DENKEN und HANDELN Band 20 Die Gestalt der Sozialarbeit

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DENKEN und HANDELN
Band 20
Die Gestalt der Sozialarbeit
Andreas Knoll
ein methodischer Ansatz
institutionsanalytischer Gestalt-Sozialarbeit
Herausgegeben ... usw.
zum Geleit
W. Trautmann
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1 nicht definiert.
Inhaltsverzeichnis
____________________________________________________________
_
1. Einleitung
1.1 Aufbau
2. Das Methodendilemma in der Sozialen Arbeit
2.1
2.2
2.3
2.4
Historische Entwicklung vor dem Krieg
Die "klassischen amerikanischen Methoden"
Die Methodenkritik nach 68
Der "Psychoboom" und seine Auswirkungen auf die Soziale Arbeit
3. Ganzheitliche Sozialarbeit
3.1 Auf der Suche nach einem eigenständigen Methodenkonzept für die
Soziale Arbeit
3.2 Ganzheitliche Ansätze in der Sozialen Arbeit
3.3 Strukturierung und Differenzierung des ganzheitlichen Ansatzes
3.31 EXKURS:
Methodentheoretische Erörterung
3.4 Das Konzept der Ganzheitlichkeit
4. Systemorientierte Sozialarbeit
4.1 Ganzheitlichkeit und Systemperspektive
4.2 Die soziologische Systemtheorie
4.21 Die Entwicklung der soziologischen Systemtheorie
4.3 Ganzheitliches und systemisches Denken in der Sozialarbeit
4.4 Personale Kompetenz und ganzheitlich-systemisches Handeln
4.5 Veränderungsprozesse aus ökologisch-systemischer Perspektive
4.6 Die Eigenschaften lebender Systeme
2
5. Instutionale Sozialarbeit
5.1 Die Definition des Institionsbegriffs
5.2 Der praktische Institutionsbegriff
5.3 Der Institutionsbegriff für Sozialarbeit und Sozialtherapie
5.31 Die intrapersonale Institution
5.32 Die interpersonale Institution
5.4 Primäre und sekundäre Institutionen
5.5 Institutionelle Ebenen
5.6 Organisation und instituionalisierte Berufsrollenidentität
5.7 Das Problem der Bürokratie in der sozialen Arbeit
5.8 Die psychosoziale Abwehrfunktion der Institutionen
5.9 Organisationsberatung, Organisationsentwicklung
5.10
Individualisierung und Instituionalisierung in der
Industriegesellschaf
5.20
Ort und Gegenstand der Sozialarbeit
5.20.1 Sozialarbeit und Über-Ich
5.30
Exemplarische Zusammenfassung des skizzierten
Institutionsansatzes
5.40
Thesenartige Zusammenfassung des skizzierten
Institutionsansatzes
5.50
Das systemisch-ganzheitliche Institutionsverständnis
5.60
Anmerkungen/Literatur zu Kapitel 5
6. GESTALT IN DER SOZIALARBEIT
6.1 Definition der Gestalttherapie
6.2 Das Problemverhältnis von Sozialarbeit und Gestalttherapie
6.3 Die Bedeutung des Introjektionskonzeptes für eine
institutionsorientierte Sozialarbeit
6.31 Fallbeispiel
6.311 Therapeutische Auseinandersetzung mit dem Feld
6.4 Die Einwirkung des Feldes
6.5 Die Institutionskritik Paul Goodmans
6.51 Goodman - Lapassade
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3 nicht definiert.
6.6 Zusammenfassende theoretische Darstellung der Gestaltherapie
6.61 Quellen und Konzepte der Gestaltherapie
6.611 Psychoanalyse
6.612 Psychodrama
6.613 Östliche Philosophien
6.614 Phänomenologie
6.615 Gestalttheorie
6.62 Konzepte
6.621 Awareness
6.622 Hier und Jetzt
6.623 Vermeidungsmechanismen
6.63 Die Kontaktgrenze
6.7 Anthropologische Konzepte gestaltpädagogischen Handelns
6.8 Phänomenologie - wissenschaftstheoretische und philosophische
Grundlage der Gestalttherapie
6.81 Wissenschaftstheoretische Definition
6.82 Der Phänommenologiebegriff Merleau-Pontys
6.83 Heideggers Phänomenologie
6.84 Die Wirkung des phänomenologischen Denkens in der
praktischen Gestaltherapie
6.9 Verfahren und Techniken der Gestaltarbeit
6.91 Beratungs- und Gesprächsführungstechniken
6.911 Gestalttechniken zur Einsichtsförderung
6.912 Gestalttechniken zur Förderung von eigener
Verantwortlichkeit und Entscheidungsfähigkeit
6.92 Kreative Techniken
6.93 Körper- und Bewegungstechniken
6.94 Rollenspieltechniken
7.
Schlusskapitel
4
1. EINLEITUNG
Als ich mich im Jahre 1986 um eine Stelle an einer Fachhochschule für
Sozialarbeit, im Fach "Methoden der Sozialarbeit" bewarb, konnte ich mich
nur noch mit Mühe daran erinnern, was sich hinter dieser Fachbezeichnung
verbirgt. Nun war ich zu diesem Zeitpunkt weder Berufsanfänger noch ein
ausgebrannter berufsblinder Sozialarbeiter; im Gegenteil: mein Studienabschluß als Sozialarbeiter lag knapp zwölf Jahre zurück, der als DiplomSupervisor sechs Jahre; die Zusatzausbildung zum Gestalttherapeuten hatte
ich auch nahezu abgeschlossen. Die etwa neunjährige Berufs- und Supervisionserfahrung hatte mich mit beinahe allen Feldern Sozialer Arbeit in
Berührung gebracht, besonders im Suchtbereich fühlte ich mich in Theorie
und Praxis bewandert. Die Tatsache, nun mit einer Situation konfrontiert zu
sein, in der ich keine inhaltlichen Aussagen zu den Kernvollzügen meiner
Profession machen konnte, verunsicherte mich damals erheblich.
Die Frage, um was es sich eigentlich bei diesen "Methoden der
Sozialarbeit" handelt, beschäftigte mich in den Monaten während meines
Bewerbungsverfahrens in hohem Maße.
Da ich damals wie heute einige Berufskollegen zu meinem näheren
Freundeskreis zählte, konnte ich dieses Thema mitsamt meinen professionellen Verunsicherungsgefühlen in diesem kollegialen Freundeskreis
besprechen.. Nun handelte es sich bei den befreundeten Kollegen durchweg
um "alte Hasen", die teilweise schon vor 1970 ihr Studium begonnen
hatten, bis heute die unterschiedlichsten Zusatzausbildungen absolvierten
und langjährig praktisch tätig waren; teilweise in den klassischen Feldern
der Sozialarbeit, wie Jugendamt, Allgemeiner Sozialdienst u.ä., teilweise in
neueren und alternativen Einrichtungen, wie z.B. Beratungsstellen und bei
Selbsthilfeeinrichtungen.
Meine Frage nach den "Methoden der Sozialarbeit" löste bei den meisten
dann jedoch ähnliche Empfindungen aus, wie ich sie von mir bereits
kannte. Es hatte teilweise etwas Peinliches, von Halbwissen geprägtes an
sich, vergleichbar mit so unsäglichen Situationen, in denen man sich nicht
mehr daran erinnern kann, wie der erste Bundespräsident hieß oder in
welchem Jahr die Währungsreform war. Eines wurde mir jedoch schnell
deutlich und entlastete mich doch sehr. Es war nicht mein individuelles
Problem, es schien so zu sein, daß viele Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen meiner Generation ähnliche Lücken aufwiesen. Natürlich erhielt ich
einige vage Angaben, wie z.B. "Einzelfallhilfe", "das kommt aus der
Fürsorge", "das ist Alles" usw. Die genauesten Angaben konnte ein
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5 nicht definiert.
befreundeter Kollege machen, der seine Ausbildung Anfang der siebziger
Jahre in einer kirchlichen Fachhochschule absolvierte, die für mich und
viele meiner damaligen Kommilitonen in dem Ruf stand, unsagbar
konservativ zu sein. Er zählte Casework, Gruppenarbeit und
Gemeinwesenarbeit auf, er konnte inhaltlich jedoch nicht viel mehr
ausführen. Bei der Aufzählung dieser Begriffe begann ich mich dann doch
wieder zu erinnern und mir fielen einige Sozialarbeitslehrerrinnen aus den
ersten Semestern meines Studiums (70/71) ein, die bei uns Studenten von
damals jedoch keinen besonderen Ruf genossen.
Die Beschäftigung mit der Frage, wie es kommen konnte, daß gemeinsam
mit mir große Teile dieser Berufsgeneration Handlungskonzepte aus der
Sozialarbeit nicht, oder nur sehr oberflächlich kennen, schien mir auf einen
zentralen Berufskonflikt hinzudeuten. Die Antwort darauf, so hoffte ich,
müßte mir auch Aufschluß über meinen beruflichen Identitätskonflikt
geben können.
Dieser berufliche Identitätskonflikt, bei mir und anderen Kollegen, die sich
methodisch fort- und weitergebildet haben, schien mir einen Angelpunkt in
der Unkenntnis über die methodengeschichtliche Entwicklung des Berufes
zu haben. Diese Unkenntnis führte vielfach dazu, daß man sich in der
eigenen methodischen Orientierung unbedenklich von anderen Berufsgruppen definieren ließ. Zu Zeiten des "Psychobooms" handelte es sich bei
diesen Berufsgruppen vorwiegend um Psychologen und Psychiater, in
jüngerer Zeit auch vermehrt um Juristen.
Wie ist das gekommen?
Mit Beginn meines Studiums im Herbst 1970 erlebte ich die sozialarbeiterische Methodenentwicklung in einem ungeheuren Spannungsfeld. Das im
Jahre 1962 in die Ausbildung an den Höheren Fachschulen für Sozialarbeit/Sozialpädagogik eingeführte Fach "Methoden" wurde nahezu ausschließlich von lehrenden Sozialarbeiterinnen vermittelt (es waren fast
uneingeschränkt Frauen). Die endgültige Durchsetzung dieses Faches dauerte noch bis 1971. Marianne Hege erinnert sich noch daran, "welche
persönliche Genugtuung die Kolleginnen erfüllte, als dieser Tatbestand auf
einer Tagung dieser Dozenten 1971 in Berlin festgestellt wurde."(1)
Nahezu zum gleichen Zeitpunkt wurden die Höheren Fachschulen in
Fachhochschulen umgewandelt. Meine Ausbildungsstätte wurde
darüberhinaus sogar in die erste Gesamthochschule Deutschlads integriert.
(
1)
Hege, 1984
6
Diese Umwandlung bedeutete für mich und viele meiner damaligen
Studienkollegen und -kolleginnen einen großen Fortschritt und eine
Anerkennung der Sozialarbeit auf ihrem Wege zur Wissenschaftlichkeit.
Darüber hinaus kamen jetzt viele neue Lehrkräfte - nun Professoren - zu
uns, die wir teilweise aus der "achtundsechziger-Zeit" kannten und
bewunderten, weil sie als Studenten teils im SDS (Sozialistischer
Deutscher Studentenbund) teils in anderen linken Gruppierungen der
Studentenbewegung aktiv waren.
Im Zuge der "68er-Bewegung" erlebten die Sozialwissenschaften einen
enormen Auftrieb und die Studentenzahlen stiegen mächtig an. Diese Sozialwissenschaftler suchten nun ein Betätigungsfeld und fanden es in der
Sozialarbeit.
"Die neu hinzugekommenen Dozenten und Professoren hofften mit den
Studenten dieser Jahrgänge 1971/1972, daß gerade das Feld der Sozialarbeit der gesellschaftliche Ort sein könnte, in welchem sich durch Politisierung Veränderungen in Richtung auf eine Demokratisierung der Gesellschaft, Abbau von Herrschaftsstrukturen und damit Humanisierung des
Zusammenlebens am ehesten initiieren lassen könnten. Der im Lehrauftrag
der Fachhochschulen geforderte Theorie-Praxis-Bezug schien eine
Möglichkeit der direkten Einflußnahme auf die Praxis zu geben. In der
gemeinsamen Arbeit von Lehrenden und Studenten im Projekt sollte auch
der Lernprozeß selbst zu einem Beispiel neuverstandener Sozialarbeit
werden (Abbau des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, Erfahrungen im Feld
und theoretische Reflexion im Seminar als didaktischer Prozeß)."(2)
Die zu diesem Zeitpunkt, nach langen Kämpfen gerade eingeführten
"Methoden der Sozialarbeit", sahen sich nun einer massiven Kritik von
gesellschaftskritischen Sozialwissenschaften gegenüber, der die damaligen
Methodikerinnen nicht standhalten konnten, zumal sie durch die Einführung der Fachhochschulen eklatante Statusverlußte hinnehmen mußten.
Während aus Lehrern, die in der Sozialarbeiterausbildung tätig waren, im
Nu Professorinnen und Professoren wurden, bekamen die Sozialarbeiterinnen den Status "Lehrkraft für besondere Aufgaben".
Da wundert es mich im Nachhinein nicht, daß mit mir eine Vielzahl meiner
damaligen Kommilitoninnen und Kommilitonen die Orientierung an den
Methoden der Sozialarbeit zu Gunsten einer gesellschaftskritischen
Perspektive aufgaben. Die heutigen Identitätskonflikte scheinen nun damit
(2)
Hege, 1984
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7 nicht definiert.
zusammenzuhängen, daß auf der einen Seite ein Prozeß der Abspaltung
der berufs- und methodengeschichtlichen Dimension stattfand und auf der
anderen Seite Handlungsmethoden anderer akademischer Disziplinen
weitestgehend unhinterfragt in die Ausbildung übernommen wurden.
Klientenzentrierte Gesprächsführung, lerntheoretische Ansätze und die
Gruppendynamik hielten nun Einzug.
Die gesellschafts- und methodenkritische Phase der Sozialarbeit hat uns
zwar einen großen Schritt weitergebracht, indem sie unser Augenmerk auf
die Gesellschaft als konstitutiv für soziale Probleme lenkte. Sie konnte
jedoch zur Lösung unseres berufsethischen Grundkonfliktes nur wenig
beitragen.
Mein berufsethischer Grundkonflikt besteht seit Beginn meines Studiums darin, daß ich die Bedingungen für individuelles Unglück größtenteils
im politisch-sozialen System verortet sehe, das den einzelnen Menschen
unterwirft. Darum muß ich Veränderung als Veränderung am System
begreifen. Andrerseits sind es aber die Menschen selbst, die das System
ausmachen. Das System kann demzufolge nur verändert werden, wenn die
Menschen nicht mehr systemkonform handeln. Muß deshalb die
Veränderung doch wieder beim Individuum ansetzen?
Mit meinem institutionsanalytisch-gestalttherapeutischen Ansatz versuche ich diesen Widerspruch zu überwinden, indem ich mit "Institution"
einen Begriff einführe, den man sowohl als Bestandteil eines individuellen,
als auch eines gesellschaftlichen Unbewußten begreifen kann.
Die Institution ist sowohl im Individuum, als inneres Normen- und Wertgefüge wirksam (die Psychoanalyse nennt es Über-Ich) als auch auf
sämtlichen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, bis hin zu den Gesetzen.
Während meiner Tätigkeit als Sozialarbeiter und als Supervisor habe ich
ständig die Erfahrung machen müssen, daß das Klientel der Sozialen Arbeit
in besonders auffälliger Weise im Umgang mit Institutionen scheitert. Das
fängt an im Kindergarten sichtbar zu werden und zieht sich durch den
gesamten Lebenslauf bis hin zum Altenpflegeheim.
Dieses Scheitern der Menschen in den Institutionen muß nun von der Sozialarbeit in zweierlei Richtungen angegangen werden: eine individuumzentrierte Arbeit hat das Ziel, dem einzelnen Menschen zu inneren Orientierungs- und Wertsystemen zu verhelfen, die es ihm ermöglichen, sich erfolgreich in der Gesellschaft zu bewegen. Eine gesellschaftlich orientierte
8
Arbeit hat das Ziel, Institutionen dergestalt zu verändern, daß die Menschen sich erfolgreich darin bewegen können.
Von diesem Standpunkt aus gesehen, hat Gesellschaftsveränderung keinen
weltrevolutionären Anspruch mehr, sondern sie setzt an den konkreten
Institutionen an, in denen und mit denen Sozialarbeit tätig ist.
Mit dem hier skizzierten Ansatz versuche ich ein integriertes Konzept
methodischer Sozialarbeit zu entwerfen, welches die allgemeine Basis für
methodisches Handeln im gesamten Feld sozialer Arbeit liefern soll. Es
geht also nicht um die Entwicklung spezifischer Methoden und Techniken
für jeweils anders geartete Felder Sozialer Arbeit, sondern hier soll
Sozialarbeit als breites Handlungsfeld verstanden werden, in dem die
Professionellen nicht als Spezialisten sondern als Generalisten auftreten
und handeln.
Diese Überlegungen führen dazu, daß die Begriffe Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit nicht mehr voneinander getrennt werden. Der
hier entworfene Methodenbegriff ist für alle Bereiche anwendbar.
Der Anspruch, einen Methodenansatz für "generalistische Sozialarbeit" zu
entwerfen, macht es zunächst nötig, die Methodengeschichte der Sozialarbeit zu reflektieren. Aus der Reflexion dieser Methodengeschichte ergibt
sich der Anspruch nach ganzheitlicher Betrachtungsweise. Die sich aus
dem Anspruch nach Ganzheitlichkeit ergebenden Komplexitätsprobleme
versucht das systemische Denken theoretisch in den Griff zu bekommen.
Den praktischen Ansatz dazu schließlich liefert das Gestaltdenken, welches
uns ermöglicht, Ganzheiten zu differenzieren, indem es eine Figur-GrundKonzeption entwirft.
Dieses Denken verortet nun die Genese Sozialer Probleme in der Gesellschaft. Diese Gesellschaft wird in Subsysteme differenziert, die ich als Institutionen beschreibe. Individuelle Probleme tauchen als "Figur" vor dem
institutionellen "Grund" auf. Institutionelle Probleme tauchen als "Figur"
vor dem gesamtgesellschaftlichen "Grund" auf. Sowohl "Figur" als auch
"Grund" können Gegenstand der "Behandlung" sein.
Meine ersten Erfahrungen mit Gestalttherapie machte ich im Jahre 1975,
als ich in einer Langzeittherapie-Einrichtung für Drogenabhängige tätig
war. Gleich am ersten Tag meiner Tätigkeit nahm ich an einer Therapiesitzung teil, bei der ein Klient mit größtmöglicher innerer Beteiligung auf
eine Matratze einschlug und dabei schrie, "ich schlag Dich tot, Mutter . . .".
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9 nicht definiert.
Ich war fasziniert und abgestoßen zugleich und konnte mich der Gedanken
an Exorzismus nicht erwehren.
Als ich im Anschluß an die Therapiesitzung mit dem Gestalttherapeuten
sprach, sagte dieser mir, daß die zurückbehaltenen aggressiven Energien
herausgelassen werden müssen, was zu einer Befreiung führen würde. Ich
konnte das gut nachvollziehen und erlebte in den nächsten Monaten ähnliche Therapiesitzungen.
Meine Skepsis gegenüber der Gestalttherapie entwickelte sich dann erst, als
diese Drogenabhängigen, nach teilweise über zwölf-monatiger Therapie
entlassen wurden und versuchten, ein bürgerliches Leben zu führen. Völlig
kritiklos, ohne jegliches Verständnis gesellschaftspolitischer Zusammenhänge, versuchten diese jungen Leute auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Keiner von ihnen konnte die Gefühle reflektieren, die die soziale Situation
in ihm auslöste und fast alle scheiterten nach kurzer Zeit in ihren neu
geschaffenen sozialen Bezügen und kehrten in die Drogenszene zurück,
wobei das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen
Gruppe (Drogenszene), deren Spielregeln man gut kannte,
mitausschlaggebend war.
Ich entwickelte damals so ein gewisses Unbehagen der Gestalttherapie
gegenüber, was ich auch heute (1992) noch bei vielen meiner Berufskollegen erlebe. Gestaltarbeit erschien mir als einseitig, auf die
explosionsartige Entladung von Spannungszuständen ausgerichtete Therapieform, die die soziale Wirklichkeit der Menschen nicht sieht.
Erst Jahre später fielen mir Schriften von Paul Goodman(3) in die Hände,
die mir ein völlig anderes Bild der Gestalttherapie vermittelten. In diesem
Bild erschien mir Gestalttherapie nun als ein Verfahren, das zwar weiterhin
zur Heilung und Linderung individuellen Leides beiträgt, darüber hinaus
aber auch darauf abzielt, "Bewußtsein" zu schaffen. Dadurch soll die
Fähigkeit zu kommunizieren gefördert werden, damit Individuen sich in
der Gesellschaft besser orientieren können und zu ihrer Humanisierung beitragen.
Paul Goodman war mit seinem Ansatz für mich der eigentliche Sozialpädagoge, der mir dazu verhalf, meinen berufsethischen Konflikt als besondere
Chance der Sozialarbeit zu sehen. Ich erlebe individuelles Leiden und bin
bemüht, dieses mit Gestalt-Methoden zu lindern, doch stets frage ich mich,
welches denn die Bedingungen sind, die verhindern, daß die Menschen ein
"gutes Leben" und "glückliches Zusammenleben" führen, stets frage ich
(3)
Goodman, 1956
10
mich nach den Ursachen für individuelle Unzufriedenheit und soziale
Mißstände. Meistens finde ich diese Ursachen in den Institutionen, aus
denen diese Gesellschaft besteht. Und dann frage ich danach, wie diese
Institutionen zu verändern sind.
1.1 Aufbau
Die nun folgenden Ausführungen sind in erster Linie Ergebnis meiner
praktischen Erfahrungen, die ich in über 10 Jahren Supervisorentätigkeit,
ebensolangem Sozialarbeiterhandelns und sechsjähriger Ausübung von
klinischer Soziotherapie habe sammeln können. Die theoretischen Zugänge
wurden mir insbesondere durch meine Tätigkeit als lehrender
Sozialarbeiter wieder neu eröffnet.
Im Kapitel über das Methodendilemma in der Sozialen Arbeit werde ich
zunächst die Methodengeschichte grob skizzieren. Hierbei soll aber auch
verdeutlicht werden, wie geschichtliche Prozesse dazu geführt haben, daß
die Sozialarbeit den Weg zur Wissenschaft und Profession zunächst nur
mühsam zu beschreiten im Stande war.
Das Kapitel über die ganzheitliche Sozialarbeit greift zunächst auch noch
einmal auf die Berufsgeschichte zurück und verankert dort den
Ganzheitsbegriff in all seiner Problematik. Im weiteren Verlauf wird dieser
oft umstrittene Begriff in Verbindung mit dem ökologisch-systemischen
Denken jüngerer Zeit gesehen. Dabei wird erstmals angedeutet, welche
Bedeutung der "Paradigmenwechsel" in den Naturwissenschaften für ein
modernes ganzheitliches Denken haben kann. Es folgt ein Exkurs, der den
Methodenbegriff zu erläutern versucht. Die weiteren Erörterungen des
Ganzheitsbegriffs beziehen nun ganz den "Paradigmenwechsel" mit ein.
Eine Ausdifferenzierung des Ganzheitsbegriffs wird im Kapitel über
systemorientierte Sozialarbeit versucht. Hier werden der Sozialarbeiter und
die Sozialarbeiterin stets als ein Bestandteil eines ganzen Klient-HelferSystems betrachtet, wodurch die Notwendigkeit selbstreflektierenden
Arbeitens sichtbar gemacht werden soll.
Das zentrale Kapitel der Ausarbeitung handelt von "Institutionaler Sozialarbeit". Hier ist bewußt nicht der Begriff "institutionell" verwendet worden,
weil hiermit nicht in erster Linie Institution im Sinne von Organisationen
Fehler! Textmarke
11 nicht definiert.
und Behörden gemeint ist, sondern darüberhinausgehend die Abbildung
dieser äußeren Strukturen im inneren Erleben der Menschen. In diesem
Kapitel sind einige Fallbeispiele illustriert, die, zuerst gelesen, einen etwas
lebendigeren Zugang zur Thematik geben. Den Schluß dieses Teils der
Arbeit bildet eine thesenartige Zusammenfassung des institutionalen Ansatzes, die notwendigerweise etwas grob und axiomatisch erscheinen mag.
Im Kapitel Gestalt in der Sozialarbeit versuche ich nun Ansätze für ein
Handlungskonzept zu entwickeln, welches Methodengeschichte, Ganzheitlichkeitsanspruch
und
institutionellen
Zugang
vereinheitlicht.
Wahrscheinlich ist mir das nur in Ansätzen gelungen. Obwohl die
Gestalttherapie in Deutschland im letzten Jahrzehnt, insbesondere durch
Petzold, eine immense Weiterentwicklung erfahren hat, greife ich hier
zunächst nur auf die Grundlagen dieses Denkens zurück, weil ich denke,
daß die der Gestalttherapie zugrunde liegenden anthropologischen
Konzepte mit dem Menschenbild aus der Geschichte der Sozialarbeit "vollkompatibel" sind.
Ich bedanke mich bei meinen Lehrern:
Ulf Weißenfels, Heiner König, Lothar Nellessen, Hilarion Petzold sowie
meiner Frau und Kollegin Andrea Kunze.
12
2.
DAS METHODENDILEMMA IN DER SOZIALEN ARBEIT
Der Methodenbegriff ist in der Sozialarbeit seit je her unklar und vieldeutig. Während man noch in den frühen fünfziger und sechziger Jahren
hoffte, ein klar umgrenztes Methodenkonzept entwerfen zu können, hat die
spätere Entwicklung gezeigt, daß eine zunehmende Verwissenschaftlichung
der Disziplin zu theoretischen Ausdifferenzierungen führte, denen die
praktische Umsetzung kaum noch Rechnung tragen konnte. Es entstand
eine Kluft zwischen Theorie und Praxis, die bis heute spürbar geblieben ist.
2.1
Historische Entwicklung vor dem Krieg
Der Begriff Sozialarbeit entstand um die Jahrhundertwende als "Social
Work" in Amerika. In Deutschland waren Begriffe wie "Fürsorge" und
"Wohlfahrtspflege" bis in die fünfziger Jahre gängige Bezeichnungen.
Obwohl in Deutschland bereits vor den zwanziger Jahren Ausbildungsstätten für Fürsorgerinnen und Wohlfahrtspflegerinnen bestanden, war
lange Zeit das Feld der "helfenden Tätigkeiten" von Menschen besetzt, die
keine dieser Schulen besucht hatten. Hunderttausende von Menschen, die
keine Ausbildung hatten, waren in kirchlichen Institutionen im Dienste des
christlichen Liebeswerkes tätig und machten "irgendwie" die gleiche Arbeit
wie diejenigen, die in den Schulen dafür ausgebildet worden waren.
Die ersten dieser Schulen wurden schon um die Jahrhundertwende gegründet. Bereits 1901 begann in Frankfurt die drei Jahre zuvor gegründete
Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften mit dem Lehrbetrieb.
Diese Akademie wurde 1914 in die Universität Frankfurt/Main integriert,
wo seit 1912 der erste Lehrstuhl für das Fürsorgewesen bestand. Zwischen
1912 und 1923 gab es in Köln eine Frauenhochschule für soziale Berufe, an
der ein viersemestriges Studium auf akademischen Niveau ermöglicht
wurde. Dennoch kann man von einer Entwicklung einer FürsorgeWissenschaft zu dieser Zeit noch nicht sprechen, da sich zu wenig
Studierende für diesen Bereich interessierten.(4)
"In die Zeit der Weimarer Republik fallen daher auch die Ansätze einer
Professionalisierung der Sozialarbeit; die Versuche, Berufsbild und Be-
(4)
vergl. Fehlker, 1989
Fehler! Textmarke
13 nicht definiert.
rufsbildung mit den Mitteln der beruflichen Organisation zu kontrollieren
und zu stabilisieren."(5)
Die "Sozialen Frauenschulen" formulierten in der Zeit zwischen 1921 und
1933 Alternativen zur "naiven christlichen Liebestätigkeit"(6) derer, die
Fürsorge nur auf der Grundlage ihrer karitativen Gesinnung ohne wissenschaftliche Reflexion betrieben.
Einen erste Blüte erlebten die Ausbildungsstätten für Sozialfürsorgerinnen
und Wohlfahrtspflegerinnen in den zwanziger Jahren, und die von Alice
Salomon geforderte Verwissenschaftlichung rückte auch mehr und mehr
sozialpolitische Aspekte der Armut in den Mittelpunkt der Betrachtung.
Alice Salomon kann man als die Repräsentantin einer bürgerlichen Frauenbewegung verstehen, die ihr Ideal von der weiblichen Emanzipation mit
Reformansätzen im Bereich von Fürsorge und Wohlfahrtspflege verband.
Diese Bewegung ging davon aus, daß die Verfachlichung der Fürsorge zur
besonderen Kulturaufgabe der bürgerlichen Frau gehört, da ihr mütterliches
Wesen sie besonders qualifiziere, an der Heilung sozialer Schäden
mitzuarbeiten. "Die bürgerliche Frauenbewegung setzte sich von dem
>gefährlichen Dilletantismus< ab, den sie bei jenen >Wohlfahrtsdamen<
anprangerte, die >durch das Taschentuch den Armeleutegeruch fernhalten
wollten<."(7)
"Alice Salomon war in Deutschland eine Pionierin der sozialen Arbeit und
Repräsentantin der Frauenbewegung. Sie hatte ganz wesentlich die
Ausbildung zur Wohlfahrtspflegerin mitgestaltet, besonders auch dadurch,
daß sie einige weitverbreitete Lehrbücher für diese Ausbildung verfaßt hat;
schließlich handelte es sich dabei um die ersten Bücher, mit denen die
Methode des amerikanischen >social work< in Deutschland bekannt wurde
und woran schließlich die deutsche Berufsbezeichnung >Sozialarbeit<
orientiert ist."(8)
Sie erhoffte, mit der von ihr 1908 gegründeten "Sozialen Frauenschule",
von der "Partnerin Wissenschaft" nicht nur zu erfahren, was zu tun sei, um
die Randständigsten der Gesellschaft zu pflegen und zu fördern, sondern
sie wollte auch wissen warum, wozu und wie am besten.
