Gestaltgebet, das hier von Marianne Hege angesprochen wird, stellt in der Tat eine für die Sozialarbeit nicht zu integrierende Individualisierung dar. Diesen Stil von Gestaltarbeit hat jedoch die europäische Gestalttherapie schon lange überwunden und insbesondere der Zugang zu den sozialphilosophischen Ansätzen Paul Goodmans ermöglichen es, Gestalttherapie als Ansatz eines individuum-, gruppen-, organisations- und gesellschaftsverändernden Verfahrens zu entwickeln, das für die Sozialarbeit von methodenintegrativer Bedeutung sein kann. Die Widersprüchlichkeit von Fritz Perls wird in seinem Buch "Grundlagen der Gestalttherapie"(106) besonders deutlich. In den Sitzungsprotokollen, S. 163 ff, stellt Perls seine Arbeit mit dem "Gestaltgebet" vor. (Ich bin Ich und Du bist Du. - Ich bin nicht auf der Welt, um Deinen Erwartungen zu genügen. Und Du bist nicht auf der Welt, um meinen Erwartungen zu genügen. Ich ist Ich und Du ist Du. - Amen.) (104) (105) (106) Bick, Rolf, Gestalt und System in: Sozialmagazin, 1/1987 Hege, Marianne, Die Bedeutung der Methoden in der Sozialarbeit in: Sozialarbeit; Expertisen, Projektgruppe Soziale Berufe, München, 1981 Perls, Fritz, Grundlagen der Gestalttherapie, München, 1976 Fehler! Textmarke 97 nicht definiert. Auf S. 43 des gleichen Buches schreibt Perls: "Der Gestaltansatz, der das Individuum als Funktion der Organismus / Umwelt-Feld-Relation sieht und der sein Verhalten als Spiegelbild seiner Beziehungen innerhalb dieses Feldes betrachtet, bringt das Bild des Menschen als Individuum und gleichzeitig soziales Wesen in Einklang. Die älteren psychologischen Schulen beschrieben das menschliche Leben als einen dauerenden Konflikt zwischen dem Individuum und seiner Umgebung. Wir dagegen sehen es als Interaktion zwischen beiden, innerhalb eines ständig sich wandelnden Feldes. Und da das Feld sich ständig verändert, aufgrund seiner Natur und aufgrund unseres Handelns, müssen die Formen und Techniken der Interaktion notwendig fließend und wechselnd sein." In dieser Widersprüchlichkeit kommt noch immer nicht die große Bedeutung zum Ausdruck, die die Gestalttherapie ihrem Ursprung nach für soziale Berufe haben könnte, wäre nicht in den siebziger Jahren ein Stil von Gestalttherapie zunächst in Deutschland populär geworden, der die gesellschaftliche Verwurzeltheit des Individuums zugunsten eines Konzeptes zur Befreiung individueller Energiepotentiale (Reich, Lowen), übersehen hat. Dieses physikalisch-biologistische Denken hat in seiner Extremform dazu geführt, das zwischenmenschliche Beziehungen auf den Austausch und die Übertragung von Energiemustern reduziert wurden. Dies mag mit dazu beitragen, daß die sozialarbeiterische Lehrbuchmeinung in der Gestalttherapie eine auf das Individuum focussierte Interventionsstrategie sieht: "Im gestalttherapeutischen Prozeß zielen die Interventionen des Therapeuten darauf ab, den Neurotiker möglichst rasch mit seinen Blockierungen zu konfrontieren, um ihn seine existentielle Leere i.S. eingefrorener Energien erfahren zu lassen. In einer Art Explosion lösen sich häufig diese durch Blockierungen festgehaltenen Affekte wie Wut, Schmerz etc." (H.J. Fraßa im Fachlexikon der sozialen Arbeit a.a.O. - Hrsg. Deutscher Verein ...(107) Unglücklicherweise geben manche neueren Arbeiten diesem Vorurteil Nahrung. Hier ist besonders der amerikanische "west-coast-Stil" zu erwähnen, deren Vertreter selbst in der Arbeit mit Gruppen jegliche gruppendynamischen Prozesse vermeiden. Aber auch in Deutschland gibt es (107) Fraßa, Heinz-Jörg, Gestalttherapie in: Lexikon der sozialen Arbeit, Frankfurt, 1984 - S. 364 98 weiterhin Strömungen, die die Möglichkeiten einer kritisch-emanzipatorischen Gestaltarbeit, die den sozialen Kontext als konstitutiv für individuelle Problemlagen sieht, zugunsten eines biologistischen Energiekonzeptes aufgeben. Einen solchen Ansatz vertreten z. Zt. Staemmler und Bock, die durch ihre Handlungkonzeption von "Impasse und Implosion" schon so manchen klassisch denkenden Sozialarbeiter zu der Einschätzung gebracht haben, es handele sich um eine Art Exorzismus.(108) Die Ansätze zu einer gesellschaftsorientierten Gestalttherapie haben Perls, Hefferline und Goodman allerdings bereits in ihrem 1951 erschienenen Buch "Gestalt-Therapie ..." geliefert, ohne sie jedoch weiter auszuarbeiten. "Und eines ist, leider, klar: Gewisse Spannungen und Blockierungen können nicht gelöst werden, wenn nicht eine wirkliche Umweltveränderung neue Möglichkeiten eröffnet. Wenn die Institutionen und Sitten verändert würden, dann würde so manches störrische Symptom urplötzlich verschwinden."(109) (- Hervorh. AK) Die neuere deutsche Gestalttherapie insbesondere die Schule von Petzold versucht die Gegensätzlichkeit von Individuum und Gesellschaft durch die Figur/Grund-Konzeption der Gestalttheorie zu überwinden und die Gestalttherapie, wie sie von Perls entwickelt wurde, durch eine Ausformulierung der Begriffe "Hintergrund" und "Feld" zu erweitern.(110) Petzold entwirft in seinen Vorüberlegungen zu einer "integrativen Persönlichkeitstheorie" ein Identitätskonzept, das dem Anspruch der Sozialarbeit nach "Besorgung des ganzen Menschen" voll Rechnung trägt. Er entwirft fünf Identitätsbereiche, die den Interventionsebenen der Sozialen Arbeit entsprechen: "Die Identitätsbereiche wirken zusammen. Leib, Arbeit, materielle Sicherheit, Werte und soziales Netzwerk sind interdependent. Akzentverschiebungen sind möglich. Der gänzliche Verlust eines Bereiches kann jedoch nicht aufgefangen werden. Zu einem vollen Identitätserleben sind alle >Säulen der Identität< in ihrer Doppelgesichtigkeit notwendig. Hieraus lassen sich erhebliche Konsequenzen für die Praxis psychosozialer Maßnahmen im Sinne >integrativer Interventionen< ableiten."(111) (108) (109) (110) (111) Staemmler, F. und Bock, W., Neufassung der Gestalttherapie, München 1988 Perls, Hefferline, Goodman, Gestalttherapie - Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung, Stuttgart, 1979 - S. 17 Petzold, Hilarion, Vorüberlegungen und Konzepte zu einer integrativen Persönlichkeitstheorie in: Integr. Therapie, 1-2/1984 - S. 73 f Petzold, Hilarion, a.a.O. - S. 89 Fehler! Textmarke 99 nicht definiert. 6.3 Die Bedeutung des Introjektionskonzeptes für eine institutionsorientierte Sozialarbeit Mit dem Introjektionsbegriff beschreibt die Psychoanalyse einen der frühesten Lernprozesse des Kindes. Freud beschreibt mit Introjektionen einen Prozeß, der das Über-Ich bildet, mit folgenden Worten: "Das Ich hat sich um Eigenschaften des Objekts bereichert, es hat das Objekt in sich selbst introjiziert."(112) Das Introjektionskonzept steht in der Gestalttherapie an zentraler Stelle. Perls operierte mit diesem Begriff bereits in seinem 1947 erschienenen, manchmal etwas verworren wirkenden Werk, "Das Ich, der Hunger und die Aggression", indem er sagt: "Introjektion bedeutet, die Struktur von Dingen zu erhalten, die man in sich aufgenommen hat, während der Organismus ihre Zerstörung fordert."(113) Introjiziert werden von frühester Kindheit an, die elterlichen Ge- und Verbote. Dadurch bildet sich die Struktur heraus, die die Psychoanalyse das Über-Ich nennt. Perls lehnte den Über-Ich-Begriff ab und differenzierte stattdessen in "Ich" und "Nicht-Ich". Wobei er dem Ich die "guten" Eltern und dem Nicht-Ich die "bösen" Eltern zuschreibt.(114) Damit macht es sich aber Perls unnötig schwer, da er so die Entlastungsfunktion des Über-Ichs schwerlich erkennen kann. Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse, der institutionellen Analyse und der Gestalttherapie können wir Introjekte folgendermaßen betrachten: Introjekte sind verinnerlichte Normen und Wertsysteme, die uns zunächst von den Eltern und später von Institutionen aufgezwungen werden. Diese Introjekte haben durch ihren regelhaften Charakter zunächst eine Entlastungsfunktion für den Menschen, die es ihm ermöglicht, sich in unterschiedlichen Lebenslagen zu orientieren. Zur Krise kommt es immer dann, wenn Introjekte und die Erfordernisse spezifischer Lebenslagen nicht kompatibel sind. (112) (113) (114) Freud, zit. in: Laborde/Brown, Die Bedeutung des Introjektionskonzepts für die integrative Erziehung in: Int. Therapie, 1/14981 - S. 3 Perls, Frederick S., Das Ich, der Hunger und die Aggression, Stuttgart, 1978 - S. 154 Perls, Fritz, a.a.O. - S. 60 100 Viele dieser Introjekte sind durchaus sinnvoll und regeln das tägliche Leben eines Kindes, wenn es nicht von den Eltern kontrolliert wird. So z.B. die elterliche Forderung, "man faßt keinen heißen Ofen an" oder "man schlägt andere Kinder nicht einfach". Andere Introjekte wiederum verhindern die Entwicklung und den Austausch, wie z.B. "man zeigt keine Gefühle, man tut das nicht" usw. Introjekte haben nun die Eigenschaft, sich zu unbewußten Strukturen zu entwickeln und so das Leben zu steuern. Eine solche Steuerung kommt einer Fremdbestimmung gleich. Dies geschieht aber nicht, wenn die Introjekte "assimiliert" werden. Das bedeutet: während das Introjekt noch gewissermaßen als Fremdkörper im Individuum wirkt, wird durch die Assimilation, das aus der Außenwelt kommende vom Individuum angeeignet und dadurch Teil der eigenen Persönlichkeit. "Was wir aus unserer Umwelt wirklich assimilieren, wird unser eigen. Wir können damit machen was wir wollen. Wir können es zurückhalten oder es in der neuen Form, zu der es in uns geworden ist, wiedergeben. Was wir aber unzerkaut hinunterschlucken, was wir unkritisch annehmen, was wir in uns hineinlassen, ohne es zu verdauen, ist ein Fremdkörper, ein Parasit, der sich in uns breitmacht. Es ist kein Teil von uns, mag er auch noch so aussehen, als sei er es. Es ist immer noch ein Teil der Umwelt."(115) Perls vergleicht den psychischen Assimilationsprozeß mit dem der Nahrungsaufnahme. Normen und Werte, Theorien und Informationen werden vom Einzelnen aus der Umwelt aufgenommen. Diese psychischen Strukturen müssen nun, um eigene innere Strukturen zu werden "verdaut" werden. Das ist der Prozeß der Assimilation, in dem der Einzelne sich kritisch mit den Forderungen aus der Umwelt auseinandersetzt, überprüft und entscheidet, was er sich zu eigen machen will und was nicht. In der frühen Kindheit ist dies zunächst nicht möglich. Das Kleinkind ist den elterlichen Introjekten zunächst ausgeliefert. Im Laufe der Entwicklung jedoch, gibt es immer wieder Phasen, in denen sich das Kind gegen die elterlichen Gebote abzugrenzen versucht und eigene Regelsysteme zu entwickeln trachtet. Die spektakulärste Phase in dieser Hinsicht ist sicherlich die Pubertät. Der oben skizzierte Institutionsbegriff geht davon aus, daß Institutionen das Individuum von permanenten Entscheidungsprozessen entlasten. Verinnerlichte Regeln und Normen stellen so gesehen eine Entlastung für den (115) Perls, Fritz, a.a.O. - S. 51 Fehler! Textmarke 101 nicht definiert. Einzelnen im Umgang mit seiner sozialen Welt dar. Allerdings bedeuten Regeln und Normen eine Fremdbestimmung, wenn die Introjekte nicht vom Individuum assimiliert worden sind. Ziel einer institutionsanalytisch-gestalttherapeutisch orientierten Sozialarbeit muß es daher sein, dem Einzelnen die Assimilation von gesellschaftlichen Regelsystemen zu ermöglichen und gesellschaftliche Regelsysteme so zu beeinflussen, daß sie von möglichst allen gesellschaftlichen Gruppen assimilierbar sind. 6.31 Fallbeispiel: Wegen des Frisierens eines Mofas verurteilte der Jugendrichter den fünfzehnjährigen Markus zu einem Jugendarrest von einer Woche, nachdem andere erzieherische Maßnahmen durch das Jugendamt den Jugendlichen nicht davon abhalten konnten, weiterhin sein Mofa zu frisieren. In der Jugendarrestanstalt auf dieses Vergehen angesprochen, antwortet Markus: "Ein Mofa mit 25 km/h ist ein Verkehrshindernis." Bevor es zum Jugendarrest kam, wurden folgende "Introjektionsversuche" unternommen. 1. Stillegung eines Mofas und Ermahnung durch die Polizei. 2. Richterliche Weisung, Geldbuße, Sozialstunden. 3. Hausbesuch des Jugendamtes, Information der Eltern und Ermahnung durch das Jugendamt. 4. Verkehrsunterricht an 3 Nachmittagen. 5. Verhandlung durch den Jugendrichter mit der Anordnung des Jugendarrestes. 6. Aufklärung über die rechtlichen Folgen bei weiteren Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung. Die Äußerung, "ein Mofa mit 25 km/h ist ein Verkehrshindernis" macht Markus zwei Tage vor der Entlassung. Die Frage des Sozialarbeiters, ob ihm denn schon jemals einer Recht gegeben habe, oder zumindestens Verständnis für sein Argument zeigte, erzeugte deutliche Verwunderung bei Markus. Alle bisherigen erzieherischen Maßnahmen liefen darauf hinaus, daß er einsehen möge, daß man mit einem Mofa nicht schneller als 25 km/h fahren dürfe, dabei sei man damit ein "echtes Verkehrshindernis". Im Gespräch mit dem Jugendlichen geht der Sozialarbeiter zunächst auf seine bisher gemachten Erfahrungen mit Erziehungsbehörden ein und be- 102 kommt die Antwort, daß Markus alle an seiner Verkehrserziehung Beteiligten für "Panneköppe" und "Rotlichtschläfer" hält, die ihn nur davon abhalten wollen, am Straßenverkehr teilzunehmen. Im Weiteren erzählt Markus davon, wie sicher er im Straßenverkehr ist, weil er schon von frühester Kindheit an durch den Vater mit Autos und Verkehr vertraut gemacht worden ist und was ihm damals seine Spielzeugautos, Dreiräder und Fahrräder bedeutet haben. Bei dem hier beschriebenen Fall handelt es sich wohlgemerkt um eine sogenannte Bagatelle für die Jugendgerichtshilfe, die, wie in diesem Fall, zur Kriminalisierung eines ansich harmlosen Phänomens führen kann. Betrachtet man jedoch die Unfallstatistiken bei männlichen jugendlichen Fahranfängern, stellt man eine signifikant hohe Unfallrate fest, obwohl Knaben seit ihrer frühesten Sozialisation mit Verkehrsspielzeug vertraut gemacht werden. Es stellt sich die Frage, in welcher Form hat Markus die "Institution Straßenverkehr" introjiziert, wodurch werden Assimilationsprozesse verhindert und auf welcher Ebene liegt das Problem. Die Sozialarbeiter der Jugendgerichtshilfe sagen, daß fast alle Jugendlichen ihr Mofa frisieren, weil niemand langsamer als die Freunde sein will. Wenn dem so ist, müssen wir erkennen, daß ein allgemeines Problem in der Person von Markus individualisiert wird. Das individuelle Problem von Markus liegt dann evtl. nur noch darin, daß er so ungeschickt ist, sich immer wieder erwischen zu lassen, oder er macht mit diesem "Symptom" eine Mitteilung. Der sozialtherapeutische Ansatz der Gestalttherapie reflektiert das hier beschriebene individuelle Phänomen vor dem Hintergrund seiner institutionellen Widersprüchlichkeit. In dieser institutionellen Widersprüchlichkeit treffen im Falle des Straßenverkehrs introjezierte Norm- und Werthaltungen von Konkurrenz, Unabhängigkeit, Stärke usw. auf Introjektionsversuche von Solidarität, Rücksicht und Gemeinschaft. Die Assimilation dieser Widersprüche ist nur über eine Auseinandersetzung mit normen- und werteverkörpernden Objekten zu erreichen. Das Gespräch zwischen dem Sozialarbeiter und Markus entwickelt sich dergestalt, daß der Jugendliche darüber spricht, wie es früher war, als er Spielzeugautos geschenkt bekam. Fehler! Textmarke 103 nicht definiert. Markus: SozArb: Markus: SozArb: M.: S.: M.: S.: M.: S.: M.: S.: M.: Mein Vater hat mir dann auch immer die technischen Sachen von den Autos erklärt, besonders die Rennwagen. Scheinen ja interessante Gespräche damals gewesen zu sein. Dabei hat er immer ne Dieselkutsche gefahren. Und wie ist das für Dich? Find ich ziemlich blöd den Alten, große Sprüche aber nur nen Diesel unterm Arsch find ich echt lächerlich, aber das will er ja nicht hören. Mir könnte sowas ja nicht passieren, wenn ich schnell fahren will, dann träume ich nicht nur davon, dann mach ich das auch. Dein Vater träumt nur von schnellen Autos, Du aber nicht. (lacht) Naja von Autos kann ich ja auch nur träumen aber mit dem Mofa ist das schon was anderes. Aber da gibts auch so Typen, die immer nur hinterherfahren. Sag mal, und Dein Vater fährt nicht mal son bißchen riskant Hat er mir ja früher erzählt, so mit Ralley und so, schläft aber in Wirklichkeit fast ein und träumt dabei, er führe Ralley. Magst Du Dir vielleicht mal vorstellen, wie Du in der Rolle Deines Vaters Auto fahren würdest? Wie, ich soll mich in meinen Alten versetzen, ist ja echt ätzend. Ja, spiel mal Deinen Vater in seinem Auto. Ach du Scheiße, naja ich kanns ja mal versuchen. Im anschließenden Rollenspiel übernimmt Markus die Rolle seines Vaters. In der Identifikation mit diesem setzt er sich zunächst mit dessen "Feigheit" auseinander, kann aber auch die Trauer darüber spüren, die der Vater hat, weil er sich durch die Realitäten des Verkehrs in seinem "Freiheitsdrang" eingeschränkt fühlt. Im weiteren Verlauf des Rollenspiels verspürt Markus die Last des "Verantwortungsgefühls" des Vaters. Im Rollenspiel wird mit einem leeren Stuhl gearbeitet, auf den sich Markus setzt, wenn er die Rolle des Vaters übernimmt. Auf seinem eigenen Stuhl ist er Markus. Nachdem Markus aus der Rolle des Vaters auf seinen eigenen Stuhl zurückgekehrt ist, kann er Enttäuschung und Wut darüber empfinden, daß der Vater ihn an diesen Seiten seines Lebens bisher nur unzureichend 104 teilnehmen ließ. In einem neuerlichen Rollenspiel (Stuhlarbeit) kommt es nun zum Dialog zwischen Markus und dem imaginierten Vater (Markus auf dem anderen Stuhl). In diesem Dialog kann der Jugendliche dem (imaginierten) Vater seine Enttäuschung und seinen Ärger zum Ausdruck bringen. Diese emotionale Auseinandersetzung mit dem väterlichen Objekt wurde in der Realität bisher versäumt, was dazu führte, daß alte Introjekte nicht verarbeitet (assimiliert) werden konnten und daß dadurch für neue Erfahrungen mit Regeln keine Kapazitäten mehr vorhanden waren, also neue Regeln und Normen und alte Introjekte sich gegenüberstehend, ausschlossen. Durch die Auseinandersetzung mit dem (imaginierten) Vater sollte es Markus ermöglicht werden, die alten väterlichen Introjekte, soweit sie seiner Persönlichkeit entsprachen, zu assimilieren und die nicht-persönlichkeitskompatiblen Reste auszuscheiden. Nach diesem Prozeß besteht erst die Möglichkeit zur Annahme neuer Regeln und Normen. Diese Assimilation ist jedoch wiederum nur vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem ganzen Feld möglich. 