(5)
(6)
(7)
(8)
Sachße, 1986
Maor, 1975
Helene Lange, zit. in: Fehlke 1989
Simmel, 1981
Die von Simmel erwähnten Bücher sind
Soziale Diagnose, Berlin 1926
Soziale Therapie, Berlin 1926
Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927
14
"Aber sogar in dieser Hinsicht war Alice Salomon skeptisch: Die deutschen
Universitäten >dienen der reinen Wissenschaft: der Vermittlung
intellektueller Inhalte und Methoden der Forschung<, konstatierte Alice
Salomon; >nicht unmittelbar der Vorbereitung zum Handeln ... Die Soziale
Arbeit braucht (aber) eine auf das praktische Handeln bezügliche Theorie,
und zwar auf ein Handeln, das sich um das Wohl des Menschen in seiner
Totalität bemüht. Das können die deutschen Universitäten nicht geben.(9)
Alice Salomon war eine Methodikerin der ersten Stunde, die dennoch davon überzeugt war, daß es reflektierte, erfahrungswissenschaftlich untermauerte Handlungsprinzipien im Umgang mit sozialen Problemen bedurfte.(10)
"Die Universitäten zielten auf systematisches, differenziertes Wissen und
nicht - wie die soziale Arbeit - auf ganzheitliches soziales Handeln."(11)
Die Sozialarbeit während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft stand ganz im Dienste der NS-"Rassen- und Volkspflege" und wird
derzeit vielerorts diskutiert. 1933 löste sich die "Deutsche Akademie für
soziale und pädagogische Frauenarbeit, die bereits seit 1925 eine eigene
Forschungsabteilung betrieb, selbst auf, um der nationalsozialistischen
Gleichschaltung zuvorzukommen (vergl. Fehlker).
Nach der Machtergreifung wurden dann sämtliche Verbände der freien
Wohlfahrt unterdrückt, verboten oder in der >Nationalsozialistischen
Volkswohlfahrt< (NSV) gleichgeschaltet."(12)
Während die Fürsorge in Deutschland vor 1933 vorwiegend von jungen
mittelständischen Frauen, die über das soziale Elend empört waren, getragen wurde, und die Auseinandersetzungen damit auch mehr und mehr sozialpolitische Fragestellungen aufwarf, war die amerikanische Social Work
in erster Linie vom Optimismus der Gründerjahre der USA geprägt, dem
selbst die Weltwirtschaftskrise nur vorübergehend Abbruch tat. Während in
Deutschland der Nationalsozialismus wütete, entwickelte sich in den
Vereinigten Staaten eine "Social Work", die sich stark am Optimismus und
den Idealen dieser Nation orientierte und die jetzt noch zusätzliche Impulse
von deutschen Emigranten bekam. Diese Sozialarbeit kam nach Kriegsende
nach Deutschland zurück.
(9)
(10)
(11)
(12)
Geisel, Leschmann, 1984, S. 31
Staub-Bernasconi, 1986, S. 14
Goeschel, Sachße, 1986, S. 434
Bellardi, 1980, S. 64
Fehler! Textmarke
15 nicht definiert.
2.2
Die klassischen amerikanischen Methoden
In den amerikanischen Methodendefinitionen ist später kaum noch von den
Ausgangsbedingungen sozialer Arbeit die Rede; wie Not, Leiden, entwürdigende Arbeits-, Wohn- und Bildungsbedingungen und dem Widerspruch zwischen Arm und Reich. Es erscheinen vielmehr Aussagen, "wie
die vermutlich professionell-neutral gemeinte blasse Formulierung, daß es
um die >Anpassung zwischen Mensch und Umwelt< geht."(13)
So ist es zu verstehen, daß die sozialpolitischen Themen in den 50-ger und
60-ger Jahren in Deutschland zugunsten der Hoffnung aufgegeben wurden,
>Demokratie und Wirtschaftswunder< würden soziale Defizite binden.
"Der Gedanke der Fürsorge im Sinne der Armenfürsorge gilt als überholt.
So gesehen kann Fürsorge wissenschaftlich kaum Bedeutung erlangen."(14)
Kulturell gestützt wurde die amerikanische Sozialarbeit durch drei große
Wertströme: der Deklaration und der Menschenrechte, einem liberal-demokratischen Gesellschaftsbild und dem christlich-jüdischen Erbe.(15)
Die amerikanischen Methoden, die wir als Einzelhilfe (Casework), soziale
Gruppenarbeit (social Groupwork) und Gemeinwesenarbeit kennen,
formulieren einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, den sie wie folgt
begründen:
1.
Gliederung der Interventionen nach einem Phasenkonzept von
Handlungssequenzen, die es pragmatisch und wissenschaftlich auszuwerten gilt. Dieses Phasenkonzept besteht aus Diagnose- und
Behandlungsschritten wie Zielbestimmung, Vertrag, Intervention,
Prozeßbegleitung, Stabilisierung und systematische Auswertung.
2.
Anstatt normativ zu verurteilen, suchen die Methoden der Sozialarbeit, wie die Wissenschaften auch, nach den Ursachen und Hintergründen von sozialen Problemen. Hierzu wird vorzugsweise auf ein
psychoanalytisches Paradigma zurückgegriffen.
Aus heutiger Sicht betrachtet, im Anschluß an eine Phase intensiver und
kritischer Auseinandersetzung mit den Methoden der Sozialarbeit, muß
man feststellen, daß die Wissenschaftlichkeit der Methoden nicht auf die
Rezeption von wissenschaftlich überprüften Theorien zur Begründung von
Handlungsweisungen zurückzuführen ist, vielmehr handelt es sich hier im
(13)
(14)
(15)
Staub-Bernasconi, 1986, S. 15
Hege, 1984, S. 16
Maor, 1975
16
Wesentlichen um Bausteine verschiedener Theorien, die eklektizistisch in
die Methodenliteratur Eingang fanden.
Bei all diesen Konzepten bleibt stets der Hilfeprozeß im Mittelpunkt, wobei
die Aufmerksamkeit auf eine Phasenkonzeption gelegt wird. Diese
Phasenkonzeption beschreibt das zentrale methodische Anliegen des Caseworks.
Unglücklicherweise wurden jedoch bei der Entwicklung des Caseworks
zunehmend Werte, Maximen, Beschreibungen und Erklärungen vielfach in
sehr undifferenzierter und unpräziser Weise vermengt und gehandhabt.
Dadurch wurden die Methoden einerseits für den Wissenschaftler, der
versuchen muß, möglichst präzise Begriffe zu finden, damit er denkerisch
und real unterscheiden kann, außerordentlich anfechtbar. Andererseits jedoch wurde das Casework gerade dadurch für den Praktiker so brauchbar,
weil die unpräzisen Begriffe alltagsnäher waren als exakte wissenschaftliche Abstraktionen.
Die Unschärfe hatte weiterhin den Vorteil, daß all diese Konzepte multifunktional wurden. Sie dienten einmal der Beschreibung, einmal der Erklärung und Klärung, einmal der Beurteilung von Situationen und Personen
und schließlich vor allem der Befähigung zu nichtrichtender oder
verurteilender Hilfe, sowie zum Ausprobieren und Experimentieren mit
neuen Verhaltensweisen.
Die Jahre zwischen 1945 und 1968 waren durch ein besonders enges
Verhältnis zwischen Deutschland und Amerika geprägt.
Deutschlands Lehrkräften und Praktikern der Nachkriegszeit vermittelten
die amerikanischen Methoden große Hoffnungen. Insbesondere die Handlungsprinzipien und die ihnen zugrundeliegende Werthaltung ermutigten
die hiesigen Fürsorger und Fürsorgerinnen, zu hoffen, die im Nachkriegsdeutschland entstandenen sozialen und psychischen Probleme mitlösen zu
können.
Durch die im Casework angelegte Zielrichtung der Stärkung der Selbsthilfekräfte wünschte man, dem Kollektivzwang des Nationalsozialismus
einen neuen Individualismus gegenüberstellen zu können. Darüber hinaus
wurde ein partnerschaftlicher Umgang mit den Klienten postuliert, im
Gegensatz zur administrativen Verfügung im Nazideutschland.
Die Verbreitung der klassischen amerikanischen Modelle erfolgte im
Rahmen der sogenannten Reeducationsprogramme. Hier ist besonders die
"social groupwork" zu erwähnen, die im Zuge der Umerziehungsmaß-
Fehler! Textmarke
17 nicht definiert.
nahmen der Besatzungsmacht einen Beitrag zur Demokratisierung
Deutschlands leisten sollte. Grundsätzlich kann gesagt werden, daß die
Handhabung der klassischen amerikanischen Methoden, und hier insbesondere die des Caseworks, tatsächlich eine große berufliche Errungenschaft war, gab sie doch der "tätigen Nächstenliebe" erstmals ein ausgearbeitetes Konzept zur professionellen Hilfeleistung an die Hand.
Durch die Orientierung am amerikanischen Optimismus der Gründerjahre,
die Individualisierung und die spezielle Werthaltung entsprachen diese
Konzepte in ganz außerordentlicher Weise dem Zeitgeist im Deutschland
der fünfziger Jahre.
In späteren Jahren wird die Kritik an der Casework-Methode von Harry
Maor folgendermaßen formuliert: "So gesehen ist die psychoanalytische
Caseworkmethode (...) aus sich heraus völlig legitimiert. Sie verkennt aber
die Richtung unseres >sozialen Vektors<, der auf die Gesellschaft als
Hauptkriegsschauplatz verweist, während sie den Klienten auf die
Nebenfronten abkommandiert. Dem Caseworker gelingt auch die
Handhabung der psychoanalytischen Gegenübertragung, deren Spielregeln
er kennt, es mißlingt ihm aber die Bewältigung seiner eigenen soziologischen Gegenübertragung, die er verkennt, indem er charakteristischer
Weise dauernd >Gemeinschaft< gegen >Gesellschaft< ausspielt."(16)
2.3
Die Methodenkritik nach 68
Vor 1968 orientierte sich die deutsche Sozialarbeit vornehmlich an den
amerikanischen Methoden, Casework, Groupwork und Gemeinwesenarbeit. In den Vereinigten Staaten selbst setzte eine kritische Reflexion der
Methoden bereits zu Beginn der sechziger Jahre ein. Die inner-amerikanische Kritik ihrerseits setzte jedoch nie an der "gesellschaftlichen Macht(16
)
Maor, a.a.O. - S. 900
Maor zeigt uns, wie in der Sozialarbeit der fünfziger Jahre die Begriffe
>Gesellschaft< und >Gemeinschaft< austauschbar geworden sind und der
Sozialarbeiter aus dieser Zeit die demokratische Gesellschaft des Nachkriegsdeutschland im Lichte der amerikanischen Methoden häufig ideologisch als Gemeinschaft definiert. Das Analogon der Sozialarbeit lautet jedoch, "Die heutige
>Gesellschaft< ist krank; eine kranke Gesellschaft gefährdet ihre Mitglieder oder
macht sie sogar krank; die gefährdeten oder kranken Mitglieder der Gesellschaft
bilden ganz oder zum Teil die Klientel der Sozialarbeit. >Gemeinschaft< ist im
Gegensatz zu >Gesellschaft< gesund oder verursacht doch weit weniger soziale
und psychische Schädigungen ihrer Mitglieder und beugt sozial- und
psychopathologischer Auffälligkeit vor. Aufgabe der Sozialarbeit ist es daher,
mit den ihr zugänglichen, ganz spezifischen Methoden >Gemeinschaft<
herzustellen, das heißt ihre Klienten zu befähigen, innerhalb der Gesellschaft
wie in einer Gemeinschaft zu üben, überhaupt erst Gemeinschaftsfähigkeit zu
erlangen und dann erfolgreich zu behaupten."
18
struktur, der Dynamik des ökonomischen Sektors, sondern bei der Diskrepanz zwischen den Normen und Werten an, welche sich diese Nation
bei ihrer Gründung gegeben hatte und der sich bei Hochkonjunktur präsentierenden Wirklichkeit von individuellen- und Gruppenschicksalen."(17)
Die Kritik in Deutschland schien zunächst weniger fachlich als vielmehr
politisch motiviert zu sein. Man wollte zunächst das amerikanische Missionierungsgehabe überwinden, mit dem die Sozialarbeit nach dem Kriege
zu uns gekommen war. Diese Entwicklung vollzog sich Mitte der sechziger
Jahre, begünstigt durch den Glaubwürdigkeitsverlust der einstigen
Vorbildnation USA, welcher hauptsächlich durch den Vietnamkrieg ausgelöst wurde.
Dabei war der Ausgangspunkt der Kritik jedoch nicht in der Sozialarbeiterschaft selbst zu finden, sondern innerhalb eines wissenschaftlichen Systems, welches in Folge der 68-er Bewegung immer mehr Sozialwissenschaftler produzierte. Diese Sozialwissenschaftler entdeckten sehr bald die
Sozialarbeit als geeignetes Analyse-, Lehr- und Berufsfeld.
Darüber hinaus schien sich das Feld der sozialen Arbeit dazu anzubieten,
gesellschaftliche Veränderungsprozesse zu erproben und einzuleiten.
Entsprechend zielte die Kritik auf einer Ebene auf die fehlende Wissenschaftlichkeit der Methoden. Auf der nächsten Ebene ging es weniger
darum, die (handlungsleitenden) Methoden wissenschaftlich besser zu begründen, als sie vielmehr durch kritische Analyse und kritische
Gesellschaftstheorie zu ersetzen.
Die damalige Methodenkritik bestand aus folgenden Kernpunkten:
1.
Die Soziale Arbeit ist unwissenschaftlich.
Die Sozialarbeitsmethoden sind eine Sammlung von Glaubenssätzen,
diffusen Fallanalysen, Prinzipien mit Faustregelcharakter und vielen
unüberprüfbaren Annahmen.
2.
Die Soziale Arbeit ist durch ihre psychoanalytische Orientierung auf
Mittelschichtsklientel ausgerichtet.
3.
Soziale Arbeit ist ein Integrations- und Unterdrückungsmechanismus
des privatkapitalistischen Systems.
Sozialarbeit verhindert, daß die Klienten ihre Lage als Mitglieder der ausgebeuteten Arbeiterklasse erkennen können, sie verschleiert den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit.
(17)
Staub-Bernasconi, 1986, S. 19
Fehler! Textmarke
19 nicht definiert.
Diese Thesen gehen unter anderem auf Hollstein und Meinhold zurück, die
jedoch soweit gehen, die Sozialarbeiterschaft, die nicht ihrer Marxistischen
Dogmatik folgen, als Agenten des privatkapitalistischen Ausbeutungssystem zu bezeichnen.(18)
Diese sozialwissenschaftliche und ideologische Kritik an den Methoden der
Sozialarbeit führte schließlich dazu, daß sich die damals lehrenden
Methodikerinnen (es waren in der großen Mehrzahl Frauen) in die
Defensive gedrängt fühlten und dauernd ihre Existenz rechtfertigen
mußten. Hinsichtlich dieses Konfliktes wundert es uns heute nicht, daß die
Methodikerinnen im Jahre 1971 bei der Errichtung der Fachhochschulen
eklatante Statusverluste hinnehmen mußten; während andererseits die
Mehrzahl der Sozialwissenschaftler, Pädagogen, Lehrer und anderer in der
Ausbildung tätige Disziplinen relativ problemlos in den Professorenstatus
übergeleitet wurden.
Das zentrale Problem bis Mitte der siebziger Jahre entwickelte sich nun
dergestalt, daß es den Sozialwissenschaften nicht gelang, für das Feld der
Sozialarbeit praktische Methoden zu entwickeln.(19) (20)
Stattdessen standen vorwiegend die handlungsleitenden Methoden im
Brennpunkt der Kritik, ohne jedoch neue, eigene Ansätze zu entwickeln.
Dies mündete in eine Phase von hilfloser Selbstkritik auf der einen Seite
und zu einer relativ ergebnislosen Machtkritik am politischen System, der
staatlichen Fürsorge und dem Wohlfahrtssystem, auf der anderen Seite.
So ist beispielsweise für den Rezensenten Lothar Böhnisch, das oben erwähnte Buch von Holstein und Meinhold in seinem "Fazit: Eine wichtige
Grundlage für die weitere Diskussion um Sozialarbeit, die allerdings in den
praktischen Konsequenzen weit verbindlicher geführt werden müßte, als es
in einigen Beiträgen dieses Buches geschieht."(21)
Die Folgen der kritischen Phase, die von Ruth Brack 1981 als "pauschale
Vermiesung der klassischen Methoden, insbesondere des Casework",
beschrieben wurden, sind eine Handlungsunfähigkeit bei den Praktikern
und ein zunehmender Legimitationsdruck aus der Fachöffentlichkeit. In der
Folgezeit wurde die fachliche Diskussion über Sozialarbeit und deren
Weiterentwicklung vornehmlich von anderen Disziplinen, nämlich von
(18
)
(19)
(20)
(21)
Hollstein, Meinhold, 1973
Staub-Bernasconi
Eichhorn, 1977
Eichhorn legt eine sehr umfassende Bibliographie der Diskussionen um eine
"Sozialarbeitswissenschaft" vor.
Böhmisch, 1974, S 201
20
Psychologen, Psychiatern, Soziologen, Juristen und Erziehungswissenschaftlern geführt.
Hollstein und Meinhold gaben 1977 den praxisnahen Band "Sozialpädagogische Modelle" heraus, in dem 19 Autoren über sozialpädagogische
Praxisfelder referierten. Von diesen 19 Praxis-Artikeln sind lediglich 2 Beiträge von Sozialarbeitern/Sozialpädagogen verfaßt, von denen wiederum
ein Beitrag aus der Schweiz kommt. Die anderen Autoren sind Pädagogen,
Sozialpolitiker, Kriminologen, Philologen, Mediziner, Psychologinnen, Sozialmediziner, Studienrätin, Soziologen.(22)
Das führte dazu, daß der Gegenstand der Sozialarbeit aus der Sicht der
jeweiligen Disziplin beschrieben wurde und eine Integration der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zu einem, für die Sozialarbeit
handlungsleitenden Methodenkonzept, nicht zustande kam. Dadurch kam
es mehr und mehr zu einem Methodeneklektiszismus, in dem die psychotherapeutischen Methoden im Zuge des allgemeinen "Psychobooms"
die Oberhand gewannen. "Den Hang der Sozialarbeiter, sich das
bestehende Angebot auf dem Therapiemarkt zunutze zu machen, kann man
auch als gesunde Reaktion derer verstehen, die nicht gelebt hatten wohl
aber überleben müssen, und sich darum dort eindecken, wo ihnen - auch
Ihnen! - Brauchbares versprochen wird."(23)
Die Folge: Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen waren nicht mehr Architekten sondern Empfänger ihrer Ausbildung. "Oder: wer sich nicht
selbst definiert wird fremddefiniert."(24)
Aus heutiger Sicht muß klar erkannt werden, daß man im Rahmen der
Sozialarbeit nicht zwischen theoretischer Analyse und Handeln aufgrund
bestimmter Handlungsregeln wählen kann. Man kann sich nicht im Rahmen reiner Theorien und kritischer Gesellschaftsanalyse um die Frage nach
konkreten Verfahren drücken. So gesehen werden in der Sozialarbeit die
handlungsleitenden Methoden stets hinter der Theorieentwicklung zurücksein, nicht weil die Methoden nicht theoretisch ableitbar wären, sondern weil das Feld sozialer Arbeit eine bedeutend größere Reichweite und
Komplexität aufweist, als beispielsweise der Gegenstand der Psychotherapie. Deshalb kommen wir nicht umhin zu sehen, daß die praktische
Sozialarbeit einer Art "'Unschärferelation" bezüglich ihrer Begrifflichkeit
(23)
(22)
(24)
Brack, zit. in: Staub-Bernasconi 1986, S. 26
Hollstein u. Meinhold, 1977
Staub-Bernasconi, 1986, S. 26
Fehler! Textmarke
21 nicht definiert.
ausgesetzt ist. Hintergrund für diese Unschärfe ist einerseits das
Verwaschen der Begriffe durch die Alltagssprache, welche ihrerseits aber
die Voraussetzung für klientenorientiertes sozialarbeiterisches Handeln ist.
Andererseits, und das ist sicherlich zentraler, müssen die Begriffe unscharf
werden, wenn sie durch unterschiedliche wissenschaftliche Paradigmen betrachtet werden. So werden beispielsweise soziologische Termini undeutlicher, wenn sie in ein psychologisches Paradigma gestellt werden und so
weiter. Es ist somit kaum möglich, Begriff und Perspektive (Impuls und
Ort) in der Sozialarbeit mit beliebiger Genauigkeit zu definieren.
Ein wissenschaftliches Paradigma, welches die Entwicklung handlungsleitender Konzepte für ein so komplexes Feld wie das der Sozialen Arbeit
ermöglicht, kann nicht monokausal Ursachen für soziales Elend
festmachen. Soziales Elend hat multikausale Ursachen. Sie zu verstehen
eignet sich weder ein rein-psychoanalytischer Zugang oder ein nurgesellschaftstheoretischer Ansatz. Ein Ganzheitliches Paradigma wird
gefordert. Dabei ist zu beachten, daß es keine "reine" Theorie geben kann;
jede präzise Perspektive läßt gegenüberliegende Perspektiven unscharf
erscheinen.
22
2.4 Der "Psychoboom" und seine Auswirkungen auf die Sozialarbeit
Die Entstehung des Psychobooms geht in den USA bis in die vierziger
Jahre zurück, als sich die Notwendigkeit ergab, ökonomisch und zeitlich
rationelle Konfliktbewätligungstechniken auf psychosozialem Gebiet zu
entwickeln. Es entwickelte sich schon nach relativ kurzer Zeit eine
zunächst hauptsächlich gruppendynamisch orientierte Szene, die dann in
den sechziger Jahren eine fast explosionsartige Entwicklung erlebte. Man
kann kaum übertreiben, wenn man die bunte Exotik dieser "PsychoPopkultur", die sich seit etwa 1970 auch in der Bundesrepublik
Deutschland ausbreitete, beschreiben will. Das Spektrum reichte von
seriösen Ansätzen zur Verbesserung der Beratung auf allen Gebieten des
psychosozialen Lebens bis hin zu völlig bizarren Kulturen.(25)
Die Phase der Methodenkritik führte in der Sozialarbeit und der Sozialpädagogik nicht zur Entwicklung neuer Handlungskonzepte. Es war zu
beobachten, daß sich unter den Praktikern mehr und mehr ein Gefühl von
Alleingelassensein breit machte. Während auf Seiten der sozialwissenschaftlichen Theoretiker die Forschungen und die Theoriearbeit zu immer
komplexeren Sprachgebilden führte, die von den Praktikern kaum noch
rezipiert wurden,(26) orientierten die Praktiker sich bei ihren Nachbardisziplinen und gingen in die Lehre von Psychiatern, Psychotherapeuten und
Organisationsberatern. Dies führte zu einer wachsenden Spaltung von
Theorie und Praxis der Sozialarbeit, bei der die Praktiker den Theoretikern
"verdünnte sozial-wissenschaftliche Aufgüsse" (Staub-Bernasconi) vorwarfen, während andererseits die Theoretiker den Praktikern "unreflektierte
Psychotherapieschwärmereien" unterstellten.
In den Fachhochschulen hielten nun Methoden Einzug, denen man
"Wissenschaftlichkeit" zugestehen konnte (wenn auch gelegentlich unter
Schmerzen). Bei diesen Methoden handelte es sich beispielsweise um klientenzenterierte Gesprächsführung (Rodgers), Gruppendynamik, Sozialplanung und Sozialforschung. Man bediente sich also bei den anerkannten
Nachbardisziplinen, insbesondere der Psychologie.
Hierdurch entstand die Situation, daß die fachlichen Diskurse über Sozialarbeit und Sozialpädagogik zwar im verstärkten Maße von Psychologen,
Soziologen, Juristen und Erziehungswissenschaftlern geführt wurde und
auch die Handlungsmethoden aus diesen Wissenschaften entlehnt wurden,
daß es den Sozialarbeitern aber andrerseits kaum möglich gemacht wurde,
(25)
vergl. Schülein, 1978, S. 931
Fehler! Textmarke
23 nicht definiert.
Grenzen zu diesen Nachbardisziplinen durchlässig zu gestalten. So ist es
Sozialarbeitern eben nur sehr einschränkt möglich, rechtsberaterisch,
psychotherapeutisch oder lehrend tätig zu werden. Rechtsberatungsgesetz,
Heilpraktikergesetz und Lehramtsgenehmigungen regeln den Zugang zu
diesen Tätigkeiten für Sozialarbeiter äußerst restriktiv.
Insbesondere der "Psychoboom" verführte die Sozialarbeit dazu, vielfältige
Methodenelemente häufig kunterbunt durcheinander zu mischen, ganz im
Sinne eines "Methoden-coctails". Dieser Methodencoctail war häufig
aktuellen Modeströmungen unterworfen. Die Ausübung dieser Methoden
war aber andererseits kaum einmal rechtlich und institutionell abgesichert.
Auf diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, wenn viele Sozialarbeiter
über den freien "Psychomarkt", wie er uns häufig in der alternativen Presse
präsentiert wird, ihre Dienste in den verschiedensten therapeutischen
Methoden anbieten.
Dies scheint ein Zeichen dafür zu sein, daß es den Ausbildungsstätten nicht
gelungen ist, das kreative Potential, welches sich in Gestalt dieses bunten
Psychobooms zeigte, zu integrieren und es auf ein methodologischtheoretisches Gesamtkonzept für Soziale Arbeit zuzuschneiden.
"Nun hat sich quasi als Gegenbewegung zu einer stark kongnitiv orientierten Aus- und Fortbildung in den letzten 10 - 15 Jahren an den Fachhochschulen und Universitäten sowie an Fortbildungsinstituten ein selbsterfahrungs- und Therapieboom (...) entwickelt, dem viele Studenten und
Professionelle - frustriert von Theorie und gebeutelt durch ihre Lebensgeschichte - ausgiebig huldigen. Da werden in pädagogischen und sozialarbeiterischen Studiengängen wahllos und beliebig Selbsterfahrungsgruppen
jedweder Richtung angeboten, ... Die Effizienz und Sinnhaftigkeit intensiver Selbsterfahrungsprozesse für Professionelle im sozialen und pädagogischen Bereich sollen hier keinesfalls abgewertet werden. Diese Art
der Selbsterfahrung verschenkt jedoch intensive Möglichkeiten zur beruflichen Qualifizierung, wenn sie nicht konsequent an das zukünftige oder
gegenwärtige Berufsfeld angebunden ist. "(27)
Stattdessen entwickelte sich die Problematik häufig dergestalt , daß die an
den verschiedenen Methoden des "Psychobooms" orientierten Praktiker
und Praktikerinnen sich ihr Klientel danach aussuchen mußten, ob es denn
nun zu ihrer jeweiligen Methode paßte (Staub-Bernasconi).
(26)
(27)
z.B. Schneider, 1976
Eine Einführung in die Konstitutionsanalyse sozialer Problemlagen und die
Funktions- und Restriktionsanalyse staatlicher Interventionsformen
Hinte, Springer, 1986, S. 23
24
Aussagen wie die folgenden wurden in den Blütezeiten des Psychobooms,
etwa zwischen 1977 und 1984, von vielen in der sozialen Arbeit Tätigen
mit Erstaunen vernommen:
"Man kann doch mit Unterschichtsklientel nicht non-direktiv arbeiten."
"Was macht das mit Dir?"
"Ich suche noch einen geeigneten Klienten für eine systematische Desensibilisierung". Oder:
"Die Jugendlichen in unserem Jugendzentrum haben einfach nicht das
richtige Grounding".
Die hier karikierten Zitate wurden häufig von Sozialarbeiterinnen und
Sozialarbeitern gehört, die zwar eine qualifizierte Methodenausbildung
nach dem Studium absolviert haben, die aber durch mangelhafte Identifikation mit der Sozialarbeit während ihrem grundständigen Studium keine
ausreichende berufliche Identität erlangen konnten. Dadurch erlitten sie oft
während ihrer Weiterqualifikation einen völligen Schwund ihrer professionellen Identität, was dann mitunter dazu führte, daß die nun mühsam
erworbene Methodenkompetenz nicht in ein Gesamtkonzept von Sozialer
Arbeit integriert werden konnte.
Silvia Staub-Bernasconi sagt zu diesem Methodenboom: "Wer keine Definitionsmacht hat, muß versuchen seinen unsicheren Status wenigstens
durch Teilnahme an Methodenmoden und -wenden wettzumachen."(28)
Eine Ursache dafür sieht Silvia Staub-Bernasconi darin, daß die von
Sozialwissenschaftlern und Gesellschaftskritikern während der Zeit der
"methodenkritischen Phase" erarbeiteten Theoriezugänge durch ihren
wachsenden Abstraktionsgrad für die Praktiker und Praktikerinnen immer
schwerer zu verstehen waren. Der Transfer zwischen wissenschaftlichen
"Elfenbeinturm" und praktischem "Alltagshandeln" war aufgrund einer
stetig wachsenden Kluft zwischen Theorie und Praxis immer schwieriger
geworden.
Es erscheint heute so, daß es notwendig geworden ist, zur Überwindung
dieser Kluft, ein Paradigma zu entwickeln, in dem sich Theorie und Praxis
aufeinanderzubewegen können. Hierzu scheint mir ein ganzheitliches
Paradigma in der Lage zu sein, welches der Sozialen Arbeit ermöglichen
sollte, ihr methodisches Handeln theoriegeleitet zu verstehen und dadurch
die eigenständige Identität dieser Profession zu sichern.
(28)
Staub-Bernasconi, 1986, S. 23
Fehler! Textmarke
25 nicht definiert.
3.
GANZHEITLICHE SOZIALARBEIT
Wenn man die Geschichte der Sozialarbeit verfolgt, stellt man unweigerlich fest, daß überall dort, wo versucht wurde Theorie- und Methodenentwicklung zur Sozialen Arbeit zu betreiben, implizit oder explizit
ganzheitliche Gedanken eingeführt wurden. Dies läßt sich bis an den Anfang unseres Jahrhunderts zurückverfolgen. Die Sozialarbeit ist jedoch nie
als Miturheberin solch fundamentaler Erkenntnisse gesehen worden, die
heute im Zuge der ökologischen Krise zunehmend an Bedeutung gewinnen.
3.1
Auf der Suche nach einem eigenständigen Methodenkonzept für
die Soziale Arbeit
Zusammenfassend ist die Entwicklung der Sozialarbeit durch folgende
verschiedenen Phasen gekennzeichnet:
Die Phase der "klassischen Fürsorge"(29) wurde in Deutschland hauptsächlich von Alice Salomon geprägt und gelangte in den zwanziger Jahren
zu einem Höhepunkt. Es handelte sich dabei um eine pragmatische, sozialpolitisch engagierte "Armenfürsorge", die nahezu ausschließlich von
Frauen ausgeübt wurde. Teile dieser Frauen, insbesondere Alice Salomon,
erkannten den sozialpolitischen Kontext und strebten nach einer eigenen
Wissenschaftlichkeit.
In der nationalsozialistischen Zeit wurden diese Ansätze zerschlagen und
die Wohlfahrtspflege wurde weitestgehend gleichgeschaltet.
Die Nachkriegszeit und die fünfziger Jahre kann man als die Phase der
"klassischen, amerikanischen Methoden" bezeichnen. Diese Phase ist durch
Handlungsprinzipien gekennzeichnet, die im Schnittpunkt der amerikanischen Wert- und Gesellschaftsvorstellungen lagen, wie Menschenrechte,
liberal-demokratisches Gesellschaftsbild und jüdisch-christliches Erbe.
Die Zeit zwischen 1968 und 1975 nennen wir gemeinhin die "Phase der
Methodenkritik".
Sozialwissenschaftler nehmen das Feld sozialer Arbeit in den kritischen
Blick und bescheinigen ihr weitestgehende Unwissenschaftlichkeit. Die
(29)
Geisel / Leschmann, a.a.O. - S.
26
Methodenentwicklung wurde allgemein abgelehnt, weil Methoden den
"Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit" verschleiern (Hollstein,
a.a.O.). Der wesentliche Fortschritt aus der kritischen Phase bestand darin,
daß sie den teilweise unkritischen Optimismus und Fortschrittsglauben aus
den fünfziger Jahren überwinden half und endlich wieder das Verhältnis
zwischen Sozialer Arbeit und Gesellschaft thematisierte.
In der darauf folgenden Phase des "Psychobooms" eigneten sich Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen vielfältige Methoden aus der Psychotherapie
an. Die Methoden, die Sozialarbeiter von anderen Disziplinen empfingen,
wurden häufig eklektizistisch aneinandergereiht und kaum in ein
sozialarbeiterisches Gesamtkonzept integriert.
Einhergehend mit dem Zeitgeist entdeckten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mehr und mehr die eigene Person, Selbsterfahrung und Eigentherapie gewannen an Bedeutung.
Unglücklicherweise lösten die verschiedenen Phasen einander dergestalt
ab, daß man von den jeweilig neuen theoretischen Ansätzen und deren
Richtigkeit dermaßen überzeugt war, daß man allzu oft alles was vorausgegangen war, als falsch ansah. So wird man heute kaum einem in klientenzentrierter Gesprächsführung ausgebildeten Kollegen vermitteln können, daß das Casework eine große Errungenschaft war und der Sozialarbeit
einen wesentlichen Impuls zur Entwicklung eines eigenen Berufsbild gab.
Eines bleibt allerdings während aller Phasen der sozialarbeiterischen
Entwicklungsgeschichte mehr oder weniger zentraler Bestandteil der
Überlegungen und Werthaltungen. Es ist der seit den Anfängen der
Sozialarbeit immer wieder formulierte Anspruch auf Ganzheitlichkeit; auf
Betrachtung des ganzen Menschen in der Gesellschaft.
Während der Phase der Methodenkritik stieß man hier auf Probleme, da die
Versuche Soziale Arbeit zu verwissenschaftlichen, zunächst häufig zu
monokausalen Erklärungsmustern führte. Die Praxis bewies jedoch nicht
selten die Begrenztheit von monokausalen Ansätzen. Und so kommen wir
gerade heute dahin, daß wieder von Vielen ein ganzheitlich-ökologisches
Paradigma im Sinne von Capra(30) gefordert wird.
Damit schließt sich nun der Kreis zu den Anfängen der Sozialarbeit, die ein
ganzheitliches Menschenbild als grundlegende Werthaltung verstanden
wissen will.
(30)
Capra, Friedjof - Wendezeit, München, 1988
Fehler! Textmarke
27 nicht definiert.
Bei der oben beschriebenen historischen Entwicklung bin ich nicht auf die
objektiven Ursachen, also die sozial- und gesellschaftspolitische
Entwicklungen in den siebziger Jahren eingegangen. Im Laufe der
siebziger Jahre haben sich gravierende Veränderungen vollzogen, die die
Handlungsspielräume Sozialer Arbeit deutlich beschnitten haben und ihren
Ausdruck in einer verstärkten Normierung und Institutionalisierung auf
allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens fanden. Auf diese gesellschaftspolitischen Fragestellungen gehe ich an dieser Stelle deshalb nicht ein, weil
die Diskussionen und Analysen hierzu ausführlich und umfangreich sind.
Das Anliegen dieser Arbeit zielt in erster Linie auf Handlungskonzepte und
Veränderungsstrategien.
3.2
Ganzheitliche Ansätze in der Sozialarbeit
Obwohl Ganzheitlichkeit als Anspruch von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern immer wieder, schon seit Alice Salomons Zeiten gefordert
wurde, hat die Entwicklung eines diesbezüglichen wissenschaftlichen Ansatzes bis in jüngster Zeit auf sich warten lassen. Ein Hauptgrund dafür
mag darin liegen, daß der Begriff der "Ganzheitlichkeit" mit dem klassischen Wissenschaftlichen Paradigma schlecht zu greifen ist, und daß die
Sozialarbeiter ihrerseits in den siebziger Jahren sehr um
Wissenschaftlichkeit bemüht waren. Erst die Systemperspektiven aus der
Soziologie und in deren Gefolge die systemische Familientherapie als
Handlungsmethode haben der Sozialen Arbeit einen Weg zu einem
wissenschaftlichen Ganzheitsbegriff gewiesen.
Ganzheitlichkeit war bis dahin von den wissenschaftlichen Einzeldisziplinen häufig als etwas idealistisch, schwärmerisch und metaphysisches
belächelt worden. Darüber hinaus wurde die Idee der Ganzheit verfemt,
weil sie häufig mit dem Denken aus dem Nationalsozialismus assoziiert
wurde (z. B. das Volksganze geht vor das Einzelschicksal).
Mit dem ökologischen Denken bekam der Ganzheitsgedanke wieder einen
aktuellen Stellenwert. Das führte dazu, daß zu Beginn der achtziger Jahre
die ersten ganzheitlich-ökologischen Konzepte für die Sozialarbeit
entworfen wurden.
28
Germain und Gittermann führen mit ihrem "Live-Modell" in einen ökologischen Ansatz praktischer Sozialarbeit ein.(31) Sie entwerfen damit ein
integriertes Konzept, das die ökologische Beziehung zwischen Mensch und
Umwelt in den Blick nimmt. Umwelt meint in diesem Modell hauptsächlich die sozialen und materiellen Bedingungen, die Menschen vorfinden oder in die sie hineingeraten. Aus dieser Sicht bilden Mensch und
Umwelt ein System; Störungen können von beiden Seiten kommen. Von
der deutschsprachigen Sozialarbeit wird anerkannt, daß Germain und
Gittermann ein brauchbares Methodenkonzept liefern, das der Sozialen
Arbeit auf der Mikro-Ebene eine hilfreiche Handlungspraxis geben kann.
Hier wird erstmals der ursprüngliche Anspruch der Sozialarbeit, nämlich
lebensumweltorientiert zu arbeiten, in einem anspruchsvollen Gesamtrahmen dargestellt. Es gelingt den Autoren auch, ein integratives Konzept von
Techniken zu entwickeln, in dem sie beispielsweise Verbalisierung von
Gefühlen, Psychodrama, Genogramm, Ökoplan, Soziometrie und
Verhandlungstechniken in einen praktischen Bezug stellen.
Die zentrale Kritik an Germain und Gitterman zielt wiederum auf die
gleichen Schwächen, die auch frühere amerikanische Konzepte aufwiesen.
Es handelt sich wieder um einen rein funktionalistischen Ansatz, der die
gesellschaftliche Machtverteilung kaum hinterfragt. Es wird nicht gesehen,
daß die "Starrheit" der Institutionen auch auf einen Konflikt
zurückzuführen ist, der davon bestimmt wird, daß bestimmte gesellschaftliche Gruppen von sozialen Problemen profitieren, unter denen andere Gruppen und Individuen leiden.
Einen der profiliertesten Ansätze systemisch-ganzheitlicher Sozialarbeit im
deutschsprachigen Raum liefert Silvia Staub-Bernasconi, die resümiert:
"dass ich in der Sozialen Arbeit durchaus ein Potential sehe, die
gesellschaftlich wie akademisch vorgeschriebene, ja erzwungene Atomisierung des Wissens und Könnens exemplarisch zu überwinden. Ihre
Praktiker wie AusbilderInnen müßten sich zur Vorstellung durchringen,
daß die sogenannte Komplexität und Diffusität ihres Gegenstandes als auch
die fast unübersehbare Aufgabenfülle keine Schwäche und Verlegenheit,
sondern eine Stärke der Sozialen Arbeit ist. Sie könnte zur Herausforderung werden, das, wovon heute viele reden, nämlich die Notwendigkeit, interdisziplinären, systemischen Denkens und konzertierten
Arbeitens, nicht nur für ökologische, sondern auch für soziale Problematiken (...) ernsthaft auszuprobieren."(32)
(31)
(32)
Germain, C. B. / Gittermann, A. - Praktische Sozialarbeit - Das "Live-Modell"
an der Sozialen Arbeit, Stuttgart, 1983
Staub-Bernasconi, a.a.O. S. 58/59
Fehler! Textmarke
29 nicht definiert.
3.3 Strukturierung und Differenzierung des Ganzheitlichen Ansatzes
Für die folgenden Überlegungen erscheint es mir an dieser Stelle wichtig
zu werden, einige Begriffe zu klären.
Die Unklarheit der Begriffe hat in den klassischen oder amerikanischen
Methoden zu viel Verwirrung geführt, so daß man heute dahin gekommen
ist, die "Methoden", Einzelhilfe, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit
nur noch als "Arbeitsformen" zu verstehen.(33)
Für das Konzept von "Integrativer Sozialarbeit" möchte ich eine Systematik vorschlagen, die die formalen Begriffsbestimmungen von Geißler
und Hege aufgreift.
Zunächst einmal ist es jedoch nötig eine Abgrenzung von zwei unterschiedlichen wissenschaftlichen Methodenbegriffen zu schaffen.
Erkenntnisleitende Methoden sind wissenschaftliche Forschungsmethoden.
Handlungsleitende Methoden sind die Anwendung von Wissenschaft in der
Praxis.
3.31 EXKURS
Methodentheoretische Erörterung
Laut Brockhaus kommt der Begriff "Methode" aus dem Griechischen und
bedeutet soviel wie, "ein nach Sache und Ziel planmäßiges (methodisches)
Verfahren". Unter Methode verstehen wir "die Kunstfertigkeit einer
Technik zur Lösung prakt. und theoret. Aufgaben (...), speziell das
Charakteristikum wissenschaftlichen Vorgehens."
Entsprechend geht die Methodenlehre (Methodologie) als Teil der Logik
jeder Wissenschaft voraus; sie bildet das Kernstück der modernen Wissenschaftstheorie. Darüber hinaus haben die Einzelwissenschaften ihre eigentümlichen Methoden entwickelt, insbesondere solche der Forschung
und solche der Darstellung (Lehre). Die Hauptstücke der klassischen und
moderne Methodologie bilden die Lehre von der Definition und vom Beweis, allgemein: (34)
die Lehre von der Begriffsbildung und von den Begründungsverfahren."
Erkenntnis- und handlungsleitende Methoden
Eine grobe Unterteilung der Methoden ist nach ihren Aufgaben möglich.
Methoden können zur Lösung praktischer und theoretischer Aufgaben
dienen.
Praktische Aufgaben werden mit Hilfe handlungsleitender Methoden gelöst. Wissenschaftlich sind handlungsleitende Methoden dann, wenn sie die
Erkenntnisse der Forschung in der Praxis umsetzen. Die systematische
(33)
(34)
Brack, Ruth
in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge - S. 577
Fachlexikon der sozialen Arbeit, Frankfurt, 1986
vergl. Brockhaus, 1971 - S. 479
30
Reflexion dieser Praxis wird dann wieder Erkenntniswissenschaft, wenn
dadurch Theorien generiert werden.
Theoretische Aufgaben werden durch erkenntnisleitende Methoden gelöst.
Handlungsleitende Methoden in der Sozialarbeit sind im Gegensatz zu erkenntnisleitenden Methoden in den klassischen Naturwissenschaften direkt
mit dem Anwender (Sozialarbeiter, Therapeut) verbunden.
Eine klare Trennung von handlungsleitenden- und erkenntnisleitenden
Methoden ist somit nicht möglich, man kann jedoch von einem fließenden
Übergang sprechen.
Kennzeichnend für erkenntnisleitende Methoden sind dabei:
- Objektivität - Reproduzierbarkeit - Falsifizierbarkeit - Zuverlässigkeit - - - Glaubwürdigkeit - Allgemeingültigkeit - Eindeutigkeit - Exaktheit - - - - Demgegenüber sind für handlungsleitende Methoden zusätzlich kennzeichnend:
- Einfühlungsvermögen - Begriffsunsicherheit - verborgene Variablen - - - - Irrelevanz von Experimenten - Unbeweisbarkeit von Theorien - - - - - - - - Kultureller Relativismus - Arbeitsfeldbezogenheit - Verbindung zwischen Beobachter
und Untersuchungsgegenstand
- Einsatz der eigenen Person - (35)
Allerdings führt die Entwicklung in den neueren Naturwissenschaften nun
auch zunehmend dazu, daß die Kennzeichen der handlungsleitenden
Methoden für die Erkenntniswissenschaften wachsend an Bedeutung
gewinnen, wie z.B. die Quantentheorie oder die Theorien zur Berechnung
komplexer Systeme (Chaosforschung) so eindrucksvoll belegen.
Erkenntnisleitende und praktische Methoden können sich durchdringen,
reine Wissenschaftlichkeit ohne Verzerrungen durch die unterschiedlichsten Praxiseinflüsse ist jedoch nur möglich bei stringenter Einhaltung der
wissenschaftlichen Methodik, wie es unter Laborbedingungen vorstellbar
ist.
Hielte sich jedoch Praxis streng an die erkenntniswissenschaftliche Methodologie, müßte sie ihre Klientel an die Methode anpassen, also vom Alltag
entfremden. Von daher sind handlungsleitende Methoden von
Alltäglichkeit und Zeitgeist geprägt und auch stetigen Veränderungen bzw.
Fortentwicklungen unterworfen. Am Beispiel der Gruppendynamik läßt
sich das gut verdeutlichen:
Gruppendynamik ist:
1.
Das Teilgebiet der erkenntniskritischen, empirischen Sozialforschung, das das Wissen über die soziale Einheit der Gruppe, ihre
Entwicklung, ihre Beziehung zu anderen Gruppen, Organisationen
und dem sozialen Umfeld umfaßt.
(35)
vergl. Ziman, John
Wie zuverlässig ist wissenschaftliche Erkenntnis?, S. 130 ff
Fehler! Textmarke
31 nicht definiert.
2.
Angewandte Gruppendynamik ist die spezifische Praxis absichtsvollen, durch Theorie und Forschung abgesicherten Handelns, in und
mit Gruppen, die durch Verbesserung der Selbst- und Fremdwahrnehmung die soziale Kompetenz erhöhen, das Verständnis für
psychosoziale Phänomene vertiefen und angemessene Verhaltensweisen festigen will(36).
Wenn ich im weiteren den Begriff Methode verwende, meine ich damit
Handlungsmethoden im Sinne des Beispiels der "angewandten Gruppendynamik".
Geißler und Hege haben sich in ihrer Systematik für eine formale Begriffsbestimmung von "Konzept - Methode - Verfahren" entschieden, um
eine "integrative Betrachtung von Zielen, Inhalten und Methoden herzustellen"(37).
Konzept wird als Handlungsmodell verstanden, in welchem Ziele, Inhalte,
Methoden und Verfahren in einen sinnhaften Zusammenhang gebracht
werden.
Das Konzept, welches ich im Folgenden darstelle, entwickelte ich aus den
anthropologischen Konzepten der Ganzheit des Menschen, von der Begegnung zwischen Menschen und dem Eingebundensein in den Lebensraum. Ausgangspunkt ist folgende anthropologische Grundformel:
"Der Mensch ist ein Leib-Seele-Geist-Subjekt, in seinem sozialen und
ökologischen Umfeld, mit dem er in einem unlösbaren Verbund steht. In
Interaktion mit diesem Umfeld gewinnt es seine Identität"(38).
"Methoden sind - formal betrachtet - (konstitutive) Teilaspekte von Konzepten. Die Methode ist ein vorausgedachter Plan der Vorgehensweise"(39).
Aus dem Konzept der Ganzheitlichkeit leite ich die Gestalt-Methode als
zentralen Bestandteil eines integrativen Methodenansatzes ab.
(36)
(37)
(38)
(39)
Nellessen, Lothar
in: Deutscher Verein, a.a.O. - S. 379
Geißler, Karlheinz a. / Hege, Marianne - Konzepte sozialpädagogischen
Handeln, Weinheim und Basel, 1988 - S. 22
Petzold, Hilarion G. / Sieper, Johanna
Quellen und Konzepte integrativer Agogik
in: Petzold / Brown - Gestaltpädagogik, München, 1977 - S. 25
Geißler / Hege, a.a.O. - S. 25
32
Verfahren sind Einzelelemente von Methoden. Man kann hier auch von
Techniken sprechen. In einem ganzheitlich-integrativen Ansatz können
Techniken nicht unabhängig vom Konzept angewandt werden. Während
der Phase des Psychobooms geschah dies leider häufig dergestalt, daß
Techniken aus der Gestalttherapie eingesetzt wurden, ohne daß vorher eine
ernsthafte und fundierte inhaltliche Analyse auf der Grundlage der
Konzepte erfolgt war. Hierbei kommt es dann wieder sehr schnell zu Sozial- oder Psychotechnologien, die den Menschen zum Objekt der jeweiligen Technologie machen und ihn dadurch entfremden.
Techniken aus Gestalttherapie und anderen psychotherapeutischen Verfahren, müssen sich im Rahmen der Sozialarbeit an deren komplexen
Problemfeldern orientieren und somit häufig in dem Sinne modifiziert
werden, daß eine einseitig psychotherapeutische Perspektive zu Gunsten
einer psycho-sozialen Gesamtschau überwunden wird.
3.4
Das Konzept der Ganzheitlichkeit
Im Zuge der Ökologiebewegung ist das Konzept der Ganzheitlichkeit
wieder zu neuem Ansehen gekommen. Lange Zeit war der Ganzheitsbegriff aus dem wissenschaftlichen Denken ausgeschlossen und sogar
verfemt. Im gleichen Maße wie die Sozialarbeit als unwissenschaftlich betrachtet wurde, war die Idee von der Ganzheitlichkeit aus dem wissenschaftlichen Denken ausgeschlossen. Dies war so lange der Fall, wie der
Positivismus in der Wissenschaftstheorie unangefochten blieb. Heute
nennen sich Strömungen ganzheitlich, die im weitesten Sinne mit der
Ökologiebewegung zusammenhängen. Diese Strömungen finden wir in der
Heilkunde, in Medizin oder Psychotherapie, in der Philosophie und in
Weltanschauungen, die sich selbst als Kritik an den bestehenden
akademischen Disziplinen verstehen. Gemeinsam ist allen ganzheitlichen
Ansätzen das Bestreben, die zerbrochenen Zusammenhänge von Natur und
Gesellschaft, Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft wieder
herzustellen.
Eine ganzheitliche Sicht der Wirklichkeit geht von der Erkenntnis aus, daß
alle Phänomene, seien sie physikalischer-, biologischer-, psychischer-,
kultureller- oder gesellschaftlicher Art, miteinander verbunden sind und
aufeinander einwirken. In der heutigen Psychotherapie und Medizin wird
die Wechselwirkung von Körper und Geist zunehmend mit einbezogen.
Fehler! Textmarke
33 nicht definiert.
Die Gestalttherapie geht noch darüber hinaus, indem ihr Ganzheitsbegriff
die soziale Verbundenheit sieht.
Die Gefahren des Ganzheitsbegriffs sind dort zu sehen, wo er allzuleicht
von metaphysischen, ideologischen und pseudowissenschaftlichen Disziplinen besetzt werden kann. Dies geschah einst durch die Nationalsozialisten und ist heute auch wieder bei verschiedenen Abkömmlingen der
"New-Age-Bewegung" zu erkennen.
Der profilierteste Vertreter dieser Bewegung, Friedjof Capra, legt uns allerdings einen ernstzunehmenden Ansatz vor, in dem er die Welt als
komplexes Gewebe beschreibt. Er beschreibt ein Netzwerk, in dem alle
biologischen, psychischen, gesellschaftlichen und ökologischen Phänomene voneinander abhängen. Er verbindet die Quantentheorie der neuen
Physik mit östlicher Mystik, die psychosomatische Medizin mit Wachstums-, Wirtschafts- und Ökologiekrisen unserer heutigen Zivilisation und
leitet daraus die Forderung nach einem neuen wissenschaftlichen Paradigma ab, in der Hoffnung mit dem "Paradigmawechsel" die ökologische
Weltkrise zu überwinden.(40)
Capra seinerseits wurde in seinem Denken entscheidend von Gregory
Bateson, dem Schöpfer des "Double-Bind"-Begriffes geprägt. Das Denken
von Bateson reicht weit über seinen psychiatrisch-psychotherapeutischen
Bereich hinaus: "Er darf als Mitbegründer und -entwickler der
ökologischen oder besser: ökosystemischen Sicht der Lebensprozesse
gelten. Heute ist es schon fast ein Gemeinplatz zu sagen: das Überleben der
Menschheit wird davon abhängen, ob, wieweit und wann sie sich solche
Sicht zu eigen macht. (...) Das schließt für Bateson auch die Korrektur
jener beiden Verstehensansätze ein, die das geistige Klima unserer heutigen
Welt überwiegend zu bestimmen scheinen - des psychoanalytischen und
des marxistischen Ansatzes."(41)
In der Praxis der Sozialen Arbeit hat sich seit Mitte der siebziger Jahre
mehr und mehr ein familientherapeutischer Ansatz etabliert. Dieser Ansatz
überwindet das klassische medizinische Krankheitsmodell und überschreitet in Diagnostik und Therapie die Grenzen des Einzelindividuums.
Stattdessen steht die Familie als Ganzheit, bzw. System in der Klientenrolle, während der Einzelne lediglich als Symptomträger gesehen wird(42).
(40)
(41)
(42)
Capra, a.a.O. - S. 15 - 48
Stierlin, Helm
in: Bateson, Gregory - Ökologie des Geistes - S. 7, Frankfurt, 1988
vergl. Wnuk-Gnete, Gisal /Wnuk, Werner - Fortbildung in Familientherapie
in: Neue Praxis, Sonderheft 1978, Sozialarbeit und Therapie und:
Ridder, Paul - Liebe als Steuerungssprache
34
Louis Lowy hat erkannt, daß systemtheoretische Ansätze in der Sozialen
Arbeit bereits seit den fünfziger Jahren bekannt waren.
"Seither fand die Systemtheorie (Theorie sozialer Systeme) eine fast universelle Anerkennung als bedeutende basis-theoretische Formulierung von
SA/SP. Sie ermöglicht die Erfassung von >Problem - Person und Situation< als Gestalt des sozialarbeiterischen/sozialpädagogischen Geschehens
und gestattet, Zusammenhänge von Struktur und Prozeß wie auch von
deren Veränderung zu erkennen und zu konzipieren."(43)
(43)
Ein Beitrag zur familientherapeutischen Umorientierung - Neue Praxis, a.a.O.
Lowy, Louis
Sozialarbeit / Sozialpädagogik als Wissenschaft im angloamerikanischen und
deutschsprachigen Raum - S. 99 f, Freiburg, 1983
Fehler! Textmarke
35 nicht definiert.
4.
SYSTEMORIENTIERTE SOZIALARBEIT
Einen Ansatz systematischer Sozialarbeit liefern Germain und Gitterman
(a.a.O.). Mit dem Life-Modell oder Lebensvollzugsmodell entwerfen sie
einen Ansatz, der einen theoretischen Ausgangspunkt darstellt, der Wissen
über biologische, psychische und soziale Entwicklungsphasen von Individuen, Familien, Kleingruppen und Organisationen abruft. Silvia StaubBernasconi kritisiert an den Autoren, daß sie nicht darauf eingehen, "dass
es gerade die Stärke der Sozialarbeit seit ihren Anfängen war,
>ökologisch<, d.h. Klienten immer zusammen mit ihrer human- und
sozialökologischen Umwelt zu denken und entsprechend zu handeln."(44)
4.1
Ganzheitlichkeit und Systemperspektive
Der ganzheitliche Ansatz führt uns zur Systemschau. Aus der Sicht des
systemischen Ansatzes besteht das Ganze aus einer Summe von Systemen,
die wiederum integrierte Ganzheiten sind. Dabei sind die einzelnen
Teilsysteme offen und stehen im beständigen Austausch miteinander.
In der Soziologie geht der Systembegriff auf Durkheim zurück, der bereits
zu Beginn dieses Jahrhunderts mit ihm arbeitete. Heute ist uns der
Systembegriff insbesondere dadurch hilfreich, weil wir mit ihm die Komplexität der Ganzheitlichkeit reduzieren können, ohne den Ganzheitsansatz
aufgeben zu müssen, da offene Systeme ihrerseits in Abhängigkeit zueinander stehen. Einen funktionalistischen Ansatz verfolgt hierbei insbesondere Luhmann, der Ganzheiten differenziert: "Ergiebig werden komplexitätsbezogene Aussagen erst, wenn man sie von Einheit auf Differenz
umstellt, und dazu dient die Unterscheidung von System und Umwelt. Sie
ermöglicht uns die Aussage, mit der wir die folgende Überlegung einleiten,
daß für jedes System die Umwelt immer komplexer ist als das System
selbst."(45)
Voraussetzung für eine ganzheitlich-systemische Sicht der Wirklichkeit ist
die Annahme, daß die einzelnen Teilsysteme offen sind und im beständigen
Austausch miteinander stehen. Der Prozeß, den die Systeme dabei
(44)
(45)
Staub-Bernasconi, S. 43 - a.a.O.
Luhmann, Niklas, Ökologische Kommunikation S 33, Opladen, 19869
36
entwickeln, wird als Transaktion bezeichnet. Dabei handelt es sich um
gleichzeitige und voneinander abhängige Wechselwirkungen vielschichtiger Komponenten. Die Systemeigenschaften würden zerstört werden, wenn
wir das System physisch oder theoretisch auseinandernähmen. Obwohl in
jedem System Einzelteile zu unterscheiden sind (die ihrerseits allerdings
wieder komplexe Ganzheiten sind) ist das Ganze immer etwas anderes als
die Summe seiner Teile, da alle Teile in beständigem Austausch
miteinander stehen und fluktuieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt der
Systeme ist die ihnen innewohnende Dynamik. Die Formen der Systeme
bilden keine starren Strukturen, sondern sind flexible und dennoch stabile
Manifestationen der zugrundeliegenden Prozesse.
Um das Systemdenken zu verstehen, erscheint mir eine Beschreibung in
Abgrenzung zu einem Mechanismus sehr hilfreich. Hier eignet sich besonders gut die Darstellung eines Uhrwerkes, welche man im 17. Jahrhundert benutzt hat, um eine Weltbeschreibung aus Sicht der mechanistischen
Philosophie zu geben.
Der zuerst ins Auge fallende Unterschied ist der, daß Maschinen gebaut
werden, während Organismen wachsen. Dieser fundamentale Unterschied
bedeutet, daß ein Organismus als ein Geschehen begriffen werden muß. So
ist es beispielsweise unmöglich, ein genaues Bild von einer Zelle durch
eine statische Zeichnung oder die Beschreibung der Zelle als statische
Form zu liefern. Wie alle lebenden Systeme sind Zellen Vorgänge, in
denen die dynamische Organisation des Systems zum Ausdruck kommt.
Während die Aktivitäten einer Maschine von ihrer Struktur bestimmt
werden, ist es im Organismus gerade umgekehrt - die organische Struktur
wird durch dynamische Vorgänge bestimmt.
Maschinen werden gebaut, indem eine genau vorgeschriebene Zahl von
Teilen auf präzise und vorbestimmte Art zusammengesetzt wird. Dagegen
verfügt ein Organismus über ein hohes Maß an interner Flexibilität und
Gestaltungsfähigkeit. Die Formen seiner Teile können in gewissen Grenzen
variieren, und es gibt nie zwei Organismen mit absolut identischen Teilen.
Obwohl der Organismus als Ganzes genaue Regelmäßigkeiten und
Verhaltensmuster erkennen läßt, sind die Zusammenhänge zwischen seinen
Teilen nicht genau festgelegt. An vielen eindrucksvollen Beispielen wurde
nachgewiesen, daß das Verhalten der einzelnen Teile wirklich so
einzigartig und unregelmäßig sein kann, daß nicht der geringste relevante
Zusammenhang mit der Ordnung des ganzen Systems erkennbar ist. Diese
Ordnung wird durch koordinierende Aktivitäten geschaffen, die den Teilen
Fehler! Textmarke
37 nicht definiert.
keinen starren Zwang auferlegen, sondern Raum lassen für Variationen und
Flexibilität, und genau diese Flexibilität ist es, die lebende Organismen in
die Lage versetzt, sich neuen Umständen anzupassen.
Maschinen funktionieren nach einer linearen Kette von Ursache und Wirkung, und wenn eine Panne auftritt, kann dafür in der Regel eine einzige
Ursache nachgewiesen werden. Im Gegensatz dazu wird das Funktionieren
eines Organismus gelenkt durch ein zyklisches Muster von Informationen,
das als Rückkoppelungsschleife bekannt ist. Ein Beispiel: Komponente A
kann Komponente B beeinflussen; B kann seinerseits auf C einwirken, und
C kann die Einwirkung auf A >rückkoppeln< und auf diese Weise die
Schleife vollenden. Bricht ein solches System zusammen. dann ist die
Panne meist durch multiple Faktoren verursacht, die sich durch
voneinander abhängige Rückkoppelungsschleifen gegenseitig verstärken.
Welcher von diesen Faktoren den Zusammenbruch des Systems schließlich
ausgelöst hat, das ist oft belanglos.(46)
Auf der Grundlage einer so beschriebenen Sichtweise hat sich die Familientherapie als funktionalistische Handlungsmethode entwickelt. Durch die
oben beschriebenen Erkenntnisse von den Eigenschaften lebender Systeme
hat sich unsere Sichtweise über das Funktionieren von Familiensystemen
beträchtlich erweitert. Es ist der Wandel vom Denken in linearen
Zusammenhängen - jede Ursache hat eine Wirkung also hat jede Wirkung
eine Ursache - zu einem Denken in zirkulären Zusammenhängen, das
sowohl die Wechselwirkung zwischen Ursache und Wirkung als auch den
Beobachter dieser Zusammenhänge miteinbezieht.