6.311 Therapeutische Auseinandersetzung mit dem Feld In der Arbeit mit dem jugendlichen "Verkehrsstraftäter" Markus, geht der Sozialarbeiter davon aus, daß es sich bei der Auffälligkeit des Jugendlichen um ein Symptom handelt, das eine gesellschaftliche Problemkonstellation deutlich macht. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer individuellen Disposition. Diese individuelle Disposition wurde in dem eben beschriebenen Einzelgespräch bearbeitet. Der zweite Schritt besteht nun darin, die gesellschaftspolitische Verwurzeltheit der Problematik transparent zu machen. Wenige Wochen nach seinem Jugendarrest erhielt Markus eine Einladung zu einem Jugendfreizeitwochenende durch das Jugendamt. Diese Jugendfreizeit wurde mit zwanzig Teilnehmern und Teilnehmerinnen in einer Jugendbildungseinrichtung, von Freitagnachmittag bis Sonntagmittag veranstaltet. Neben einigen Freizeitaktivitäten wurde eine Gruppenarbeit mit Rollenspielen und Planspielen durchgeführt. Fehler! Textmarke 105 nicht definiert. Das Planspiel, welches am Samstagnachmittag und Samstagabend durchgeführt wurde, hatte das Thema: "Wirtschaft und Verkehr - Geld und Auto". Die methodische Grundlage für das Planspiel ist die "kontextuelle Argumentationsmethode" nach Paul Goodman (siehe auch Kapitel über Goodman). Goodman beschreibt dieses methodische Vorgehen folgendermaßen: "Wir weisen nach, daß der Betrachter innerhalb seiner Erfahrungsbedingungen diese Überzeugung haben muß, und dann ermöglichen wir, durch spielerische Bewußtmachung der einschränkenden Bedingungen, die Entstehung eines besseren Urteils (...)."(116) Goodman nennt diese Methode "Argumentationsmethode ad hominem"(117) Gerade das Argument von Markus, "ein Mofa mit 25 km/h ist ein Verkehrshindernis", ist rational nicht widerlegbar und nur in seinem gesamten Erfahrungskontext zu verstehen. "Da ist die einzig sinnvolle Argumentationsmethode, das ganze Umfeld des Problems ins Bild zu bekommen, einschließlich der Bedingungen, der Erfahrung, des sozialen Milieus und der persönlichen >Widerstände< des Betrachters."(118) Das Thema des Planspiels kam aus der Überlegung zustande, daß die Mehrheit der Jugendlichen Eigentumsdelikte rund um das Auto begangen hatten. Also, Mofa-, Auto- und Fahrraddiebstähle. Das Planspiel wurde in groben Zügen durch die Sozialarbeiter vorbereitet und hatte das Ziel, möglichst viele am Verkehr beteiligte gesellschaftliche Gruppen darzustellen. Die 1. Phase war die Anwärmphase. Nachdem die Teilnehmer sich aus über 150 möglichen Rollen diejenigen ausgesucht hatten, mit denen sie sich identifizieren wollten, stellte sich jeder in seiner Rolle vor. Markus spielte einen Großaktionär der Automobilindustrie. Es gab desweiteren die Polizei, Gebrauchtwagen- u. Schrotthändler, Sportwagenfahrer, Spediteure, Bauunternehmer, den Finanzminister, Großindustrielle, Autodiebe, Versicherungen, Richter uvm. Die Vorstellung der verschiedenen Rollen wurde durch Interviews durch die Gruppenleiter vertieft. Zum Schluß der Aufwärmphase schlossen sich die verschiedenen Rollenträger zu Kleingruppen mit ähnlichen Interessen zusammen. Markus war in der Gruppe "Geldverdienen am Auto", ge(116) (117) (118) Perls, Hefferline, Goodman, a.a.O. - S. 27 Fatzer, Gerhard, Ganzheitliches Lernen, Paderborn, 1988 - S. 41 Perls, Hefferline, Goodman, a.a.O. - S. 27 106 meinsam mit der Vertreterin der Automobilindustrie, dem Straßenbau und dem Finanzminister. Es gab noch die Gruppe der Ordnung (Polizei, Justiz, ADAC), der Händler und der Kriminellen. Die 2. Phase war die Aktivierungsphase. Es wurden drei Papiere an die Teilnehmer ausgegeben. Das erste Papier enthielt die Situationsbeschreibung: ein Autodieb stiehlt einen Sportwagen und fährt diesen zu Schrott. Wie kommt es dazu und wie wirkt sich dies Ereignis auf die Beteiligten aus? Das zweite Papier beschreibt die Rolle des Protagonisten, also die des Autodiebes. Auf dem dritten Papier sind Namen und Alter aller anderen Beteiligten mit einigen knappen, klischeehaften Charakteristika angegeben. Die 3. Phase war die Spielphase. Der Ablauf des Spiels wurde kurz von der Gruppe erörtert und dann in Szene gesetzt. Das Thema wurde folgendermaßen eingekreist. Der Autodieb Ede Flach stiehlt dem Sportwagenfahrer Hans Huschke seinen Porsche-Carrera. Mit diesem verunglückt er nach einer eintägigen Spritztour vom Ruhrgebiet an den Bodensee auf einer kurvenreichen Landstraße. Der Wagen weist Totalschaden auf, Ede Flach wird mit mittelschweren Verletzungen in ein Unfallkrankenhaus am Bodensee eingeliefert. Die Presse erfährt davon und es erscheint ein Artikel, den alle Beteiligten lesen und über den sie aus ihrer Rolle heraus laut nachdenken oder diskutieren. In der ersten Phase des Spieles haben die Beteiligten zunächst die Aufgabe die Bedingungen für den Diebstahl herzustellen. Hierzu wird von allen Beteiligten ordentlich Werbung für Sportwagen betrieben. Diese Werbung erzeugt bei Ede Flach das Bedürfnis nach einem Sportwagen. Nach dem Unfall diskutieren die Kleingruppen über die Zeitungsmeldung und was diese für jeden persönlich bedeutet. Z.B.: Bauunternehmer: "Ich sage ja immer, wir brauchen bessere Straßen, naja es mußte ja erst wieder einer verunglücken, bis wir nun endlich den Bauauftrag für die Straßenbegradigung erhielten." Industrieller: "Wenn das Auto mit ABS ausgerüstet wäre, hätte er die Kurve schaffen können." Aktionär: "Naja, dem Absatz kanns ja nicht schaden, jeder Totalschaden führt dazu, daß wir einen neuen Porsche verkaufen." Solche oder ähnliche Diskussionen finden nun in allen Kleingruppen statt. Fehler! Textmarke 107 nicht definiert. Die 4. Phase war die Feedbackphase. Die Spielphase wurde mehrfach von Feedbackphasen unterbrochen. In diesen Phasen äußerten sich die Spieler über die Wirkung, die die gerade erlebte Szene auf sie gehabt hat. Feedback wurde direkt, persönlich und beschreibend gegeben, nach Möglichkeit nicht wertend. Nach der ersten Spielphase, also der Phase, die den Autodiebstahl ermöglichen sollte, äußerten viele Teilnehmer sich dahingehend, daß sie den Eindruck hätten, einigen wäre es ganz recht, wenn Autos gestohlen würden. Eine Feedbackphase wurde nach jeder Kleingruppendiskussion eingeschoben. Z.B. nach der Diskussion der Händler: "Ihr streitet Euch ja schon darum, wer den dicksten Reibach mit dem Schrott macht." Die 5. Phase war die Reflexionsphase. In dieser Phase verließen die Teilnehmer wieder ihre Rollen und diskutierten über das, was sie im Spiel erlebt hatten. Die Reflexion fand auf zwei Ebenen statt. Die erste Ebene fragte nach den beteiligten Personen. Dabei wurde den Teilnehmern deutlich, daß alle Personen außer dem Autodieb, versuchten, aus der Situation Gewinn zu machen: Markus: Ede F.: Markus: Ede F.: Ich fand das so echt geil, daß ich als Aktionär daran verdienen kann, wenn die anderen im Verkehr Scheiße bauen. Aber ich muß es ausbaden. Mir war das total egal, weil mein Freund der Richter ja für Recht und Ordnung sorgt und daran so gut verdient, daß er sich auch wieder ein schnelles Auto kaufen kann. Und ich bin der Angeschissene. Auf der zweiten Ebene der Reflexionsphase wurde nun das Thema bearbeitet. Hier gelang es den Jugendlichen nun in eine Diskussion einzutreten, die sich mit dem Thema "Verteilungsgerechtigkeit und Macht" auseinandersetzte. Diese Diskussion wurde von den Jugendlichen so konzentriert und engagiert geführt, daß sowohl der Samstagabendumtrunk eingeschränkt wurde und daß die Diskussion am Sonntag noch fortgesetzt werden mußte. Nahezu alle Teilnehmer des Wochenendes äußerten sich dahingehend, daß sie mitteilten nun ganz andere Zusammenhänge zu erkennen, daß ihnen das Wochenende viel gebracht habe und es auch noch Spaß gemacht hätte. (119) (119) Daigl, Klaus A., Kleine Planspiele für Helfer, Freiburg, 1988 108 Wenn wir nun verstehen wollen, welche intrapersonalen-, interpersonellenund institutionellen Prozesse im hier geschilderten Beispiel wirksam werden, so erscheint es recht hilfreich, den Feldbegriff etwas näher zu beleuchten. 6.4 Die Entwicklung des Feldes Im Gegensatz zu Perls behält Petzold das psycho-analytische Über-IchKonzept bei, und bezieht dieses besonders auf kognitives und soziales Lernen. Ähnlich wie auch die "analyse institutionelle" von Lapassade sieht Petzold in der psychoanalytischen Theorie des Ödipuskomplexes eine Metapher für den Prozeß des Überganges aus der Mutter-Kind-Dyade in einen komplexer werdenden Bezugsrahmen. Dies geschieht dadurch, daß das Kind den Vater in sein Leben eintreten erleben muß. "Nun tritt aber mit der fortschreitenden kognitiven Reife und den Differenzierungsmöglichkeiten des Ichs, der Vater (oder eine andere wichtige Bezugsperson) in die Erlebniswelt des Kindes, und dieses muß schmerzlich erfahren, daß es die Mutter nicht für sich alleine besitzt, sondern teilen muß, und daß dieses Teilen bestimmten, von der Mutter und vom Vater gesetzten Regeln unterliegt, die für das Kind weitgehend unverfügbar bleiben."(120) Diese "Triangulation" ist der Beginn einer fortschreitenden und immer differenzierter werdenden Aneignung der sozialen Welt. Mit dem Erkennen komplexerer sozialer Situationen tritt das Individuum in ein >Feld< ein, das von Kurt Lewin verstanden wird als eine "Gesamtheit gleichzeitig bestehender Tatsachen, die als gegenseitig voneinander abhängig begriffen werden."(121) Für die Orientierung und die Durchsetzung von individuellen Interessen in solch komplexen sozialen Situationen (Feldern) ist es für den Einzelnen von besonderer Bedeutung, das jeweilige Normen- und Wertgefüge wahrnehmen zu können, und die eigene innere Normen- und Wertstruktur damit in Übereinstimmung zu bringen. Hierzu verhilft eine differenzierte Über-Ich-Struktur. (120) (121) Petzold, Hilarion, Vorüberlegungen und Konzepte ..., a.a.O. - S. 91 Lewin, Kurt, zit. in: Lück, Helmut E., Feldtheoretische Betrachtungen zur Hilfeleistung in: Guss, Kurt, Gestalttheorie und Sozialarbeit, Darmstadt, 1979 S. 45 Fehler! Textmarke 109 nicht definiert. Die von Petzold oben beschriebene Über-Ich-Entwicklung kennzeichnet den fortschreitenden Prozeß des Eintritts des Menschen in immer neue und differenziertere Institutionen. Diese Sichtweise ermöglicht die Integration von Gestalttherapie, Institutionsanalyse und Sozialarbeit. Mit der Triangulation, die durch das väterliche Objekt beginnt, macht das Kind seine ersten Institutionserfahrungen. Da sich die Triangulation dem Kind gleichsam aufzwingt und es ihr nicht entrinnen kann, ist es gezwungen, die damit einhergehenden Normen zu introjizieren. Eine Assimilation kann Petzold nach nur dann erfolgen, wenn bereits ein gestärktes Ich vorhanden ist. Ein schwaches Ich kann häufig dem Ansturm von Außenzuschreibungen nicht standhalten. Desweiteren ist für eine Assimilation der institutionellen Normen und Werte aus dem Triangulationsprozeß die liebevolle Auseinandersetzung des väterlichen Objektes mit dem Kind nötig, andernfalls prägen die Introjekte aus diesem Prozeß jeden weiteren Institutionseintritt (Kindergarten, Schule, etc.). Mit Beginn der Triangulation fängt der Mensch an sich mehr und mehr als eine Person mit einem Umfeld in einem räumlich und zeitlich gestaffelten Kontinuum wahrzunehmen. Er trägt in jedem Moment seiner gegenwärtigen Existenz die Geschehnisse der Vergangenheit in sich. Als Person definiert er sich darüber. "In gleicher Weise steht er in einem soziokulturellen (Volks- und Schichtzugehörigkeit) und einem sozio-physikalischen (Land, geographische Region) Zusammenhang, der sich als gestaffelte Figur/Grund-Relation erweist und als Bezugsrahmen die aktuelle >Hier-undJetzt-Situation<, die Familie, die allgemeine Lebenssituation (Beruf, Freundeskreis etc.), die soziale Schicht und den Kulturkreis umfaßt."(122) Entsprechend der Assimilierbarkeit der Normen und Werte unterschiedlicher Institutionen entwickelt der Einzelne Über-Ich-Strukturen, die entweder Teil seines Selbst geworden, also assimiliert sind oder als Fremdkörper in Form von Introjekten toxisch in ihm wirken. Diese toxischen Introjekte können auf weitere Institutionserfahrungen ihrerseits vergiftend wirken. Die Auseinandersetzungen und die Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Institutionen werden nun aus Sicht einer sozialpädagogischen Analyse der bestehenden Institution geführt. Diese Analyse hat uns schon lange zu der Erkenntnis gebracht, daß in den Institutionen >krank(122) Petzold, a.a.O. - S. 78 110 machende< Mechanismen wirksam sind, die in unterschiedlicher Weise die Assimilation von gesunden Über-Ich-Strukturen erschweren oder verhindern. Diese sozialpädagogische Analyse sinnstiftender Gesellschaftsinstanzen wurde bereits in den frühen fünfziger Jahren von Paul Goodman, dem Mitbegründer der Gestalttherapie radikal formuliert. 6.5 Die Institutionskritik Paul Goodmans Die sozialpädagogische Konzeption von Paul Goodman beinhaltet sozialkritische Ideen und Überlegungen, die zu alternativen Möglichkeiten von Erziehung, Schule und Leben formuliert werden. Diese Ansätze wurden stark von Goodmans Arbeit als Gestalttherapeut geprägt. "Goodman hat stärker als Perls den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang ins Auge gefaßt, in den Therapie und Pädagogik verflochten sind und an dem sie leiden."(123) Er beschreibt die Widersprüche der verwalteten Welt, in die der junge Mensch hineinwächst. Dieses "Aufwachsen im Widerspruch" (Growing Up Absurd) zwingt den Menschen zu Alternativen. Goodmans Werk ist vor dem Hintergrund der amerikanischen Jugend- und Beatnikbewegung (ca. ab 1954) entstanden. Dabei werden die subkulturellen Strömungen stark kritisiert, weil sie Ausdruck einer unverbindlichen und unpolitischen Jugendbewegung sind. Auch die Gestalt-Bewegung der siebziger Jahre war häufig die versuchte Flucht in eine subkulturelle Nische, die als Alternative zur bürokratisierten, technisierten und entmenschlichten Welt gesehen wurde. Diesen Weg des "Aussteigens", wie er in der Tat von vielen amerikanischen Schulen begangen wurde, wollte Goodman nicht gehen, da er jegliches politisches "Awareness" (Wachsein, Bewußtsein) vermissen läßt. Bei Goodman handelt es sich vielmehr um konkrete Alternativen zu realen Institutionen, mit der Zielrichtung, daß diese Alternativen sich ausbreiten mögen und im Idealfall zur Regel werden. Goodmans Verständnis für die "Drop-outs" (Schulverweigerer), die zu Beginn der sechziger Jahre in den USA ein echtes Problem für das Bil(123) Petzold, Hilarion, Gestaltpädagogik in: Petzold/Brown - Gestaltpädagogik, München, 1978 - S. 8 Fehler! Textmarke 111 nicht definiert. dungswesen darstellten(124), entstand aus seinem kritischen Verhältnis zum amerikanischen Schulsystem, wo nach seiner Meinung die Gesellschaft ihrer Aufgabe, den jungen Menschen zu erziehen, nicht gerecht wurde. "Erziehung ist eine natürliche gesellschaftliche Funktion und geschieht unvermeidlich, da die Jugend zwischen Aktivitäten der Erwachsenen und in ihren Institutionen (oder dagegen) aufwächst; und die Erwachsenen ernähren, belehren, trainieren, verwerten und mißhandeln die Jugend.(125) Das formalisierte Erziehungssystem wird der "menschlichen Natur" nicht gerecht, da es die Bildung des Menschen mechanisiert betrachtet und das Erleben des Menschen in seiner psychosomatischen und sozialen Verknüpftheit weitestgehend außer Acht läßt. Mit der Einführung des Begriffes "menschliche Natur" stellt Goodman den Bezug zum gestalttheoretischen Ansatz in der Pädagogik her, der ein "nicht feststehendes Wesen des Menschen" ins Zentrum der anthropologischen Betrachtung rückt.(126) Die von der Erwachsenenwelt geschaffenen Institutionen, und hier besonders das Schulsystem, stehen der "menschlichen Natur" häufig entgegen; mehr noch, "die menschliche Natur" ist von dem herrschenden System verbogen und beleidigt worden. Der "Mensch" läßt sich nicht mehr als ein Wesen definieren, das in das herrschende System paßt, wenn das herrschende System offensichtlich für den Menschen nicht paßt.