Sozialwissenschaftlicher und psychologischer Wegbereiter des ganzheitlich-systemischen Denkens war neben Kurt Lewin J. L. Moreno, der neben
dem Psychodrama und der Soziometrie auch den Begriff vom Menschen
als "soziales Atom" geprägt hat. "Es geht darum, das menschliche
Universum in all seinen Formen als eine Summation, wechselseitige
Durchdringung (Interpenetration) und dynamische Multiplikation von sozialen Atomen zu begreifen, denn wenn wir auf eine Gemeinschaft schauen
..., werden wir zuerst zahlloser Konflikte gewahr, die auf ihrer Oberfläche
schwimmen: Familien, Arbeitsgruppen, rassische und religiöse Gruppen
etc., und wir erkennen, daß diese Gruppe keine wilden Formationen sind,
sondern sich um bestimmte Kriterien zentrieren."(47)
Petzold weist darauf hin, daß in den Arbeiten Morenos die Beziehungen im
sozialen Atom, als abhängig von den Konditionen der jeweils umgebenden
(46)
(47)
vergl. Capra, a.a.O. - S. 296 f
Moreno, zit. in: Petzold, Hilarion
Der Mensch ist ein soziales Atom In: Integrative Therapie, 3/1982 - S. 161
38
historisch-kulturellen Situation beschrieben werden. Die kleinste
funktionale Einheit innerhalb eines kulturellen Musters wird daher als
"kulturelles Atom" beschrieben. Durch seine Theorie vom "Sozialen
Netzwerk" hat Moreno deutlich gemacht, "daß eine Familie abhängig ist
von den sozialen Gruppen, mit denen sie verbunden ist, daß also die
systemische Betrachtungsweise ausgedehnt werden muß auf Schul- und
Arbeits-, Wohn- und Einkommenssituation und daß diese Perspektiven von
zentraler Bedeutung für die Entwicklung adäquater Interventionsstrategien
sind."(48)
Lapassade geht in seiner Beurteilung der Arbeiten Morenos noch weiter:
"Moreno hat im übrigen die gesellschaftlichen und politischen Implikationen seiner Untersuchungen sehr wohl gesehen: Seine >Soziometrische
Revolution< ist nicht bloß der Ausdruck einer Bevorzugung der kleinen
Gruppe in einem Programm sozialer Veränderungen; sie bringt ebensosehr
den Gedanken einer permanenten Revolution innerhalb der gesellschaftlichen Revolution selbst zum Ausdruck und erhebt die Forderung,
daß die neuen Gesellschaften sich nicht wiederum bürokratisieren lassen,
um damit den Elan zu verlieren, der allein imstande ist, die entscheidenden
Veränderungen hervorzurufen, die alten Strukturen umzustoßen und eine
Zeitlang die schöpferische Spontaneität der >fusionierenden< gesellschaftlichen Gruppen wiederzufinden. Somit erweist sich die Soziometrie
als eine Technik des gesellschaftlichen Veränderns."(49)
Wir werden später auf Lapassade zurückkommen.
4.2
Die soziologische Systemtheorie
Die systemtheoretische Soziologie nimmt für sich in Anspruch, einen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung der Soziologie als Wissenschaft herbeiführen zu können.
Bis zur Entwicklung der Systemtheorie stand die Soziologie in einem
Spannungsfeld zwischen spekulativer Philosophie auf der einen und positivistischer Naturwissenschaft auf der anderen Seite.
Mit der Systemtheorie wird nun der Versuch unternommen, eine allgemeine Theorie sozialer Systeme mit universellem Anspruch in dreierlei
Hinsicht zu entwerfen.
(48)
(49)
Petzold a.a.O., S. 164
Lapassade, Georges
Gruppen, Organisationen, Institutionen - S. 42, Stuttgart, 1972
Fehler! Textmarke
39 nicht definiert.
1.
2.
3.
(50)
Hinsichtlich einer fachspezifischen Universalität nimmt die Systemtheorie für sich in Anspruch, einen einheitlichen Forschungsansatz für alle Ebenen sozialer Beziehungen zu liefern. Dabei handelt
es sich um Dyade, Gruppe, Organisation, gesellschaftliches
Teilsystem, Gesellschaft und internationale Systeme.
Die Einheitlichkeit der zugrundeliegenden Systemprobleme läßt bei
diesem Forschungsansatz durchaus unterschiedliche Interpretationen
zu.
Hinsichtlich einer interdisziplinären Universalität ist die Systemtheorie besonders gut als integrierende Wissenschaft geeignet, weil
die Systemprobleme in allen Wissenschaften auszumachen sind.
Unterschiedliche, aber doch vergleichbare Systemkonzepte sind aus
der Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Betriebswirtschaft,
Medizin, Erkenntnistheorie und Philosophie bekannt.
Für die Sozialarbeit kann die Systemtheorie eine Integration der
zentralen Grundlagenwissenschaften Soziologie und Psychologie
leisten.
"Die soziologische Systemtheorie kann sich dadurch als Teil eines
umfassenden Erkenntnisprogramms betrachten, wobei es viel weniger auf Abgrenzung gegenüber anderen Wissenschaften und
territoriale Eifersüchteleien ankommt, als auf interdisziplinäre
Zusammenarbeit, die Schaffung von Anknüpfungsmögolichkeiten
von und zu Nachbarwissenschaften, die Kumulation der
Anstrengungen unterschiedlicher Wissenschaften zur Lösung
übergreifender Probleme."(50)
Hinsichtlich der Universalität des Komplexitätsproblems stellt die
soziologische Systemtheorie fest, daß sich soziale Beziehungen nicht
auf einfache Kategorien und Gesetzmäßigkeiten reduzieren lassen.
Die Tatsache, daß es im Vergleich zu den klassischen Naturwissenschaften keine klaren und eindeutigen Gesetze gibt, kann nicht
als Schwäche, sondern muß als Stärke der Systemtheorie angesehen
werden. Die Systemtheorie muß sich von Anbeginn an dem Problem
der Komplexität stellen, einem Problem, welches für die
Naturwissenschaften erst in ihrer jüngeren Geschichte wieder an
Bedeutung gewinnt.
Die neuere Entwicklung der Naturwissenschaften macht immer
wieder deutlich, daß ihre Kausalgesetze nur für einen "mittleren
Willke, Helmut, Systemtheorie - S. 2, Stuttgart, New York, 1982
40
Bereich" Gültigkeit besitzen. Außerhalb dieses Bereichs nehmen
Unschärfe, Relativität und Wechselwirkung derartige Formen an,
daß auch die Naturwissenschaften zu keinen eindeutigen Aussagen
mehr kommen können, da sie vor dem neuen Problem der Komplexität stehen. Die Physik hat im Bereich der großen Entfernungen die
Relativitätstheorie und im Bereich der kleinen Entfernungen die
Quantentheorie entwickelt. In neueren Ansätzen versucht man das
Problem der Komplexität mit Hilfe einer "Chaostheorie" in den Griff
zu bekommen.
Die Systemtheorie der Soziologie versucht seit ihren Anfängen die
Komplexitätsproblematik ernstzunehmen und kontrollierbare Verfahren zum wissenschaftlichen Umgang damit zu entwickeln.
4.21 Die Entwicklung der soziologischen Systemtheorie
1.
Die strukturell-funktionale Systemtheorie
Diese Theorie geht auf Talcott Parsons zurück und ist dadurch gekennzeichnet, daß der Strukturbegriff dem Funktionsbegriff vorgeordnet ist.
Demzufolge wird davon ausgegangen, daß die bestimmten Strukturen, die
soziale Systeme notwendigerweise aufweisen, der Forschungsgegenstand
sind. Es wird also danach gefragt, welche funktionalen Leistungen ein
System erbringen muß, damit dieses System in seinen Strukturen erhalten
bleibt. Kritisiert wird an diesem Ansatz, daß die Strukturen weitgehend als
gegeben angenommen werden und nicht hinterfragt werden.
2.
Der system-funktionale Ansatz
In diesem Ansatz werden soziale Systeme als wandlungsfähige Gesamtheiten gesehen, die sich geänderten Umweltbedingungen dadurch anpassen
können, daß sie ihre Struktur verändern oder ausbauen, wenn dies nötig
sein sollte. Es wird danach gefragt, welche strukturellen Anpassungsleistungen ein System erbringen muß, um bei geänderten Umweltbedingungen seine Funktion erhalten zu können. Kritisiert wird an diesem
Ansatz, daß die Umweltbedingtkeit zwar gesehen wird, daß aber vorwiegend die Strukturveränderung des Systems Gegenstand der Analyse bleibt.
3.
Der funktional-strukturelle Ansatz
Dieser, im wesentlichen von Luhmann entwickelte Ansatz, stellt die Frage
nach der Funktion von Systemen, vor dem Hintergrund ihrer Komplexi-
Fehler! Textmarke
41 nicht definiert.
tätsreduktions-Fähigkeit in den Mittelpunkt. Systeme haben demzufolge
nur einen Sinn in ihrer Relation zur Umwelt. Indem mittels Systemen
ausgegrenzte Bereiche geschaffen werden, wird die Komplexität der Welt
dergestalt reduziert bzw. differenziert, daß es dem Menschen ermöglicht
wird, die Welt zu erfassen und in seiner Aufnahmekapazität nicht von der
Komplexität der Welt überwältigt zu werden. Systeme schaffen somit eine
Differenz zwischen sich selbst und der Umwelt, zwischen Innen und Außen. Man muß darüber hinaus davon ausgehen, daß die Welt nicht Systeme
schafft, sondern aus Systemen besteht. Diese System-Umwelt-Konzeption
zielt auf die Frage der Auseinandersetzung zwischen System und Umwelt.
Zusammenfassend kann man sagen, daß die System-Umwelt-Konzeption,
wie sie Luhmann vorschlägt, soziale Gebilde als komplexe, sinnhaft
konstituierte Einheiten begreift, die eine Vielzahl von Problemen lösen
müssen, wenn sie in ihrer Umwelt bestimmte Ziele erreichen wollen. Das
Hauptproblem was sie lösen müssen ist allerdings die Verarbeitung von
Komplexität, weil dies als die Vorbedingung für das Erreichen aller
anderen Ziele angesehen wird.
Die Kritik an diesem Ansatz zielt im wesentlichen auf die hohe Eigenkomplexität der Theorie selbst.
4.
Der funktional-genetische Ansatz
Dieser Ansatz fragt verstärkt nach den evolutionären Entwicklungen von
Systemen und schenkt dadurch den systeminternen und systemexternen
Prozessen seine besondere Aufmerksamkeit. Systeme können evolutionäre
Entwicklungsmechanismen hervorbringen, mit deren Hilfe sie sich selbst
reproduzieren und evolutionär verändern können. Diese Veränderungsprozesse folgen aber keiner determinierten Richtung, sondern lassen in
einem begrenzten Bereich mögliche Variationen und Unbestimmtheiten zu.
Die Frage ist nun, welche Bedingungen dazu geführt haben, daß schließlich
sich eine ganz bestimmte Option durchgesetzt hat und ein ganz spezifischer
Entwicklungsstand erreicht wurde und nicht irgend ein anderer. Aus
diesem Ansatz entwickelt sich auch die Frage nach möglichen
Steuerungsverfahren.
42
4.3
Ganzheitliches und systemisches Denken in der Sozialarbeit
Das Postulat der Ganzheitlichkeit war seit je ein zentraler Anspruch in der
Sozialarbeit. Das wird besonders in den Arbeiten von Alice Salomon
deutlich, die immer wieder die Forderungen nach einer ganzheitlichen
Betrachtungsweise von sozialem Elend erhoben hat.(51)
Der Ganzheitlichkeitsgedanke prägt explizit oder implizit die Werthaltungen vieler sozialer Organisationen; und so heißt es beispielsweise in der
Satzung des Diakonischen Werkes von 1975: "Da die Entfremdung von
Gott die tiefste Not des Menschen ist und sein Heil und Wohl untrennbar
zusammengehören, vollzieht sich Diakonie in Wort und Tat als ganzheitlicher Dienst am Menschen."(52)
Sylvia Staub-Bernasconi belegt in ihrer Arbeit über die Methodenentwicklung in der Sozialarbeit, daß "bereits Ende des 19. Jahrhunderts ...
der Suche nach Wissen eine Ahnung über die Systemizität der Welt, der
Gesellschaft, wie des Menschen vorausging, das heisst es zeichnete sich ein
Weltbild ab, das die Soziale Arbeit seit je her versteckt oder offen prägt."(53)
Dieser ganzheitliche Gedanke konnte offensichtlich in der Vergangenheit
nie adäquat in den wissenschaftlichen Blick genommen werden, und erst
mit der Erschließung des Systemansatzes öffnete sich für das Feld der Sozialen Arbeit die Perspektive auf eine Wissenschaftlichkeit, die sich mit
dem traditionellen Postulat von der Ganzheitlichkeit des Menschen in
Übereinstimmung bringen läßt.
Seit dem der systemische Ansatz in der Sozialen Arbeit wachsenden Zuspruch findet, zielt die sozialarbeiterische Intervention nun in vielen Fällen
in erster Linie darauf ab, eine Veränderung von Beziehungsmustern zu
ermöglichen. Dabei ist es für eine systemische Haltung ganz wesentlich,
daß Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen sich selbst als einen Teil des
Systems betrachten. Dadurch wird ein technokratisches, von außen
kommendes Interventionsverhalten unmöglich.
Methoden können somit nicht mehr als bloße Techniken verstanden werden; sie beziehen stets die Gesamtperson des Sozialarbeiters mit ein. "Der
systemische Ansatz impliziert, daß der Sozialarbeiter sein eigenes Handeln
als Teil des zirkulären Prozesses versteht, an dem er selbst, der Hil(51)
(52)
(53)
Geisel/Leschmann, a.a.O.
Diakonisches Werk - Satzung, 1975
Staub-Bernasconi, a.a.O. - S. 3
Fehler! Textmarke
43 nicht definiert.
fesuchende, Angehörige, andere Bezugspersonen und Helfer beteiligt sind.
... So wird die Fähigkeit, die eigenen Interaktionsanteile ... in diesem
vernetzten System >metalogisch< zu reflektieren (z.B. in Supervision)
wichtiger Bestandteil der Arbeit."(54)
Enders weist weiterhin auf die Probleme der sozialen Arbeit im
behördlichen Auftrag hin. Administratives Vorgehen zwinge den
Sozialarbeiter, die Sozialarbeiterin zu linearem Denken. Aktenführung und
die mit dem Amtsauftrag verbundene Parteinahme machten es nötig,
komplexe Vorgänge aus ihren Zusammenhängen zu isolieren, und auf auf
das Individuum bezogene Zuschreibungen zu reduzieren. Diese Haltung
erscheint resignativ insbesondere dann, wenn man davon ausgeht, daß ja
die große Mehrheit der Sozialarbeiterschaft unter den Bedingungen der
behördennahen Sozialen Arbeit tätig ist. Ziel einer Sozialarbeit, die sich
dem systemischen Ansatz verpflichtet fühlt, muß es selbstverständlich auch
sein, der unter diesen Bedingungen beschäftigten Sozialarbeiterschaft eine
methodische Vorgehensweise zu ermöglichen, die sie dazu in die Lage
versetzt, das linear-kausale Denken der Bürokratie zu überwinden.
Die neuere Diskussion in der Sozialarbeit greift als Weiteres den Netzwerkgedanken als Spezifizierung des systemischen Ansatzes auf. Im Unterschied zu formellen und funktionalen Verknüpfungen durch Organisationssysteme entwickeln sich "soziale Netzwerke" aus informellen Beziehungen sozialer Nähe. Dieses wird besonders deutlich bei Selbsthilfegruppen, die die soziale Problembewältigung aus den traditionellen Feldern der
Solidarität, wie die der Familie herausholen und demgegenüber bewußte
Gruppenbeziehungen stellen. Hierdurch entwickelt sich auch eine Alternative zur individualisiernden Fallarbeit der traditionellen Sozialarbeit,
weil durch die gemeinsamen Gruppenerfahrungen von Schicksalsgenossen
(z.B. in Selbsthilfegruppem von Alkoholkranken) deren Leiden zu einem
gemeinsamen Anliegen wird. Dadurch kann das Leiden nun entindividualisiert werden, und infolge dessen um die gesellschaftspolitische Dimension
erweitert werden. Erst das gemeinsame Handeln behinderter Menschen beispielsweise hat zu gesellschaftlichen Bewußtseinsprozessen geführt, in
deren Folge öffentlicher Einrichtungen zunehmend behindertengerecht
gestaltet werden.
(54)
Enders, Manfred in: Deut. Verein, a.a.O. - S. 841
44
Mit diesen Gedanken werden wieder die Vorstellung von J. L. Moreno
aufgegriffen, der auch als Urvater des Netzwerk-Gedankens gelten kann.
Die Lösung sozialer Probleme ist nicht mehr die Individualisierung derselben, vielmehr wird das Individuum in seinem sozial-psychologisch-politischen Kontext gesehen.
"Die Schaffung bzw. Wiederbelebung von Netzwerken hebt in dieser Perspektive die soziale Unterstützung bei der Lösung sozialer Probleme in
einer umfassenden sozialen Umgestaltung auf. Dabei steht Moreno in der
Tradition des utopischen Sozialismus, wenn er die Umgestaltung nicht
politisch, also auf Eroberung der Macht im Staate, ausrichtet, sondern sozial, also auf den Gewalt vermeidenden Umbau der sozialen Verhältnisse
von unten. Und damit kann er auch der Selbsthilfe bzw. Alternativbewegung Orientierung bieten. Vor allem aber hat Moreno immer wieder neue
Methoden kreiert, die die Analyse der sozialen Wirklichkeit, die Konsensfindung über ihre wünschenswerte Gestaltung, wie die Umsetzung
dieser Entwürfe in der sozialen Aktion von Gruppen - also in Reichweite
von jedermann - als einheitlichen Prozeß begreift."(55)
Gaertner, einer der profiliertesten Kritiker der Psychotechniken steht den
Arbeiten Morenos hingegen mehr skeptisch gegenüber: "Im Fall der Lehre
Morenos werden ähnlich wie in der Urschreitherapie Janovs oder der
Gesprächspsychotherapie Rogers weltrevolutionäre Ansprüche erhoben.
Diese Größenvorstellungen kontrastieren eigenartig zur Armut der
Theorien. Zumeist ist nur die psychotherapeutische Technik einigermaßen
ausführlich beschrieben und durch Beispiele belegt. Konsistente Annahmen
über Sozialisationsprozeß, Krankheitslehre und Gesellschaftstheorie
bestehen demgegenüber allenfalls auf der Ebene gängiger Ideologien und
alltagsweltlicher Vorannahmen."(56)
Im Gegensatz zu vielen anderen Methodenkritikern, vor allem aus den
siebziger Jahren, akzeptiert Gaertner zumindest die technische Kompetenz
von Moreno, Rogers, Cohn u.a. und bescheinigt diesen Konzepten, Aspekte
zu besitzen, deren Erfahrungen im Rahmen der Sozialtherapie durchaus
produktiv einsetzbar sind.
(55)
(56)
Buer, Ferdinand, Soziale Netze, selbstaktive Felder
Sozialökologie & Co. in: Neue Praxis, 2/1988 - S. 103
Gaertner, a.a.O. S. 28
Fehler! Textmarke
45 nicht definiert.
4.4
Personale Kompetenz und ganzheitlich-systemisches Handeln
Da die systemische Sichtweise den Helfer stets als Bestandteil des Systems
sieht, muß sich der Helfer dieser Situation bewußt sein und sich zunächst
selbst reflektieren können.
Die Reformbemühungen in den siebziger Jahren und die Anstrengungen
der Sozialarbeit, wissenschaftliche Profession zu sein, haben dem
personalen Aspekt der Professionalität zu wenig Aufmerksamkeit
geschenkt und es stellt sich heute die Frage, ob nicht das Steckenbleiben
der Reformbemühungen neben den objektiven Gründen (politischer-,
wirtschaftlicher- und rechtlicher Art), auch auf, im Subjekt des
Sozialarbeiters liegenden Gründe zurückzuführen ist.
Dieser Fragestellung gehen Hinte und Springer nach und sie stellen die
Hypothese auf, daß "die zentrale Fehleinschätzung der Reformer im sozialen Sektor darin liegt, daß die Person des Professionellen in diesem
Bereich (...) als filterlose Durchgangsstation für wissenschaftliche, d.h.
kognitiv-rational planerische Konzepte und Handhabungen gesehen worden ist."(57)
Diese Überlegungen decken sich grundsätzlich mit den oben beschriebenen
Systemansätzen sowie mit den aus der Geschichte der Sozialarbeit immer
wieder erhobenen Ansprüchen auf Ganzheitlichkeit, auf die "Besorgung
des ganzen Menschen" (Alice Salomon).
Für Schmidtbauer ist darum auch der Selbsterfahrungsaspekt der therapeutischen Konzepte für die Soziale Arbeit von besonderem Wert, denn:
"durch die Unfähigkeit (der Sozialarbeiter) ihre eigene Rolle kritisch zu
sehen, werden sie zwangsläufig zu Komplizen des Systems, das die
Schäden produziert, die sie behandeln."(58)
Eine systemische Einstellung zwingt uns dazu, die Person des Helfers als
Bestandteil des Systems zu betrachten. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen können von daher nur dann systemisch-denkende professionell
Helfende sein, wenn sie in der Lage sind, ihre eigene Person als Teil des
Systems zu reflektieren und einzusetzen.
(57)
(58)
Hinte, Wolfgang/Springer, Werner
Personale Kompetenz und professionelles Handeln in:
Sozialmagazin, 12/1983 - S. 19
Schmidtbauer, Wolfgang
An den Bedürfnissen vorbei in: Sozialmagazin, 12/1983 - S. 19
46
Dies trifft nicht nur auf die Arbeit mit Einzelnen oder Familien zu, sondern
auch, wie Mara Selvini Palazzoli so eindrucksvoll beschreibt, auf das
Arbeiten in Organisationen und Institutionen.(59)
Die heute vielfach festzustellende resignative Einstellung und der mangelnde Arbeitserfolg vieler Sozialarbeiter wird in den meisten Fällen an
den Bedingungen der äußeren beruflichen Realität festgemacht. Die Bemühungen, diese Realität zu verändern, bleiben häufig im institutionellen
Gestrüpp hängen. Hierfür gibt es unbestreitbare äußere Gründe. Es wird
aber hierbei übersehen, daß der Sozialarbeiter, die Sozialarbeiterin selbst
Bestandteil dieser veränderungwürdigen Realität sind und demzufolge sich
als Teile des Systems betrachten müssen, sich also auch reflektieren und
verändern müssen.
"Die eher resignative oder zumindest zurückhaltende Einstellung vieler
Professioneller im sozialen Sektor gegenüber den Veränderungsnotwendigkeiten in ihrem Bereich ist unseres Erachtens besonders darauf zurückzuführen, daß die Widerständigkeit der äußeren sozialen Realität und
der inneren, kongnitv-emotionalen, lebensgeschichtlichen Realität unterschätzt worden ist."(60)
4.5
Veränderungsprozesse aus ökologisch-systemischer Perspektive
Während der methodenkritischen Phase der Sozialarbeit wurde die Forderung nach einem gesellschaftsorientierten Veränderungsansatz erhoben,
anstelle einer am Individuum orientierten Hilfe.
In der nachfolgenden Phase der psychotherapeutischen Methoden geriet
das Individuum wieder in den Mittelpunkt.
Die Polarität dieser beiden Perspektiven sollte in einem systemischen Ansatz sozialer Arbeit überwunden werden, dadurch, daß das ökosystemische
Prinzip eingeführt wird.
Die Systemschau betrachtet die Welt im Hinblick auf Zusammenhänge und
Integration. Systeme sind integrierte Ganzheiten, die miteinander interagieren. Ähnlich, wie die in der Natur vorkommenden Ökosysteme,
weisen auch gesellschaftliche Systeme diese Merkmale der Ganzheitlichkeit auf. Demzufolge besteht das System "Gesellschaft" aus einer Vielzahl
interagierender Subsysteme. Veränderungsprozesse können auf allen
(59)
(60)
Selvini-Palazzoli, Mara
Hinter den Kulissen der Organisation, Stuttgart, 1984 - S. 219 ff
Hinte/Springer, a.a.O., S. 546
Fehler! Textmarke
47 nicht definiert.
Ebenen der Gesellschaft stattfinden. Veränderungen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene finden durch Revolution oder politische Willensbildung
statt. Veränderungen auf der individuellen Ebene finden durch
Psychotherapie oder Erziehung statt. Zwischen der individuellen Ebene und
der gesamtgesellschaftlichen, liegt die Ebene der Subsysteme. Zu diesen
Subsystemen gehören insbesondere die "Institutionen". Sozialarbeit findet
in der Regel auf dieser Ebene statt.
Der Ökosystemische Veränderungsansatz heißt: Denke global, handle lokal.
Erfreulicherweise hat dieses Postulat in den letzten Jahren auch Einzug in
die Praxis der Sozialen Arbeit gehalten. Joachim Wieler betitelt mit diesen
Worten seinen Beitrag über internationale Zusammenarbeit in der Sozialarbeit.(61)
Auf die soziale Arbeit vor Ort bezogen bedeutet das, daß der Ort der
Veränderung auch nicht mehr statisch ist, sondern dem beständigen
Wandel, in Anpassung an die jeweilige Situation unterworfen ist. Das bedeutet für die Soziale Arbeit, daß eine Diskussion über Werte beständig
geführt werden muß. Diese Diskussion schließt immer die vorangegangene
Entwicklung der Sozialen Arbeit mit ein.
4.6
Die Eigenschaften lebender Systeme (psycholog. Systemtheorie)
Wenn wir eine Methodik zur Veränderung von Systemen entwickeln
wollen, so erscheint es sinnvoll, zunächst die Eigenschaften von Systemen
zu erforschen. Die psychologische Systemtheorie hat solche Eigenschaften
beschrieben und in einigen Systemgesetzen dargestellt. Diese Arbeiten
gehen besonders auf die Studien von Paul Watzlawick(62) zurück und bilden
die Grundlage der Kommunikationstheorie. Der Theorie liegt eine
Definition zugrunde, wonach ein System ein Ensemble ist, welches aus
verschiedenen Bausteinen oder Elementen besteht. Diese Bausteine sind
durch Beziehungen untereinander verknüpft. Die Eigenschaften der Systeme werden durch die nachfolgenden Systemgesetze beschrieben. Alle
lebenden Systeme bestehen aus Subsystemen und einer sie umgebenden
Umwelt. Das trifft für die Zelle ebenso zu wie für ein Organ, einen einzelnen Menschen oder eine Organisation wie z.B. ein Jugendamt.
(61)
(62)
Wieler, Joachim, Global denken, lokal handeln
Internationale Vernetzung in der Sozialen Arbeit in: Sozial, 2/1986 - S. 33 ff
Watzlawick, Paul - Beavin, H. - Jackson, Don D.
Menschliche Kommunikation - S. 118 ff, Stuttgart, Wien, 1985
48
Nachfolgend stelle ich die wichtigsten Systemgesetze dar.
1.
Ganzheit
Jeder Teil eines Systems ist mit anderen Teilen so verbunden, daß
eine Änderung in einem Teil eine Änderung in allen Teilen zur Folge
hat. Es handelt sich also nicht um eine Zusammensetzung von
einander unabhängiger Einzelelementen, sondern um ein zusammenhängendes untrennbares Ganzes. "Man kann sagen, daß sich
Systeme immer durch einen relativen Grad von Ganzheit auszeichnen." (Watzlawick)
2.
Übersummation
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das System ist also
nicht einfach eine Summe seiner Bestandteile sondern mehr, denn
die Bestandteile stehen ihrerseits in Austausch miteinander, wodurch
dem Gesamtsystem zusätzlich Qualitäten verliehen werden. In der
Psychologie ist der Begriff der Gestalt Ausdruck des Prinzips der
Übersummation. So nehmen wir beispielsweise in einer kreisförmig
angeordneten Summation von Punkten nicht einfach nur eine Anzahl
von Punkten wahr, sondern auch einen Kreis; in der Musik ist eine
Melodie ebensowenig eine Anzahl von Tönen, sondern eine Gestalt
eigener Qualität.
3.
Rückkopplungs- oder Feedback-Prinzip
Innerhalb eines Systems gibt es sogenannte Rückkopplungsmechanismen, die dafür sorgen, daß das System sich selbst Auskunft über
seinen Zustand gibt und sich dadurch selbsttätig regelt. Wenn z.B.
eine Rockband seine Verstärkeranlage aufbaut, kommt es gelegentlich zu einem Rückkopplungston, der als schrilles Pfeifen wahrgenommen wird. Dieser Ton gibt dem System die Auskunft darüber,
daß die Mikrofone, die durch die Lautsprecher abgegebene Wiedergabe aufnehmen und erneut verstärken. Der Techniker oder eine
Automatik regelt nun das System so, daß die Beschallung auf ein
Niveau gesenkt wird, in dem die Lautstärke den räumlichen Gegebenheiten und der Technik angepaßt wird. Wenn ein System sich
nicht mehr Auskunft über sich selbst geben kann, ist die innere
Reglungsfähigkeit gestört. Familientherapie will beispielsweise diese
Feedback-Fähigkeit des Familiensystems fördern.
Fehler! Textmarke
49 nicht definiert.
4.
6.
Der zyklische Charakter von Systemen
Da ein System seinerseits immer auch gleichzeitig Subsystem vom
nächst größeren System ist, steht es als solches auch in Beziehung
und im Austausch mit anderen Systemen. Wir sprechen daher davon,
daß lebende Systeme offen sind. Dennoch hat ein System Grenzen.
An diesen Grenzen spielt sich aber der Kontakt und der Austausch
mit anderen Systemen ab. Wenn sich ein System nach Außen
abschließt, ist es auf Dauer nicht überlebensfähig oder es entwickelt
sich zumindest dysfunktional. Beispiel: Die Familie, die "sich selbst
genug" ist, der Staat der sich hinter Mauer und Stacheldraht
abschließt usw.
Prinzip der negativen Entropie
Jedes System hat die Tendenz sich in Richtung von Desorganisation,
Chaos oder Tod zu entwickeln, also zu zerfallen und abzusterben. Je
offener ein System ist, desto mehr wird dieser Entwicklung
entgegengewirkt, da durch neue Einflüsse von außen Feedback gefördert wird, was zur Erschließung neuer Ressourcen führen kann.
7.
Differenzierung und Integration
Offene Systeme entwickeln sich in Richtung größerer Differenzierung, Rollen-, und Arbeitsteilung. Beispiel dafür ist die Familie, wo
aus Kindern Leute werden, aus Eltern Großeltern usw. Diesem
Prozeß wird in Organisationen durch integrierende Arbeitsformen
entgegengewirkt. (z. B. durch Teamarbeit)
8.
Das dynamische Gleichgewicht
Dieses Gesetz besagt, daß jedes System in der Lage ist, selbst seinen
spezifischen Zustand herzustellen, auch wenn unterschiedliche äußere Einflüsse auftreten. Dies bewirkt, daß ein System trotz ständigem Aufnehmen und Abgeben von Energie im Prinzip seinen Charakter bewahrt. Allerdings müssen wir heute erkennen, daß diesem
Prinzip Grenzen gesetzt sind. So hat beispielsweise das Wasser, oder
besser gesagt Flüsse und Seen ein Selbstreinigungspotential,
wodurch sie sich von Schadstoffen befreien und wieder ihren ursprünglichen Zustand herstellen können. Durch das massive Eingreifen von Menschen und die Einleitung von vielfältigen
Schadstoffen ist aber das dynamische Gleichgewicht von manchen
Seen und Flüssen bereits derart gestört, daß diese "umzukippen"
drohen.