(127) Goodmans Position gegenüber den Hochschulen ist ebenfalls sehr kritisch. Er ruft die Studenten dazu auf, die Hochschulen zu verlassen und alternative Einrichtungen zu organisieren. Dabei sollen die dem wissenschaftlichen Denken zugrunde liegenden Ideen gelernt werden und in Einklang gebracht werden mit den Gefühlen und Erfahrungen der Studenten. Die Leitbilder, die Goodman hierbei zugrunde legt, beschreibt Rolf Schwendter als "das Syndrom eines anarchistisch-wissenschaftlich-humanistischen Ideals".(128) Aus diesen Ansätzen entwickelt sich Gestaltpädagogik, die als alternative Pädagogik zu machbarem Widerstand der Betroffenen aufruft. (124) (125) (126) (127) (128) Goodman, Paul, Das Verhängnis der Schule, Frankfurt, 1964 Goodman, a.a.O. - S. 18 Stach, Reinhard, Die konstituierenden und erschließenden Momente der pädag. Situation in: Guss, Gestalttheorie u. Erziehung, Darmstadt, 1975 - S. 53 ff Goodman, Paul, Aufwachsen im Widerspruch, Darmstadt, 1956 - S. 40 Schwendter, Rolf, Theorie der Subkultur, Köln/Berlin, 1971 - S. 190 112 Gesellschaftsveränderung kann dabei jedoch nicht durch Theoretisieren geschehen, sondern durch konkretes Handeln einzelner Gruppen in der jeweiligen Lebenssituation, die zum Handeln zwingt. Goodmans Ansatz setzt sich einerseits von bürokratischen, sozial- und unterrichtstechnologischen Methoden des Schulunterrichts ab, und er grenzt sich andererseits von den klassischen und humanistischen Bildungstheorien des Bürgertums ab. Es werden keine radikalen Forderungen nach totaler Revolution erhoben, sondern die Gestaltpädagogik wird als Alternative innerhalb eines bestehenden Systems verstanden, das sich seinerseits durch den Einfluß der Alternativpädagogik ändern und entwickeln können müßte. Die existenzphilosophische Grundlage in Goodmans Werk wird deutlich, wenn er die Frage der menschlichen Wahl in das Zentrum seiner Überlegungen stellt. Die Frage der Wahl heißt: unter welchen Bedingungen will ich leben, was laß ich mit mir machen und welchen Situationen will ich mich aussetzen? Oder will ich Situationen in die Hand nehmen und sie verändern? "Frei wählen können heißt nicht, sich beliebig verhalten, sondern auf Wirklichkeit antworten."(129) Durch die Gestaltpädagogik sollen Verfahren entwickelt werden, mit denen auf die herkömmliche Schulform geantwortet werden soll, oder mit denen alternative Einrichtungen aufgebaut werden sollen. Goodman fordert Alternativschulen innerhalb der Gesellschaft, die aber statt an die bürokratischen und sozialtechnischen Zwänge der Regelschule gebunden zu sein, alternatives und kreatives Arbeiten von Lehrern in öffentlichen Schulen ermöglichen sollen. Goodman sieht in den schulischen Institutionen Einrichtungen, deren Bedingungen es verhindern, daß die jungen Menschen sich entwickeln können. Das weist auf die zentrale Frage in Goodmans Werk hin, die von Stefan Blankertz folgendermaßen formuliert wird: Goodman "fragt nämlich, welches denn die Bedingungen seien, die verhindern, daß die Menschen ein (129) Goodman, Paul, Freiheit und Lernen in: Neue Sammlung, Göttingen, 1969 - S. 420 Fehler! Textmarke 113 nicht definiert. >gutes Leben< und >glückliches Zusammenleben< führen, fragt nach den Ursachen individueller Unzufriedenheit und sozialer Mißstände."(130) Für Goodman war die Gestalttherapie stets auch ein Mittel der praktischen Sozialpolitik. Er war einer der Pioniere der Bewegung der Bürgerinitiativen. Seine Position des kritischen Pragmatismus zielte stets darauf ab, bei den Menschen politische Bewußtheit zu schaffen, um konkrete politische Veränderungen einleiten zu können. Für Goodman war Gestalttherapie - und hier unterscheidet er sich von Perls - immer nur ein Instrument, über Heilung und Linderung von Störungen hinaus, Bewußtsein zu schaffen, Fähigkeit zu kommunizieren, sich in der Gesellschaft zu orientieren und zu ihrer Humanisierung beizutragen. "Denn die Gesellschaft, in der wir leben, ist unsere, und es liegt an uns, an unserer Bereitschaft, Verantwortung - und damit auch Leiden - zu übernehmen, um sie zu einer menschlichen Gesellschaft zu machen." (Petzold, 1984). 6.51 Goodman - Lapassase Für eine Sozialpädagogik, die die Institution reflektiert, erscheint es sinnvoll, den Ansatz von Paul Goodman durch die Arbeiten von Georges Lapassade zu erweitern, denn erst hierdurch wird deutlich, welches Ziel die Introjektionsgewalt der bürokratischen Pädagogik verfolgt. Nach Lapassade ist das eigentliche Stofflernen nur als ein Nebenprodukt zu verstehen, das dadurch zustande kommt, daß das bürokratische Schulsystem Brüche aufweist und daß es immer wieder einige Lehrer gibt, die um menschlichen Kontakt bemüht sind. Als tatsächliches Ziel der Schule sieht Lapassade die Anpassung des Zöglings an ein bürokratisches System, also die Introjektion von Prinzipien der verwalteten Welt mit dem Ziel, die Herrschaft der Bürokratie zu stützen. "Hätten die Menschen nicht während ihrer ganzen Kindheit die pädagogische Herrschaftsform an sich selbst erfahren, so würden sie die bürokratische Herrschaft niemals hinnehmen, sie erschiene ihnen als die schlimmste aller Entfremdungen. Das Gemeinsame an der pädagogischen und der bürokratischen Herrschaftsform liegt darin, daß beide vorgeben, das Beste zu wollen für das geführte oder verwaltete Subjekt, wenn es nötig ist, (130) Blankerts, Stefan, Paul Goodmans Ethik und ihre Bedeutung für die Gestalttherapie in: Int. Therapie 2-3/1988 - S. 173 114 gegen dieses selbst; die Menschen werden so umfassend wie möglich verwaltet und dem gemeinsamen Zweck geopfert."(131) Diese Entfremdungsprozesse bezeichnen wir in der Gestalttherapie als Introjektionen, die als Fremdkörper im Menschen wirken, ihn angepaßt und gefügig machen und Spontaneität, Kreativität und Wachheit verhindern. Eine assimilierte Über-Ich-Struktur hingegen hat die Funktion innerer Institutionen, die dem Menschen ein Höchstmaß an flexibler Anpassungsleistung unter Wahrung seiner eigenen Identität ermöglicht. Der Mensch hat dadurch die Möglichkeit, stets seine innere und seine äußere Realität mit Bewußtheit (Awareness) wahrzunehmen und so die Unterschiede zwischen beiden zu erkennen. Goodmann sieht, daß das Ziel vernünftigen menschlichen Handelns nicht nur in der individuellen Befriedigung liegen kann, sondern darüber hinaus in der Sicherung der allgemeinen Bedingungen, die Befriedigung ermöglichen. Das Scheitern ist darauf zurückzuführen, daß die Menschen zwar vorgeben mit diesen Zielen beschäftigt zu sein, daß sie sich jedoch Bedingungen schaffen, unter denen Befriedigung nicht möglich ist. Diese Bedingungen bezeichnet Goodman mit dem Begriff "self-conquest" oder Selbstvergewaltigung. Blankerts übersetzt diesen Terminus mit "Selbstkolonialisation". Bei Mentzos ist dieser Aspekt als "neurotische Mechanismen"(132) beschrieben. Der Bürokratiebegriff bei Lapassade enthält ebenfalls diese Dimension, wie wir gleich sehen werden: "Die Menschen der Selbstkolonialisierung formen eine Gesellschaft, in der sie sich gegenseitig die Möglichkeitsbedingungen des Glücks verstellen. Das drückt sich in der politischen Verfassung des Gemeinwesens, in den Institutionen aus. Die Analyse der institutionellen Verhärtung von Selbstkolonialisierung bildet das Zentrum von Goodmans Schriften."(133) Neurotische Mechanismen und Bürokratismus sind somit Formen der "Selbstkolonialisierung". (131) (132) (133) Lapassade, a.a.O. - S. 184 Mentzos, Stavros - a.a.O. Besems, This, Philosophisch-anthropologische Bemerkungen zur integrativen Therapie/Gestalttherapie in: Int. Therapie 3-4/1977 - S. 181 Fehler! Textmarke 115 nicht definiert. 6.6 Zusammenfassende theoretische Darstellung der Gestalttherapie Die Gestalttherapie betrachtet den Menschen als eine Leib-Geist-SeeleEinheit in einem sozio-ökologischen Feld. Sie versucht eine Integration dieser verschiedenen Bereiche herzustellen und eventuell abgespaltene Teile zu Ganzheiten zusammenzufassen. Der Begriff von der >Gestalt< meint in diesem Sinne, daß der Mensch als Geist-Leib-Seele-Einheit gesehen wird, dessen Elemente in ständiger Wechselwirkung miteinander stehen, in Abhängigkeit und Interaktion mit dem jeweiligen sozio-ökologischen Feld. "Vom Gedanken über den totalen Menschen und über die Einheit von Selbst und Körper ist es nur ein kleiner Sprung zur Gestalt (...) als ein Subjekt, das wir nicht kennenlernen können. indem wir nur eine Anzahl loser Elemente aneinanderreihen. Die volle Einheit des Seins können wir nicht mit einer Summierung, die aufgeteilt oder analysiert werden muß, vergleichen. Wollen wir trotzdem Teile des Menschen betrachten, müssen wir uns vor Augen halten, daß jeder Teil allein für sich nur in der Funktion des Ganzen zu verstehen ist. Das Ganze steht immer vor dem Teil."(134) Für die Sozialarbeit ist es von zentraler Bedeutung, daß eine Gestalt sich immer als umgrenzte, einheitliche Figur von einem Hintergrund abhebt. Damit wird die Person-Umwelt-Relation deutlich. "Das Wort Gestalt bezieht sich auf die Form, die Figur oder das Ganze, auf die strukturelle Ganzheit. Die Natur ist wohlgeordnet; sie besteht aus sinnvollen Ganzheiten. Hierbei taucht die Figur auf und geht mit dem Grund eine Verbindung ein, und diese Beziehung zwischen Figur und Grund ist die Bedeutung. Im Sinne der Gestalttherapie ist eine gute Gestalt deutlich erkennbar, und das Figur-Grund-Verhältnis richtet sich nach und speist sich aus den Quellen, der sich jeweils verändernden momentanen Bedürfnisstruktur des Einzelnen. Eine gute Gestalt ist weder zu starr, oder zu rigide, noch zu wandelbar oder zu veränderlich.(135) Daraus wird deutlich, daß der Organismus, der in "gutem Kontakt" mit seinem Umfeld steht, seine Anpassungsvorgänge selbst reguliert und eine Balance herzustellen trachtet. Die Gestalttherapie bezeichnet diesen Vor(134) (135) Yontef, Gary M., Gestalttherapie, 1977, S. 41 Petzold, Hilarion, Integrative Gereagogik in: Petzold/Brown, Gestaltpädagogik, München, 1977 - S. 219 116 gang als organismische Selbstregulierung, die von Hilarion Petzold folgendermaßen beschreiben wird: "Die Gestalttherapie geht davon aus, daß der menschliche Organismus die Fähigkeit besitzt, sich in seinem Umfeld nicht störend oder zerstörend in den Regulationsvorgang eingreift. Das bestimmende Prinzip in der organismischen Selbstregulation ist das der homöostatischen Balance. Diese ist umfeldabhängig und im Verlauf des Lebens altersbedingten Veränderungen unterworfen."(136) Die Sozialarbeit machte in der Vergangenheit in besonders auffälligem Maße immer wieder die Erfahrung, daß der organismischen Selbstregulation ihres Klientels sehr deutliche Grenzen gesetzt sind, da das Klientel der Sozialarbeit zum größten Teil aus einem sozialen Umfeld stammt, welches störend oder zerstörend auf die Selbstregulation des Organismus einwirkt. Die Konsequenz daraus ist, daß Sozialarbeit, die sich dem Gestaltansatz verpflichtet fühlt, stets auch das störende Feld zum Gegenstand ihrer Behandlung machen muß. 6.61 Quellen und Konzepte der Gestalttherapie Als Quellen der Gestalttherapie sind eine Vielzahl psychologischer, philosophischer und wissenschaftstheoretischer Schulen zu verstehen, die zu einem Gesamtkonzept integrierbar sind. Aus den daraus abgeleiteten Konzepten lassen sich dann die konkreten Handlungsmethoden ableiten. 6.611 Psychoanalyse Fritz Perls entwickelte die Gestalttherapie aus der Psychoanalyse heraus zunächst als eine Antithese zur Psychoanalyse, indem er dem klassischen Libidoprinzip ein Ich-psychologisches Konzept entgegensetzte. "In der Psychoanalyse wird die Bedeutung des Unbewußten und des Geschlechtstriebes, der Vergangenheit und der Kausalität, der Übertragung und der Verdrängung betont, aber die Funktion des Ichs und der Hungertriebe, der Gegenwart und der Zielgerichtetheit, der Konzentration, der spontanen Reaktion und der Rückwendung werden entweder unterschätzt oder vernachlässigt."(137) (136) (137) Perls, 1946 - a.a.O., S. 14 Petzold, 1984 - a.a.O. Fehler! Textmarke 117 nicht definiert. Nachdem die Psychoanalyse in der Gestalttherapie der frühen siebziger Jahre teilweise in ideologischer Weise abgelehnt wurde, hat die Entwicklung im klinischen Bereich dazu geführt, daß insbesondere in Europa die Psychoanalyse als zentrale Quelle der Gestalttherapie gewürdigt wird. Dies trifft besonders für die Ich-Psychologie und die Psychologie des Selbst (Narzißmustheorie) zu. Wie oben bereits beschrieben, ist in Petzolds "Vorüberlegungen und Konzepten zu einer integrativen Persönlichkeitstheorie" auch wieder der Begriff des Über-Ich an zentraler Stelle zu finden.(138) Man kann heute vielleicht sagen, daß die Gestalttherapie die am naturwissenschaftlichen Denken des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts orientierte Psychoanalyse durch ein phänomenologisch-systemisch-ganzheitliches Paradigma erweitert, ohne auf die fundamentalen Erkenntnisse der klassischen Analyse zu verzichten. So gesehen steht sie ganz in der Tradition einer psychoanalytischen Bewegung, die sich im Zuge sich permanent vollziehender, gesellschaftlicher Wandlungen ihrerseits weiterentwickelt. Petzold hat die Unterschiede von Gestalttherapie und Psychoanalyse bereits 1973 wie folgt beschrieben: "Die phänomenologische Betrachtungsweise im Unterschied zur kausalen; die Gegenwartszentriertheit im Unterschied zur analytischen Ausrichtung auf die Vergangenheit; das Prinzip der Gestaltdynamik (d. i. das Entstehen, Schließen und Integrieren psychischer Gestalten) im Unterschied zum Libidoprinzip; die Assimilation von Emotionen im Unterschied zur Entladung von Emotionen; die Selbstinterpretation im Unterschied zur Fremdinterpretation."(139) Der für die Sozialarbeit vielleicht entscheidende psychoanalytische Einfluß auf die Gestalttherapie dürfte von der Psychoanalytikerin Karen Horney ausgegangen sein, bei der Perls in den zwanziger Jahren in Lehranalyse war. Leider wurde der kulturkritische Ansatz von Karen Horney sowohl in der Sozialarbeit als auch in den gestalttherapeutischen Publikationen bis heute nicht ausreichend gewürdigt.(140) (138) (139) (140) Petzold, Hilarion, Gestalttherapie und Psychodrama, Kassel, 1973 - S. 10 Horney, Karen, Der neurotische Mensch unserer Zeit, München, 1973 Straub, Helga, Psychodrama in: Fachlexikon der soz. Arbeit, a.a.O., S. 668 118 6.612 Psychodrama Eine Vielzahl von Behandlungstechniken der Gestalttherapie ist dem Psychodrama entlehnt. Hierzu gehören solch klassische Techniken wie die Arbeit mit dem leeren Stuhl, das Rollenspiel und der Rollentausch, um nur einige zu nennen. Das Psychodrama beruht auf der anthropologischen Vorstellung von Moreno. "Nach dieser ist der Mensch von Natur aus zum Handeln bestimmt und kreativ; seine Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten sind jedoch häufig infolge sozialer und ökonomischer Mißstände verkümmert und müssen wieder entfaltet werden."(141) 6.613 Östliche Philosophien Die Vorstellungen von wacher Bewußtheit (Awareness) im Hier und Jetzt stehen in engem Zusammenhang mit Bewußtseinsvorstellungen von ZenBuddhismus und Yoga. Perls selbst hat einige Zeit in japanischen ZenKlöstern verbracht. "Die wache Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt (...) und ihre Bedeutung für das therapeutische Geschehen wurde für Perls durch die Begegnung mit dem Zen-Buddhismus noch intensiviert."(142) 6.614 Phänomenologie Die Phänomenologie als philosophische und wissenschaftstheoretische Quelle der Gestalttherapie ist von so entscheidender Bedeutung, daß die Gedanken hierzu in einem eigenen, ausführlicherem Kapitel abgehandelt werden. (Kap. 6.8) 6.615 Gestalttheorie Der Begriff "Gestalttherapie" wurde von Perls von der in den zwanziger Jahren entwickelten Gestalttheorie entlehnt. Sein erstes Buch "Ich Hunger und Aggression" widmete Perls einem führenden Kopf der Gestaltpsychologen, Max Wertheimer. Es gibt dennoch eine große Kluft zwischen den erkenntniswissenschaftlich orientierten Theoretikern und den handlungswissenschaftlich ausgerichteten Therapeuten. Hans-Jürgen und Irene Walter zitieren in ihrem Aufsatz "Klinische Psychologie muß Gestalt annehmen" die Schülerin von Kurt Lewin, die Gestalttheroretikerin Maria Ovsianka mit folgenden Worten: "Während ich selbst manche Möglichkeiten sehe, durch Ausnut(141) (142) Petzold, Hilarion, zit. in: Rahm, Dorothea, Gestaltberatung, Paderborn, 1979 Walter, Hans-Jürgen und Irene, Klin. Psychologie muß Gestalt annehmen in: Psychologie heute, 6/1979 - S. 47 Fehler! Textmarke 119 nicht definiert. zung des Gestaltkonzeptes den Spielraum menschlichen Verbesserungsbemühens zu erweitern, bin ich gleichzeitig besorgt über die weitgehende und etwas naive Erklärungen von Leute wie Fritz Perls."