50
9.
Äquifinalität
Jedes lebende System kann den gleichen Endzustand auf unterschiedlichen Wegen erreichen. Also: viele Wege führen nach Rom.
Es ist nicht festgelegt, welches der "richtige" Weg ist, bzw. welches
der "ursächliche" Ausgangspunkt ist. Aus diesen Erkenntnissen folgt,
daß es keine monokausalen Erklärungsmuster für bestimmte
Phänomene gibt. Es kann jemand zum Alkoholiker geworden sein,
weil er eine überfürsorgende Mutter hatte oder weil ihm alles versagt
geblieben ist, weil er zu streng oder zu nachgiebig erzogen wurde,
weil die Eltern reich und anspruchsvoll waren oder weil sie ärmlich
und entsagend waren, weil er unter- oder überfordert wurde, usw.,
usw., usw... Erklären können
wir den Alkoholismus dieses
Menschen nur, wenn wir das System selbst betrachten. Das System
selbst ist seine beste Erklärung.
10.
Selbstorganisation
Dieses Systemgesetz ist umstritten, es widerspricht eigentlich dem
sechsten Gesetz. Dennoch hat gerade die Gestalttheorie bewiesen,
daß Wahrnehmung immer die wahrgenommenen Objekte, auch wenn
sie zunächst chaotisch wirken, zu sinnvollen Ganzheiten organisiert.
Dieses Selbstorganisationsprinzip trifft nun auch auf Organisationen
zwischen Menschen zu, was wir an dem Beispiel sehen können, wie
sich Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen bilden.
Diese Auswahl von Gesetzmäßigkeiten lebender Systeme kann man als
eine Grundlage für die, von Watzlawick ausgearbeitete Kommunikationstheorie betrachten.
Das Verständnis dieser Gesetze liefert uns darüber hinaus grundlegende
Anhaltspunkte für die Entwicklung erfolgreicher Interventionsstrategien in
sozialen Systemen. Diese Gesetze beschreiben, daß lebendige Systeme keinen monokausalen Erklärungsmustern folgen.
Die hohe Effizienz der monokausalen Frage nach dem "Warum" scheint
sich auf Erklärungen von geschlossenen Systemen zu beschränken. Dort
haben "Warum-Fragen" zweifellos ihren Platz.
Offene Systeme sind aber durch ihre Äquifinalität, Ganzheit, Übersummation, Rückkopplungsmechanismen usw. so vielschichtig, daß wir sie nur
verstehen können, wenn wir ihre Struktur erfassen. Die Struktur der
Systeme erfassen wir aber nicht durch die Frage nach dem "Warum", sondern nur durch die Frage nach dem "Wie".
Fehler! Textmarke
51 nicht definiert.
5. INSTITUTIONALE SOZIALARBEIT
Die Differenzierung des traditionellen Ganzheitsbegriffes aus der Sozialarbeit führt mich von der Ganzheit über das System hin zur Institution.
Die Institution beschreibe ich als Ort und Gegenstand der Sozialarbeit. Sie
wird deshalb von mir mit besonderem Interesse betrachtet. Dieses
Anliegen welches derzeit zwar vielerorts diskutiert wird, findet jedoch in
der praktischen Sozialarbeit zunächst nur als formales Problem Resonanz.
Um die Institutionen begreifen zu können, müssen wir jedoch weit über
ihre formellen Ausprägungen hinausgehen und beobachten lernen, wie sie
sich auch in der Persönlichkeit der Menschen repräsentieren.
Besonders die Gestalt-Soziotherapie erhebt hier Forderungen, auf die
bisher jedoch kaum mit der Entwicklung eigenständiger Konzepte
geantwortet wurde; und so sind die Worte von Jürgen Lemke aus einem
Protokoll der 1. Deutschen Tagung für Gestalttherapie vom September
1984 zunächst ein Appell, der bis heute nur wenig Gehör fand: "Der
Kontext der Institutionen, in denen die meisten Psychologen und
Sozialarbeiter tätig sind, muß mitgesehen werden. Man muß sich auch über
kontextverändernde Maßnahmen und den dazugehörigen Theorien und
Methoden
auseinandersetzen.
Die
Institutionsdiskussion
(z.B.,
Subversionsstrategien, Organisation) ist bisher gar nicht geführt worden.
Lieber weichen die Leute in ein altes Traumfeld von Psychotherapie aus
oder in politische Aktion, die so global ist, daß sie die Institution nicht
mehr erreicht. Vor der Veränderung der Institution liegt die Wahrnehmung
derselben. Hier könnte vielleicht Soziotherapie angesiedelt werden."(63)
In der weiteren Entwicklung der Sozialarbeit muß die Institution sowohl
Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, als auch Gegenstand sozialtherapeutischer Interventionen werden. Um dies zu verdeutlichen, werde
ich in einem ersten Schritt den Institutionsbegriff aus der Praxisperspektive
zu definieren versuchen.
(63)
Lemke, Jürgen, Soziotherapie, Protokoll eines Podiumsgespräch in; Petzold/Schmidt, Gestalttherapie - Wege und Horizonte - S. 206, Paderborn, 1985
52
5.1
Die Definition des Institutionsbegriffs
Im Laufe der Geschichte hat sich der Begriff der Institution deutlich gewandelt. Im 19. Jahrhundert verstand Marx unter Institutionen im wesentlichen die juristischen Systeme, das Recht und das Gesetz. Gemeinsam
mit den Ideologien bildeten sie den "Überbau" der Gesellschaft, während
die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse die "Basis" darstellten.
Um die Jahrhundertwende entwickelte Durkheim die Soziologie als eine
Wissenschaft von den Institutionen.
Seit etwa den sechziger Jahren wird an einer neuen Definition der Institution gearbeitet, die die institutionelle Praxis reflektiert. Dieser Institutionsbegriff geht insbesondere auf Goffman(64) zurück, und bezieht die Praxis
aus den Bereichen Psychiatrie, Pädagogik und Sozialtherapie mit ein.
Für die Praxis der Sozialen Arbeit erscheint besonders der französische
Ansatz der Institutionsanalyse interessant. Die "analyse institutionelle" war
eine Bewegung französischer Intellektueller, die ihren Ursprung in den 68ger Maiunruhen hatte und deren profiliertester Vertreter Georges
Lapassade war.
Lapassade versteht unter Institutionen:
"- offizielle gesellschaftliche Gruppen: Betriebe, Schulen, Gewerkschaften;
- Regelsysteme, die das Leben dieser Gruppen bestimmen."(65)
Die "analyse institutionelle" baut auf dem klassischen französischen Institutionsansatz auf, dem die folgende Definition zu Grunde liegt:
"Die Institutionen sind ein vollständig eingerichtetes Ganzes aus Handlungen und Gedanken, das die Menschen vorfinden und das sich ihnen
mehr oder weniger aufzwingt. Es gibt keinerlei Grund, diesen Ausdruck
ausschließlich - wie das gewöhnlich geschieht - auf fundamentale gesellschaftliche Einrichtungen zu beschränken. Wir verstehen unter diesem
Wort also ebenso die Gewohnheiten und Bräuche, die Vorurteile und
abergläubischen Vorstellungen wie die politische Verfassung oder die wesentlichen juristischen Organisationen; denn all diese Phänomene sind von
derselben Art und unterscheiden sich nur graduell voneinander. Die Institution ist, kurz gesagt, innerhalb der Sozialforschung das, was die
Funktion in der biologischen Ordnung ist, und so wie die Wissenschaft
vom Leben die Wissenschaft von den Lebensfunktionen ist, so ist die
(64)
(65)
Goffman, Erving, Asyle, Frankfurt, 1972
Lapassade, Georges, Gruppen, Organisationen, Institutionen - S. 172, Stuttgart,
1977
Fehler! Textmarke
53 nicht definiert.
Wissenschaft von der Gesellschaft die Wissenschaft von den so bestimmten
Institutionen. (Artikel >Sociologie< in der >Grande Encyclopédie<)."
(Herv. AK)(66)
Die neuere französische Institutionsdefinition und hier besonders die Praxis
der Institutionsanalyse geht noch über diesen Institutionsbegriff hinaus,
indem sie die Erfahrungen der Gruppendynamik reflektiert und die rein
soziologischen Definitionen dadurch erweitert, daß sie die These aufstellt,
"daß die Institution auch auf der Ebene des Unbewußten der Gruppe besteht."(67)
Diese Erkenntnisse zwingen zu der Unterscheidung zwischen Institution als
gesellschaftlicher Tatsache (offizielle gesellschaftliche Gruppen) und der
Institution als gelebte Praxis (verinnerlichte Regelsysteme).
Lapassade differenziert seinen "psycho-soziologischen" Institutionsbegriff
weiterhin in zwei anthropologische Perspektiven. Dieser unterscheidet
zwischen primären und sekundären Institutionen.
Primäre Institutionen findet der Mensch vor. Sie wirken auf die
Grundpersönlichkeit ein und formen diese.
Sekundäre Institutionen werden von der, durch primäre Institutionen geprägten Grundpersönlichkeit geschaffen.
So gesehen besitzt die Herkunftsfamilie den Status einer primären Institution, auf deren Hintergrund das Individuum seine eigene Familie als sekundäre Institution gründet.
Die Erweiterung des ursprünglich rein soziologischen Institutionsbegriffs
ist hauptsächlich auf die Erkenntnisse der Psychoanalyse zurückzuführen.
Freuds Entdeckung des Ödipuskomplexes und des Inzesttabus werden von
Lapassade als Strukturen institutionellen Ursprungs gesehen, die dazu
dienen, die individuelle Lebensgeschichte zu organisieren. Durch Gruppenerfahrungen wird der Einzelne institutionalisiert, d.h. er bildet eine
eigene Prägung aus, die von seinen frühen Gruppenerfahrungen bestimmt
wird. So gesehen ist der ödipale Konflikt die erste "Gruppenerfahrung", die
ein Mensch macht, tritt doch mit dem Vater ein dritter in sein Leben, mit
dem er die Liebe der Mutter teilen muß. In diesem Konflikt hat der Vater
die mächtigere Position, der sich das Kind aus Angst vor Vernichtung
(Kastration) unterwerfen muß. Dadurch werden dem Kind erste Rollenerfahrungen ermöglicht. Diese elementaren Erfahrungen instituieren
Strukturen, die später auch die konkreten Verwandtschaftsbeziehungen be(66)
(67)
zit. in: Lapassade, a.a. O. - S. 172
Lapassade, a.a.O. S. 174
54
stimmen und Vorschriften und Verbote determinieren. Diese Erfahrungen
sind universal und prägen daher unser gesamtes gesellschaftliches Gefüge.
"Die Universalität des Ödipuskomplexes bedeutet, daß im individuellen
Erleben die universelle Struktur der Verwandtschaftsinstitution präsent ist.
Unser Unbewußtes ist instituiert."(68)
Das zentrale Anliegen der "analyse institutionelle" ist also das soziale
Unbewußte zu begreifen, welches in Gruppen und Organisationen wirksam
ist. Dabei versteht sich diese Schule als Institutionskritik, die das institutionell unbewußte transparent machen will. Bisher beschränkte sich die
Forschung auf die Ebene der Organisations- und Machtstruktur und selbst
die Kritik des Marxismus ging nicht über diese Problematik hinaus. Der
institutionelle Ort ist, nach Lapassade, das Verborgene, das Flüchtige und
Vergessene. Es ist das politisch Unbewußte. Diese unbewußten Mechanismen gilt es mit Hilfe der "institutionellen Analyse" sichtbar zu
machen und zu verändern.
Johann August Schülein resümiert in seiner neueren, umfassenden Arbeit
"Theorie der Institutionen" über die "analyse institutionelle", daß diese
"den Rahmen akademischer Debatten (verläßt) und begibt sich (ohne
allerdings ihre universitäre Basis aufzugeben) in das Feld bestimmter
sozialer Praxis. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um pädagogische
Einrichtungen: Universitäten, Schulen, Organisationen, die mit Ausbildung
und >Animation< beschäftigt sind, Beratungsstellen u.ä. (...). Pointierter
gesagt: Die AI ist eine >pädagogische Dienstleistungs-Bewegung<; sie
reagiert auf die zunehmende Unzulänglichkeit traditioneller PädagogikVersorgungs-Betreuungs-Konzepte und -Strategien, denen im Übergang
zur modernen Industriegesellschaft quantitativ neue Aufgaben zugewiesen
wurden, ohne daß sie die Möglichkeit gehabt hätten, sich entsprechend
weiterzuentwickeln. Daraus ergab sich ein erheblicher Problemstau, auf
den die AI in bestimmter Weise reagierte, wo von Seiten der sozialen und
politischen Steuerung produktive Impulse ausblieben."(68)
Dieser Ansatz blieb bisher leider für das Feld der Sozialen Arbeit weitestgehend unentdeckt. Eine Ausnahme bildet hier Gaertner, der seine Sozialtherapie auf Psychoanalyse und Institutionsanalyse stützt und zu Lapassade bemerkt: "Auch wenn nur direkte politische Aktionen strukturelle
Veränderungen hervorbringen können, besteht der Sinn der Institutionsanalyse darin, in den Lebensbereichen der Subjekte, der Gruppen und In(68)
(68)
Schülein, Johann-August, Theorie der Institutionen - S. 113, Opladen, 1987
Schülein, Johann-August, Theorie der Institutionen - S. 113, Opladen, 1987
Fehler! Textmarke
55 nicht definiert.
stitutionen also, Störungen und Probleme der Identitätsbildung in einer
über den Rahmen der klassischen Psychoanalyse hinausgehenden kollektiven Weise zu bearbeiten. Zugleich soll die Interventionspraxis dazu beitragen, theoretisch den gesellschaftlichen Prozessen in Gruppen und Institutionen auf die Spur zu kommen und in ihren Sozialisationswirkungen
zu erforschen."(69)
5.2
Der praktische Institutionsbegriff
Die für die Sozialarbeit relevanten Systeme möchte ich im Folgenden als
"Institutionen" bezeichnen.
"Unter Institutionen verstehen wir:
offizielle gesellschaftliche Gruppen: Betriebe, Schulen, Gewerkschaften;
Regelsysteme, die das Leben dieser Gruppen bestimmen."
(Lapassade, s.o.)
Hierunter fallen beispielsweise Familien als gesellschaftliche Gruppen.
Aber auch der Einzelne mit seinen verinnerlichten Regelsystemen ist institutionalisiert. Das bedeutet, daß verinnerlichte Normen und Werte zu
teilweise unbewußten Regelsystemen gerinnen, die uns das Zusammenleben in der Familie oder auch in größeren gesellschaftlichen Organisationen
erst ermöglichen. Je strukturierter, differenzierter und reflektierter diese
inneren Regelsysteme beim Einzelnen sind, desto besser gelingt ihm der
Anpassungs- und Abgrenzungsprozeß in und von gesellschaftlichen
Gruppen.
Institutionen sind für das menschliche Überleben und eine differenzierte
Fortentwicklung unerläßliche Gebilde. Wir kennen aus der Soziologie zwei
zentrale Ansätze, die die Institution definieren:
Der kulturanthropologische Ansatz von Gehlen betrachtet die Institution
vor allen als gesellschaftlichen Instinktersatz, der das menschliche Verhalten stabilisieren soll. Durch die automatische Regulierung von Handlungsabläufen und Beziehungsabläufen ermöglichen uns Institutionen eine
erhebliche Entlastung, die schließlich zur Sicherung von Bedürfnissen des
Einzelnen beiträgt.
Die Formen, in denen Menschen miteinander leben (Familie, WG, Altenheim) oder arbeiten (Schule, Fabrik, Büro), in denen sich die Herrschaft
(69)
(70)
Gaertner, Adrian, a.a.O. - S. 37
Gehlen, Arnold, Anthropologische Forschung - S. 72, Reinbeck bei Hamburg,
1980
56
ausgestaltet (Polizei, Justiz) oder der Kontakt mit dem Übersinnlichen
(Kirche, Sekten), gerinnen alle zu Gestalten eigenen Gewichts. Das sind die
Institutionen, die schließlich den Individuen gegenüber eine eigene Macht
gewinnen, die durch die verschiedenartigsten Regeln gefestigt wird.
Dadurch gelingt es einem Mitglied einer Institution in der Regel, das
Verhalten eines anderen Institutionsmitgliedes ziemlich sicher vorauszusagen, vorausgesetzt, daß man dessen Stellung und Rolle im System der
Gesellschaft kennt und weiß, von welchen Institutionen er getragen wird.
"Wenn auch die Institutionen uns in gewisser Weise schematisieren, wenn
sie mit unserem Verhalten auch unser Denken und Fühlen durchprägen und
typisch machen, so zieht man jedoch gerade daraus die Energiereserven,
um innerhalb seiner Umstände die Einmaligkeit darzustellen, d.h. ergiebig,
erfinderisch, fruchtbar zu wirken. Wer nicht innerhalb seiner Umstände,
sondern unter allen Umständen Persönlichkeit sein will, kann nur
scheitern." (Hervorh. AK)(70)
Die strukturell-funktionale Schule nach Parsons betont vorwiegend die
Bedeutung der Institution für die Erhaltung des sozialen Systems. Hierbei
geht es um die Frage, auf welche Weise sich das soziale System erhält und
fortsetzt, obwohl die Generation, die die jeweilige Gesellschaft trägt einem
natürlichen Ausscheidungsprozeß unterworfen ist.
Das systemisch-ganzheitliche Denken zwingt uns dazu, von der Offenheit
und dem Wachstum der Systeme auszugehen. Demzufolge sind Institutionen keine geronnenen monolithisch unwandelbare Blöcke, vielmehr sind
sie ständig im Fluß; ständig einem organischen Prozeß des Wandels und
der Veränderung, in Abhängigkeit zu dem sie umgebenden kulturellen
Umfeld unterworfen. Demzufolge sind geschlossene oder starre Institutionen zwar bewahrend aber entwicklungsfeindlich. Dadurch werden sie
pathologisch, wie beispielsweise ein geschlossenes Familiensystem, das
dadurch, daß es den natürlichen Wachstums- und Austauschprozessen nicht
Rechnung trägt, Prozesse psychischer Erkrankungen begünstigt.
(71)
Goffman, a.a.O. - S. 74 f
Fehler! Textmarke
57 nicht definiert.
5.3
Der Institutionsbegriff für Sozialtherapie und Sozialarbeit
In der Sozialtherapie wird in jüngster Zeit zunehmend ein an der Institution
orientiertes Methodenkonzept gefordert. Gaertner mißt in seinem sozialtherapeutischen Ansatz den soziodynamischen Wirkungsweisen von
Institutionen eine besondere Bedeutung als pathogenisierendem Faktor bei.
(Gaertner, Sozialtherapie a.a.O.)
Ein Konzept methodischer Sozialarbeit, welches die soziodynamischen
Wirkungsweisen von Institutionen reflektiert, könnte für die Sozialarbeit
bedeuten, daß diese Disziplin Kernvollzüge erhält, die einer "Profession
Sozialarbeit", in Abgrenzung zu anderen Handlungswissenschaften, wie
Psychologie, Medizin, Pädagogik usw. einen eigenständigen Gegenstandsbereich verleihen.
In diesem Sinne wäre Gegenstand der sozialarbeiterischen Intervention
stets die Institution und zwar:
5.31 Die intrapersonale Institution
Wie oben bereits angedeutet gehe ich davon aus, daß das Unbewußte
institutionalisiert ist (Lapassade). Diesen Teil des Unbewußten
bezeichnet die Psychoanalyse mit dem topischen Begriff des ÜberIchs. Das Über-Ich ist diejenige psychische Instanz, in der von außen
kommende Wert- und Normsysteme verinnerlicht sind. Diese
Verinnerlichung wirkt zum großem Teil unbewußt und macht
dadurch das Individuum unabhängig von äußeren Kontrollinstanzen
oder permanenter bewußter Reflexion. Ein gutes Beispiel dafür stellt
der Straßenverkehr dar: Während der Fahrschüler bei seinen ersten
Fahrstunden permanente Rückmeldungen über sein Verhalten durch
den Fahrlehrer benötigt, kann er sich als Fahranfänger diese
Rückmeldungen selbst geben und in einer weiteren Entwicklungsstufe unterläßt er auch diese Selbstreflexion; Kuppeln, Schalten, in
den Spiegel schauen usw. sind zu unbewußten Automatismen geworden, die für den Fahrzeuglenker eine derart große Entlastung
darstellen, daß es diesem außerdem noch möglich ist eine Rundfunksendung zu verfolgen.
Damit nicht genug: institutionalisiert ist der Einzelne erst dadurch,
daß er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, daß sich alle übrigen Verkehrsteilnehmer genauso verhalten werden, daß er deren Verhalten sozusagen voraussagen kann.
58
Das Beispiel des Straßenverkehrs nun läßt sich auf sämtliche Ebenen
sozialer Interaktion übertragen. Sozialarbeit als Handlungswissenschaft hat es mit Phänomenen zu tun, bei denen diese Institutionalisierungsprozesse von zentraler Bedeutung sind.
Im Kindergarten und der Vorschulerziehung werden soziale Rollen
eingeübt. In der Jugendarbeit setzen sich die Klienten vorwiegend
mit ihrer Geschlechterrolle auseinander, in der Familienberatung und
Familientherapie steht das familiäre Werte- und Normensystem im
Mittelpunkt. Rehabilitative Sozialarbeit ermöglicht ihrem Klientel
ein Wiedereinüben von geänderten Rollenanforderungen. Diese
Beispiele lassen sich leicht für alle Bereiche sozialer Arbeit ausweisen.
Der Sinn und die Notwendigkeit von sozialer Arbeit auf dieser Ebene
wird deutlich, wenn wir uns mit dem Strafvollzug befassen. Bereits
1961 hat Erving Goffman beschrieben, daß Insassen von "Totalen
Institutionen" (Strafvollzug, Armee, Psychiatrie, Schiffahrt), sich um
so kontraproduktiver zur Institutionsalisierung von sozialen Normen
und Werten verhalten, je rigider die äußeren, durch die "totale
Institution" gesetzten Regelsysteme sind.(71) Von daher nimmt es
nicht wunder, wenn die Sozialtherapie im Strafvollzug heute die
weiteste Verbreitung findet.(72)
5.32 Interpersonale Institutionen
Wir können Institutionen als ausgesprochene oder unausgesprochene
Vereinbarungen zwischen Individuen oder sozialen Gruppen
verstehen. So gesehen befindet sich die Institution zwischen den
Menschen. Sie stellt sozusagen den Kontext dar, in dem sich die
zwischenmenschliche Interaktion vollzieht.
Es geht hierbei also um die Regelsysteme, die das Leben in
"offiziellen gesellschaftlichen Gruppen" bestimmen. Diese Regelsysteme können sowohl durch Gesetze, Erlasse, Verfügungen usw.
festgeschrieben sein, als auch unausgesprochenen Sitten und Gebräuchen folgen (man spuckt nicht auf den Flur, raucht nicht in der
Kirche und bestellt beim Kassierer einer Bank kein Omelett).
(72)
(73)
Weber, Hartmut-M., Sozialtherapie als Herrschaft: Beispiel Strafvollzug in:
Gaertner, a.a.O. - S. 145 ff
Lapassade, a.a.O. - S. 10
Fehler! Textmarke
59 nicht definiert.
Offiziell wird eine gesellschaftliche Gruppe, sobald sie sich ein Regelsystem gibt. Demzufolge ist beispielsweise die Ehe und die
nichteheliche Lebensgemeinschaft eine Institution, während
Freundschaften und Liebesbeziehungen zunächst keinen institutionellen Status besitzen, im Gegensatz zur Peergroup, die sozusagen
den Übergang zur Institution darstellt.
Entwickelt sich nämlich aus der Peergroup ein regelmäßiges Treffen,
gar ein Club oder Verein, wird auch die Peergroup zur Institution.
Beispielsweise sind die jugendlichen Madonna-Fans, die sich in
einem Haus der offenen Tür unregelmäßig zum Plattenhören treffen,
keine Institution. Erst dann, wenn diese Jugendlichen einen
Madonna-Fan-Club gründen, wird dieser zur Institution. Diese
Entwicklung kann man in mannigfaltigen Erscheinungsformen beobachten, wie beispielsweise auch bei Fußballfans und Motorradclubs.
Wie bereits oben erwähnt, machen bestimmte Phänomene, wie offizielle Regel- und Gesetzeswerke eine Institution aus. Nicht so offensichtlich wie die offiziellen Regelsysteme ist die Wirkung von
Sitten, Gebräuchen und allgemeinen kulturellen Umgangsformen.
Diese sind in den seltensten Fällen schriftlich fixiert und zum größten Teil unbewußt. Die nicht-offiziellen Regelsysteme bestimmen
darüber hinaus unser Handeln weniger über den kognitiven Bereich
als vielmehr über unser Gefühlsleben.
Psychoanalytisch ausgedrückt heißt das, daß institutionelle Regelsysteme, die das Zusammenleben von Menschen eigentlich erst ermöglichen, Teil der individuellen Persönlichkeitsstruktur werden und
zwar dergestalt, daß sie unbewußt oder vorbewußt als Funktion des
Über-Ichs wirksam sind.
Was bedeutet das nun für unseren "Madonna-Fanclub"?
Zunächsteinmal ist da eine Ansammlung junger Menschen, die ungeregelt, gemeinsam Schallplatten ihres Idols hören und eventuell
darüber sprechen. Der Schritt zur Institution wird dann gemacht,
wenn diese jungen Menschen sich darüber verständigen, in Zukunft
regelmäßig Musik ihres Idols hören zu wollen und darüber zu reden.
Auf der formalen Ebene, also der "Ebene der Gesetzgebung" steht
nun der gemeinsame Termin. Also: montags um 20 Uhr wird über
Madonna geredet und die Musik gehört. Auf der "Ebene der Sitten
60
und Gebräuche" stehen nun bestimmte Umgangsformen und Moden,
die zu diesem Anlaß ausgeübt werden (Kleidung, Haartracht Tanzstil
usw.) Auf der unbewußten "Ebene der Gefühle" liegt beispielsweise
das schlechte Gewissen, was man hat, wenn man zu spät kommt, das
Unbehagen, was einen beschleicht, wenn man bestimmte Verhaltensrituale (z.B. Tanzstil) nicht beherrscht.
Der entscheidende Schritt zur Institutionalisierung setzt dann ein,
wenn die Clubmitglieder sich über die Verteilung von Rollen organisieren. Im Vereinsleben kennen wir Vorsitzende, Geschäftsführer,
Kassenwart usw. Durch diese Rollenverteilung bekommt der
Madonna-Fanclub mehr und mehr den Status einer "Organisation".
Die Rollen in Organisationen zeichnen sich durch Konstanz aus, und
auch dadurch, daß sie nicht mehr hinterfragt werden. Wenn der
Madonna-Fanclub sich nun dergestalt weiterentwickelt, daß die Zeit,
die zum Schallplattenhören aufgewendet wird, immer geringer wird
und wenn stattdessen der Organisations- und Verwaltungsaufwand
zunehmend in den Mittelpunkt gerät, können wir gar von einer
"Bürokratisierung" sprechen.
5.4
Primäre und sekundäre Institutionen
Für die Praxis erscheint die anthropologische Unterscheidung zwischen
primären und sekundären Institutionen hilfreich.
Primäre Institutionen finden die Menschen vor, sie zwingen sich ihnen
förmlich auf und prägen die Grundpersönlichkeit. Sekundäre Institutionen
schafft der Mensch nun auf dem Hintergrund seiner, durch die primären
Institutionen geprägten Grundpersönlichkeit.
Wie oben bereits erwähnt, kommt der Herkunftsfamilie der Status einer
primären Institution zu, während die eigene Familie dann als sekundäre
Institution bezeichnet wird.
Dieses Modell läßt sich nun auch auf die berufliche Sozialisation übertragen; Ausbildung stellt hier die primäre, der Beruf stellt die sekundäre Institution dar.
Fehler! Textmarke
61 nicht definiert.
5.5
Institutionelle Ebenen
Die Gruppenforschung und hier insbesondere die experimentelle Gruppendynamik ist in den letzten Jahrzehnten "endgültig zu der Feststellung
gelangt, daß eine >Gruppe< - und unter >Gruppe< verstehen wir auch eine
>soziale Organisation< - immer durch Institutionen überdeterminiert ist".(73)
Primäre und sekundäre Institutionen werden, topisch gesehen, auf drei
unterschiedlichen Ebenen wirksam:
Auf der ersten Ebene finden wir die Gruppe. Dabei handelt es sich um eine
Schulklasse, ein Büro oder eine Werkstatt. Die Institutionen auf dieser
Ebene bestehen aus Arbeitszeiten, Arbeitsrythmus, Arbeitsnormen,
Kontrollsystemen, Status und Rollen. Durch diese Institutionen wird das
Funktionieren der Gruppen ermöglicht.
Auf der zweiten Ebene ist die Organisation anzusiedeln. Herbei handelt es
sich um einen Betrieb als Ganzes, eine Universität oder eine Verwaltungsbehörde. Die institutionelle Ebene ist hier die der Apparate und
Kontrollinstanzen. Die Institutionen nehmen hier bereits juristische Formen
an und verwirklichen sich in der bürokratischen Organisation.
Die dritte Ebene ist die des Staates. Hier werden Gesetze geschaffen, die
den Institutionen juristisches Gewicht verleihen. Das Institutionierende
steht auf der Seite des Staates, also an der Spitze des Systems.
Diese Sichtweise von Lapassade verkennt jedoch, daß sowohl die erste
Ebene als auch die Ebene der Organisationen auf den Staat einwirken kann.
So wird beispielsweise der Staat durch ein verändertes Sexualverhalten auf
der ersten Ebene dazu gezwungen, Veränderungen im Familienrecht
vorzunehmen, wie die Diskussion um nichteheliche Lebensgemeinschaften
deutlich zeigt.
Die zweite Ebene hingegen wirkt durch ihre Interessenvertretungen ebenfalls auf den Staat ein, wie durch die Konflikte um die Gesundheitsreform
eindrucksvoll zu beobachten war.
Für die Soziale Arbeit stellt sich nun die Frage, wie diese Disziplin
ihrerseits instituierend wirken kann.
(74)
Lapassade, a.a.O.. - S. 84
62
5.6
Organisation und institutionalisierte Berufsrollenidentität
Der allgemeine Ort der Sozialen Arbeit ist in der Regel eine komplexe Institution. Den spezifischen Ort der Sozialen Arbeit bezeichnen wir hingegen als Organisation. So verstehen wir beispielsweise das "Jugendamt" als
Institution, während wir das "Jugendamt der Stadt Essen" als Organisation
bezeichnen. Von dieser Definition her gesehen, bezeichnet der Begriff
"Organisation" stets ein spezifisches institutionelles Gebilde.
"Das Wort Organisation hat mindestens zwei Bedeutungen:
Es bezeichnet auf der einen Seite das Organisieren, das sich in Institutionen vollzieht;
Es zielt auf der anderen Seite auf gesellschaftliche Gebilde: eine
Fabrik, eine Bank oder eine Schule sind Organisationen."(74)
Als für die Soziale Arbeit relevante soziale Organisationen bezeichnen wir
Kollektive, die im Hinblick auf bestimmte Ziele der Sozialarbeit eingerichtet wurden. Diese sozialen Systeme sind beispielsweise ein Jugendamt, eine Drogenberatungsstelle, ein Kinderheim, ein psychiatrisches
Krankenhaus usw. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen sind stets Mitglieder dieser Organisationen und deren Zielen verpflichtet.
In den oben benannten sozialen Organisationen treffen nun Mitglieder
verschiedener Berufsgruppen aufeinander, die gemeinsam die Organisation
institutionalisieren, d.h. Wert- und Normhaltungen aus ihrer speziellen
Berufssozialisation einbringen. Ein gutes Beispiel hierfür liefert uns die
Psychiatrie:
Ärzte/innen,
Psychologen/innen,
Sozialarbeiter/innen,
Ergotherapeuten/innen, Pflegepersonal, Hauswirtschaftspersonal und
Verwaltungsangestellte bringen sich in die Organisation ein und institutionalisieren diese von unten, während der Staat durch Gesetze und Erlasse
von oben wirkt. Die Praxis zeigt uns, daß diejenige Berufsgruppe, die den
höchsten Status und die deutlichste Identität besitzt, die größte Macht hat,
institutionalisierend zu wirken. Das ist im Falle der Psychiatrie häufig die
Berufsgruppe der Ärzte.
Diese Institutionalisierung der Organisation schlägt sich nun in der
Psychiatrie sowohl auf der formellen Ebene als auch im informellen Be(75)
Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen, 14947
Fehler! Textmarke
63 nicht definiert.
reich nieder. Formell sind Konzepte, Behandlungspläne, Tagesablauf usw.,
informell sind die Haltungen des Personals gegenüber der Patienten und die
unterschiedliche
Gewichtung
der
therapeutischen
Maßnahmen.
Institutionalisiert werden die in der Psychiatrie tätigen Berufsgruppen
zunächst durch ihre Ausbildung.
Der Arzt erlebt seine "primäre Berufssozialisation" innerhalb seines Medizinstudiums (also außerhalb des Krankenhauses). Hier werden nun die
grundlegenden berufsethischen Normen und Werte vom angehenden Arzt
verinnerlicht. Je mehr Bedeutung diesen spezifisch ärztlichen Werten
beigemessen wird, umso stärker und haltbarer prägt sich die spezielle
Berufsidentität als Bestandteil der individuellen Persönlichkeitsstruktur
aus. Der Medizinerausbildung ist es in ihrer Geschichte gelungen,
hochidentifikatorisch zu wirken und dies mit außerordentlichem
Statusgewinn abzusichern.
Demgegenüber steht die Berufsgruppe des Pflegepersonals. Diese Berufsgruppe absolviert einen Großteil ihrer Ausbildung innerhalb des
Krankenhauses und wird dadurch bereits durch die Organisation, die sie
später anstellen wird, institutionalisiert. Dadurch ist das Pflegepersonal in
der Regel in anderer Weise mit der Anstellungsorganisation identifiziert
und weniger mit spezifischen berufsethischen Normen und Werten, die
durch ausgewiesene Wissenschaftlichkeit die Anstellungsorganisation
transzendieren.
Die Berufsgruppe der Sozialarbeiter nun, wird auch außerhalb der sie
später einstellenden Organisationen sozialisiert. Die spezifische Berufsidentität jedoch, geht nicht wie bei den Ärzten von ausgewiesenen Kapazitäten der eigenen Disziplin aus; sondern Sozialarbeiter werden von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen ausgebildet, die die soziale
Arbeit aus dem jeweiligen Blickwinkel ihrer eigenen wissenschaftlichen
Disziplin definieren. Im Gegensatz zum Medizinstudium, wo eine hohe
Zahl von Fachwissenschaften gleichsam im Sinne einer Bringschuld, die
Erkenntnisse ihrer Disziplin einbringen, die dann von Wissenschaft
"Medizin" integriert werden, ist der Sozialarbeit diese Integration noch
nicht oder kaum gelungen.
Im Gegenteil: durch das Nebeneinanderstehen der unterschiedlichen Einzelwissenschaften wie, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Recht, Politik,
Sozialmedizin, Verwaltung usw. findet eine Atomisierung des Wissens
64
statt, mit der Folge, daß die angehenden Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen keine Stabilität in ihrer Berufsidentität entwickeln können.
Dadurch, daß die ordnende bzw. integrierende Hand fehlt, die ihrerseits nur
eine Hand der Disziplin Sozialarbeit/Sozialpädagogik sein kann, wird das
Berufsbild nur fragmentarisch institutionalisiert. Dies führt dazu, daß der
später berufstätige Sozialarbeiter zwischen vielfältigen Legitimationskonflikten taumelt. Auf einer Ebene steht er in dem Konflikt, sich zwischen
Berufsethik und Organisationszielen entscheiden zu müssen; auf der
nächsten Ebene muß er darum bemüht sein, das Wissen der verschiedenen
Disziplinen, die ihn ausgebildet haben, zu einer einheitlichen
Berufsidentität zusammenzuführen; und schließlich befindet er sich auf
einer weiteren Ebene nur allzu häufig in professionellen Auseinandersetzungen mit gerade den Disziplinen, die ihn während seines
Studiums mit dem Spezialwissen aus ihrer Disziplin geprägt haben (z.B.
Juristen, Ärzte, Psychologen usw.).
Für Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, die im Rahmen ihrer Berufsausübung den institutionellen Kontext zum Gegenstand ihres methodischen
Handelns machen wollen, ist es daher nötig, daß sie durch Sozialarbeit
institutionalisiert werden, d.h. daß die Identifikation mit dieser speziellen
Disziplin durch die Ausbildung, zum Bestandteil ihrer individuellen Persönlichkeitsstruktur werden muß.
Dies erscheint jedoch unter der aktuellen politischen Situation nicht kurzfristig erreichbar. Deshalb besteht für diese Berufsgruppe derzeit die
einzige Möglichkeit ihr spezifisches professionelles Wissen einzubringen
darin, zunächst die eigene Situation zu analysieren und auf dem
Hintergrund einer institutionellen Analyse, Veränderungsstrategien zu
entwickeln. Der ständig wachsende Bedarf an Supervision ist aus einem
Leidensdruck zu verstehen, dessen Bedingungen in erster Linie mit diesen
institutionellen Konflikten zusammenzuhängen scheinen, und erst in
zweiter Linie mit persönlichen und klientellen Problemen.
Für die Patienten und Patientinnen der Psychiatrie beispielsweise würde
eine selbstbewußte Sozialarbeit bedeuten, daß die soziale Wirklichkeit der
psychisch erkrankten Menschen endlich gleichrangig mit derer körperlichen und psychologischen Realität gesehen werden könnte.
Soziale Arbeit hat heute allerdings ihre größte Verbreitung im verwaltungsund behördennahen Bereich und muß sich hier auch als Eingriffsbehörde
Fehler! Textmarke
65 nicht definiert.
verstehen. Sozialamt, Jugendamt, Allgemeiner Sozialdienst sind
Institutionen, die etwa dreiviertel des für die Soziale Arbeit zur Verfügung
stehenden Arbeitsmarktes ausmachen. Von daher erscheint es vordringlich,
Soziale Arbeit hier besonders zu institutionalisieren.
Weil die Sozialarbeit im behörden- und bürokratienahen Bereich den
besonderen Mechanismen der verwalteten Welt ausgesetzt ist, müssen
gerade hier die besonderen Wirkungsweisen der Institutionen reflektiert
werden, wenn die Disziplin nicht scheitern will.
5.7
Das Problem der Bürokratie in der sozialen Arbeit
Sozialarbeit handelt ausgehend von komplexen Institutionen für Menschen,
die signifikant häufig im Umgang mit Institutionen gescheitert sind.
Das Jugendamt beispielsweise ist eine vom Staat eingerichtete Institution,
die dann eingreift, wenn die Institution Familie die Erziehung des Kindes
nicht mehr adäquat, d.h. im Sinne bestehender Rechtsnormen gewährleisten
kann.
All diese Institutionen, heißen sie nun Jugendamt, Bewährungshilfe, Knast,
Psychiatrie oder Heimerziehung, haben ähnliche Aufgaben und ihre
Zielgruppe sind nahezu immer Menschen, die in den bestehenden Institutionen scheitern.
Nun haben sich diese Institutionen wieder zu eigenen, oftmals mächtigen
Verwaltungs- und Organisationssystemen entwickelt, die ihrerseits wieder
einer eigenen "Organisationsdynamik" unterliegen. Diese Dynamik
tendiert, mit Max Weber gesprochen, "zur vollständigen Rationalität"(75).
Max Weber führt eine Reihe von Merkmalen an, die bürokratische
Organisation bestimmen. Alle diese Merkmale lassen sich heute auch in
Organisationen ausmachen, in denen Sozialarbeiter mit Menschen zusammentreffen, denen es nicht gelingt, ihre Bedürfnisse in der verwalteten
Welt angemessen durchzusetzen. Und so müssen wir die Konflikte zwischen Sozialarbeitern und Verwaltungsbeamten in all den Behörden, in
denen Sozialarbeiter tätig sind, stets auch als einen Konflikt um Bürokratisierungstendenzen verstehen.
Die bürokratische Ordnung ist nach Max Weber durch folgende Merkmale
gekennzeichnet:
(76)
Weber, Max, a.a.O. - S. 559 f
66
1.
Das Prinzip der festen, durch Regeln und Gesetze oder Verwaltungsrichtlinien generell geordneten behördlichen Kompetenzen.
2.
Die Bürokratie ist hierarchisch geordnet. "Das Prinzip des hierarchischen Instanzenzugs findet sich ganz ebenso wie bei staatlichen
und kirchlichen, auch bei allen anderen bürokratischen Gebilden,
etwa großen Parteiorganisationen und privaten Großbetrieben,
gleichviel ob man deren private Instanzen auch >Behörde< nennen
will."(76)
3.
Die Bedeutung von Schriftstücken und Akten, die oft Jahrzehnte lang
aufbewahrt werden.
Dabei handelt es sich nicht nur um Aktenvermerke und Vorgänge,
sondern auch um Rundschreiben und Dienstanweisung aller Art, die
häufig einen Großteil der Arbeitskraft des Sozialarbeiters, der Sozialarbeiterin in Anspruch nehmen.
4.
Die bürokratische Amtstätigkeit setzt eine eingehende Fachschulung
voraus, deren Absolvierung den späteren Status bestimmt. Hier sei
nur an die vielfältigen Prüfungen erinnert, wie z.B. erste und zweite
Verwaltungsprüfung, Zwischenbeurteilung, Lehrgänge usw., die
entscheidenden Einfluß auf die Laufbahn haben.
5.
Das Amt und die Amtsführung selbst setzt technische Kenntnisse
voraus, wie Verwaltungslehre und Rechtskenntnisse.
6.
"Vor allem aber bietet die Bürokratisierung das Optimum an Möglichkeit für die Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung in
der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten, unter Verteilung der einzelnen Arbeiten auf spezialistisch abgerichtete und in
fortwährender Übung immer weiter sich einschulende Funktionäre.
>Sachliche< Erledigung bedeutet in diesem Fall in erster Linie
Erledigung >ohne Ansehen der Person< nach berechenbaren Regeln."(77)
(77)
Weber, Max, a.a.O. - S. 570
Mentzos, Stavros, Interpersonale und institutionalisierte Abwehr, Frankfurt,
1988 - S. 11
(78)
Fehler! Textmarke
67 nicht definiert.
Was diese bürokratischen Prinzipien für die Praxis sozialer Arbeit in
komplexen Organisationen bedeutet, läßt sich am besten durch einen Fall
aus einer Supervisionsgruppe mit Berufspraktikanten aufzeigen.
Eine Berufspraktikantin, die zu Beginn ihrer praktischen Ausbildung ein
dreimonatiges Verwaltungspraktikum bei einem Sozialamt absolviert, erzählt in der Supervisionsgruppe folgenden Traum:
Das Büro, in dem sie sitzt, hat sich in einen Frisiersalon verwandelt. Ihr
Praxisanleiter, ein Verwaltungsangestellter, bittet sie nun, sich auf den
Frisierstuhl zu setzen, man müsse ihr die Haare abschneiden, da sie Läuse
habe. Während sie die Haare abgeschnitten bekommt, gehen ständig die
Klienten durch den Raum, für die sie an den vergangenen Tagen
Wohngeldanträge aufgesetzt hat. Diese Klienten schütteln kurz den Kopf
und gehen vorbei. Je weiter die Prozedur des Haarschneidens vorangeschritten ist, umso undeutlicher werden die Klienten, bis sie sie schließlich
nicht mehr unterscheiden kann. Als das Haarschneiden beendet ist und sie
aufstehen will, stellt sie fest, daß sie nun auch nackt ist. In diesem Moment
fühlt sie sich ratlos. Ihr Anleiter, der ihr die Haare geschoren hat, gibt ihr
seinen Kittel, den sie sogleich anzieht. Nachdem sie den Kittel zugeknöpft
hat, überfällt sie ein Gefühl tiefer Scham, mit dem sie erwacht.
Der Traum löst in der Supervisionsgruppe starke Affekte aus. Andere
Gruppenteilnehmerinnen, die sich in ähnlichen beruflichen Situationen befinden, fühlen sich stark angesprochen und beginnen zu weinen.
Unter Tränen berichtet nun die Berufspraktikantin von ihren großen
Schamgefühlen den Klienten gegenüber. Sie sitze mit einem Sachbearbeiter
in einem Büro und bearbeite Wohngeldanträge. Dabei spüre sie täglich, wie
die Menschen, die zu ihr auf das Amt kommen und einen Antrag auf
Wohngeld stellen, oftmals unter individuellen Lasten leiden und nach einer
persönlichen Ansprache suchen, und wie diese Menschen sich einen
menschlichen Umgang wünschen.
Vom Amt jedoch - und besonders auch von ihrem Anleiter - wird vertreten,
daß man sich möglichst nicht mit den persönlichen Dingen der Klienten
aufhalten dürfe. Das allgemeine Prinzip im Amt ist, daß möglichst alles
schnell und restriktiv gehandhabt werden soll, und daß die Sozialarbeiter
sich die Flausen aus dem Kopf (Läuse !) schlagen sollen, den Leuten mit
Gesprächen helfen zu wollen. Der Schreibtisch ist aufzuarbeiten, dafür gibt
es klare Verwaltungsrichtlinien und Gesetzesgrundlagen, für etwas anderes
68
bleibe keine Zeit. Vor allen Dingen sei es gefährlich, sich mit den
persönlichen Dingen der Antragsteller zu befassen, da man dann nicht mehr
objektiv urteilen könne. Diese Einstellung brachte die Praktikantin in
massive Konflikte und Selbstzweifel, die dazu führten, daß sie sich fragte,
ob ihr Interesse an einer menschlicheren Beziehung zu ihrem Klientel nicht
"nur ihrem Helfersyndrom" entsprungen sei, und ob sie sich nicht vielmehr
"an die Praxis anpassen" müsse und so ähnlich denken müsse wie ihr
Anleiter.
Im Traum wird dieser Identitätskonflikt deutlich:
dadurch, daß ihr die Haare geschoren werden, werden ihr die sozialarbeiterischen Flausen genommen. Die zuvor individuell unterscheidbaren
Klienten verblassen nun und lassen sich nicht mehr unterscheiden. Damit
werden sie zu bürokratischen Vorgängen (Entscheidungen ohne Ansehen
der Person). Nachdem die Haare der Praktikantin geschnitten sind, ist diese
nun auch nackt und fühlt sich ratlos. Hierbei wird deutlich, wie sie nun den
Verlust ihrer Identität als Sozialarbeiterin im Traume erlebt. Hier schämt
sie sich nicht, sondern sie ist ratlos. Erst nachdem sie den Kittel des
Anleiters übergezogen hat - also eine fremde Identität angenommen hat schämt sie sich.
In diesem Konflikt wird ein zentrales Problem der Sozialarbeit deutlich. Es
ist der immer wieder auftauchende "Theorie-Praxis-Konflikt". Dieser
Theorie-Praxis-Konflikt erscheint hier in Form einer beruflichen Paradoxie:
Organisationsratio versus Berufsethos. Offensichtlich ist es der Fachhochschulausbildung nicht gelungen, eine deutliche Berufsidentität in der
Person der Sozialarbeiterin zu institutionalisieren. Fragmentarisch ist das
zwar bei der Berufspraktikantin vorhanden, aber sie hat gelernt, in erster
Linie kritisch der Sozialarbeit gegenüberzustehen und so ist es kein
Wunder, wenn sie zuerst selbstkritisch ihr "Helfersyndrom" ausmacht.
Damit werden jetzt die berufsethischen Normen und Werte der Sozialarbeit
erneut geschwächt und die Sozialarbeit kann vom bürokratischen Denken
überformt werden. Sozialarbeit verliert ihre eigene Identität und wird
Bestandteil des jeweiligen Einstellungsträgers.
Glücklicherweise hatte die oben beschriebene Berufspraktikantin die Gelegenheit, ihren Identitätskonflikt innerhalb ihrer Supervision zu reflektieren. Dadurch konnte sie ihr persönliches Erleben in einen institutionellen
Kontext stellen und über die Individualisierung des Konfliktes hinausgehen. Ausschlaggebend für diesen Identitätskonflikt scheint zu sein, daß es
nicht ausreichend gelungen ist, die "Profession Sozialarbeit" in der Person
der Studentin zu institutionalisieren. Somit wird es möglich, daß die
Fehler! Textmarke
69 nicht definiert.
Anstellungsorganisation die Berufspraktikanten institutionalisiert. Normen
und Werte werden dann nicht mehr der Sozialarbeit an sich entnommen,
sondern den Trägern von Sozialarbeit. Will Sozialarbeit aber als Profession
aus sich heraus bestehen, muß die Sozialarbeit als solche auch Institution
werden. Damit kann der "bürokratischen Tendenz zur Versachlichung" das
sozialarbeiterische Ziel zur "Vermenschlichung" entgegengestellt werden.
Das bedeutet, daß Sozialarbeit auch die Aufgabe haben muß, in den
Behörden und Ämtern verändernd zu wirken; und zwar in der Weise, daß
Verwaltungsstrukturen so beeinflußt werden, daß die Menschen, die die
Verwaltung in Anspruch nehmen müssen, sich eben nicht wie "Vorgänge"
gesehen fühlen, sondern wie Individuen mit unterscheidbaren
Persönlichkeiten.
Handlungsstrategien, die darauf abzielen eine Veränderung in der Haltung
des bürokratischen Typs zu erzielen, müssen jedoch auch berücksichtigen,
daß neben sachbezogenen und machtpolitischen Belangen auch irrationale
Bedürfnisse von maßgebender Bedeutung sind. Diese irrationalen bzw.
neurotischen Bedürfnisse stellen eine massive Bastion gegen Veränderungen innerhalb von Institutionen dar, so daß sie einer eingehenderen
Betrachtung bedürfen.
5.8
Die psychosoziale Abwehrfunktion der Institutionen
Nun haben sich im Laufe der Zeit Behörden und Ämter zu oftmals
mächtigen Organisationen entwickelt, die einer eigenen inneren Dynamik
unterliegen. Diese innere Dynamik ist nicht nur von der zweckmäßigen
Organisationsstruktur geprägt, sondern in einem sehr hohen Maße von den
zwischenmenschlichen Beziehungen ihrer Mitglieder. Zunächsteinmal
sollen Institutionen vital wichtige Funktionen erfüllen. Sie sind, wie schon
erwähnt, für das Überleben und eine differenzierte Fortentwicklung
unerläßlich. Institutionen haben sich also zunächst Linie aus rein zweckrationalen Beweggründen gebildet, nämlich der rationalen Arbeitsteilung,
der Macht- und Profitmaximierung, der Stabilisierung bestimmter
Wertsysteme usw.
Beim genaueren Hinsehen drängt sich jedoch die Frage auf, wieso manche
Menschen sich in das System integrieren lassen und sich gelegentlich in
schwer nachvollziehbarer Weise verhalten, ohne daß ihnen daraus sichtbare
Vorteile erwachsen.
Der Frage nach den nicht-zweckrationalen Gratifikationen durch die Institutionen geht die psychoanalytische Institutionsanalyse nach.
70
Stavros Mentzos stellt in seinem Buch, "Interpersonale und institutionalisierte Abwehr" die These auf, daß die individuellen neurotischen
Konflikte, Ängste und Schuldgefühle ein neurotisches, psychosoziales
Arrangement mit der Institution eingehen. "Es findet also eine Verzahnung
zwischen dem individuellen Bedürfnis nach Entlastung von neurotischen
Spannungen des einzelnen und bestimmten, dazu komplementären
>Angeboten< der Institution statt".(78)
Sozialarbeit findet nun in der Regel in institutionellen Gebilden statt, die
sich auf Grund ihres spezifischen Auftrages im höchsten Maße dazu
anbieten, neurotische Konflikte auszuleben. Dies ist besonders darauf
zurückzuführen, weil diese Institutionen einerseits stets mit den
psychosozialen Konfliktkonstellationen ihrer Klientel konfrontiert sind,
andererseits aber den eigenen Mitarbeitern nur relativ bescheidene
materielle Gratifikation gewähren. Bei diesen Sozialgebilden ist es sinnvoll
von Institutionen zu sprechen, weil es sich nicht so sehr um die konkrete
Organisation einer Behörde, einer Klinik oder eines Heimes handelt,
"sondern um die Summe der für die Motivation des einzelnen relevanten,
feststehenden Handlungs- und Beziehungsmuster, die den Umgang der
Mitglieder regulieren".(79)
Diese Institutionen zeichnen sich besonders auch dadurch aus, daß Struktur
und Prinzipien nicht nur zweckrational aufgebaut sind, sondern daß sie sich
darüber hinaus auf gemeinsame Werte, Einstellungen und gefühlsmäßige,
oft nicht klar erkennbare und definierbare Motivationen stützen.
Deutlichstes Beispiel dafür sind manche Einrichtungen in konfessioneller
Trägerschaft, deren Mitglieder stets dazu gezwungen sind, zumindest so zu
tun, als stünden sie voll hinter den Zielen ihres Trägers, wollen sie nicht
ihren Arbeitsplatz gefährden.
Institutionen befriedigen einen großen Teil unserer Grundbedürfnisse und
vermitteln uns ein gewisses Sicherheitsgefühl. Aber menschliche Bedürfnisse entstehen nicht nur aus realen, objektiv gegebenen biopsychosozialen
Situationen und wären dadurch leicht erkennbar und klar, sondern auch
irreale, infantile, narzißtische, also sogenannte neurotische Bedürfnisse
streben nach Befriedigung. So kann es kommen, daß die Institutionen
durch
die
Verschiedenartigkeit
ihrer
Beziehungsmuster
und
(79)
(80)
Mentzos, a.a.O. - S. 81
vergl. Schmidtbauer, Wolfgang, Die hilflosen Helfer, Stuttgart 1977
Fehler! Textmarke
71 nicht definiert.
Machtstrukturen, den Individuen ermöglichen, ihre spezifischen
Spannungen, Ängste und Konflikte auszuleben.
Das sogenannte "Helfersyndrom"(80) beispielsweise, ist in der Sozialarbeit
schon zum geflügelten Wort für einen dieser Berufsgruppe typischen
neurotischen Konflikt geworden. Leider verblassen dahinter oft typische
neurotische Konfliktkonstellationen anderer Berufsgruppen, wie
"Zwanghaftigkeit" im Verwaltungsbereich, "Rachebedürfnisse" in der Justiz, "Sadismus" in Bereichen der Medizin, "Konkurrenzängste" an den
Universitäten usw. Neben dieser etwas auf die Spitze getriebenen Typologie, sind Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen innerhalb der Institutionen noch einem weitaus größerem Spektrum individueller nicht rationaler
Verhaltensweisen der Mitarbeiterschaft auf sämtlichen Hierarchieebenen
ausgeliefert. Und so wundert es nicht, daß die These, die Hauptbelastung in
diesem Beruf würde weniger vom Klientel verursacht als vielmehr von
institutionellen Konflikten, breite Zustimmung in der Kollegenschaft findet.
Wenn ich im vorigen Kapitel die Forderung aufgestellt habe, Sozialarbeit
müsse auch in die Institutionen hinein als verändernde Kraft wirken, so
muß bei den hierzu nötigen Handlungsstrategien berücksichtigt werden,
daß ebenso wie bei der individuellen neurotischen Konfliktkonstellation
auch bei institutionellen Strukturen neurotische Abwehrbastionen einer
Veränderung im Wege stehen.
Abwehrmechanismen schützen das Ich jedes Individuums vor Unlustgefühlen bis hin zu drohender Desintegration. Die Veränderung von Institutionen verändert somit auch gewohnte Abwehrkonstellationen, wodurch es
für den einzelnen zu schwerwiegenden Konflikten kommen kann. "Befaßt
man sich mit Zielen und Strategien bei der Veränderung von Institutionen
unter Berücksichtigung ihrer Abwehrfunktionen, so empfiehlt es sich, eine
Vorgehensweise sich zu eigen zu machen, die wir aus der Psychotherapie
kennen: dort setzt man sich nicht zum Ziel, sofort - koste es was es wolle und unabhängig von Diagnose und Persönlichkeitsstruktur des Patienten
alle Abwehrmechanismen auszurotten! Vielmehr versucht man abzuwägen,
ob dies auf lange Sicht überhaupt ratsam ist, ob ein auf erworbenen oder
konstitutioneller Basis geschwächtes Ich durch eine völlige Befreiung von
allen mühsam aufgebauten Abwehrmechanismen in seiner labilen
Integration nicht eher ernsthaft gefährdet würde."(81)
(82)
Selvini-Palazzoli, Mara, Hinter den Kulissen der Organisation
72
Man muß heute davon ausgehen, daß die weitere gesellschaftliche Entwicklung dazu führt, daß den Institutionen eine wachsende Bedeutung im
Leben der einzelnen zukommt. Dies wird besonders im Umgang unserer
Gesellschaft mit den alten Menschen deutlich, wo Sozialleistungen, die
einst fraglos Aufgabe der Familien waren, von diesen nicht mehr
wahrgenommen werden können und somit in institutionelle Hände gegeben
werden (vgl. Kapitel: Individualisierung und Institutionalisierung ...).
Für die Sozialarbeit wird nun in Zukunft die Aufgabe darin bestehen,
Einfluß darauf zu nehmen, daß diese Institutionen im Sinne ihres Auftrages
funktionieren. Das bedeutet, daß neurotische Mechanismen in Institutionen
erkannt werden müssen. Bei diesen Erkennen wäre dann herauszuarbeiten,
ob, und in jeweils welcher konkreten Weise strukturelle Komponenten der
Institution der individuellen neurotischen Abwehr dienlich sind.
Ein Beispiel:
Die neue Sozialarbeiterin eines Altenheims erlebt bei ihrem morgendlichen
Rundgang über eine Station, wie das Altenpflegepersonal die Bewohner
der Station duscht. Im Badezimmer, das aus einer Duschkabine, einer
Badewanne und einem kleinen Vorraum besteht, sind gleichzeitig drei
Heimbewohnerinnen anwesend. Während eine Bewohnerin geduscht wird,
wird die Vorgängerin neben der Badewanne wieder angekleidet und die
Nachfolgende im Vorraum entkleidet. Vor dem Badezimmer warten
weitere Bewohnerinnen. Die Sozialarbeiterin ist empört über diese Behandlung der alten Leute und bestellt die beteiligten Pflegekräfte in ihr
Büro, wo sie eine mündliche Abmahnung erteilt und bei Wiederholung
dieser Behandlung einen Personalaktenvermerk androht. In den nächsten
Wochen hört die Sozialarbeiterin von ähnlichen Vorgängen, geht diesen
aber nicht nach, teils, weil es sich um Gerüchte handelt, teils, weil sie es
vergessen hat oder mit anderen Arbeiten gerade zu sehr belastet ist. Bei
einem erneutem Rundgang über die oben beschriebene Station findet sie
die gleiche Situation vor; die alten Leute werden wieder zu dritt geduscht.
Auf ihre Vorhaltungen reagiert nun das Pflegepersonal verärgert, sie wüßte
doch ganz genau,, wie überlastet die Pflege sei, insbesondere seit die neue
Pflegedokumentation und die Tätigkeitsnachweise eingeführt seien. Im
übrigen sei diese Art des Duschens schon seit langer Zeit üblich und noch
nie hätte es Beanstandungen gegeben, wieso sie denn außerdem nichts bei
den anderen Stationen gesagt habe.
Fehler! Textmarke
73 nicht definiert.
An diesem Beispiel wird deutlich, wie institutionelle Strukturen mit individuellen (neurotischen) Abwehrvorgängen korrespondieren. Durch eine
Belastung des Pflegepersonals mit Verwaltungstätigkeiten, wie dem Führen
von Pflegedokumentationen, Tätigkeitsnachweisen, Dienstplänen usw.
wird es dem Personal ermöglicht, die alten Menschen mehr und mehr als
Vorgänge oder als Sachen zu betrachten. Erstaunlicherweise wird das
Anwachsen von Verwaltungstätigkeiten des Pflegepersonals mit Qualifizierung und rechtlicher Absicherung begründet. Tatsache ist jedoch, daß
die eigentlichen pflegerischen Aufgaben zunächst rein zeitlich reduziert
werden müssen, um die Verwaltungstätigkeiten zu bewältigen. Gleichzeitig
wird die menschliche Beziehungsebene reduziert, zugunsten einer technisch-rationellen Verwaltungsperspektive (Handeln ohne Ansehen der Person).
Diese technisch-rationelle Verwaltungsperspektive erfüllt nun für die beteiligten Pflegekräfte eine wichtige Abwehrfunktion, die mit Verdrängung
oder Verleugnung beschrieben werden kann. Mit Verdrängung und Verleugnung ist hier die Fernhaltung vom Bewußtsein gemeint. Es stellt sich
also die Frage, was vom Bewußtsein ferngehalten wird?
Zunächsteinmal fällt uns ja das gänzlich fehlende Einfühlungsvermögen in
die alten Leute auf. Einfühlungsvermögen bedeutete ja, sich zu identifizieren, nachzuspüren, wie ich mich als der alte Mensch fühle. Die Reduzierung des alten Menschen (Klient, Patient) auf einen Vorgang, ermöglicht
es jedoch, von der tatsächlichen zwischenmenschlichen Beziehung Abstand
zu nehmen, die Tatsache des eigenen Altwerdens zu leugnen und, was in
solchen Fällen von oftmals entscheidender Bedeutung ist, die
Schuldgefühle den eigenen Eltern gegenüber nicht zu spüren.