(143) Die grundlegende Erkenntnis der Gestalttheorie besagt, daß wir aus der Umgebung aufgenommene Reize immer zu in sich geschlossenen Ganzheiten zusammenfügen. Die Gestalttheoretiker haben etwa 100 Gesetze entdeckt, nach denen menschliche Wahrnehmung erfolgt. Diese Gesetze werden auch "Gestaltfaktoren" genannt. Sie sind bei der Erforschung der optischen Wahrnehmung entdeckt worden. Dabei fällt besonders die "Tendenz zur Bildung guter Gestalten" auf. Diese Tendenz kann man an zwei Phänomenen besonders gut beobachten. Erstens neigen die Menschen dazu, all diejenigen Dinge ihres Erlebens zu einer Gestalt zusammenzuschließen, die in einem Zusammenhang zueinander stehen und dadurch eine bestimmte Ordnung ergeben, die sich von anderen Ordnungen abgrenzt. Zweitens neigen wir Menschen dazu, gestörte oder unvollständige Gestalten zu vervollkommnen. Der Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger sagt dazu: "Der Drang, Gestörtes in Ordnung zu bringen und bei Unentwickeltem Geburtshelfer zu sein, gehört zweifellos zu den tiefsten Triebanlagen im Menschen."(144) Die Art und Weise wie diese menschliche Neigung wirkt, wird durch die Gestaltgesetze aufgezeigt. Das Gesetz der Nähe und das Gesetz der Gleichartigkeit besagen beispielsweise, daß diejenigen Elemente zusammengeschlossen werden, die sich sehr nah oder sehr ähnlich sind. In einer Anzahl kreisförmig angeordneter Punkte oder in einer kreisförmig gezogenen Linie, deren Endpunkte sich nicht berühren, erkennen nahezu alle Menschen einen Kreis. Das bedeutet, die unfertige Figur wird zu einer sinnvollen Ganzheit zusammengefügt. Experimentell kann man die Tendenz zur Bildung guter Gestalten auch dadurch demonstrieren, daß man eine Versuchsperson bei der Ausübung von geschlossenen Handlungsabläufen unterbricht. Die Versuchsperson zeigt danach eine außerordentlich starke Tendenz, die unterbrochene Handlung wieder aufzunehmen und abzuschließen, auch wenn der Versuchsleiter dies ausdrücklich verbietet. Die Gestalttheorie gehört zu einer (143) Metzger, W. - zit. in: Walter, 1979, a.a.O. - S. 46 Metzger, W., Was ist Gestalttheorie? in: Guss, Gestalttheorie und Erziehung, Darmstadt, 1975 - S. 1 (145) Stevens, J., Die Kunst der Wahrnehmung, München, 1975 (144) 120 Gruppe von wissenschaftlichen Ansätzen, die in anderen Wissenschaften andere Bezeichnungen haben. In der Physik ist die Feldtheorie und in der Biologie die Systemtheorie bekannt. Die Unterschiede liegen hauptsächlich im Gegenstand der Erforschung. In der Physik ist es die unbelebte Natur, in der Biologie die lebendige Natur und in der Psychologie das menschliche Erleben und Verhalten. "Die theoretische Frage ist überall dieselbe. Es ist durchweg die Frage nach der Ordnung, - die Frage nach der Art und Weise, wie etwa die Ordnung des Aufbaues (der Struktur) verhältnismäßig beständiger Gebilde, die Ordnung von Geschehensabläufen und besonders auch die Ordnung des Zusammenspiels der zahlreichen Funktionen innerhalb eines komplexen beständigen Gebildes - z.B. eines Organismus - zustande kommt, erhalten bleibt und bei Störungen wiederhergestellt wird."(145) Die Gestaltgesetze der Gestaltpsychologie sind für die Gestaltarbeit von besonderer Bedeutung. Zusammenfassend handelt es sich um folgende Prinzipien. (146) Rahm, Dorothea - a.a.O. - S. 165 Fehler! Textmarke 121 nicht definiert. a) Das Prinzip der Ganzheitlichkeit Dieses Prinzip besagt, daß das Ganze mehr und etwas anderes ist, als die Summe seiner Teile. Dem folgend sieht die Gestalttherapie den Menschen als Geist-Leib-Seele-Einheit, die nicht in Einzelbereiche zergliedert und bearbeitet werden kann. Ebenfalls wird der Mensch in seinem Umfeld als Einheit betrachtet, so daß der Mensch nicht aus seinem Umfeld gelöst verstanden werden kann. b) Das Figur-Hintergrund-Prinzip Gestalten heben sich als abgesonderte, umgrenzte, gegliederte, möglichst einheitliche und geschlossene Bereiche (Figuren) jeweils von einem unstrukturierten Grund ab, wobei ein Umkippen oder Verschieben von Figur und Grund stattfinden kann. Für die Gestaltarbeit bedeutet dies, daß stets mit dem im Vordergrund Stehenden (Figur) gearbeitet wird, wobei allerdings Figur und Grund kippen können und Figur zum Grund wird und umgekehrt. c) Die Tendenz zur Bildung guter Gestalten Wie oben erwähnt, wohnt dem Menschen die Tendenz zur Bildung "guter Gestalten" inne. Diese Tendenz wird von der Umwelt beeinträchtigt, gestört oder verhindert. In der Gestalttherapie schließlich soll es dem Klienten ermöglicht werden, solch unabgeschlossene Gestalten nachträglich zu schließen. Die Tendenz zur Schließung offener Gestalten können wir auch als eine Tendenz dazu verstehen, unerledigte oder unklare Situationen zu erledigen oder zu klären. Unter die Tendenz zur Bildung guter Gestalten fallen neben der Tendenz zur erwähnten Schließung von offenen Gestalten noch weitere Prinzipien: Das Prägnanzprinzip bewirkt, daß unklare Gestalten deutlich werden. Das Konstanzprinzip besagt, daß gute Gestalten auch unter veränderten Bedingungen als solche wahrgenommen werden. Das Kontinuitätsprinzip beschreibt, wie gute Gestalten dazu tendieren, sich dauerhaft fortzusetzen. Das Homöostaseprinzip führt dazu, daß Zustände des Ungleichgewichts dazu tendieren, sich wieder in ein Gleichgewicht zu regulieren. 122 6.62 Konzepte Aus den oben beschriebenen Quellen leiten sich die Konzepte der Gestalttherapie ab: 6.621 Awareness Ein zentrales Konzept der Gestalttherapie ist mit dem Awareness-Begriff verbunden. In der deutschen Sprache übersetzt man diesen Begriff am günstigsten mit "wacher aufmerksamer Bewußtheit". "Es handelt sich um einen Zustand aufmerksamer Wachheit gegenüber den Dingen, die im jeweiligen Augenblick hier und jetzt in mir, mit mir und um mich herum vorgehen. Gegenüber dieser gespannten Wachheit ist das Wachsein, in dem wir gewöhnlich leben, getrübt, gedämpft und in seiner Wahrnehmungskapazität eingeschränkt."(146) Awareness umfaßt drei Ebenen: Interne Awareness (Selbstbewußtsein bzw. Selbstwahrnehmung) Externe Awareness (Wahrnehmung des Anderen und der Umwelt) Meditative Awareness (Wahrnehmung eigener Phantasietätigkeit und Vorstellung) Ziel der Gestaltarbeit ist es, dem Klienten zu ermöglichen, seine Awareness zu steigern, um sich selbst, die Welt in der er lebt und das Zusammenspiel zwischen Selbst und Welt, bewußter wahrnehmen zu können. Bewußte Wahrnehmung ist nur in der unmittelbaren Gegenwart, im Jetzt möglich. Durch Interventionen wie: "Wie erleben Sie das jetzt?" oder: "Was fühlen Sie gerade?", wird der Klient aufgefordert, sich im Hier und Jetzt bewußt wahrzunehmen. In diese bewußte Wahrnehmung wird auch der gesamte Körper des Klienten miteinbezogen. "Die Gestalttherapie geht davon aus, daß allein die Intensivierung von Awareness schon therapeutische Wirkung haben kann."(147) (147) (148) Perls, Fritz, 1976 - a.a.O. - S. 49 Perls, 1976 - a.a.O. - S. 53 Fehler! Textmarke 123 nicht definiert. 6.622 Hier und Jetzt In enger Verbindung mit dem Awareness-Konzept steht das Hier-und-JetztKonzept. Nur die Wahrnehmung des Gegenwärtigen führt zu einer Erhöhung der Bewußtheit. Indem der Klient dazu veranlaßt wird, im Jetzt zu bleiben, kann der Kontakt mit den Empfindungen gelingen. Das Verlassen der Hier-und-Jetzt-Situation führt beim Klienten zu kognitiven Vorgängen, wie zum Beispiel dem Durchdenken von Vergangenem oder dem Planen von Zukünftigen. Diese Vorgänge haben zwar auch ihren Platz, werden aber im Zentrum therapeutischen Geschehens als Vermeidungsmechanismen definiert. Durch die Zentrierung auf das Hier-undJetzt können Vergangenes und Zukünftiges gefühlt, d.h. erlebt werden. Und nur das Durchleben vergangener Konfliktsituationen hat heilende Wirkung, nicht das darüber Nachdenken. Vergangenheit und Zukunft werden also in der Gestalttherapie trotz der Betonung des Hier-und-Jetzt nicht ausgeschlossen. Situationen aus der Vergangenheit werden im gegenwärtigen Prozeß neu erlebbar gemacht. Das Darüberreden wird in der Gestaltarbeit durch das Erleben mit Empfindungen und Bewußtheit im Hier-und-Jetzt ersetzt. Im Anschluß an einen Prozeß, indem dieses Erleben im Mittelpunkt stand und zu einem Abschluß gebracht wurde, wird auch in der Gestalttherapie das Erlebte kognitiv reflektiert und auch evtl. über Vergangenes nachgedacht. 6.623 Vermeidungsmechanismen Der Zustand wacher Bewußtheit im Hier-und-Jetzt wird durch verschiedene Störfaktoren verhindert. Diese Störfaktoren stammen aus der Vergangenheit des Menschen. Es handelt sich dabei um nicht-abgeschlossene Situationen, also um sog. offene Gestalten, die das Individuum daran hindern, die Gegenwart unvoreingenommen wahrzunehmen. Für Perls ist die unerledigte Situation der Ursprung der Neurose. Unerledigte Situationen ereignen sich und entstehen an der Kontaktgrenze zwischen Mensch und Umwelt. An der Kontaktgrenze geschieht die Balance zwischen den persönlichen Bedürfnissen des Menschen und den Anforderungen der Gesellschaft. Wenn der Mensch nicht dazu in der Lage ist, die Balance zwischen seinen Bedürfnissen und den Anforderungen aus der Umwelt herzustellen, entstehen neurotische Störungen. "Traumatische Neurosen sind im wesentlichen Verteidigungsstrukturen, entstanden aus dem Versuch des 124 Individuums, sich vor einem überaus schrecklichen Überfall der Gesellschaft oder einem Zusammenprall mit der Umwelt zu schützen."(148) Aus diesem Konflikt entstehen Mechanismen, die dem Individuum zukünftig dazu verhelfen sollen, ähnlich dramatische Erfahrungen nicht mehr machen zu müssen. Diese Vermeidungsmechanismen führen nun dazu, daß die Realität so gesehen wird, wie sie für das Individuum keine vermeintliche Gefahr mehr darstellt. Es handelt sich also um eine neurotische verzerrte Sicht der Wirklichkeit. Für diese neurotischen Mechanismen hat die Gestalttherapie eine gebündelte Typologie entwickelt. Sie heißen: Introjektion; Projektion; Retroflektion; Konfluenz. Diese Vermeidungsmechanismen verhindern, daß der Mensch der Welt offen und wach gegenübersteht. Es tritt also gewissermaßen eine Trübung der Bewußtheit (Awareness) ein. Wegen dieser Trübung der Awareness durch die Vermeidungsmechanismen, wird im individuellen Entwicklungsprozeß die Bildung "guter Gestalten" andauernd gestört. Um das Wachstum und die Tendenz zur Bildung guter Gestalten für den Klienten zu ermöglichen, versucht die Gestalttherapie diese Vermeidungsmechanismen, soweit das für den Klienten möglich ist, aufzudecken und zu beseitigen. Im Folgenden werden diese Vermeidungsmechanismen in knapper Form vorgestellt. Das für die Sozialarbeit so zentrale Introjektionskonzept wurde oben bereits ausführlich behandelt. Introjektion: Hierbei werden externe Vorstellungen, Wünsche und Werte unreflektiert und unkritisch aufgenommen. Das externe Material ist ein Fremdkörper im Organismus, da es nicht assimiliert, also nicht zu eigen gemacht ist. "Introjektion ist also der neurotische Mechanismus, mit dem wir in uns Regeln, Einstellungen, Handlungs- und Denkweisen ansiedeln, die nicht unsere eigenen sind."(149) Projektion: "Der Projektor lehnt bestimmte Aspekte seiner selbst ab und schreibt sie der Umwelt zu."(150) (149) Polster, Ering und Miriam, Gestalttherapie, München, 1975 - S. 77 (150) Polster, a.a.O. S. 98 (151) Bünting, Wolf E., Die Gestalttherapie des Fritz Perls in: Eicke, Dieter, Psychologie des 20. Jahrhunderts (Bd. III/2), Zürich, 1977 - S. 1056 (152) Petzold, 1974, zit. in: Petzold/Sieper, Quellen Fehler! Textmarke 125 nicht definiert. Es handelt sich dabei quasi um die Umkehrung der Introjektion. Während der introjezierende Mensch dazu neigt, sich für Dinge verantwortlich zu fühlen, die eigentlich Sache der Umwelt sind, ist die Projektion hingegen eine Tendenz, die Umwelt für das verantwortlich zu machen, was im Selbst begründet liegt. Sichtbar wird der Projektionsmechanismus häufig auf sprachlicher Ebene. Hier schlägt er sich in einem häufig depersonalisierten Sprachstil nieder, wie z.B. dem häufigen Gebrauch von "man" u.ä. Gewöhnlicherweise handelt es sich bei Projektionen um Introjekte, die zur Projektion führen. Typische Beispiele dafür sind die sexuell gehemmte Frau, die sich darüber beklagt, daß alle Männer sich ihr unsittlich nähern, und der hochmütige und kalte Mann, der die Unfreundlichkeit der anderen beklagt. Besonders häufig werden persönliche Eigenschaften, die der Einzelne an sich selbst ablehnt, in anderen Menschen gesehen und dort bekämpft. Retroflektion: Der retroflektierende Mensch tut sich selbst das an, was er am liebsten den anderen antäte. Für ihn ist das einzig ungefährliche Objekt im Felde er selbst. Er lenkt seine Impulse nach innen und macht sich selbst, anstelle der Umwelt, zum Ziel seines Verhaltens. Seine Persönlichkeit ist in einen Handelnden und einen Behandelnden gespalten. Wünsche, die an andere gerichtet werden, ohne daß sie erfüllt werden, erfüllt sich der retroflektierende Mensch selbst. Dadurch, daß er systematisch den eigenen Körper quält, ruft er psychosomatische Beschwerden hervor. Über diesen Weg gelingt es dem Retroflektierenden dann doch noch auf seine Umwelt einzuwirken. Denn auf indirektem Wege erreicht er durch den Eindruck, den seine Befindlichkeit auf seine Mitmenschen macht, daß die unmittelbare Umwelt sich ihm zuwendet. Ein gutes Beispiel dafür gibt uns das Bild der Mutter, die jedesmal, wenn ihr Kind etwas getan hat, was nicht in ihrem Sinne liegt, Herzschmerzen, Gallenkoliken usw. bekommt. Durch das Schuldgefühl, welches sie im Kinde auslöst, erfährt sie auf diesem Wege wieder dessen Zuneigung und Reue. 126 Konfluenz: Konfluenz ist der Wunsch und das Bemühen nach weitgehender Übereinstimmung mit der Umwelt, der konfluente Mensch ist bestrebt, Unterschiede zu vermindern und sich zu arrangieren. Da die Konfluenz auf der Unterdrückung von eigenen Persönlichkeitsanteilen beruht, ist sie eine sehr schwache Basis für zwischenmenschliche Beziehungen. Beziehungen können daher nur zwischen Partnern entstehen, die sich darauf geeinigt haben, nicht miteinander zu streiten. In der Regel paßt sich der konfluente Partner stets den Wünschen und Forderungen des anderen Partners an. In ähnlicher Weise ist der konfluente Mensch stets darauf bedacht, eine einseitige Übereinkunft mit der Gesellschaft zu treffen; "er wird sich gut benehmen, sich anpassen, all die Dinge tun, von denen er annimmt, daß die Gesellschaft sie erfordert. Er wird nicht einmal Gedanken aufgreifen oder Ziele verfolgen, die die Gesellschaft nicht billigt oder fördert."(151) Deflektion (Polster/Polster): Polster/Polster erweitern die vier von Perls beschriebenen Vermeidungsmechanismen durch einen fünften; die Deflektion. Deflektierende Menschen entziehen sich dem direkten Kontakt mit ihren Mitmenschen. Dies ist gekennzeichnet durch Verhaltensweisen wie Weitschweifigkeit, übertriebene Ausdrucksweise, scherzhaften Ton ohne Blickkontakt, nicht zur Sache kommend, schlechte und nichtssagende Beispiele anführend, höflich statt direkt, stereotype Sprache, ständig über zurückliegende Ereignisse lamentieren usw. Alle diese Deflektionsmechanismen führen zur Verwässerung gegenwärtiger Interaktion. Dadurch, daß es nicht zu effektiven Interaktionsprozessen kommt, verfehlen die Handlungen ihr Ziel. "Die Reaktion des Ehemannes: >Ach Liebling, nun laß uns doch einmal vernünftig reden< auf den Wutausbruch der Ehefrau ist eine typische Deflektion."(152) Kreativer Widerstand Die oben beschriebenen Mechanismen sind nicht in jedem Falle "neurotisch". Im Gegenteil, sie können auch kreative und wachstumsfördernde Aspekte enthalten, und sie gehören in jedem Falle zum Verhaltensrepertoire im Umgang mit gesellschaftlichen Strukturen. (153) (154) Perls, 1976, a.a.O. - S. 34 Portels, Gerhard, Zur Prophylaxe von Neurosen - eine gestalttherapeutische Perspektive in: Integr. Therapie - 2-3/1983 - S. 183 Fehler! Textmarke 127 nicht definiert. Neurotisch sind diese Mechanismen nur dann, wenn sie unbewußt die Kontaktgrenze zur Umwelt verleugnen, überspielen oder entschärfen und dadurch die Entfaltung der Person im Kontakt mit der Umwelt behindern, weil Objekte aus der Umwelt nicht wahrgenommen, aufgenommen oder assimiliert werden. Kreative Introjektion ist beispielsweise das bewußte Auswendiglernen von Daten und Fakten. Kreative Projektion verhilft uns dazu, uns in andere hineinzuversetzen (Rollenspiel, Schauspieler, Schriftsteller, Therapeuten). Kreative Retroflektion kann Selbstbefriedigung und Selbstkontrolle bedeuten. Kreative Konfluenz ermöglicht die volle Hingabe im Orgasmus oder die Harmonie im Orchester. Kreative Deflektion ermöglicht uns durch "Small Talk" die Umwelt auf Distanz zu halten. 6.63 Die Kontaktgrenze Eine zentrale Grundannahme in der Theorie von Fritz Perls bezieht sich auf eine These von Kurt Lewin, die besagt, daß jedes Handeln eine Funktion des totalen Feldes ist, also von Organismus und Umwelt. Die Bedeutung der Gestalttherapie für die Sozialarbeit geht aus dieser Grundannahme hervor: "Kein Individuum ist sich selbst genug; das Individuum ist unvermeidlich in jedem Augenblick Teil eines Feldes. Sein Verhalten ist eine Funktion des ganzen Feldes, das ihn und seine Umwelt einschließt."(153) Da insbesondere Paul Goodman, aber auch Perls, immer wieder darauf hingewiesen haben, daß das Leiden der Menschen seinen vielfachen Ursprung in gestörten und krankmachenden Umweltbedingungen hat, stellt sich für eine sozialtherapeutisch ausgerichtete Gestaltarbeit stets die Frage, wie kann sich der Organismus vor schädlichen Einwirkungen des Feldes schützen, und wie kann das Feld dergestalt beeinflußt werden, daß es anstatt schädigend zu wirken, förderlich auf das Individuum einwirkt. Zwischen Feld und Organismus besteht eine Kontaktgrenze. Kontakt muß dabei als Wahrnehmung und Verarbeitung des anderen verstanden werden. (155) Perls, 1976, a.a.O. - S. 34 (156) Portels, Gerhard, Zur Prophylaxe von Neurosen - eine gestalttherapeutische Perspektive in: Integr. Therapie - 2-3/1983 - S. 183 (157) Merleau-Ponty, zit. in: Petzold/Siepel, a.a.O. - S. 30 128 Kontakt ist kein Zustand sondern ein Tätigkeit. Das Individuum macht Kontakt, nimmt Kontakt auf, oder das Andere, das Fremde und Verschiedene nimmt Kontakt zum Individuum auf. Dabei ist die Kontaktgrenze keine starre Grenzlinie, sondern sie kann flexibel sein, also beispielsweise im Körperinneren liegen oder hinter tatsächlichen Grenzen, Gartenzäunen, Mauern usw. Die Fähigkeit, diese Flexibilität zu handhaben und über Nähe und Distanz jeweils zu entscheiden, ist eine Funktion des Ichs. Die Kontaktgrenze ist gleichzeitig der Ort der Berührung und der Trennung. Für Fritz Perls gilt auch für die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt das Modell von Hunger und Nahrungsaufnahme. Zum einen kann das Fremde und Andere aus der Umwelt wie Nahrung aufgenommen werden. Es wird gekaut, geschluckt, verdaut und dient zum Aufbau und Wachstum des Organismus. Bei anderen Gelegenheiten wird das Neue vermieden und es kommt zum Rückzug. Da es soziale Welten gibt - oder auch Institutionen - die entweder "nahrhaft" oder "vergiftend" für den Organismus sein können, wird es für das Individuum bedeutsam, mit welchen sozialen Welten es in Kontakt steht. Diese sozialen Welten (Felder) sind jedoch für das Individuum nicht beliebig verfügbar und so sind unterschiedliche Menschen auch mit mehr oder weniger schädigenden Feldern in Kontakt (Ein Asylbewerber kann beispielsweise nur unter sehr erschwerten Bedingungen förderlichen Kontakt aufnehmen.). Die gestalttherapeutische Neurosentheorie versteht Neurosen als Probleme an der Grenze zwischen Ich und Umwelt, also an der Kontaktgrenze. Die Umwelt besteht beispielsweise aus anderen Individuen, den Institutionen, aus der Gesellschaft und der Welt. Neurosen sind Probleme im Kontakt damit. Es handelt sich also um Kontaktprobleme im weitesten Sinne, wobei Kontakt kein Zustand ist, sondern eine Tätigkeit. Bei Menschen mit neurotischen Störungen ist die Fähigkeit, Kontakt mit oder Rückzug von der Umwelt vorzunehmen, gestört. Demzufolge handelt es sich bei Neurosen um Störungen der Balance im Organismus/UmweltFeld. Da die Gestalttherapie in der Vergangenheit nahezu ausschließlich als "humanistische Psychologie" verstanden wurde, sind diese Konflikte naturgemäß psychologisch angegangen worden, d.h. man hat das Problem beim Individuum gesehen und am Ich angesetzt. Gestalttherapie sah aber schon immer die drei Möglichkeiten der Veränderung: 1. Veränderungen beim Individuum, 2. Veränderung bei der Umwelt, und 3. Veränderung im Individuum/Umwelt-Feld. Viele gestalttherapeutische Schulen haben in der Vergangenheit nur beim Ich angesetzt. Fehler! Textmarke 129 nicht definiert. "Dies ist eins der folgenreichsten Mißverständnisse, das der humanistischen Psychologie und der Gestalttherapie zum Teil zu Recht den Vorwurf eingehandelt hat, zu >überpsychologisieren und zu untersoziologisieren<, daß die Anhänger - genauer die falschen Anhänger - nur noch in sich hineinhorchen und dabei den Kontakt mit der Umwelt verlieren, also selbstgenügsam werden. Dies ist eine andere Ausprägung von Neurose im Sinne von Perls."(154) Für die Sozialarbeit eröffnet sich hier die Möglichkeit, den alten Konflikt, Probleme zwar gesellschaftlich zu begreifen, den Einzelnen aber in seiner individuellen Not zu erleben, zu überwinden. Indem Konflikte an der Kontaktgrenze zwischen Individuum und Institution behandelt werden, kann die Veränderung sowohl auf das Individuum, als auch auf das institutionelle Gesamtgefüge einwirken. Also auf das individuelle Über-Ich und die institutionelle Organisation. 6.7 Anthropologische Konzepte gestaltpädagogischen Handelns Das (päd)agogische Handeln der Gestalttherapie entspringt der folgenden anthropologischen Grundformel: "Der Mensch ist ein Leib-Geist-Seele-Subjekt in einem sozialen und ökologischen Umfeld, mit dem er in einem unlösbaren Verbund steht. In Interaktion mit diesem Umfeld gewinnt er seine Identität."(155) Die nachfolgende Darstellung stützt sich im wesentlichen auf die Ausführungen von H. Petzold und J. Sieper. Leib-Subjekt, Umfeld, Identität Der Mensch wird als Ganzheit in seinem Lebensraum betrachtet. Sowohl die Einheit von Leib und Geist, als auch die Einheit von Mensch und Umwelt können nicht getrennt werden. Die Umwelt wirkt gestaltend auf den Menschen, und der Mensch wirkt gestaltend auf die Umwelt. In der Interaktion der Geist-Leib-Seele-Einheit des Menschen mit der Umwelt wächst seine Identität. Die Identität besteht in dem Geist-Leib-Seele-Sein und dem In-der-Welt-Sein. Gestaltpädagogisches Ziel ist die Förderung von personaler und sozialer Bewußtheit (Awareness). (158) (159) Knoll, Andreas, Gruppensupervision - Vom psychoanalytischen Ansatz zum Gestaltansatz - Diplomarbeit, 1979, überarb,. Fassung aus meiner Diplomarbeit Petzold, Hilarion, Gestaltpädagogik - S. 7 in: Petzold/Brown, a.a.O. 130 Integration und Kreation Die Identität wird bestimmt durch Integration und Kreation. Integration bedeutet die bewußte Wahrnehmung (Awareness) der Wirklichkeit. Kreation ist die Schaffung von Wirklichkeit durch bewußtes Handeln. Integration bewahrt die Identität, während Kreation Wachstum und Identitätserweiterung bedeutet. Gestaltpädagogisches Ziel ist daher die Förderung von Integrations- und Kreationsfähigkeit. Lernen als Evidenzerfahrung Erfahrung und Lernen geschieht auf körperlicher, emotionaler und rationaler Ebene gleichermaßen. Durch diese ganzheitliche Erfassung werden Lernerfahrungen einsichtiger und nachhaltiger. In Evidenzerfahrungen erlebt sich der Mensch bewußt in sich und der Welt. Ziel dieses ganzheitlichen Lernens ist, daß der Mensch sich und seine Umwelt komplex vernetzt wahrnimmt, was zur Selbst-Verständlichkeit seines Da-Seins und Mit-Seins führt. Agogik aus der Begegnung Die Identität entwickelt sich aus der Begegnung mit dem Anderen und den Dingen der Welt. Die Begegnung zwischen dem Ich und dem Du hat in der Gestaltpädagogik und integrativen Agogik große Bedeutung. Bedeutenden Einfluß auf das Konzept der Begegnung hatten die Philosophen Buber und Merleau-Ponty sowie als Therapeuten Moreno und Perls. Perls versteht unter Begegnung die Fähigkeit des Kontaktes und der Grenzziehung. Begegnung ist auf vier Arten möglich: 1. Begegnung mit mir selbst Durch Selbstwahrnehmung begegne ich mir selbst. Die Begegnung des Menschen mit sich selbst, als "Selbstfindung" verstanden, ist die Voraussetzung, um anderen begegnen zu können. 2. Begegnung mit dem Du, dem anderen Menschen Erst durch die Begegnung mit den Mitmenschen verwirklicht sich das Menschsein. Begegnung ermöglicht Identität. 3. Begegnung mit den Dingen Die Dinge gehören zum Umfeld, das den Menschen umgibt. Die Begegnung mit den Dingen kann zur Identität und Integration in und mit dem Umfeld führen. In der Beziehung zu belebten und unbelebten Dingen erfährt der Mensch seine ökologische Allverbundenheit. 4. Begegnung mit der Transzendenz Fehler! Textmarke 131 nicht definiert. Die drei oben beschriebenen Begegnungsweisen beinhalten stets die Möglichkeit der Transzendierung. Dadurch, daß der Mensch sich in seinem Leib, im Anderen und in den Dingen erlebt, kann er dabei auch eine übergeordnete Zugehörigkeit erleben. "Weil das Sein nicht vor mir ist, sondern mich umgibt und in einem gewissen Sinne mich durchdringt, und meine Sicht nicht von anderswoher geschieht, sondern aus der Mitte des Seins."(156) Ziel der Gestaltpädagogik ist die Förderung Begegnungsfähigkeit des Menschen auf diesen vier Ebenen. Engagement und Integrität Engagement beinhaltet Partizipation, Intersubjektivität, Solidarität, Verantwortung und Korrespondenz. Das bedeutet weiterhin, daß der Mensch sich entschließt, in seiner konkreten Situation zu handeln. Die Entscheidung ist stets wert- und zielorientiert, da sie personen- und situationsbezogen getroffen wird. Das Engagement hat die Integrität (Ganzheit, Unversehrtheit) des Selbst, des Anderen und der Dinge zu wahren. Synopse, Synergie und Korrespondenz Grundlage dieses Konzeptes ist das gestalttheoretische Ganzheits- bzw. Übersummationstheorem. Das Synopseprinzip (Zusammenschau) besagt, daß nicht die einzelnen Teile, sondern die Ganzheit des Menschen, der Dinge und Situationen zu erfassen sind. Das Prinzip des Zusammenwirkens (Synergieprinzip) bezieht sich sowohl auf das personale als auch auf das soziale System. Synopse und Synergie vollziehen sich in der Korrespondenz. Mit Korrespondenz wird die persönliche und direkte Auseinandersetzung in und über konkrete Situationen bezeichnet. Kreative Anpassung und kreative Veränderung Unter kreativer Anpassung wird die Fähigkeit verstanden, sich adäquat den Gegebenheiten anzupassen, ohne die eigene und/oder fremde Integrität zu schädigen. Da Anpassung immer die Gefahr der Stagnation beinhaltet, wie kreativ sie auch sein mag, wird dieses Konzept durch den Gedanken von der kreativen (160) Heidegger, Martin, Sein und Zeit - S. 27, Tübingen, 1976 132 Veränderung erweitert. Kreative Veränderung zielt dabei auf Einzelne, Gruppen und Sozietäten. Agogik im Lebensganzen Bildung wird als lebenslanger Prozeß verstanden. Die Fragmentierung verschiedener Bildungsläufe entsprechend unterschiedlicher Lebensabschnitte widerspricht der Auffassung der integrativen Agogik vom Lebenslauf als Lebensganzem. 6.8 Phänomenologie - wissenschaftstheoretische und philosophische Grundlage der Gestalttherapie(157) "Die Gestalttherapie selbst hat ihre Wurzeln in der Psychoanalyse, der Gestalttheorie und im existentialistisch-phänomenologischen Denken."(158) Der existentialistisch-phänomenologische Ansatz ist auf die praktische Wirklichkeit des menschlichen Miteinander der französischen Schule verpflichtet. Keine vom Alltag abgehobene Philosophie, sondern Konzepte von Intersubjektivität, schöpferischer Freiheit und Menschenwürde sind handlungsleitend. Das Fundament, auf dem die existentialistische Weltanschauung beruht, ist die Phänomenologie, die Husserl um die Jahrhundertwende entwickelte. Die Maxime der Phänomenologie kann als "zu den Sachen selbst"(159) beschrieben werden. Zum besseren Verständnis des Phänomenologiebegriffs erscheint mir die Beschreibung der Methode zunächst als am anschaulichsten. (161) Heidegger, Martin, Sein und Zeit - S. 27, Tübingen, 1976 (162) Husserl, zit. in: Braun/Radermacher, Wissenschaftstheoretisches Lexikon, Graz/Linz/Köln 1978 - S. 410 (163) Merleau-Ponty, zit. in: Klaus/Buhr, Philosophisches Wörterbuch - S. 830, Berlin (DDR), 1972 (164) Merleau-Ponty, Vorlesungen I - S. 192 ff, Berlin, 1972 Fehler! Textmarke 133 nicht definiert. 6.81 Wissenschaftstheoretische Definition des Phänomenologiebegriffs "Zu den Sachen selbst." Der Ausdruck "Sachen" ist im weitesten Sinne zu verstehen, also für Dinge, Werte, Phänomene menschlichen Lebens usw. Die meisten Menschen sind nicht fähig zum phänomenologischen Sehen, da für sie die "Sachen" hinter ihren eigenen Vorurteilen und Selbstverständlichkeiten des Lebens verborgen liegen. Dies trifft nicht nur auf einzelne Menschen zu, sondern auch auf wissenschaftliche Disziplinen. Oft bestimmt in den Wissenschaften ja die Forschungsmethode das Forschungsziel. Das macht blind für die Erforschung andersgearteter "Sachen". Durch die Forderung "zu den Sachen selbst", kann postuliert werden, daß die jeweiligen Voraussetzungen verlassen werden müssen, damit jeweils andersgearteten "Sachen" erforscht werden können. Multidisziplinarität ist ein Versuch, diesem Postulat Rechnung zu tragen. Zur Zeit Husserls war die Psychologie ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie eine Wissenschaft nicht in der Lage war, auf Grund einer naturwissenschaftlichen Sicht der "Sachen", das menschliche Bewußtseinsleben in den Blick zu bekommen. Diese Kritik wird auch heute noch vielfach von ganzheitlich orientierten Disziplinen geübt. Allgemein ausgelegt gehört die Phänomenologie jedem selbstkritischen Denken an. Da die Phänomenologie jedoch eine charakteristische Lehre vom Erkennen vertritt, muß weit über die allgemeine Sicht hinausgegangen werden. Es handelt sich nämlich um eine Lehre vom Erkennen. Erkennen ist dabei ein Schauen im weitesten Sinne. Dabei kann nicht nur sinnlich Wahrnehmbares geschaut werden, sondern auch Sachverhalte, ideal und abstrakte Gebilde, mathematische Größen oder geistige Gegebenheiten, wie Werte u.ä, Der Begriff "Schau" wird auch mit dem Terminus "Intuition" besetzt. Mit dem Begriff "Evidenz" wird eine Berufungsinstanz für die Intuition eingeführt. Der Evidenzbegriff deutet darauf hin, daß es eine Auffassung gibt, der zufolge das menschliche Leben danach strebt, Erfüllung durch Schauen zu erzielen. 134 Aus der Lehre vom Erkennen entstehen zwei Grundbegriffe: 1. Geschaut wird das Gegebene. Dabei taucht die Schwierigkeit auf, daß das subjektive Erkennen auf objektives "Ansichseiendes", also schon auf Transzendenz treffen kann. Dem begegnet die Phänomenologie mit der verblüffenden und in der Gestalttherapie wiederkehrenden Erkenntnis: "Was sich mir in einer Anschauung als gegeben zeigt, das bin ich in den Grenzen, in denen es sich mir darbietet, hinzunehmen berechtigt."(160) 2. Im Schauen wird das Gegebene in seinem Wesen erkannt. Die Anschauung zielt auf das Wesen des Gegebenen. Die Wesensschau ist zugleich häufiger Kernpunkt, wie auch Streitpunkt der Phänomenologie. Die eidetische Variation ist die von Husserl entwickelte Methode der Wesensschau, die den Weg der Gewinnung des Wesens nach einzelnen Schritten von einem Ausgangspunkt aus genau angibt. In der Phänomenologie kommt es also darauf an zu beschreiben, nicht zu erklären oder zu analysieren. In seinen frühen Werken gab Hussel der Phänomenologie die Aufgabe, beschreibende Psychologie zu sein. "Ich bin nicht das Ergebnis oder der Kreuzungspunkt der vielfachen Kausalitäten, die meinen Körper oder mein Psychisches bestimmen, ich kann mich weder als einen Teil der Welt denken, als ein einfaches Objekt der Biologie, der Psychologie und der Soziologie, noch mich ganz im Universum der Wissenschaften erschöpfen. Alles was ich von der Welt weiß, selbst durch die Wissenschaft, weiß ich von meiner Sicht oder meiner Erfahrung der Welt aus, ohne welche die Symbole der Wissenschaft keinen Sinn besäßen ... Die Wissenschaft hat nicht und wird niemals den gleichen Daseinssinn haben, wie die wahrgenommene Welt, aus dem einfachen Grunde, weil sie eine Bestimmung oder Erklärung der Welt ist. ... Zu den Sachen selbst zurückkehren, heißt, zu dieser Welt vor aller Erkenntnis zurückkehren, von der die Erkenntnis immer spricht, und im Verhältnis zu der jede wissenschaftliche Bestimmung abstrakt, zeichenhaft und abhängig ist. Denn: die Welt ist kein Objekt, deren Konstitutionsgesetze ich besitze, sie ist das natürliche Milieu und das Feld meiner Gedanken und all meiner ausdrücklichen Wahrnehmungen. Die Wahrheit wohnt nicht nur in dem inneren Menschen..., oder vielmehr es gibt keinen inneren Menschen, der (165) Thomae/Faeger, Einführung in die Psychologie - Bd. 7, Frankfurt, 1969 - S. 156 Fehler! Textmarke 135 nicht definiert. Mensch ist in der Welt, er kennt sich in der Welt. Wenn ich vom Dogmatismus des gesunden Menschenverstandes oder vom Dogmatismus der Wissenschaft aus zu mir selbst komme, treffe ich nicht auf ein Zentrum innerer Wahrheit, sondern auf ein der Welt hingegebenes Subjekt."(161) 6.82 Die Phänomenologie Merleau-Pontys Merleau-Ponty versuchte in seinen Arbeiten, die Beziehung zwischen den wichtigsten psychologischen Arbeitsrichtungen und der Phänomenologie zu klären. Er setzte sich mit der Tiefenpsychologie, dem Behaviorismus und der Gestalttheorie auseinander. Der Gestalttheorie mißt Merleau-Ponty in seinem Werk einen besonderen Stellenwert bei. Den Behaviorismus lehnt er nicht von vornherein ab, was erstaunen läßt, da es sich beim Behaviorismus um eine szientistische Psychologie handelt, die doch im krassen Gegensatz zur abstrakten Philosophie steht, da sie die philosophische Introspektion zugunsten eines objektivistischen Empirismus ablehnt.(162) Merleau-Ponty sieht in der Kritik des Behavioristen Watson an der introspektiven Psychologie die Beschreibung des Menschen, der in dauernder Auseinandersetzung und Explikation mit und durch die physikalische und soziale Welt steht. Die hohe Übereinstimmung zwischen Watson und Skinner mit Merleau-Ponty läßt sich darauf zurückführen, daß all diese Autoren das Verhalten als Gegenstand der Psychologie anerkannt wissen wollen. Doch Merleau-Ponty sieht im Verhalten mehr als die von außen registrierbare und meßbare Bewegung der Behavioristen. Und genau an diesem Punkt übt er deutliche Kritik am Behaviorismus. Für ihn ist Verhalten eine Struktur, die weder der inneren noch der äußeren Welt allein angehört. Merleau-Ponty stellt die These auf, Verhalten sei eine Gestalt, und zwar eine existentielle Gestalt.