Diese Abwehrfunktionen werden nun durch die Institution und deren
Rechtsvorschriften unterstützt. Oberste Prinzipien sind beispielsweise
Sauberkeit, die insbesondere durch die Heimaufsicht eingeklagt wird,
lückenlose Pflegedokumentation, damit kein Angehöriger wegen vermeintlicher Pflegefehler klagen kann.
Da die Sozialarbeiterin diese Dimensionen der institutionellen Abwehrvorgänge zunächst nicht erkennen konnte, sah sie die Problematik als individuelle "Gedankenlosigkeit" der Pflegerinnen. Von diesen individuellen
Problemen fühlte sie sich schnell überfordert, so daß sie den weiteren
Gerüchten nicht mehr nachging, also ebenfalls verdrängte und schließlich
74
resignative Züge verspürte, die sie dazu veranlaßten, die Problematik in
ihrer Supervisionsgruppe anzusprechen.
Diese neurotischen Abwehrfunktionen lassen sich in ähnlicher Weise in
vielen Institutionen der sozialen Arbeit aufspüren. Nicht immer handelt es
sich dabei um Verdrängung und Verleugnung, wie im vorliegenden Fall.
Oftmals bestimmt der Gegenstand des institutionellen Auftrages und die
Besonderheiten des jeweiligen Klientel die Art und Weise des neurotischen
Agierens der Institution.
Da Sozialarbeit in Institutionen geschieht und für Menschen tätig wird, die
signifikant häufig in Institutionen gescheitert sind, müssen sich Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen dieser neurotischen und dadurch für das
Klientel schädlichen Strukturen der Institutionen bewußt sein. Veränderungsstrategien muß zunächst eine sehr gründliche Analyse der Institution
und der eigenen Person vorausgehen, wollen sie nicht scheitern. Zu den
Veränderungsstrategien gehören neben machtpolitischen Interventionen
auch therapeutische Verfahren. Allen Veränderungsstrategien muß aber
zunächst eine breitere Solidarisierung mit einer gemeinsamen Zieldefinition vorangehen. Dafür ist eine Bearbeitung der Beziehung der einzelnen
Kollegen zueinander Voraussetzung.
Mit Veränderungsstrategien in Organisationen befaßt sich heute eine immer größerwerdende Disziplin der Organisationssoziologie und Organisationspsychologie. Zwar ist es nicht vorrangige Aufgabe der Sozialarbeit,
organisationsverändernd zu arbeiten, jedoch ist es von entscheidender Bedeutung, Konflikte in Organisationen in ihrer institutionellen Dynamik zu
erkennen, um Konflikte besser verstehen zu können und das Klientel unter
diesen Umständen besser zu schützen.
Wie oben schon beschrieben, können Veränderungsstrategien nur von einer
breiteren und solidarischen Basis ausgehen. Mit Veränderungsstrategien in
"pathogenen Organisationen" aus systemischer Sicht befaßte sich auch
Mara Selvini-Palazzoli, die ihre Diagnose von neurotischen (pathogenen)
Organisationen in folgende Behauptung kleidet: "immer wenn eine
Institution ihre (menschlichen, sozialen, ökonomischen) Energien
vorwiegend darauf verwendet, sich allein dem eigenen intrainstitutionellen
Bereich zuzuwenden, ist die Gefahr einer dysfunktionalen und pathologischen Entwicklung gegeben."(82)
Als Systemtheoretikerin geht Sevini-Palazzoli davon aus, daß Institutionen,
die ein "geschlossenes System" darstellen, sich gewissermaßen totlaufen,
(83)
Selvini-Palazzoli, a.a.O. - S. 95
Fehler! Textmarke
75 nicht definiert.
da die nach innen gerichteten Energien ein Anwachsen der "Entropie"
bewirken.
Ein Beispiel:
Der Supervisor wird von einem Verein gerufen, der Träger mehrerer
Übergangseinrichtungen ist. Eine dieser Einrichtungen ist ein offenes Heim
für straffällig gewordene junge Frauen, die teilweise auch der Prostitution
nachgingen. Im Heim arbeiten 6 hauptamtliche Mitarbeiter, Sozialarbeiter,
Erzieherin, Dipl.-Pädagogin, Hauswirtschafterin, Zivildienstleistender,
Praktikant, teilweise finanziert über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Diese Mitarbeiter machen beim ersten Kontakt mit dem Supervisor einen
völlig überarbeiteten und erschöpften Eindruck. Sie berichten von der
starken Arbeitsüberlastung und vielen Überstunden. Als Grund dafür wird
genannt, daß man sich häufig zusammensetzen müsse, um die Vorgehensweise abzustimmen und pädagogisch adäquat auf die Mädchen zu
reagieren, die als besonders schwierig beschrieben werden. In der ersten
Supervisionssitzung wird deutlich, daß die größte Belastung den häufigen
Mitarbeiterbesprechungen entspringt, über die Klientinnen wird kaum gesprochen. Erst am Ende der ersten Sitzung fragt der Supervisor nach der
Belegzahl des Heimes und erfährt, daß von 10 Plätzen lediglich 3 belegt
seien, für mehr Bewohnerinnen reiche auch das Personal nicht aus. Es wird
sehr bald deutlich, daß der hohe Arbeitsanfall mit den vielen Teamsitzungen dadurch zustande kommt, weil man beschlossen hat, ein
"demokratisches Team" zu sein, in dem alle Mitarbeiter die "gleichen
Rechte" haben und in allen Entscheidungen Mitspracherecht haben. Das
führte zu derart kuriosen Situationen, daß bei Speiseplanänderungen beispielsweise ein einheitlicher Teambeschluß herbeigeführt werden mußte
und die Diskussionen darüber oftmals mehr als eine Stunde der Arbeitszeit
des Gesamtteams (bis zu 6 Mitarbeiter) in Anspruch nahmen.
Aus systemischer Sicht definiert Selvini-Palazzoli diese Problematik wie
folgt: "Wenn eine Institution mehr als ein Drittel ihrer Zeit und all ihr zur
Verfügung stehenden Energien auf den eigenen Binnenbereich verwendet
(indem sie ihre Angehörigen immer wieder im Interesse der Koordinierung
ihrer Tätigkeit zusammenruft, immer neue Projekte ausarbeitet, sich immer
wieder mit der eigenen Rolle beschäftigt), dann kommt es hier in
erheblichem Umfang zur Entropie, das heißt zum Energieschwund in den
76
Rückmeldungen zwischen der Institution und ihrem äußeren Umfeld und
zur Verfestigung der inneren homöostatischen Mechanismen."(83)
Das oben beschriebene Beispiel ist eine Extremvariante eines in der Sozialarbeit häufig anzutreffenden Abwehrmechanismus. Hierbei handelt es
sich um die Verdrängung von Autoritäts-, Macht-, Kontroll- und Abhängigkeitsstrukturen, für die man bereit ist, jedes Detailproblem bis zur Erschöpfung zu diskutieren. Eine Strukturierung und Kompetenzverteilung
im Team würde dazu führen, daß man von manchen Informationen abgeschnitten ist. Das wäre unerträglich, seien die Informationen auch noch so
marginal, wie z.B. Nudeln oder Kartoffeln zum Mittagessen.
Da der Sozialarbeit immer häufiger die Installation von Einrichtungen
zufällt, ist es für die Kolleginnen und Kollegen von wachsender Bedeutung, institutionelle Mechanismen zu erkennen.
Auch für die Sozialarbeiter, die in behördlichen Strukturen tätig sind, ist
diese Sicht Voraussetzung dafür, um auf dem >langen Weg durch die Institutionen< nicht von der Institution verschlungen zu werden.
Gezielte Veränderungsstrategien können von Sozialarbeitern erst dann
eingesetzt werden, wenn sie sich neben den oben beschriebenen
machtpolitischen Wegen auch Kenntnisse über Organisations- und
Institutionsdynamik verschafft haben, die über das Grundstudium
hinausgehen. Hierzu kann die Beschäftigung mit der Gruppendynamik
einen wichtigen Beitrag leisten. Die Zeitschrift "Gruppendynamik" greift
diese Thematik immer wieder auf(84) und auch in der Gestalttherapie(85) sind
in jüngster Zeit Bücher erschienen, deren Studium für den
institutionskritischen Sozialarbeiter sicherlich von hohem Erkenntniswert
sind. Neben dem theoretischen Studium institutioneller Gesetzmäßigkeiten
ist jedoch Selbstreflexibilität, sei es durch Supervision oder Selbsterfahrung
Voraussetzung allen institutionsverändernden Handelns.
(84)
(85)
(86)
vergl. Gruppendynamik, Heft 1 - 1988
Aus dem Amerikanischen: 1. Nevis, E.C., Organizational consulting, A Gestalt
approach, Cleveland, 1987; 2. Merry, U./Brown, G.I., The neurotic behavior of
organizations, Cleveland, 1987; 3. De Vries, K./Miller, D., The neurotic
organization, San Francisco, 1984
Gotthardt-Lorenz, Angela, Organisationsberatung - Hilfe und Last für Sozialarbeit, Freiburg, 1989 - S. 27
Fehler! Textmarke
77 nicht definiert.
5.9
Organisationsberatung und Organisationsentwicklung
Ein Teilgebiet des institutionsbezogenen Ansatzes der Sozialarbeit ist, wie
bereits erwähnt, die Organisationsentwicklung, bzw. -beratung.
Die beiden Begriffe sind nicht scharf von einander zu trennen, jedoch soll
an dieser Stelle deutlich werden, daß der Blick auf die Organisation und
deren Entwicklung nur einen Teilaspekt des hier skizzierten Methodenansatzes der Sozialarbeit ausmachen kann. Dieser Teilaspekt wurde allerdings
bisher weitestgehend vernachlässigt.
Unter Institution wird, wie schon erwähnt und wie noch weiter auszuführen
sein wird, viel mehr verstanden als unter den Begriffen der Organisation.
Unter Institution verstehe ich im ganz besonderen Maße, die dem
Menschen innewohnenden Instanzen.
Dennoch muß sich die Sozialarbeit auch verstärkt mit den Fragen der Organisationsentwicklung und -beratung auseinandersetzen, insbesondere
dann, wenn wir es, wie oben beschrieben, zunehmend mit Organisationen
zu tun haben, die in der Gefahr einer "pathogenen Entwicklung" stehen.
Organisationsentwicklung ist in den vierziger Jahren in der amerikanischen
Privatwirtschaft entstanden und befaßt sich mit Fragen der Erhöhung der
Leistungsfähigkeit und Humanisierung von Organisationen.
Heute bedienen sich vermehrt Sozialorganisationen der Organisationsberatung, und für den institutionell denkenden Sozialarbeiter sind die Arbeiten dieser Disziplin von äußerst hohem Entlastungswert, wie die hohe
Nachfrage nach Supervision belegt. Die Organisationsberaterin Angela
Gotthard-Lorenz stellt in ihrem 1989 erschienenen Band "Organisationsberatung - Hilfe und Last für Sozialarbeit" fest, daß die Nachfragen nach
Supervision, Fortbildung oder Therapie oft ihren Ursprung in
organisationsspezifischen Konflikten haben. "Der Anlaß für Beratungsanfragen aus Sozialorganisationen sind meist unterschiedliche Organisationsprobleme, zum Beispiel Konflikte zwischen Abteilungen oder
zwischen einer Gruppe und den Vorgesetzten, diffus wahrgenommen oder
bereits geplante Veränderungen von Strukturen oder auch Umstellungen,
Überprüfungen oder Erneuerungen von Arbeitskonzepten. Oft werden
gerade solche Interessen in Form von Anfragen nach Supervision,
Fortbildung oder wissenschaftlicher Begleitung formuliert."(86)
(87)
Beck, Ulrich, Risikogesellschaft, Frankfurt, 1986
78
Die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse der letzten Jahrzehnte
scheinen darauf hinauszulaufen, daß den Institutionen eine immer größere
Bedeutung im sozialen Leben zukommt. Am überzeugendsten geht diesen
Überlegungen der Soziologe Ulrich Beck nach.
5.10. Individualisierung und Institutionalisierung in der
Industriegesellschaft
Für die Sozialarbeit ist es unerläßlich, stets die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung zu reflektieren.
In der aktuellen soziologischen Debatte kommt den Arbeiten von Ulrich
Beck ein herausragender Stellenwert für eine reflexsive (d.h. ihre Auswirkung hinterfragende) Sozialarbeit zu.(87)
Ulrich Becks soziologisches Grundargument geht von der These einer reflexiven Modernisierung der Industriegesellschaft aus. Die Industriegesellschaft produziert unbeabsichtigte, latente und unkontrollierbare Nebenwirkungen, die früher noch problemlos in die Umwelt abgeleitet werden konnten. Diese Risiken werden nun gesellschaftlich "verteilt"; der
gesellschaftliche Wandel vollzieht sich mehr und mehr von einer
>reichtumsverteilenden< zu einer >risikoverteilenden< Gesellschaft.
"Systemisch argumentiert, beginnen sich gesellschaftsgeschichtlich früher
oder später in der Kontinuität von Modernisierungsprozessen die sozialen
Lagen einer >reichtumsverteilenden< mit denen einer >risikoverteilenden<
Gesellschaft zu überschneiden. In der Bundesrepublik stehen wir - das ist
eine These - spätestens seit den siebziger Jahren am Beginn dieses
Überganges."(88)
Diese These bezieht sich augenscheinlich zunächsteinmal darauf, daß die
Industriegesellschaft als Nebenprodukt Gefährdungspotentiale wie z.B.
Luft- Gewässer und Bodenverschmutzung produziert, deren Risiken
verteilt werden ohne Rücksicht auf Klassenschranken.
"Die Verteilungslogik von Modernisierungsrisiken, wie sie (... oben ...)
entfaltet wurde, ist eine wesentliche, aber nur eine Dimension der Risikogesellschaft. Die so entstehenden Globalgefährdungslagen und die in ihnen
enthaltene soziale und politische Konflikt- und Entwicklungsdynamik sind
neu und beträchtlich, werden jedoch überlagert durch gesellschaftliche,
biographische und kulturelle Risiken und Unsicherheiten, die in der
(88)
(89)
Beck, a.a.O. - S. 27
ibid. S. 115
Fehler! Textmarke
79 nicht definiert.
fortgeschrittenen Moderne, das soziale Binnengefüge der Industriegesellschaft - soziale Klassen, Familienformen, Geschlechtslagen, Ehe, Elternschaft, Beruf - und die in sich eingelassene Basisselbstverständlichkeit der
Lebensführung ausgedünnt und umgeschmolzen haben."(89)
Beck begründet die neue soziale und politische Entwicklungsdynamik mit
seiner Individualisierungsthese. Sie besagt, daß in der Risikogesellschaft
sich die kollektiven Bindungen und Regelmäßigkeiten, wie z.B. Klassen,
Nachbarschaften, Geschlechterrollen, Partnerschaften, Familien- und Verwandschaftsverhältnisse und die Eckpunkte der Biographien, immer mehr
verflüchtigen. Als Folge für die betroffenen Individuen entstehen Verlust
von Orientierung, Identität und Sinnerfüllung einerseits, sowie
Überbeanspruchung durch immer neue Entscheidungsarten und auf das
Individuum selbst gekehrte Verantwortungszuschreibung andererseits.
Die Sozialarbeit sieht sich heute also vor einer gesellschaftlichen Situation,
in der traditionelle Instanzen, die in der Vergangenheit für die Orientierung
der einzelnen von Bedeutung waren, sich mehr und mehr verflüchtigen.
Diese Instanzen, wie Familie, Kirche, Gemeinde, Klasse, Stand,
Nachbarschaft usw. verlieren für die Individuen zunehmend an Bedeutung.
Sinn- und orientierungsstiftender Mittelpunkt des Lebens wird mehr und
mehr der Arbeits- und Bildungsmarkt. Die Familie verliert ihre herkömmliche Rolle zunehmend, das gesamte familiäre Bindungs- und Versorgungsgefüge gerät unter wachsenden Individualisierungsdruck. "Es bildet
sich der Typus der Verhandlungsfamilie auf Zeit heraus, in der die bildungs-, arbeitsmarkt- und berufsorientierten Individuallagen, (...) ein eigenartig widerspruchsvolles Zweckbündnis zum geregelten Emotionalitätsaustausch auf Widerruf eingehen."(90)
In dieser >Verhandlungsfamilie< werden die Individuallagen organisiert
und das Familienleben muß mehr und mehr mit dem Terminkalender
abgestimmt werden. Im Zentrum der Lebensführung stehen Beruf und
Bildung. Partnerschaft und Familie werden zu Zweckbündnissen. Dadurch
werden die Individuen andererseits immer institutionsabhängiger. Die
vormals durch familiäre Lebenslaufrhythmen geprägten Einzelbiographien
werden vermehrt überlagert oder ersetzt durch "institutionelle Lebenslaufmuster: Eintritt und Austritt aus der Erwerbsarbeit, sozialpolitische
Fixierung des Rentenalters, und dies sowohl im Längsschnitt des
Lebenslaufes (Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Pensionierung und Alter)
(90)
(91)
ibid. S. 208
ibid. S. 211 f.
80
als auch im täglichen Zeitrhythmus und Zeithaushalt (Abstimmung von
Familien-, Bildungs- und Berufsexistenz)."(91)
Diese institutionellen Lebenslaufmuster werden im großen Maße von Sozialarbeit und Sozialpädagogik mitgeprägt, und in der zukünftigen Entwicklung wird der sozialen Arbeit hier vermutlich eine immer größer
werdende Bedeutung zukommen.
Nach Becks Analyse des Individualisierungsschubes in der BRD ist dessen
Folge das Anwachsen der Institutionsabhängigkeit. "Mit dieser Institutionsabhängigkeit wächst die Krisenanfälligkeit der entstehenden
Individuallagen."(93) Soziale Arbeit wird also mehr und mehr in die Situation geraten, Krisen zu bearbeiten, die sich für einzelne aus ihrer
institutionsabhängigen Situation ergeben. Auf die heutige Sozialarbeit
kommt in vielen Bereichen vermehrt die Aufgabe zu, den Individuen Hilfe,
Orientierung, Organisation und Kontrolle in ihren institutionellen Lebenslagen zu geben. Im gleichen Maße jedoch muß Sozialarbeit reflektieren können, inwieweit die Institutionen ihren Aufgaben überhaupt gewachsen sind. Sozialarbeit ist somit stets gezwungen, selbstreflexiv die
Auswirkungen der Institutionen und ihres eigenen Handelns zu hinterfragen. Außerdem muß der Frage nachgegangen werden, wie es kommt, daß
bestimmte Individuallagen signifikant häufig im Umgang mit Institutionen
scheitern und welche Hilfestellungen hier möglich sind.
Der Ansatz der Sozialarbeit ist unter diesen Bedingungen ein vielfacher:
1.
ein organisatorischer Ansatz
Bereitstellung von Mitteln (materielle Hilfe) und Institutionen
(Heim-, Therapieplätze usw.)
2.
ein kontrollierender Ansatz
bei Ausfall von traditionellen Instanzen, Bereitstellung von institutionellen Möglichkeiten (Jugendamt, Bewährungshilfe, usw.)
3.
ein pädagogischer Ansatz
lernen, sich in Institutionen zu bewegen (Kindergarten, Schule, Jugendzentrum).
4.
ein beratender Ansatz
Information über institutionelle Möglichkeiten vor dem Hintergrund
der individuellen Biographie (Beratungsstellen).
(92)
(93)
ibid. S. 214
ibid. S. 212
Fehler! Textmarke
81 nicht definiert.
5.
ein therapeutischer Ansatz
Bearbeitung von Persönlichkeitskonflikten, die den Umgang mit Institutionen behindern (Beratungsstellen, Kliniken, Anstalten)
6.
ein organisationsanalytischer Ansatz
Überprüfung der eigenen Institution auf ihre Funktionalität hinsichtlich der definierten Ziele (in allen Institutionen).
Nach Ulrich Becks Thesen bedeutet die zunehmende Individualisierung
gleichzeitig eine wachsende Standardisierung und Institutionalisierung. Die
Vision einer Gesellschaft aus Einzelpersonen, die aus Ein-ZimmerAppartements alle die gleichen Fernsehbotschaften verfolgen, ist die utopische Überspitzung dieses Bildes. Durch die Individuallagen wird also auf
der anderen Seite mittels der Medien das Leben immer stärker standardisiert und von außen gesteuert, gleichzeitig nimmt die Kommunikationsfähigkeit ab.
"Gerade Individualisierung bedeutet also: Institutionalisierung,
institutionelle Prägung, und damit: politische Gestaltbarkeit von
Lebensläufen und Lebenslagen."(92)
Unter diesen Umständen muß die Sozialarbeit auf ein verändertes Sozialgefüge reagieren, indem sie den Menschen innerhalb dieses Sozialgefüges
Orientierungshilfen bietet und auch Einfluß auf diese sozialen Strukturen
nimmt, um sie für die Menschen >bewohnbar< zu gestalten.
5.20 Ort und Gegenstand der Sozialarbeit
Oben habe ich schon einmal angedeutet, daß Ort und Gegenstand der Sozialarbeit stets die Institution ist. Institution versteht sich dabei als intrapersonal und interpersonal. Erstes bedeutet also das Werte- und Normensystem des einzelnen Menschen; Zweites meint die auf diesem
Hintergrund errichteten sozialen Systeme, die das Leben der Menschen
regeln.
Diesem Gedanken möchte ich im Folgenden paradigmatisch - gleichsam in
Form eines Gedankenexperimentes - nachgehen.
Die bildhafte Sprache des Gedankenexperimentes hat ihrer Natur nach
etwas holzschnittartiges, etwas grobes, undifferenziertes und zum Wider(94)
Laplanche/Ponzalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt, 1972 - S. 230
f.
82
spruch herausforderndes. Es ist keine Abbildung der Wirklichkeit, sondern
bestenfalls eine Landkarte, die uns skizzenartig zur Orientierung verhilft.
Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist der, der schnellen, oberflächlichen
Orientierung. Ich bitte daher mir die folgende Vergröberung nachzusehen
und sie eher in ihrem landkartenähnlichen Orientierungswert zu würdigen,
als sie an der exakten Abbildung der Wirklichkeit zu messen.
Meine These lautet:
Ort der Sozialarbeit ist die Institution, Gegenstand der Sozialarbeit ist das
individuelle Über-Ich. Darüber hinaus ist Sozialarbeit Teil des gesellschaftlichen Über-Ichs.
Mit der Behandlung von menschlichem Leiden im weitesten Sinne sind
heute in erster Linie drei akademische Professionen beteiligt:
Medizin, Psychologie und Sozialarbeit. Dort wo diese Berufsgruppen auf
Zusammenarbeit angewiesen sind, kommt es gelegentlich zu Abgrenzungskonflikten. Ursache dafür ist in den meisten Fällen die Unklarheit darüber, wer was behandelt, wo der Fokus des jeweiligen Ansatzes
liegt. Bei der Verordnung von Medikamenten ist es noch relativ klar, daß
dies nur durch die ärztliche Kompetenz geschieht. Aber schon die Erstellung eines Sozialberichtes beispielsweise wird nicht mit der gleichen
Selbstverständlichkeit, nur durch Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterinnen
gewährleistet. Das Modell, das den professionellen Fokus dieser drei
Berufsgruppen
beschreiben
kann,
entnehme
ich
aus
dem
psychoanalytischen Instanzenmodell und zwar der 2. Freudschen Topik.(93)
Freud unterteilt in seiner 2. Topik den psychischen Apparat des Menschen
in Es - Ich und Über-Ich.
"Das Es bildet den Triebpol der Persönlichkeit; seine Inhalte, psychischer
Ausdruck der Triebe, sind unbewußt einesteils erblich und angeboren,
andernteils verdrängt und erworben."(94) Da das Es demzufolge zum somatischen hin offen ist, erscheint es folgerichtig, daß die Behandlung auf
dieser Ebene durch den Arzt erfolgt, der eben auf dem Gebiet der Somatik
eine sehr gründliche Ausbildung genossen hat.
Nebenbei bemerkt, entspricht das recht genau der historischen Entwicklung
der Psychoanalyse, die sich ja zunächst im wesentlichen mit den
Triebschicksalen beschäftigte und dadurch folgerichtig dem ärztlichen Berufsstand die besten Zugangsmöglichkeiten eröffnete.
(95)
Laplanche/Pontalis, a.a.O. - S. 147
Fehler! Textmarke
83 nicht definiert.
Das Ich stellt die eigentliche zentrale psychologische Instanz dar. Mit der
Einführung dieses Begriffes hat sich in der Psychoanalyse etwa seit 1920
eine tiefgreifende Wende vollzogen, aus der sich viele neue Schulen entwickelt haben, die sich zunächst von der Analyse unbewußter Triebschicksale abwandten und der Analyse des Ichs und seiner Abwehrmechanismen zuwandten. Ich-Psychologie, Sozialpsychologie, Narzißmustheorie
und auch die humanistische Psychologie sind ohne Freuds Einführung des
Ich-Begriffes nicht denkbar.
Das Ich ist der bedeutsamste Gegenstand der Psychologie, denn es ist das
zentrale Teilgebiet der Persönlichkeit und wird durch seine Funktionen
bestimmt. Zum Ich gehören auch autonome Funktionen, wie z.B. Wahrnehmung, Bewegungskontrolle, Reizschutz und Gedächtnis, die unabhängig von Triebkonflikten entstehen und Prozessen der Reifung und des
Lernens unterworfen sind. Aus diesen Prozessen entwickeln sich
spezialisierte Ich-Funktionen, wie Denken, Sprache und Realitätsprüfung.
Die Ich-Funktionen gehören zusammen mit Begabung, Interesse und
Fertigkeiten zur konfliktfreien Sphäre des Ich, die Abwehrmechanismen
entstehen hingegen aus den Triebkonflikten. Die Psychoanalyse beschreibt
als Hauptaufgabe des Ich, die Vermittlerfunktion zwischen den Triebimpulsen des Es und den Anforderungen des Über-Ichs und der Realität. Ein
starkes, entwickeltes Ich ist Grundvoraussetzung für eine autonome Persönlichkeit.
Insbesondere die Funktionen des Ich, sind das klassische Forschungsgebiet
der akademischen Psychologie. Daraus leitet sich folgerichtig ab, daß der
Gegenstand der Psychologie bei der Behandlung von Menschen in erster
Linie das Ich sein sollte.
Als Gegenstand der Sozialarbeit bezeichne ich schließlich das Über-Ich.
Das Gedankenexperiment sieht also folgendermaßen aus:
Die drei Disziplinen, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit fokussieren
die drei Instanzen des psychoanalytischen Persönlichkeitsmodells:
Es
Ich
Über-Ich
=
=
=
Medizin
Psychologie
Sozialarbeit
Das Über-Ich ist institutionellem Ursprungs. Es ist ebensowenig wie das
Ich vom Es, vom Ich scharf abzugrenzen. Aus der Erkenntnis des institu-
84
tionellen Ursprungs des Über-Ichs, folgt die Forderung, daß Sozialarbeit
sich zur Handlungswissenschaft von den Institutionen entwickeln muß.
5.20.1 Sozialarbeit und Über-Ich
Soziales Leben kommt ohne Normen und Werte nicht aus. Unsere Normen
und Werte werden von der Instanz getragen, die Freud mit dem Terminus
Über-Ich beschrieben hat. Das Über-Ich bildet sich etwa ab dem 3.
Lebensjahr durch die Verinnerlichung elterlicher Gebote und Verbote,
sowie die Wahrnehmung unterschiedlicher Rollen in der Familie (Ödipale
Phase). Freud sprach vom Ich-Ideal eines Menschen, das sich aus dem
Vorbild der idealisierten Eltern bildet und dadurch zum Maßstab für die
Selbstbewertung wird. Freud weist indirekt darauf hin, daß das Über-Ich
institutionellen Ursprungs ist, und nicht so sehr als Identifizierung mit
konkreten Personen (Eltern) verstanden werden darf. "So wird das ÜberIch des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des
elterlichen Über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es
wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich
auf diesem Weg über Generationen fortgepflanzt haben."(95)
Die Über-Ich-Bildung geschieht in Folge des Ödipuskomplexes zunächst
durch Introjektion der elterlichen Gebote und insbesondere der Erkenntnis
der Unterlegenheit gegenüber dem Vater. Das Kind gewinnt die Einsicht,
daß der Vater stärker ist und unterwirft sich so zunächst dessen Geboten
und Verboten. Dadurch lernt es das elterliche Werte- und Normensystem
und kann es später durch die Liebe zu den Eltern als sein eigenes Werteund Normensystem integrieren und in erneuten Auseinandersetzungen mit
den Eltern (Pubertät, Adoleszens) modifizieren und abwandeln.
Die Über-Ich-Entwicklung verläuft krisenhaft und entwickelt sich pathologisch, wenn es dem Kind nicht gelingt, die zunächst erzwungenen Wertund Normensysteme der Eltern über die Liebe zu diesen zu integrieren oder
später, während der Pubertät, erfolgreich zu hinterfragen.
Da Sozialarbeit hauptsächlich in diesen Krisen gefragt ist, muß man davon
ausgehen, daß der Fokus der Sozialarbeit das Über-Ich ist. Dies jedoch in
mehrfacher Hinsicht: einmal als Hilfestellung für Menschen, deren eigenes
Über-Ich aufgrund einer pathogenen Entwicklung nicht in der Lage ist,
(96)
(97)
Freud, S., zit. in: Laplanche/Pontalin, a.a.O. - S. 542
Goffman, a.a.O. - S. 15 ff
Fehler! Textmarke
85 nicht definiert.
Orientierung in der institutionalisierten Welt zu stiften. Das trifft im
gleichen Maße für ein zu schwach ausgeprägtes Über-Ich zu und führt zu
Normüberschreitungen bis zu Kriminalität, wie auch für ein zu starkes
Über-Ich, welches zu Überängstlichkeit im Umgang mit der institutionalisierten Welt führt, bis hin zum paranoiden Rückzug und der wahnhaften
Wahrnehmung von Institutionen, wie es beispielsweise im Werk von Franz
Kafka so bedrückend zum Ausdruck kommt.
Auf einer zweiten Ebene muß Sozialarbeit aber auch mehr und mehr in die
Rolle des gesellschaftlichen Über-Ichs kommen, indem sie die wissenschaftliche Erkenntnis aus der Reflexion der eigenen Arbeit zunehmend ins
gesellschaftliche Bewußtsein bringt und dadurch die Öffentlichkeit zwingt,
sich z.B. mit ihrer Randgruppenproblematik auseinanderzusetzen.