(163) Die Behavioristen vertreten das Konstanz-Prinzip, demzufolge jeder objektive Reiz mit einer Empfindung in einer eins-zu-eins Beziehung steht. Die Gestaltpsychologen wenden dagegen ein, daß Empfindungen nicht von äußeren Reizen, sondern von dem Verhältnis von Figur zum Grund im Wahrnehmungsgeschehen abhängen. Die Elemente, die in die Wahrnehmung eingehen, seien zwar bedeutsam aber offen, unbestimmt und mehrdeutig und nicht von Anfang an geschlossen, bestimmt und eindeutig. (166) ibid. S. 157 136 "Wahrnehmung erscheint danach als das Erfassen des immanenten Sinnes an den Dingen, als Akt des Aufspürens des der Welt schon vor unseren Interpretation zugehörigen Sinngehaltes."(164) Im Gegensatz zu den Behavioristen begreift Merleau-Ponty die Wahrnehmung nicht lediglich als einen passiven Akt, sondern als einen Akt, in dem wir uns mit der Welt auseinandersetzen, die nur teilweise gegeben ist, da sie stets mehrdeutig ist. Der existentielle Akt der Wahrnehmung ist demzufolge weder rein rezeptiv noch rein kreativ, vielmehr drückt er unser grundlegend mehrdeutiges Verhältnis zur Welt aus. Die Mehrdeutigkeit, in der Merleau-Ponty die Welt sieht, wird auch in seiner psychoanalytischen Betrachtungsweise sehr deutlich, wo er eine Vereinigung zwischen Existenz und Geschlechtlichkeit sieht: "Geschlechtlichkeit und Existenz durchdringen einander; die Existenz strahlt in die Geschlechtlichkeit, die Sexualität in die Existenz aus, so daß die Feststellung des Anteils sexueller Motivation für einen bestimmten Entschluß oder eine gegebene Handlung unmöglich ist. Unmöglich, eine solche Handlung als >sexuelle bedingt< oder >nicht sexuelle bedingt< zu charakterisieren."(165) Merleau-Ponty ist in seiner Philosophie ein Vertreter der Offenheit des philosophischen Denkens. Der verfestigten Systembildung im philosophischen Denken wird abgesagt. Die existentialistisch-phänomenologische Position von Merleau-Ponty ist auf die praktische Wirklichkeit des menschlichen Miteinander ausgerichtet und sie stellt folgende Begriffe heraus: Leiblichkeit, Ich und Du, Intersubjektivität, Sein und Haben, Intuition, schöpferische Freiheit, Hoffnung, Engagement, Wert und Sinn. Diese Begriffe kann man gleichzeitig als Leitbegriffe einer Gestalttherapie begreifen, wie sie sich in Deutschland in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren, insbesondere am Fritz-Perls-Institut entwickelt hat. 6.83 Der Phänomenologiebegriff Heideggers Bei der Erörterung des Heideggerschen Phänomenologiebegriffs gehe ich nur am Rande auf die aktuelle Heideggerdebatte des Jahres 1989 ein, die sich vornehmlich mit der Person Heideggers und seiner Rolle im Nationalsozialismus auseinandersetzte. Fehler! Textmarke 137 nicht definiert. Heidegger beschreibt die Phänomenologie als einen Methodenbegriff. "Er charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser."(166)(S. 26) Die Phänomene als Solche beschreibt Heidegger als Gesamtheit dessen "was ans Licht gebracht werden kann" (S. 28). Allerdings sind mit den Erscheinungen, die sich zeigen, nicht die eigentlichen Phänomene gemeint, jedoch zeigen sie das Vorhandensein einer Störung an, die sich selbst nicht zeigt und das eigentliche Phänomen ist. Zwar ist das Erscheinen selbst nicht das Phänomen, jedoch ist ein Erscheinen "nur möglich auf dem Grunde eines Sichzeigens von etwas" (S. 29). Die eigentlichen Phänomene treten also in Form von Erscheinungen auf, hinter denen sie sich verbergen können. Über die Auseinandersetzung mit den Erscheinungen gelangt man nun zum eigentlichen Phänomen. Heidegger differenziert und problematisiert den Ausdruck "Erscheinungen" noch weiter, worauf ich an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingehe. Heidegger bezeichnet den Phänomenbegriff Kants als einen vulgären Phänomenbegriff, da er unter dem Phänomen das Sichzeigende versteht, während bei Heidegger das Phänomen sich hinter dem Sichzeigenden verbirgt. Kant versteht nach Heideggers Auffassung unter dem Sichzeigenden das Seiende. Der phänomenologische Begriff vom Phänomen geht darüber hinaus. Das griechische Wort "Logos" weist auf Wahrheit hin. Phänomenologie als die Wahrheit über die Phänomene? Heidegger weist darauf hin, daß "wahr" im griechischen Sinne das schlichte Wahrnehmen von etwas ist. "Und weil die Funktion des Logos (griech.) im schlichten Sehenlassen von etwas liegt, im Vernehmenlassen des Seienden, kann Logos (griech.) Vernunft bedeuten" (S. 34). Wenn jetzt die beiden Begriffe Phänomen und Logos herausgestellt und definiert werden, sagt Phänomenologie: "Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen." Der Begriff Phänomenologie sagt nun etwas über die Methode aus, wie etwas in dieser Wissenschaft behandelt werden soll. "Wissenschaft >von< den Phänomenen besagt: eine solche Erfassung ihrer Gegenstände, daß alles, was über sie zur Erörterung steht, in direkter Aufweisung und direkter Ausweisung abgehandelt werden muß" (S. 35). Ziel der Phänomenologie ist es demnach, zu sehen, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt. Das aber, was sich nicht zeigt, gehört dennoch wesenhaft zu dem, was sich zumeist zeigt, und zwar so, "daß es seinen Sinn 138 und Grund ausmacht" (S. 35). Daran wird deutlich, daß es sich nicht um irgendein >Seiendes< handelt, sondern um das >Sein des Seienden<, oder vereinfacht gesagt um das >Wesen der Dinge<. Daraus ergibt sich, daß der Zugang zur Ontologie (Lehre vom Sein) nur über die Phänomenologie möglich ist. Eigentlich wird davor gewarnt, das Heideggersche Denken an die psychologische Betrachtungsweise heranzurücken, denn Heidegger hat seine Ontologie des menschlichen Daseins deutlich von der Denk- und Arbeitsweise der Psychologie abgerückt. "Die existentiale Analytik des Daseins liegt vor jeder Psychologie, Anthropologie und erst recht jeder Biologie." Durch diese Forderung gerät Heideggers Phänomenologie, im Gegensatz zum auf die praktische Lebenswirklichkeit ausgerichteten Ansatz MerleauPontys, in einen zunehmend elitärer wirkenden Raum.- Dieser elitäre Anspruch Heideggers mag auch im Zusammenhang mit seiner zweifelhaften Rolle im Nationalsozialismus stehen und stellt den Angelpunkt der Heidegger-Kritik von 1989 dar. Heidegger entfernt sich durch die oben zitierte Aussage von der gelebten Wirklichkeit und erhebt den Anspruch, durch seine "thematische Analyse des Daseins" eine Erklärung zu liefern, die jenseits aller Psychologie liegt. Merleau-Ponty hingegen bezieht gerade die gelebte Wirklichkeit in sein Denken mit ein: "Unser Ziel ist es, ein Verständnis zu gewinnen von den Beziehungen zwischen dem Bewußtsein - der organischen, der psychologischen oder selbst der sozialen Natur."(167) 6.84 Die Wirkung des phänomenologischen Denkens in der praktischen Gestalttherapie Phänomenologie, als wissenschaftstheoretische und philosophische Grundlage der Gestalttherapie, wirkt sich direkt auf die Praxis der gestalttherapeutischen Intervention aus. "... wir sind (...) von der linearen Kausalität zum Prozeßdenken, vom Warum zum Wie übergegangen."(168) Durch das Wie wird auf die Struktur geschaut. Struktur und Funktion werden als identisch betrachtet. Wenn die Struktur verändert wird, ändert sich die Funktion und umgekehrt. "Wenn ihr Wie fragt, schaut ihr auf die (167) (168) Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung - S. 202, Berlin, 1966 Heidegger, Martin - a.a.O. - S. 27 Fehler! Textmarke 139 nicht definiert. Struktur, ihr seht das, was jetzt geschieht, ihr habt ein tieferes Verständnis des Geschehens." (Perls, 1976) Warum-Fragen führen im therapeutischen Prozeß lediglich zu Rationalisierungen und Erklärungen und ergeben ein unaufhörliches Nachfragen nach dem Grund des Grundes des Grundes usw. Die Ereignisse (Phänomene) sind eben dadurch gekennzeichnet, daß sie durch viele "Ursachen" überdeterminiert sind. Deshalb ist der Ausgangspunkt der gestalt-therapeutischen Intervention die konkrete Beschreibung des Erlebens in der Hier-und-Jetzt-Situation. Das Symptom wird im Hier-und-Jetzt geschaut, zum Zwecke des Zugangs zum Kern oder Wesen des Sichtbaren. "Wenn der Patient erst einmal das >jetzt< benutzt hat, wir er leichthin weiter die Gegenwart benutzt, auf phänomenologischer Basis arbeiten und, (...) das Material aus der vergangenen Erfahrung heranschaffen, das nötig ist, um eine Gestalt zu schließen, eine Erinnerung zu assimilieren und die organismische Balance zu berichtigen."(169)(169) Für die Sozialarbeit ist das gestalttherapeutische Bewußtheits-Konzept (Awareness) von entscheidender Bedeutung. Die Klientel der Sozialarbeit sind häufig gesellschaftlichen Bedingungen ausgesetzt, die sie veranlassen, oft im Bewußtsein der schädigenden Auswirkungen, diese Bedingungen nicht wahrzunehmen oder nach Kausalitätsprinzipien zu suchen. In der Sozialarbeit nach 1968 wurde versucht, mit Hilfe von Ideologien Bewußtseinsbildung zu fördern. Dies wurde von den Betroffenen häufig als ein "Überstülpen von Ideen der Gebildeten und Studenten" erlebt und konnte nicht mit ihren Lebensrealitäten in Einklang gebracht werden. Förderung von Bewußtsein im phänomenologischen Sinne bedeutet, dem Individuum zu eigener, vorurteilsfreier Wahrnehmung der ihn umgebenden Welt oder seiner inneren Welt zu verhelfen. Phänomenologie bedeutet in der Praxis, das Wahrnehmen der Welt mit Bewußtheit, ohne Vorurteil im weitesten Sinne und ohne ideologische Vorannahmen. Dies gilt für den Sozialarbeiter im Besonderen, ist aber auch Ziel des Prozesses beim Klienten. (169) Merleau-Ponty, zit. in: Dahl, Der phänomenol. Ansatz Merleau-Pontys u. seine Bedeutung f. d. Gestalttherapie in: Int. Therapie 2-3/1981 - S. 93 140 6.9 Verfahren und Techniken der Gestaltarbeit Die oben beschriebenen Grundlagen und Konzepte der Gestalttherapie prägen die Haltung der Gestalttherapeuten. Gestalttherapie ist somit weniger ein Verfahren, daß auf elaborierte Techniken zurückgreift, sondern sie versteht sich vielmehr als eine grundlegende Haltung des Therapeuten, der durchaus ganz auf Techniken verzichten kann. Diese Haltung ist jedoch nicht durch Theoriestudium erlernbar, sondern sie muß in Eigentherapie und Selbsterfahrung erworben werden. Wenn ich im Folgenden dennoch einige Techniken exemplarisch beschreibe, so sind diese nur vor dem Hintergrund dieser "therapeutischen Haltung" zu verstehen. Natürlich gibt es umfangreiche Literatur zu gestalttherapeutischen Techniken, jedoch muß vor dem rein technischen Gebrauch dieser Gestalt-methoden gewarnt werden, weil auch der Einsatz dieser Verfahrensweisen stets die "therapeutische Haltung" voraussetzt. Gestalttechniken sind im Gegensatz zur Klientenzentrierten Gesprächsführung eher direktiv. D.h. der Therapeut fordert den Klienten zu konkreten Erfahrungen im Therapieprozeß auf. Gestalttechniken sind im Gegensatz zur psychoanalytischen Therapie beschleunigend. D.h. der Therapeut führt den Klienten gezielt zu tieferen Bewußtseinsschichten, die affektiv stark besetzt sind. Gestalttechniken erscheinen auch suggestiv. D.h. der Therapeut fordert den Klienten auf, körperliche Phänomene bewußter und verstärkter wahrzunehmen, und er verknüpft diese Phänomene mit seelischem Erleben. Ziel der Gestaltarbeit ist zunächt immer eine Erhöhung der Awareness (Bewußtheit). Damit ist das zentrale Konzept der Gestalttherapie angesprochen. Hierzu gibt es allgemeine Gestaltübungen, die gezielt die Awareness schulen. Das "Bewußtseinskontinuum" ist eine solche Übung, in der der Therapeut den Klienten dazu anleitet, sich für eine gewisse Zeit seiner selbst bewußt zu sein, indem der Klient alles was er aktuell wahrnimmt aufmerksam baobachtet. Dabei kann zusätzlich mit "Figur und Hintergrund" gearbeitet werden. Z.B.: Th: Lassen Sie sich doch mal einen Moment Zeit, um zu beobachten was Sie gerade um sich herum wahrnehmen. Kl: Schweigt ca. 3 Min. Fehler! Textmarke 141 nicht definiert. Th: Versuchen Sie doch nun mal von der äußeren Wahrnehmung auf die innere Wahrnehmung zu wechseln; was geschieht gerade in Ihnen? Kl: Ich spüren mein Herz schlagen. Th: Bleiben Sie mal dabei. In dieser kurzen Sequenz wird sowohl die direktive Vorgehensweise des Therapeuten deutlich, wie auch das Abzielen auf die "Awareness" sowie die Zentrierung auf das "Hier und Jetzt". Suggestiv mutet die Arbeit dann an, wenn der Therapeut anschließend den Klienten dazu auffordert, den Herzschlag verstärkt wahrzunehmen und ihn dann nach inneren Bildern zu diesem Körperphänomen befragt: Th: Achten Sie doch mal darauf was noch in Ihnen vorgeht wenn Sie ihren Herzschlag jetzt spüren. Kl: Das macht mir doch irgendwie Angst. Th: Bleiben Sie mal bei der Angst und achten Sie drauf was sich tut. Kl: Es ist irgendwie beklemmend, ich fühle mich so eingeklemmt als würde mir jemand einen Eisenring um die Brust schmieden. Th: Was geschieht da? Kl: Irgendjemand hält mich fest; ich erinnere mich an eine Situation aus meiner Schulzeit, wir waren auf dem Schulhof . . . Th: Erzählen Sie die Situation in der Gegenwart. Wir sind auf dem Schulhof . . . . Der Klient erzählt nun von einer für ihn beängstigenden Situation aus seiner Schulzeit, in der er von älteren Mitschülern unterdrückt und gedemütigt wurde. Dadurch, daß er bei seiner Erzählung im Hier und Jetzt bleibt, erlebt er die Situation in Anwesenheit des Therapeuten mit all den bedrohlichen Affekten nocheinmal. Dieses Wiedererleben hat oft einen traumähnlichen Charakter und ist mit sehr starken Gefühlen besetzt. Ziel der Gestaltarbeit ist es nun, diese wiedererlebte Situation zu einem Abschluß zu bringen, damit der erwachsene Mensch sich in seinem Alltag nichtmehr mit so vielen unerledigten Kindheitsgefühlen belasten muß. Man kann die Gestalttherapeutischen Techniken grob unterteilen in: 1. Beratungs- und Gesprächsführungstechniken 2. Kreative Techniken 3. Körper- und Bewegungstechniken 142 4. Rollenspieltechniken und Planspieltechniken Die therapeutischen Techniken finden Anwendung in den verschiedensten Feldern, von der psychotherapeutischen- über die sozialtherapeutische Arbeit bis hin zu Gestaltpädagogischen Anwendungsgebieten. In der nachfolgenden exemplarischen Darstellung werde ich die Beratungsund Gesprächsführungstechniken etwas ausführlicher behandeln. Sehr umfassend sind diese Techniken von Dorothea Rahm in ihrem Buch "Gestaltberatung" dargestellt. 6.91 Beratungs- und Gesprächsführungstechniken Wie oben bereits erwähnt, geht es in der Gestalttherapie zunächst um eine therapeutische Haltung. Zu dieser Haltung gehört, daß alle Gesprächsführungsverfahren in eine "therpeutische Beziehung" eingebettet sind. Diese Beziehung muß in der Anfangsphase eines jeden Beratungsprozesses zunächst aufgebaut werden. Gestaltarbeit unterscheidet sich hier nicht von anderen Beratungskonzepten, seien sie nun psychoanalytisch, klientenzentriert oder familientherapeutisch. Die Beziehung spielt darüberhinaus auch in gestaltpädagogischen Konzepten die zentrale Rolle. Die im nachfolgenden Kapitel vorgestellten Techniken sollen lediglich einen knappen Einblick in technische Möglichkeiten bieten. Letztendlich bleibt die technische Umsetzung der Gestaltarbeit auch der Kreativität der Beraterin oder Therapeutin überlassen. Techniken und Verfahrensweisen sind u.a. ausführlich bei D. Rahm und J. Stevens (a.a.O.) beschrieben. Für den eigentlichen gesprächsführungstechnischen Prozeß schlägt Dorothea Rahm folgende Unterscheidung vor: 1. Gestaltmethoden zur Einsichtsförderung 2. Gestaltmethoden zur Förderung eigener Verantwortlichkeit und Entscheidungsfähigkeit. 6.912 Gestalttechniken zur Einsichtsförderung In der Praxis werden die im Folgenden aufgeführten Techniken kaum in so abgegrezter Weise vorkommen, vielmehr werden die Gesprächsführungstechniken permanent kombiniert. Dennoch kann man folgende Techniken unterscheiden: Fehler! Textmarke 143 nicht definiert. 1. Aufmerksam machen: Der Klient wird auf Äußerungen aufmerksam gemacht, von denen der Berater meint, daß sie für ihn von Bedeutung sind. Diese Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen werden vom Klienten in der Regel nicht bewußt wahrgenommen. Sie sind häfig non-verbal oder es handelt sich um Widersprüchlichkeiten zwischen verbalem und non-verbalem Ausdruck, Versprecher, stereotype Redeweisen oder plausibilitäsarme Argumentationen. z.B. Non-verbal: - Ihre Stimme ist ganz leise geworden als Sie begannen über dieses Thema sprechen - Ich sehe gerade wie Sie bei diesem Gedanken die Fäuste ballen, können Sie das mal fühlen - Sie scheinen Tränen in die Augen zu bekommen, wenn Sie über Ihre Mutter sprechen z.B. Widersprüche zwischen verbal und Nonverbal - Sie lächeln während Sie von einem traurigem Erlebnis sprechen - Sie schütteln dauernd den Kopf während Sie von Ihren Erfolgen reden z.B. Sereotype Redeweisen - Sie reden seit fast zehn Minuten ohne Unterbrechung, was fühlen Sie eigentlich gerade - Ich höre Sie dauernd von man oder wir sprechen, versuchen Sie doch mal in der Ich-Form zu reden Bei der Technik des Aufmerksammachens kommt es für den Berater darauf an, daß er im Beratungsprozeß selbst dem Klienten seine ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen läßt und besonders auch dessen nicht-verbale Äußerungen beachtet. Dabei ist der gesamte körperliche Ausdruck von Bedeutung, handelt es sich nun um einen zitternden Fuß, zusammengepresste Lippen oder geballte Fäuste. 2. Wiederholen Bei dieser Technik bittet der Berater den Klienten beiläufig gemachte Äußerungen nocheimal bewußt zu wiederholen. z.B.: - können Sie diese Handbewegung nocheinmal machen - sie haben eben so nebenbeigesagt, daß sie glauben, daß ihre Frau sie auch nicht mehr liebt, können sie das nocheinmal sagen 144 3. Übertreiben Beim übetreiben wird der Klient dazu aufgefordert eine beiläufig gemachte Äußerung übertrieben zu wiederholen. z.B.: - als sie eben darüber sprachen, daß ihr Kollege hinterhältig ist wurden sie etwas lauter, können sie das noch lauter sagen - machen Sie diese Handbewegung doch mal etwas ausladender 4. Assoziationen Der Berater fordert den Klienten auf aktuelle Gefühle mit weiteren Erfahrungen zu verknüpfen. z.B. - Woher kennen sie dieses Gefühl - Was fällt ihnen dazu ein 5. Aushalten Der Berater fordert den Klienten auf, bei aktuellen Gefühlen zu verweilen, besonders dann, wenn der Klient schnell über etwas hinweggehen will. z.B. - können Sie sich dieses Gefühl, was in ihnen hochkommt mal gestatten - bleiben Sie doch einmal eine Weile in dieser Stimmung, . . was geschieht 6. Vergangenheit und Zukunft vergegenwärtigen Gestaltherapie arbeitet im Hier und Jetzt. Wenn der Klient beispielsweise von Zukunftssorgen spricht, kann er diese Situationen im gegenwärtigen Beratungsprozeß durcherleben. - beschreiben Sie doch einmal ganz genau die Situation in der Prüfung, die Sie nächste Woche erwartet, beschreiben Sie sie so, als fände Sie jetzt statt. Auch vergangene Situationen werden vergegenwärtigt indem der Berater den Klienten dazu auffordert die Situation mit all ihren Umständen in der Gegenwart zu schildern. z.B. - vielleicht versuchen Sie mal die Situation auf dem Schulhof von damals ganz genau in ihrer Phantasie zu rekonstruieren, wie sieht es dort gerade aus? 7. Phantasiearbeit Phantasiearbeit ist eine eigenständige Technik in der Gestalttherapie. Sie wird oft als geleitete Phantasie in völlig eigenständigen Selbstefahrungsund Therapieprozessen angewendet. In der Beratungsarbeit kann aber Phantasiearbeit oft hilfreich aktuelle Widerstände deutlich machen. z.B. Fehler! Textmarke 145 nicht definiert. Kl: Ber: Kl: Ber: Irgendwie kann ich da nicht weiterreden, da blockiert mich was. Beschreiben Sie doch mal diese Blockade. Das ist wie ein großer Stein, den man mir vor die Füße gerollt hat. Wie sieht der denn aus? 8. Identifikation Die Gestalttherapie betrachtet alle Phantasieäußerungen als Manifestationen des Ichs. Diese Manifestationen sind oft vom Ich abgespalten und sollen im Therapieprozeß wieder integriert werden. z.B.: Ber: Sie haben gerade den großen Stein beschrieben, der Ihnen da vor die Füße gerollt wurde, vielleicht versuchen Sie mal die Rolle dieses Steines zu spielen. Kl: Hmm, ich kanns ja mal versuchen. Also, ich bin ein schwerer Stein, ein Mühlstein und ich liege schon viele Jahre hier. Ich liege hier vor den Füßen von Hans, damit der nicht sehen kann was sich hinter mir verbirgt. In dieser Situation kann der Berater mit dem Stein in einen Dialog treten. Der Stein kann beispielsweise eine Abwehr gegen unangenehme Gefühle oder Erfahrungen symbolisieren. In der Gestaltarbeit werden diese Widerstände ernstgenommen und indem der Klient sich damit auseinandersetzt kann er Auskunft über deren Sinn und Funktionsweise erhalten, was ihn dann evtl. dazu bewegen kann, den Widerstand in bestimmten Situationen beiseitezuräumen. Die Technik der Identifikation ermöglicht es des Weiteren auch sich mit anderen Personen, Objekten oder Symbolen zu identifizieren. 9. Dialoge Die wohl bekannteste Gestalttechnik ist die Arbeit mit dem leeren Stuhl. Bei dieser Übung, führt der Klient einen Dialog mit einer Person, die er in Immagination auf einen leeren Stuhl setzt. In Verbindung mit der zuvor beschriebenen Technik der Identifikation kann der Klient sich nun mit der imaginierten Person identifizieren und dadurch mit sich in einen Dialog treten. Die Technik des Dialoges ist aber keinesfalls auf die Übungen mit dem leeren Stuhl beschränkt, sie kann ebensogut mit Handpuppen, mit eigenen Körperteilen, Objekten oder Symbolen durchgeführt werden. So kann auch mit dem großen Stein aus dem vorangegengenen Beispiel ein Dialog geführt werden. z.B. Ber: Vielleicht befragen Sie mal den Stein nach seiner Funktion Kl: Stein, warum stellst du dich mir in den Weg? 146 Ber: Wechsel, was sagt der Stein? Kl: Stein: Ich beschütze dich vor schlechten Gedanken, Hans. Hans: Warum muß ich beschützt werden? Stein: Weil du nicht traurig werden sollst. 10. Sprachliche Äußerungen Stereotype oder relativierende sprachliche Äußerungen werden in der Gestaltarbeit vom Berater oft gespiegelt oder kommentiert. Dabei handelt es sich um einschränkende Redeweisen, z.B.: - eigentlich, ziemlich, relativ, wenigstens usw. um vagen Ausdruck von Sachverhalten, z.B.: - vielleicht, es könnte sein, ich glaube, teilweise usw. um innere Widersprüchlichkeiten, z.B.: - ja . . . aber, natürlich . . . allerdinds usw. um Verallgemeinerungen, z.B. - man, wir, jemand, immer, alle, nie usw. Das Kommentieren von solchen sprachlichen Äußerungen wird bereits im Erstkontakt mit Klienten eingestzt und hat dort häufig die Auswirkung, daß der Klient sein Anliegen nicht nur als Bericht erstattet, sonder schon eine Erhöhung der Bewußtheit erfährt, wodurch er schneller an für ihn emotional bedeutsamen Sequenzen herangeführt wird. 11. Das Bewußtseinskontinuum Das Bewußtseinskontinuum habe ich bereits zum Eingang dieses Kapitels beschrieben. Es kann ganz gezielt im Sinne einer Trainingsmethode zur Konzentrations- oder Aufmerksamkeitsübung eingesetzt werden. Die verschiedenen Möglichkeiten zum Einsatz dieser Technik sind von John O. Stevens in seinem Buch "Die Kunst der Wahrnehmung" ausführlich beschrieben worden. Grunsätzlich achtet der Klient beim Bewußtseinskontinuum ganz auf sich selbst, ausgehend von der Fragestellung, "was erlebe ich jetzt". Dabei wird auf Gefühle, Gedanken, Bewegungen und Signale aus dem Körperinneren geachtet. Sinneseindrücke wie, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen werden auf diese Weise ganz bewußt registriert. Fehler! Textmarke 147 nicht definiert. 6.913 Gestalttechniken zur Förderung von eigener Verantwortlichkeit und Entscheidungsfähigkeit Die im Folgenden exemplarisch vorgestellten Techniken greifen auf die Techniken zur Förderung von Bewußtheit zurück, sind aber in ihrer Zielrichtung auf die Übernahme von Eigenverantwortung durch den Klienten ausgerichtet. Folgende Beraterinterventionen sind charakteristisch: - was wollen Sie; was möchten Sie jetzt - was tun Sie gerade; möchten Sie das wirklich; sind Sie sich sicher - was hindert Sie daran; was vermeiden Sie jetzt Diese Interventionen können in folgenden Techniken angewendet werden: 1. Phantasiearbeit Mit Hilfe von Phantasiearbeit können dem Klienten seine Blockierungen verdeutlicht werden, in der Arbeit während der Entscheidungsphase kann er erproben mit diesen Blockierungen umzugehen. Das Beispiel mit dem großen Stein, der den Widerstand symbolisiert könnte in dieser Phase dergestalt aussehen: Ber: Beschreiben Sie doch mal Ihre Blockade Kl: Das ist wie ein großer Stein, den man mir vor die Füße gerollt hat. Ber: Was wollen Sie denn damit machen? Kl: Irgendwie zur Seite rollen. Ber: Was hindert Sie daran? Hier wird deutlich, daß der Berater den Klient nicht nur zur Wahrnehmung seiner inneren Prozesse und Widerstände führt, sondern er gibt ihm auch die Verantwortung für seine Widerstände und macht damit deutlich, daß die Blockade eine abgespalten Ich-Funktion darstellt, die der Klient bei Übernahme von Eigenverantwortung in das Ich integrieren kann. 2. Dialoge Mit Dialogen wird in der Entscheidungsphase vornehmlich bei ambivalenten und sich widersteitenden Impulsen beim Klienten gearbeitet. Fritz Perls führt hier die Begrifflichkeit vom "Top-Dog" und "Under-Dog" ein. In der deutschen Umgangssprache können wir den Under-Dog als den "Inneren Schweinehund" bezeichnen, der die Aktivitäten lähmt und den Top-Dog als den "Moralischen", der eigenes Versagen beklagt und Leistung einfordert. Durch einen Dialog zwischen diesen beiden 148 Persönlichkeitsanteilen, der mit der Technik des leeren Stuhls geführt werden kann, soll eine Einigung zwischen den Widerstreitenden Anteilen erreicht werden. Auch hier steht der Gedanke von den abgespaltenen IchAnteilen hinter der Übung. Im Dialog der beiden Teile soll ein Kompromiß gefunden werden, indem Top-Dog und Under-Dog als Persönlichkeitsanteile gleichermaßen akzeptiert werden; also letztendlich Manifestationen ein und desselben Ichs sind. 3. Sprachliche Äußerungen Viele Sprachäußerungen deuten darauf hin, daß Menschen nicht die volle Verantwortung für sich übernehmen. Bestes Beispiel dafür ist die häufig gebrauchte Floskel, "man müßte mal". Ziel der gestalttherapeutischen Intervention kann sein, daß der Klient Verantwortung für seine eigenen Gefühle, Gedanken und Handlungsweisen übernimmt. Dafür gibt es drei technische Vorgehensweisen: Ich-Sprache, Veränderung von Verben und Fragen. Ich-Sprache Der Klient wird zum bewußten gebrauch der Ich-Form aufgefordert und zur Vermeidung von Worten wie es, man, wir, du. z.B. Kl: es ist langweilig Ber: versuchen Sie mal zu sagen, ich langweile mich Kl: ich langweile mich . . . naja, ich könnte ja was dagegen unternehmen. oder: Kl: man sollte sich in der Öffentlichkeit nicht küssen Ber: versuchen Sie mal Ihre Meinung auszudrüchen, vielleicht mit den Worten mich stört . . . Kl: Ja, da haben Sie recht, mich stört es wirklich ungemein wenn Paare sich in aller Öffentlichkeit küssen Veränderung von Verben Auch durch den Gebrauch von entfremdenden Verben kann es der Klient vermeiden Verantwortung für sich zu übernehmen. Beispiele für solche werben sind, "muß" und "sollte", die durch "will" oder "möchte" ausgetauscht werden können. Oder z.B. Kl: Ich hoffe daß ich jetzt nicht mehr am Geldautomaten spielen muß Ber: Versuchen Sie es mal mit: ich werde jetzt nicht mehr . . . Fragen Auch durch Fragen vermeiden viele Menschen die Verantwortung zu übernehmen. z.B. - ist es hier nicht zu kalt? oder - wie soll das bloß weitergehen? Fehler! Textmarke 149 nicht definiert. Veränderungen auf Probe Hier geht es darum, daß viele Klienten Phantasien von den Auswirkungen ihres Verhaltens haben, die der Realitätsprüfung nur selten Standhalten. Bei dieser Technik handelt es sich um ein Verfahren mit oft starker suggestiver Wirkung. Daher kann das Verfahren nur in einem fortgeschrittenen Beratungsprozeß eingesetzt werden, bei dem die Beziehungsebene zwischen Berater und Klient eine hohe Tragfähigkeit aufweist. Die mildere Form ist die des Probehandelns in der Phantasie. Z.B.: - stellen Sie sich doch einmal vor, sie würden sich um Ihren Vater mal wirklich nicht scheren, beschreiben Sie mal ganz genau was dann alles eintritt. Eine stärke Intervention stellt die Verbindung von Probehandeln in der Phantasie mit einer "Hausaufgabe" dar, bei der der Klient den Auftrag erhält, daß ihn das Urteil des Vaters zu bestimmten Zeiten probeweise nicht interessiert. Also beispielsweise täglich zwischen 18.00 und 19.00 Uhr. Die hier beschriebenen Gestalttchniken kommen in der Regel erst in einem fortgeschrittenen Beratungsprozeß zur Anwendung. Sie sind ohne eine vorausgegangene Beziehungsarbeit zwischen Berater und Klient nicht denkbar und vor allen Dingen nicht ohne die Eingangs beschriebene Haltung. Diese Haltung beinhaltet ein hohes Maß an permanenter Selbstreflexion durch den Berater. 9.12 Kreative Techniken Gestalttherapie versteht sich als Kreativitätsförderung. Daher nehmen kreative Techniken einen breiten Raum ein. Die der bildenden Kunst verwandten Techniken finden breite Anwendung in der Ergotherapie, besonders in der psychiatrischen Beschäftigungstherapie. Hier geht darum, Menschen, deren verbaler Ausdruck in irgendeiner Weise behindet oder blockiert ist, durch bildnerisches Gestalten, die Möglichkeit zu geben, innere Zustände zum Ausdruck zu bringen. Die Ergotherapie kennt das tiefenpsychologische Verfahren der "Gestaltungstherapie". Dieses Verfahren ist nicht nur des Begriffes wegen verwandt, tatsächlich ist die Arbeit mit kretiven Medien der Gestalttherapie in ihrer technischen Anwendung der Gestaltungstherapie sehr ähnlich. Die Spezifik der Gestaltarbeit ist dann jedoch in der Art und Weise zu sehen, wie das kreative Produkt in der Besprechung ausgewertet wird. So kann es 150 beispielsweise vorkommen, daß ein psychiatrischer Patient ein Bild malt, auf dem ein Haus, ein Baum und ein Hund zu sehen sind. In Anwendung der oben bereits beschriebenen Technik der Identifikation, kann der Therapeut nun den Patienten dazu veranlassen, sich mit den einzelnen Objekten seines Bildes zu identifizieren; also die Rolle des Hundes zu spielen und als Haus oder Baum antworten. Der Gedanke der hinter dieser Technik steckt, ist der, daß alle Kreationen Ausdruck des Selbst (Ich) des Klienten sind und die Identifikation für den Klienten zu einer eigenen Entschlüsselung seiner Selbst-Manifestationen wird. Ähnliches geschieht auch in der Arbeit mit Träumen in der Gestalttherapie. Hier, wie in allen anderen Arbeiten mit kreativen Medien, vermeidet es der Therapeut die Symbole zu deuten. Die Entschlüsselung der Traumsprache ebenso wie die der Bildersprache wird mittels der Identifikationsarbeit ausschließlich durch den Patienten geleistet. Neben dem Malen kennt die Gestaltarbeit eine ganze Reihe weiterer kreativer Medien. So wird beispielsweise mit Ton gearbeitet; es können aber auch völlig ungewöhnliche Materialien verwendet werden, die aus der Natur herbeigeschafft werden. Eine Übung zu Beginn eines längerfristigen Gruppenprozesses bei Teilnehmern die sich nicht kennen, sieht beispielsweise vor, daß die Teilnehmer und Teilnehmerinnen ein Gegenstand aus dem Freien suchen und sich in Identifikation mit diesem in der Gruppe vorstellen. Das sind dann oftmals Blumen, Blätter oder Steine. Das zuvor beschriebene Beispiel wird allerdings vorwiegend in der Arbeit mit "Gesunden" zu Selbsterfahrungs- oder Ausbildungszwecken zur Anwendung kommen, kann aber auch ein wunderbarer Einstieg sein für sozialpädagogische Arbeit mit Kindern. Als sehr verbreitete kreative Technik möchte ich noch das Lebenspanorama anführen. Im Lebenspanorama zeichnet der Klient seinen ganzen Lebensweg. Er beginnt bei der Geburt und trägt alle wichtigen biographischen Stationen ein. Das Lebenspanorama wird oft als Fluß gezeichnet, der mal breiter und mal schmaler wird, der Hindernisse und Wasserfälle überwinden muß und in den auch Nebenflüsse fließen. Das Lebenspanorama kann auch über den gegenwärtigen Stand der Entwicklung hinweggezeichnet werden, manchmal bis zum eigenen Tod. Der Klient kann sich in der anschließenden Besprechung mit allen Teilen seines Bildes identifizieren. In der Supervisionsarbeit zeichnen die Mitarbeiter einer Institution diese, dies kann als Organigramm geschehen aber auch mit anderen Symbolen, Fehler! Textmarke 151 nicht definiert. z.B. als Schiff. Hier diskutieren die Teammitglieder dann darüber welche Funktionen sie auf dem Schiff einnehmen. Kreative Techniken beschränken sich aber nicht nur auf Bildnerisches, es wird auch mit Poesie und Darstellung gearbeitet. In der Poesiearbeit werden kleine Verse und Gedichte verfasst. Die darstellerischen Techniken erwähne ich weiter unten bei den Rollenspieltechniken. 9.13 Körper- und Bewegungstechniken Viele atem- und bewegungstherapeutische Verfahren und die Bioenergetik sind mit Gestalttherapie verwandt. Der Grundgedanke bei der Körperarbeit ist, daß konflikthaftes seelisches Erleben in körperlichen Anspannungen und Verkrampfungen zum Ausdruck kommen kann. Diese Verfahren decken ein breites Spektrum von therapeutischen Interventionszielen ab. Sie gehen von einfachen Lockerungsübungen mit mehr sportlichem Charakter bis zu den tiefsten Schichten seelischen Erlebens, oftmals sogar in den vorsprachlichen Bereich. Dabei kommt es dann zu "autonomen Körperreaktionen" aus frühkindlichen Strukturen. Dies wird durch eine Reihe von Körperübungen erreicht, die alle darauf Abzielen die Atmung zu intensivieren, den momentanen Körperstand (auch grounding genannt) in einer Ausdrucksform darzustellen, aus der alle Körperaktivitäten möglich sind und die Muskelverspannungen maßvoll zu lösen. Bei diesen höchswirksamen Techniken werden emmotionale Tiefungen erreicht, die nur ein sehr langjährig geschulter Therapeut begleiten kann. Hierbei greift der Therapeut auch aktiv in das Geschehen ein, etwa durch Massage, Festhalten und berühren bestimmter Körperzonen. Es gibt allerdings auch eine ganze Reihe körper- und bewegungsorientierter Verfahren, die nicht auf die Tiefenschichten abzielen, sondern die auch im selbsterfahrungs- und pädagogischen Bereich angewendet werden können. Manche Bewegungsübungen können Wunder wirken bei Ermüdungen in bildungsorientierten Gruppen, wie beispielsweise die Übung "Jünger werden". Hierbei wird eine Gruppe aufgefordert sich im Raum zu bewegen. Dann gibt der Trainer die Anweisung, die Gruppenmitglieder mögen sich doch mal so fühlen und bewegen wie Neunzigjährige. Nun wird die Gruppe im Minutenabstand dazu aufgefordert sich immer zehn Jahre jünger zu fühlen, dabei das alterentsprechende Tempo zu wählen und noch eine adäquate Begrüßungsart auszuführen. Die Gruppe bewegt sich nun immer schneller, die Teilnehmer haben viel Spaß dabei, besonders wenn sie schließlich als zehnjärige Fangen spielen dürfen. Nach einer solchen etwa 152 15-minütigen Aufwärmübung sind Lerngruppen zumeist wieder sehr arbeitsfähig. Mit solchen oder ähnlichen Bewegungsübungen befaßt sich heute die eigene Disziplin der Bewegungstherapeuten/innen. 4. Rollenspieltechniken und Planspiele Weiter oben habe ich bereits das Psychodrama von Moreno als eines der grundlegenden Konzepte der Gestalttherapie beschrieben. Das Psychodrama ist heute die am weitesten verbreitete psycho- und soziotherapeutische Methode, in der psychische und soziale Problem im Rollenspiel zur Darstellung und Bearbeitung gebracht werden. Dabei greift diese Methode auf ein ausgearbeitetes und differenziertes Repetoir an Techniken zurück, die sich teilweise in der Gestalttherapie wiederfinden. Während die Techniken im Psychodrama formal sehr streng umgesetzt werden und die psychodramatische Arbeit in oftmals sehr aufwendiger Weise von diesen Techniken bestimmt wird, geht die Gestaltarbeit weniger streng, spontaner und punktueller mit diesen Verfahren um. Einige spezielle Psychodramatechniken, die sich in der Gestaltarbeit wiederfinden sind, die Arbeit mit dem leeren Stuhl, das Doppeln, das HilfsIch, der Rollentausch, um nur einige Beispiele aufzuführen. Die Arbeit mit dem leeren Stuhl habe ich bereits weiter oben als eine der gebräuchlichsten Gestalttechniken beschrieben. Sie wird im Psychodrama meistens in der Arbeit mit Einzelnen angewendet, wenn keine anderen Personen zur Verfügung stehen, die die erwünschte Rolle darstellen können. In der Gestaltarbeit wird diese Technik in allen Arbeitsformen je nach Bedarf gewählt, also neben der Einzelberatung/therapie auch in der Gruppe, mit Familien, in der Arbeit mit Paaren, selbst in Teams und Organisationen. Die Arbeit mit dem leeren Stuhl ist auch besonders hilfreich in der Fallsupervision. Hier kann die zu besprechende Klientin, in der Immagination der Sozialarbeiterin oder Therapeutin auf den leeren Stuhl gesetzt werden, wobei die Sozialarbeiterin nun die Rolle der Klientin einnehmen kann, indem sie sich auf den leeren Stuhl setzt. Dadurch daß die Sozialarbeiterin nun die Rolle der Klientin spielt wird ihr Einfühlungsvermögen in diese erhöht und sie erhält Auskünfte daüber welche Bewegründe sie bei der Klientin vermutet. Dadurch sollen sich eigenen unbewußten Anteile, die wir oft als "blinde Flecken" bezeichnen, erhellen. Psychoanalytisch ausgedrückt könnte man auch sagen, daß die Soziolarbeiterin oder der Sozialarbeiter sich hierdurch ihrer Gegenübertragungsanteile bewußt werden können. Fehler! Textmarke 153 nicht definiert. Das Doppeln wird oft in der dialogischen Arbeit eingesetzt. Z.B., zwei Partner tauschen sich zu Beginn einer längeren Gruppenaktivität über ihre Erwartungen und Befürchtungen bezüglich des bevorstehenden Gruppentrainings aus. Im Anschluß an diesen Dialog stellen sich die Partner gegenseitig mit ihren Erwartungen und Befürchtungen der Gesamtgruppe vor. Dabei doppeln sich die Partner in der Weise, indem Partner A hinter Partner B tritt und nun als Partner B, in Ich-Form dessen Erwartungen und Befürchtungen ausspricht. Im Anschluß daran geschieht das Gleiche in umgekehrter Reihenfolge. Es ist sinnvoll bei dieser Übung die Partner dazu aufzuforden, jedesmal wenn sie von einer fremden Rolle in ihre eigen Rolle zurückkehren, die Floskel sprechen zu lassen: "eben war ich B, jetzt bin ich wieder A." Das Hilfs-Ich oder Alter-Ego ist erst in einem fortgeschrittenen Arbeitprozeß möglich, daher ist hier auch nicht die zuletzt beschriebene Floskel wichtig, sie wäre hier eher störend. Bei dieser Technik begibt sich ein Gruppenmitglieder oder auch der Trainer hinter oder neben das Gruppenmitglied welches im aktuellen Prozeß zwar gefühlsmäßig stark involviert wirkt, daß aber im Moment seine Emotionen nicht auszudrücken vermag. In dieser Situation wirkt der Andere für das blockierte Mitglied als Hils-Ich, indem es die Gefühle, die es beim blockierten Teilnehmer zu spüren meint, ausspricht. Z.B. "ganz innen fühle ich mich jetzt tieftraurig". Dadurch soll es dem blockiertem Teilnehmer ermöglicht werden seine Gefühle zu befreitem Ausdruck zu bringen. Der Rollentausch ist besonders in der Paar- und Familienarbeit eine sehr hilfreiche Technik. Hierbei tauschen die zerstrittenen Partner beispielsweise einfach ihre Plätze und werden vom Berater aufgefordert nun mal aus der Rolle des jeweils Anderen zu argumentieren. Dadurch können sich Standpunkt und Perspektive in Bezug auf den Partner dramatisch verändern.Die hier dargestellten Techniken sind nur ein kleiner Ausschritt aus dem psychodramaähnlichen Rollenspielrepertoir der Gestaltarbeit. Letztendlich kommt es auch bei den Rolenspieltechniken auf die Kreativität des Beraters oder der Therapeutin an, die innerhalb ihrer Gestalt-Haltung und der Selbstreflexion die dem jeweiligen Prozeß entsprechende Technik immer auch selbst kreieren kann. Einige Rollenspieltechniken sind auch aus der Familientherapie bekannt. Hier ist besonders die Skulpturarbeit zu nennen, in der ein Teilnehmer aus einer Gruppe mit Zuhilfenahme der anderen Personen aus der Gruppe ein zunächst statisches Gebilde aufstellt, in welchem die Gruppenmitglieder in 154 typische Haltungen und Positionen der eigenen Familienmitglieder positioniert werden. Anschließend spricht der Teilnehmer zu jedem Gruppenmitglied welche Funktion es in seiner Familie vertritt, wie er es in seiner Familie erlebt und wie seine Stellung zu ihm ist. In der Skulpturarbeit kann jetzt hieraus entweder eine Spielszene entwickelt werden oder die Gruppenmitglieder berichten gleich darüber, was sie in der jeweiligen Haltung und Position erlebt und empfunden haben. Das Spezifische an den gestalttherapeutischen Rollenspieltechniken im Gegensatz zu den anderen Verfahren ist ihre Kombinierbarkeit mit den weiter oben beschriebenen Techniken. Diese Variationen im Beratungs- oder Therapieprozeß verlangen vom Sozialarbeiter, von der Sozialarbeiterin immer selbst ein hohes Maß von Bewußtheit (Awarenes). Dabei muß der Berater in der Lage sein, stets zwischen der Awarenes seiner selbst und der Awarenes beim Klienten zu osszilieren. Ersteres, um sich der eigenen (Gegenübertragungs)Anteile sowie der eigenen Kreativität bewußt zu sein und letzteres, um dem Klienten seine volle Empathie widmen zu können.So schwierig wie das hier beschrieben ist, ist das auch. Dadurch wird auch deutlich, daß diese Fähigkeit nicht durch Theoriestudium erworben werden kann, sie kann nur Ergebnis einer intensiven, persönlichkeitsorientierten Schulung sein. Das bedeutet, alle Interventionen und Techniken, die vom Berater ausgeführt werden, sollte dieser im Laufe seiner Ausbildung in der einen oder anderen Weise an sich selbst erlebt haben. Ein gründliches Theoriestudium, wie es in der Fachhochschulausbildung von Sozialarbeitern, gewährleistet sein sollte, bildet jedoch eine solide Grundlage für das Erlernen der Gestalthaltung und ihrer Techniken. Fehler! Textmarke 155 nicht definiert. Literaturverzeichnis Bateson, Gregory - Ökologie des Geistes - Frankfurt, 1988 Beck, Ulrich - Risikogesellschaft - Frankfurt, 1986 Bellardi, Nando - Soziale Arbeit, Band 1 - Frankfurt, 1980 Besems, This - Philosophisch-anthropologische Bemerkungen zur Integrativen Therapie/Gestalttherapie - in: Integrative Therapie 3-4/1977 Bick, Rolf - Gestalt und System - in: Sozialmagazin 1/1987 Blankerts, Stefan - Paul Goodmans Ethik und ihre Bedeutung für die Gestalttherapie - in: Integrative Therapie 3-4/77 Böhnisch, Lothar - Rezension von Hollstein/Meinhold, 1973 - in: Neue Praxis, 2/1974 Brack, Ruth - in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.) - Fachlexikon der sozialen Arbeit - Frankfurt, 1986 Braun/Rademacher - Wissenschaftstheoretisches Lexikon Graz/Linz/Köln, 1978 Buer, Ferdinand - Soziale Netze, selbstaktive Felder, Sozialökologie & Co in: Neue Praxis 2/1988 Bünting, Wolf E. - Die Gestalttherapie des Fritz Perls - in: Eicke, D. Psychologie des 20.Jahrh., Bd III - Zürich, 1977 Capra, Friedjof - Wendezeit - München, 1988 Dahl - Der phänomenologische Ansatz von MerleauPonty und seine Bedeutung für die Gestalttherapie - in: Integrative Therapie 2-3/1981 Daigl, Klaus A. 1988 Kleine Planspiele für Helfer - Freiburg, Diakonisches Werk - Satzung, 1975 Eichhorn, Günter - Methoden der Sozialarbeit, eine kritische Übersicht in: Caritas Jahrbuch 1977 Eicke, Dieter - Das Über-Ich - Eine Instanz, Richtungsgebend für unser Handeln - in: Eicke, Dieter (Hrsg.) Siegmund Freud - Leben und Werk - Weinheim und Basel, 1987 Enders, Manfred - in: Deutscher Verein . . . . Fachlexikon, 1986 Fatzer, Gerhard Fehlker, Martha - Ganzheitliches Lernen - Paderborn, 1988 Der wissenschaftliche Anspruch der Sozialarbeit in: Sozial 1/1989 156 Fraßa, Heinz-Jörg - Gestalttherapie - in Deutscher Verein . . . , Lexikon der Sozialen Arbeit - Frankfurt, 1986 Gaertner, Adrian - Sozialtherapie -Neuwied, 1982 Gehlen, Arnold - Antropologische Forschung - Reinbeck bei Hamburg, 1980 Geisel, Beatrix und Leschmann, Gudrun Handlungsansätze sozialer Arbeit - in: Sozialmagazin, 3/1984 Geißler, Karl-Heinz / Hege, Marianne Konzepte sozialpädagogischen Handelns Weinheim und Basel, 1988 Germain, C.B. / Gitterman, A. Praktische Sozialarbeit: Das "Live-Modell" der Sozialen Arbeit - Stuttgart, 1983 Goeschel, Hans-Dieter/Sachße, Christoph Theorie und Praxis in der Sozialarbeit - Ein Rückblick auf die Anfänge sozialer Berufsausbildung Goffman, Erving - Asyle - Frankfurt, 1972 Goodman, Paul - Aufwachsen im Widerspruch - Darmstadt, 1956 Goodman, Paul - Das Verhängnis der Schule - Frankfurt, 1964 Goodman, Paul - Freiheit und Lernen - in: Neue Sammlung Göttingen, 1969 Gotthardt-Lorenz, Angela Organisationsberatung: Hilfe und Last für die Sozialarbeit - Freiburg, 1989 Heekerens, Hans-Peter - Aspekte der Berufstätigkeit von Gestalttherapeuten - in: Integrative Therapie 1-2/1984 Hege, Marianne - Die Bedeutung der Methoden in der Sozialarbeit in: Expertisen zur Sozialarbeit - München, 1984 Heidegger, Martin - Sein und Zeit - Tübingen, 1976 Fehler! Textmarke 157 nicht definiert. Hinte, Wolfgang / Springer, Werner Personale Kompetenz und professionelles Handeln - in: Neue Praxis 6/1987 Hollstein, Walter / Meinhold, Marianne Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen - Frankfurt, 1973 Hollstein, Walter / Meinhold, Marianne Sozialpädagogische Modelle Frankfurt, 1977 Horney, Karen - Der neurotische Mensch unserer Zeit - München, 1973 Klaus/Buhr - Philosophisches Wörterbuch - Berlin (Ost), 1972 Knoll, Andreas - Gruppensupervision - vom psychoanalytischen Ansatz zum Gestaltansatz - Kassel, 1980 Laborde/Brown - Die Bedeutung des Introjektionskonzeptes für die integrative Erziehung - in: Integrat. Therapie 1/81 Lapassade, Georges - Gruppen, Organisationen, Institutionen Stuttgart, 1972 Laplanche/Pontalis - Das Vokabular der Psychoanalyse - Frankfurt, 1972 Lemke, Jürgen - Soziotherapie - Protokoll eines Podiumsgesprächs - in: Petzold/Schmidt, Gestalttherapie - Wege und Horizonte - Paderborn, 1985 Lowy, Louis - Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Wissenschaft im angloamerikanischen und deutschsprachigen - Freiburg, 1983 Raum Lück, Helmut E. - Feldtheoretische Beobachtungen zur Hilfeleistung - in: Guss, Kurt - Gestalttheorie und Sozialarbeit - Darmstadt, 1979 Luhmann, Niklas - Ökologische Kommunikation - Opladen, 1986 Maor, Harry - Soziologie der Sozialarbeit - Stuttgart, 1975 Mentzos, Stavros - Interpersonale und institutionalisierte Abwehr Frankfurt, 1988 Merleau-Ponty 1966 Phänomenologie der Wahrnehmung - Berlin, Merleau-Ponty - Vorlesungen I - Berlin, 1972 Metzger, W. - Was ist Gestalttheorie - in: Guss, Gestalttheorie und Erziehung - Darmstadt, 1979 Nellessen, Lothar sozialen in: Deutscher Verein. . . , Fachlexikon der Arbeit - Frankfurt, 1986 158 Perls, Frederick S. - Das Ich, der Hunger und die Agression Stuttgart, 1978 Perls, Fritz - Grundlagen der Gestalttherapie - München, 1976 Perls, Hefferline, Goodman Gestalttherapie - Lebensfreude und Persönlich keitsentfaltung - Stuttgart, 1979 Petzold, Hilarion Integrative Der Mensch ist ein soziales Atom - in: Therapie, 3/1982 Petzold, Hilarion und Die Gestalttherapie von Fritz Perls, Lore Perls Paul Goodman - in: Integr. Therapie, 1 u. 2/1984 Petzold, Hilarion - Gestaltpädagogik - in: Petzold/Brown Gestaltpädagogik - München, 1978 Petzold, Hilarion - Gestalttherapie und Psychodrama - Kassel, 1973 Petzold, Hilarion - Integrative Gereagogik - in: Petzold/Brown, Gestaltpädagogik - München, 1977 Petzold, Hilarion - Vorüberlegungen und Konzepte zu einer integrativen Persönlichkeitstheorie - in: Integrative Therapie, 1-2/1984 Petzold/Sieper - Quellen und Konzepte Integrativer Agogik - in: Petzold/Brown, Gestaltpädagogik, München, 1977 Polster, Erving und Miriam Gestalttherapie - München, 1975 Portele, Gerhard - Zur Prophylaxe von Neurosen - eine gestalt therapeutische Perspektive - in: Integrative Therapie, 2-3/1983 Rahm, Dorothea - Gestaltberatung - Paderborn, 1979 Ridder, Paul - Liebe als Steuerungssprache - in: Neue Praxis, Sonderheft 1978 Rost, Detlef 1988 Psychoanalyse des Alkoholismus - Stuttgart, Schmidtbauer, Wolfgang An den Bedürfnissen vorbei - in: Sozialmagazin, 12/1983 Fehler! Textmarke 159 nicht definiert. Schmidtbauer, Wolfgang Die hilflosen Helfer - Frankfurt, 1977 Schneider, Horst Interventionsformen Schubert, Klaus - Handlungsspielräume in der Sozialarbeit, eine Einführung in die Konstitutionsanalyse sozialer Problemlagen und die Funktions- und Restriktionsanalyse staatlicher Göttingen, 1973 bis Überblick über den Anwendungsbereich und die Indikation der Gestalttherapie - Ergabnisse einer Kurzumfrage, durchgeführt in der Zeit von Okt. Dez. 1980 - in: Integrative Therapie, 2-3/1983 Schülein, Johann - Psychoanalyse u. Psychoboom - in: Psyche 1978 Schülein, Joh.-Augus - Theorie der Institutionen - Opladen, 1987 Schwendter, Rolf - Theorie der Subkultur - Köln/Berlin, 1971 Selvini-Palazzoli, Mara - Hinter den Kulissen der Organisation Stuttg.1984 Simmel, Monika - Alice Salomon, Vom Dienst der bürgerlichen Tochter am Volksganzen - in: Sachße/Tennstedt (Hrsg.), Jahrbuch der Sozialarbeit 4 Reinbeck bei Hamburg, 1984 Stach, Reinhard Momente Die konstituierenden und erschließenden der pädagogischen Situation - in: Guss, Gestalttheorie und Erziehung - Darmstadt, 1975 Staemmler,F./Bock,W.- Neufassung der Gestalttherapie - München, 1988 Staub-Bernasconi, Silvia Soziale Arbeit als eine besondere Art des Umgangs mit Menschen, Dingen und Ideen - zur Entwicklung einer handlungstheoretischen Wissensbasis sozialer Arbeit - in: SozialArbeit, 10/1986 Stevens, J. - Die Kunst der Wahrnehmung - München 1975 Stierlin, Helm - in: Bateson, Gregory - Ökologie des Geistes Frankfurt, 1988 Straub, Helga - Psychodrama - in Deutscher Verein . . . , Fachlexikon d. Sozialen Arbeit - Frankfurt, 1986 Ulrich/Probst Handeln Anleitung zum ganzheitlich-systemischen - Bern, 1988 160 Uni, Bundesanstalt für Arbeit Arbeitsmarkt Sozialarbeiter/Sozialpädagogen, Tendenzwende geglückt, Oktober 1992 Völzke, Reinhard - Die Methode des biographischen Gesprächs in der Sozialpädadogik, Bochum 1990 Walter, Hans-Jürgen und Irene Klinische Psychologie muß Gestalt annehmen in: Psychologie heute, 6/1979 Watzlawick, Paul - Menschliche Kommunikation - Stuttgart, Wien, 1985 Weber, Harmut-M. Strafvollzug Neuwied, 1982 Sozialtherapie als Herrschaft: Beispiel -in: Gaertner, Sozialtherapie, Weber, Max - Wirtschaft und Gesellschaft - Tübingen, 1947 Wieler, Joachim - Global denken, lokal handeln - Internationale Vernetzung in der Sozialen Arbeit - in: Sozial 2/1986 Willke, Helmut - Systemtheorie - Stuttgart, New York, 1982 Wnuk-Gnete, Gisal / Wnuk, Werner Fortbildung in Familientherapie - in: Neue Praxis, Sonderheft 1988 Yontef, Gary M. - Gestalttherapie - 1977 Ziman, John - Wie zuverlässig ist wissenschaftliche Erkenntnis? - Braunschweig, 1982 Fehler! Textmarke 161 nicht definiert. Biographische Angaben zum Autor Andreas Knoll, geb. 1949 in Berlin 1966 bis 1969 1971 bis 1975 1975 bis 1978 1978 bis 1981 1981 bis 1986 1981 bis 1990 seit 1986 Schriftsetzerlehre Sozialarbeiterstudium an der Gesamthochschule Kassel Sozialarbeiter in Suchtberatungsstellen und einer Drogentherapieeinrichtung in Kassel und Nürnberg Diplomstudium Supervision, Gesamthochschule Kassel Stationstherapeut in einer Fachklinik für Suchtkranke Weiterbildung zum Gestalttherapeut durch das Fritz-Perls-Institut (FPI) Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum 162