Man könnte nun auf den naheliegenden Gedanken kommen, daß sich Sozialarbeit, die das Über-Ich der einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft
zum Hauptgegenstand ihres Handelns macht, anderen staatlichen Kontrollund Eingriffsinstitutionen wie Polizei und Justiz annähert.
Mit dem Gefängnis beispielsweise hat der Staat eine "totale Institution"(96)
geschaffen, die dem Insassen mit einem alle Lebensbereiche
einschließenden äußeren Regelsystem begegnet. Das hat zur Folge, daß der
Häftling, der kaum noch auf ein inneres Regelsystem angewiesen ist,
bestenfalls subkulturelle Normen der Insassenkultur verinnerlicht. Das
zumeist nur schwach oder pathogen ausgeprägt innere Regelsystem kann
sich nicht entwickeln, im Gegenteil, es verfällt mehr und mehr, wodurch
das äußere Regelsystem der Anstalt zur einzigen Kontrollinstanz wird.
Man kann also sagen, daß sich der Staat mit seinem Polizei- und
Justizapparat ein Machtinstrument zugelegt hat, das auf die fehlenden
inneren Kontrollinstanzen seiner Bürger mit der Installation von äußeren
Zwangsstrukturen reagiert. Diese Zwangsstrukturen können nur solange
funktionieren, wie der Einzelne kontrollierbar ist und Sanktionen befürchten muß.
In der Sprache der Psychoanalyse ausgedrückt heißt das, daß Polizei und
Justiz den Status eines strafenden Über-Ichs haben, dem das Kleinkind
sich nur aus Angst vor dem übermächtigen Vater unterwirft. Sobald die
Angst vor dem Vater nicht mehr besteht - z.B. während dessen
(97)
Eicke, Dieter, Das Über-Ich, Eine Instanz, Richtungsgebend für unser Handeln
in: Eicke, Dieter (Hrsg.), Siegmund Freud - Leben und Werk, Weinheim und
Basel, 1982, Band 1 - S. 504
86
Abwesenheit - entfällt die Funktion, die väterlichen Gebote werden nicht
mehr eingehalten.
Ein entlastendes Über-Ich kann sich nur über die liebevolle Zuwendung der
Eltern zum Kind herausbilden. Über die Liebe des Kindes zu seinen Eltern
integriert es Normen und Werte, die diese ihm vermitteln und bildet daraus
eigene Persönlichkeitsstrukturen, die es unabhängig von äußeren Kontrollmechanismen macht.
Diese Liebe und Zuwendung erfahren Delinquenten durch den Staat nicht,
wodurch sich der Resozialisierungsgedanke der Justiz von selbst ad absurdum führt.
Dem kindlichen Über-Ich fällt die Aufgabe zu, darüber zu wachen, daß das
Kind in Anlehnung an die Bedingungen seiner jeweiligen Umwelt
Liebeszuwendungen erhält. Dies geschieht dadurch, daß es sich den
Normen seiner Eltern anpaßt, etwa durch Gehorsam. Dieser für Kinder
notwendige Anpassungsvorgang kann für Erwachsene jedoch fatale Folgen
haben und zu schweren Abhängigkeiten führen. Daher kommt der
Auseinandersetzung mit den Normen und Werten der Eltern während der
Adoleszenz eine herausragende Bedeutung zu, wodurch sozialpädagogisches Handeln in der Jugendarbeit einen zentralen Sinn in der Unterstützung des Jugendlichen bei der Suche nach eigenen Werthaltungen bekommt.
"Dergestalt ist es eine Aufgabe des Jugendlichen, sich von den Inhalten des
Über-Ichs zu distanzieren und unabhängige, eigene Wert- und Normvorstellungen sowie schöpferische Kräfte zu entwickeln ..."(97)
Der Sozialarbeit fällt also die Aufgabe zu, die Individuen bei der Entwicklung eines entlastenden Über-Ichs zu unterstützen. Werte und Normen
des menschlichen Zusammenlebens in unserer Gesellschaft werden sozusagen pädagogisch reflektiert, hinterfragt und entsprechend der jeweiligen
Individualität integriert.
Diese Funktion der Sozialarbeit erhält besonders dann wachsende Bedeutung, wenn man die von Beck aufgestellte Individualisierungshypothese
zugrunde legt. Durch den Fortfall von sinn- und wertvermittelnden Instanzen, wie Familie, Verwandtschaft, Klasse, Nachbarschaft, Kirche usw.
wird der Einzelne mehr und mehr auf sich selbst zurückgeworfen. D.h. er
(99)
vergl. zu Kap. 5.30., Rost, Detlef, Psychoanalyse des Alkoholismus, Stuttgart,
1988
Fehler! Textmarke
87 nicht definiert.
wird abhängig von eigenen Bewertungsinstanzen. Diese Aufgabe muß ein
funktionierendes Über-Ich erfüllen, da wir heute in einer Zeit leben, in er
individuelle Entscheidungslasten in bisher nicht erkanntem Ausmaße
gefragt sind.
Diese Konzeption von institutionaler Sozialarbeit, sieht die Konflikte in
denen sich ihre Klienten befinden, als notwendige Folge der Widersprüche
der Industriegesellschaft an. Vor diesem Hintergrund sind sowohl die
Unzulänglichkeiten des Individuums als auch die des Familien- und
Gesellschaftssystem "normal". In Folge dieses Ansatzes, haftet dann den
Eingriffen der Sozialarbeit auch kein Stigma mehr an.
Sozialarbeit wird somit zum gesellschaftlichen Dienstleistungssystem, das
persönliche und soziale Beziehungen fördert. Dadurch soll es dem
Einzelnen ermöglicht werden, seine Fähigkeiten und sein Wohlbefinden in
Einklang und in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft voll zu
entwickeln.
Dabei zielen die Interventionen:
1.
auf die intraindividuellen Institutionen (Über-Ich)
2.
auf die interindividuellen Institutionen (Organisationen, Regeln und
Normen)
Einer solchen Sozialarbeit wird für das Funktionieren des Lebens in der
postmodernen Gesellschaft sicherlich eine wachsende Bedeutung zukommen.
5.30. Exemplarische Darstellung des skizzierten Institutionsansatzes
Die psychiatrischen Anstalten hatten sich in der Vergangenheit mehr und
mehr zu "totalen Institutionen" entwickelt, die ihre Patienten durch die institutionelle Abhängigkeit zusätzlich krank machten.
Die Symptome, die sich aus der langjährigen Aufbewahrungssituation in
totalen Institutionen entwickelten, waren hospitalismusähnlich und machten den Insassen die Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben
mehr und mehr unmöglich.
In jüngerer Zeit, insbesondere in Folge der Psychiatrie Enquete von 1975,
hat sich das Verständnis von psychiatrischen Institutionen geändert. Das
Konzept der Großkrankenhäuser wurde zu Gunsten eines Konzeptes der
Gemeindenähe mit kleinen, überschaubaren Einheiten aufgegeben.
88
Durch die Einrichtung von kleinen Stationen, therapeutischen Gemeinschaften, Patientenclubs, Tageskliniken und Übergangseinrichtungen
wurde es möglich, die Institution als "therapeutisches Milieu" zu gestalten,
das als solches förderlich auf den Heilungsprozeß wirkt.
Diesen Weg ist die stationäre Suchtbehandlung schon lange vor der klassischen Psychiatrie gegangen. Popularität erlangte die Suchtbehandlung, als
sie in Folge der "Drogenwelle" zu Beginn der siebziger Jahre sogenannte
therapeutische Wohngemeinschaften entwickelte.
Auch in der Alkoholismusbehandlung gab es schon seit langer Zeit Einrichtungen, die sich als Lebensgemeinschaft verstanden und über gemeinsames Tun zur Heilung des Einzelnen gelangen wollten.
Heute sieht das Konzept einer sozialtherapeutisch-institutionsorientierten
Suchtbehandlung in der Klinik folgendermaßen aus:
Die Klinik besteht aus Stationsgruppen von 10 bis 12 Patienten. In dieser
Gruppe gestaltet sich das Leben des Patienten in einer 4- bis 12-monatigen
Therapie. Durch die Gruppentherapie und das allgemeine Leben auf der
Station entwickelt sich eine Gruppendynamik, die die einzelnen Gruppenmitglieder mit den unterschiedlichsten Konfliktsituationen konfrontiert.
Der Tagesablauf wird weiterhin strukturiert durch ein breit gefächertes
Angebot an Anforderungen durch Arbeits- und Beschäftigungstherapie, die
außerhalb der eigenen Stationsgruppe mit Klienten anderer Stationen
stattfindet. Diese Arbeits- und Beschäftigungstherapiemaßnahmen sind dabei sehr alltags- und versorgungsnah, wie z.B. die gesamte Hausversorgung
(Kochen, Putzen, Waschen, Instandhaltung usw.), Versorgung der
Außenanlagen, Tierpflege und eigene Werk- und Produktionsstätten. Die
tägliche Arbeitsdauer beträgt dabei zwischen 4 und 6 Stunden.
Es wird also ein Milieu installiert, welches Konfliktsituationen innerhalb
der eigenen Gruppe, wie auch außerhalb derselben erzeugt. Das zwingt die
Klienten dazu, sozial adäquate Konfliktbewältigungsstrategien zu entwickeln. Die Konfliktbewältigung muß sich jedoch innerhalb gewisser institutioneller Spielregeln vollziehen (z.B.: Hausordnung). Diese Spielregeln
werden für den einzelnen transparent und sind von der Vollversammlung
der Patienten im Rahmen bestehender äußerer Gesetze veränderbar.
Die hier beschrieben Maßnahmen werden aber erst dann therapeutisch
wirksam, wenn sie durch eine Bezugsperson liebevoll begleitet werden. In
der Suchtbehandlung geht es ja weniger um die Entwicklung eines reifen
Fehler! Textmarke
89 nicht definiert.
Über-Ichs, als vielmehr um die Stabilisierung von Ich-Funktionen, wie
beispielsweise der Erhöhung von Frustrationstolleranz. Die Über-IchEntwicklung ist dabei mehr als ein Nebenprodukt zu verstehen.
Dem Bezugstherapeut, der Bezugstherapeutin kommt also die Aufgabe zu,
dem Klienten Entlastung von seinen Alltagskonflikten aus der Stationsgruppe oder der Arbeitstherapie zu ermöglichen. Er gleicht einer
Mutter, die tröstende Worte für ihr Kind hat, wenn dieses eine enttäuschende oder schmerzhafte Erfahrung mit der Welt gemacht hat. Dabei
muß der Bezugstherapeut der Versuchung widerstehen, die reale Situation
für den Klienten ändern zu wollen (etwa indem er dafür sorgt, daß ihm
weniger unangenehme Arbeiten aufgetragen werden). Stattdessen muß er in
der Lage sein, dem Klienten Verständnis für die Schwierigkeiten seiner
aktuellen Situationen entgegenzubringen. Der Therapeut wird gleichsam zu
einer Station, die dem Klienten ein emotionales Auftanken ermöglicht,
welches ihn dann befähigen soll, die Konflikte aus der Realität mit höherer
Frustrationstolleranz zu bewältigen.
Dies ist zwar eine sehr vereinfachte Darstellung des komplexen Beziehungsgeflechtes zwischen Klient, Realität und Therapeut (die Problematik
der Objekt- und Selbstrepräsentanzen bleibt ausgeklammert). Zusätzlich
handelt es sich hierbei noch um ein künstlich geschaffenes Milieu, und es
muß sich zeigen, inwieweit die Erfahrungen aus der Klinik in den Alltag
nach der Behandlung umgesetzt werden können. Gründliche Nachuntersuchungen haben jedoch ein sehr deutliches Bild vom Erfolg dieser Behandlungsform ergeben, im Gegensatz zur klassisch psychiatrischen
Suchtbehandlung..
In unterschiedlich modifizierter Weise finden ähnliche Konzeptionen heute
Eingang in verschiedene sozialtherapeutische Felder.
Für eine "integrative Sozialarbeit" stellt sich nun die Frage, wie sich der
Ansatz, der hier für die stationäre Suchtbehandlung skizziert wurde, in
dieser Grundidee auf andere Felder sozialer Arbeit übertragen läßt.(99)
Hier bietet sich nicht nur die Heimerziehung an, sondern alle Bereiche
stationärer Sozialarbeit und Sozialpädagogik könnten konzeptionell von
den Erfahrungen, die die Suchtbehandlung in den letzten 25 Jahren
gemacht hat profitieren.
(100
)
Ulrich/Probst, Anleitung zum ganzheitlich-systemischen Handeln, Bern, 1988
90
5.40. Thesenartige Zusammenfassung des institutionellen Ansatzes
-
Sozialarbeit arbeitet ausgehend von komplexen Institutionen mit
Menschen, die signifikant häufig im Umgang mit Institutionen gescheitert sind.
INSTITUTION - soziologisch
-
Institutionen sind:
1.
offizielle gesellschaftliche Gruppen:
Betriebe, Schulen, Gewerkschaften usw.
2.
Regelsysteme, die das Leben dieser Gruppen bestimmen.
-
Institutionen sind für das menschliche Überleben und einer differenzierten Fortentwicklung unerläßliche Gebilde.
-
Institutionen sind von innen und außen veränderbar
-
Primäre Institutionen findet der Mensch vor, sie prägen seine
Grundpersönlichkeit (Herkunftsfamilie) sekundäre Institutionen
werden von dem, durch primäre Institutionen geprägten Individuum
geschaffen (eigene Familie, Verein usw.)
INSTITUTION - psychoanalytisch
-
Durch die Psychoanalyse wird der soziologische Institutionsbegriff
erweitert.
Ursprung der Institution ist hier der Ödipuskonflikt. Ödipuskonflikt
und Institution sind durch die Struktur der Familie (Vater, Mutter,
Kind) universell.
Dadurch sind im Unbewußten aller Menschen Institutionen repräsentiert.
-
Die Psychoanalyse versteht Institutionen als Funktion des Über-Ichs.
Fehler! Textmarke
91 nicht definiert.
INSTITUTION - psycho-soziologisch
-
In der psycho-soziologischen Definition der französischen "analyse
institutionelle" stellen Institutionen das gesellschaftliche Unbewußte
dar.
-
Der psycho-soziologische Ansatz der "analyse-institutionell" reflektiert den soziologischen und den psychoanalytischen Ansatz.
-
Intrapersonale Institutionen sind innere Regelsysteme des Individuums (Werte, Normen).
Interpersonale Institutionen sind ausgesprochene oder unausgesprochene Vereinbarungen zwischen Individuen oder Gruppen.
-
Topisch gesehen finden wir interpersonale Institutionen auf drei
Ebenen.
1.
Die erste Ebene ist die Gruppe (z.B. Schulklasse, Werkstatt,
Büro usw.).
2.
Die zweite Ebene ist die der Organisation (Schule, Fabrik,
Verwaltungsbehörde usw.).
3.
Die dritte Ebene schließlich ist der Staat (wirkt durch Gesetz
und Erlasse).
Auf allen drei Ebenen wirken Institutionen (z.B. 1.E.: Arbeitsrhythmus; 2. E.: Arbeitsvertrag; 3. E.: Arbeitsrecht)
INSTITUTION - Sozialarbeit
-
Sozialarbeiter, die auf der ersten Ebene (Team, Abteilung) angesiedelt sind, sind den Zielen der zweiten Ebene (Behörde, Träger) und
dritten Ebene (Staat) verpflichtet.
-
Je schwächer die Berufsrollenidentität durch die Ausbildung institutionalisiert ist, umso leichter fällt es der nächsthöheren Ebene, die
Ziele der darunterliegenden Ebene zu definieren, auch gegen deren
Ziele.
-
Je stärker die Berufsrollenidentität, umso höher der Professionalisierungsgrad, desto leichter die Abgrenzung gegenüber der höheren
Ebene.
92
ORGANISATION - Sozialarbeit - BÜROKRATIE
-
Sozialarbeit ist in der Regel in Institutionen verortet, die als offizielle
gesellschaftliche Gruppe verstanden werden.
-
Die offiziellen gesellschaftlichen Gruppen entwickeln sich vielfach
zu mächtigen Organisationen, die in der Gefahr stehen, sich ihrerseits zu Bürokratien zu entwickeln.
-
Ein zentrales Merkmal der Bürokratie ist nach Max Weber die
"sachliche Erledigung" von Vorgängen "ohne Ansehen der Person"
nach berechenbaren Regeln.
Diese "Versachlichung" widerspricht dem sozialarbeiterischen Ziel
der "Vermenschlichung".
-
Die bürokratische Organisation tendiert dazu, ein geschlossenes System zu werden. Dadurch entwickelt sie einen Veränderungswiderstand, der dazu führt, daß sie in ihrem Sein verharrt. Das Ergebnis
davon sind "Dysfunktionalität" und "pathogene Entwicklung".
INSTITUTION - irrationale Entwicklungen
-
Neben zweckrationalen Bedürfnissen befriedigen Institutionen auch
irrationale Bedürfnisse.
-
Individuelle neurotische Strukturen können ein psycho-soziales Arrangement mit dazu komplementären Strukturen in Institutionen eingehen.
-
Institutionen in den Sozialarbeit verortet ist, bieten besonders viele
Möglichkeiten zum Agieren von individuellen neurotischen Konflikten.
-
Institutionsverändernden Maßnahmen stellt sich häufig ein Widerstand entgegen, der vergleichbar ist mit individuellen neurotischen
Abwehrmechanismen.
Fehler! Textmarke
93 nicht definiert.
-
Konflikte zwischen Individuen oder Gruppen in Institutionen können
nur vor dem Hintergrund der gesamtinstitutionellen (neurotischen)
Abwehrorganisation gesehen werden.
-
Funktionierende Institutionen sind für die entwickelte Industriegesellschaft lebensnotwendig.
INSTITUTION und moderne Industriegesellschaft
-
Die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft hat dazu geführt, daß traditionell sinnstiftende Instanzen (Familie, Klasse,
Gemeinde) zunehmend an Bedeutung verlieren. An ihre Stelle treten
vermehrt Berufstätigkeit und Institutionen
-
Die Menschen in der modernen Industriegesellschaft werden immer
institutionsabhängiger. Die Sozialarbeit bekommt die Aufgabe, dem
Einzelnen in der institutionalisierten Welt zur Orientierung zu verhelfen und den Institutionen zum Funktionieren zu verhelfen.
-
Institutionelle Lebenslaufmuster werden verstärkt von Sozialarbeit
mitgeprägt.
INSTITUTION - Sozialarbeit - INDIVIDUUM
-
Ort und Gegenstand der Sozialarbeit sind sowohl das gesellschaftliche als auch das individuelle Über-Ich.
-
Die Interventionen der Sozialarbeit zielen auf:
1.
intraindividuelle Institutionen (Über-Ich)
2.
interindividuelle Institutionen (Organisationen)
-
Ziel Sozialer Arbeit ist die "Assimilation" von "introjezierten " Institutionssubstraten (vergl. Kapitel: Der Introjektionsbegriff in der Gestalttherapie)
94
5.50 Das ganzheitlich-systemische Institutionsverständnis
Ulrich und Probst fassen in ihrer Arbeit. "Anleitung zum ganzheitlichen
Denken und Handeln"(100) die Grundannahmen einer ganzheitlichen Perspektive folgendermaßen zusammen:
Die Welt:
ist dynamisch, komplex, zirkulär vernetzt, sich selbst organisierend
und lenkend
weist Ordnungsmuster auf
besteht aus miteinander verknüpften Ganzheiten
Der Mensch:
ist selbst eine Ganzheit
ist Teil der Natur und von kulturellen Ganzheiten
ist >das Wesen auf der Suche nach Sinn< (V. Frankl)
Gesellschaftliche Institutionen:
sind kulturelle Ganzheiten höherer Ordnung
sind Teil von Natur und Gesellschaft
sind vollkommene Nachbildungen natürlicher, lebensfähiger Systeme
weisen eine werthafte, sinngebende Dimension auf
Fehler! Textmarke
95 nicht definiert.
6.
GESTALT IN DER SOZIALARBEIT
6.1
Definition der Gestalttherapie
"Gestalttherapie ist ein tiefenpsychologisch fundiertes Verfahren der Psycho-, Sozio- und Leibtherapie, das psychoanalytisches und phänomenologisches Gedankengut zu einem Ansatz dialogischer und ganzheitlicher
Behandlung verbindet. Durch Zentrierung auf leibliches Erleben, emotionalen Ausdruck und kognitive Einsichtsprozesse soll ein integriertes Selbst
erhalten, entwickelt und - wo erforderlich - wiederhergestellt werden."(101)
6.2
Das Problemverhältnis von Sozialarbeit und Gestalttherapie
Die Gestalttherapie ist ein Verfahren, welches im Zuge des Psychobooms
im Laufe der siebziger Jahre in der Sozialarbeiterschaft auf Interesse und
Ablehnung zugleich gestoßen ist.
Eine Kurzumfrage von Schubert vom Herbst 1980 ergab, daß von 247 befragten Gestalttherapeuten, 34 Sozialarbeit als Grundausbildung angaben.
Was etwa 13,7 Prozent entspricht.(102)
Die im Sommer 1981 durchgeführte Umfrage von Heekerens kommt auf
etwa 16 Prozent Sozialarbeiter bei den Gestalttherapeuten.(103)
Eine von mir selbst im Herbst 1988 durchgeführte Pilotstudie bei 19 Ausbildungsleiterinnen für Sozialarbeit / Sozialpädagogik hat u.a. ergeben, daß
9 Ausbildungsleiter/innen die Gestalttherapie als wertvolle Methode für die
Sozialarbeit eingestuft haben. Fünf der Befragten bekundeten Interesse an
Gestalttherapie und 3 hielten Gestalt für wenig sinnvoll. Diese Erhebung
beansprucht zwar nicht repräsentativ zu sein, jedoch sind die Ergebnisse
insofern bemerkenswert, als sie die Mehrheit der Ausbildungsleiter/innen
im Ruhrgebiet erfaßt. Die Ausbildungsleiter/innen organisieren die Praktikantenausbildung für Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagoginnen bei den
(101)
(102)
(103)
Petzold, Hilarion, Die Gestalttherapie von Fritz Perls
Lore Perls und Paul Goodman in: Integr. Therapie, 1-2/1984 - S. 5
Schubert, Klaus, Überblick über den Anwendungsbereich und die Indikation der
Gestalttherapie, Ergebnisse einer Kurzumfrage, durchgeführt in der Zeit von
Okt. - Dez. 1980 in: Integr. Therapie, 2-3/1983 - S. 246
Heekerens, Hans-Peter, Aspekte der Berufstätigkeit von Gestalttherapeuten in:
Integr. Therapie, 1-2/1984 - S. 164
96
öffentlichen Trägern und den Spitzenverbänden der freien
Wohlfahrtspflege. Hier haben sie über die Praxisanleiter eine starke
Multiplikatorenfunktion.
Demgegenüber steht eine nahezu vollständige Ignoranz der Gestalttherapie
durch die Fachpresse der Sozialarbeit, die erst in jüngerer Zeit, infolge des
Familientherapiebooms überwunden zu werden scheint. Beispiel dafür mag
der Aufsatz von Rolf Bick, "Gestalt und System"(104) sein, den das
Sozialmagazin im Januar 1987 veröffentlichte.
Die Skepsis der Sozialarbeit an der Gestalttherapie schlägt sich auch in den
entsprechenden Fachlexika nieder und hat ihren Angelpunkt in einer
unterstellten Individualisierung sozialer Probleme durch die Gestalttherapie, die von Marianne Hege folgendermaßen beschrieben wird:
"Man mag den >Psychoboom< als Entpolitisierung beklagen (...) oder als
rettende Wende bejubeln, eine Heimkehr oder Rückkehr zum Individualismus stellt er nicht dar, wenn sich auch in Einzelformen groteske Individualisierungen zeigen (Perls, Gestaltgebet)."(105)
Das Gestaltgebet, das hier von Marianne Hege angesprochen wird, stellt in
der Tat eine für die Sozialarbeit nicht zu integrierende Individualisierung
dar. Diesen Stil von Gestaltarbeit hat jedoch die europäische Gestalttherapie schon lange überwunden und insbesondere der Zugang zu den
sozialphilosophischen Ansätzen Paul Goodmans ermöglichen es, Gestalttherapie als Ansatz eines individuum-, gruppen-, organisations- und
gesellschaftsverändernden Verfahrens zu entwickeln, das für die Sozialarbeit von methodenintegrativer Bedeutung sein kann.
Die Widersprüchlichkeit von Fritz Perls wird in seinem Buch "Grundlagen
der Gestalttherapie"(106) besonders deutlich.
In den Sitzungsprotokollen, S. 163 ff, stellt Perls seine Arbeit mit dem
"Gestaltgebet" vor.
(Ich bin Ich und Du bist Du. - Ich bin nicht auf der Welt, um Deinen
Erwartungen zu genügen. Und Du bist nicht auf der Welt, um
meinen Erwartungen zu genügen. Ich ist Ich und Du ist Du. - Amen.)
(104)
(105)
(106)
Bick, Rolf, Gestalt und System in: Sozialmagazin, 1/1987
Hege, Marianne, Die Bedeutung der Methoden in der Sozialarbeit in: Sozialarbeit; Expertisen, Projektgruppe Soziale Berufe, München, 1981
Perls, Fritz, Grundlagen der Gestalttherapie, München, 1976
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97 nicht definiert.
Auf S. 43 des gleichen Buches schreibt Perls:
"Der Gestaltansatz, der das Individuum als Funktion der Organismus
/ Umwelt-Feld-Relation sieht und der sein Verhalten als Spiegelbild
seiner Beziehungen innerhalb dieses Feldes betrachtet, bringt das
Bild des Menschen als Individuum und gleichzeitig soziales Wesen
in Einklang. Die älteren psychologischen Schulen beschrieben das
menschliche Leben als einen dauerenden Konflikt zwischen dem
Individuum und seiner Umgebung. Wir dagegen sehen es als
Interaktion zwischen beiden, innerhalb eines ständig sich
wandelnden Feldes. Und da das Feld sich ständig verändert, aufgrund seiner Natur und aufgrund unseres Handelns, müssen die
Formen und Techniken der Interaktion notwendig fließend und
wechselnd sein."
In dieser Widersprüchlichkeit kommt noch immer nicht die große Bedeutung zum Ausdruck, die die Gestalttherapie ihrem Ursprung nach für soziale Berufe haben könnte, wäre nicht in den siebziger Jahren ein Stil von
Gestalttherapie zunächst in Deutschland populär geworden, der die gesellschaftliche Verwurzeltheit des Individuums zugunsten eines Konzeptes zur
Befreiung individueller Energiepotentiale (Reich, Lowen), übersehen hat.
Dieses physikalisch-biologistische Denken hat in seiner Extremform dazu
geführt, das zwischenmenschliche Beziehungen auf den Austausch und die
Übertragung von Energiemustern reduziert wurden.
Dies mag mit dazu beitragen, daß die sozialarbeiterische Lehrbuchmeinung
in der Gestalttherapie eine auf das Individuum focussierte Interventionsstrategie sieht:
"Im gestalttherapeutischen Prozeß zielen die Interventionen des Therapeuten darauf ab, den Neurotiker möglichst rasch mit seinen Blockierungen
zu konfrontieren, um ihn seine existentielle Leere i.S. eingefrorener
Energien erfahren zu lassen. In einer Art Explosion lösen sich häufig diese
durch Blockierungen festgehaltenen Affekte wie Wut, Schmerz etc." (H.J.
Fraßa im Fachlexikon der sozialen Arbeit a.a.O. - Hrsg. Deutscher Verein
...(107)
Unglücklicherweise geben manche neueren Arbeiten diesem Vorurteil
Nahrung. Hier ist besonders der amerikanische "west-coast-Stil" zu erwähnen, deren Vertreter selbst in der Arbeit mit Gruppen jegliche gruppendynamischen Prozesse vermeiden. Aber auch in Deutschland gibt es
(107)
Fraßa, Heinz-Jörg, Gestalttherapie in: Lexikon der sozialen Arbeit, Frankfurt,
1984 - S. 364
98
weiterhin Strömungen, die die Möglichkeiten einer kritisch-emanzipatorischen Gestaltarbeit, die den sozialen Kontext als konstitutiv für individuelle
Problemlagen
sieht,
zugunsten
eines
biologistischen
Energiekonzeptes aufgeben. Einen solchen Ansatz vertreten z. Zt.
Staemmler und Bock, die durch ihre Handlungkonzeption von "Impasse
und Implosion" schon so manchen klassisch denkenden Sozialarbeiter zu
der Einschätzung gebracht haben, es handele sich um eine Art
Exorzismus.(108)
Die Ansätze zu einer gesellschaftsorientierten Gestalttherapie haben Perls,
Hefferline und Goodman allerdings bereits in ihrem 1951 erschienenen
Buch "Gestalt-Therapie ..." geliefert, ohne sie jedoch weiter auszuarbeiten.
"Und eines ist, leider, klar: Gewisse Spannungen und Blockierungen
können nicht gelöst werden, wenn nicht eine wirkliche Umweltveränderung
neue Möglichkeiten eröffnet. Wenn die Institutionen und Sitten
verändert würden, dann würde so manches störrische Symptom urplötzlich verschwinden."(109) (- Hervorh. AK)
Die neuere deutsche Gestalttherapie insbesondere die Schule von Petzold
versucht die Gegensätzlichkeit von Individuum und Gesellschaft durch die
Figur/Grund-Konzeption der Gestalttheorie zu überwinden und die Gestalttherapie, wie sie von Perls entwickelt wurde, durch eine Ausformulierung der Begriffe "Hintergrund" und "Feld" zu erweitern.(110)
Petzold entwirft in seinen Vorüberlegungen zu einer "integrativen Persönlichkeitstheorie" ein Identitätskonzept, das dem Anspruch der Sozialarbeit nach "Besorgung des ganzen Menschen" voll Rechnung trägt. Er
entwirft fünf Identitätsbereiche, die den Interventionsebenen der Sozialen
Arbeit entsprechen: "Die Identitätsbereiche wirken zusammen. Leib, Arbeit, materielle Sicherheit, Werte und soziales Netzwerk sind interdependent. Akzentverschiebungen sind möglich. Der gänzliche Verlust eines
Bereiches kann jedoch nicht aufgefangen werden. Zu einem vollen Identitätserleben sind alle >Säulen der Identität< in ihrer Doppelgesichtigkeit
notwendig. Hieraus lassen sich erhebliche Konsequenzen für die Praxis
psychosozialer Maßnahmen im Sinne >integrativer Interventionen<
ableiten."(111)
(108)
(109)
(110)
(111)
Staemmler, F. und Bock, W., Neufassung der Gestalttherapie, München 1988
Perls, Hefferline, Goodman, Gestalttherapie - Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung, Stuttgart, 1979 - S. 17
Petzold, Hilarion, Vorüberlegungen und Konzepte zu einer integrativen Persönlichkeitstheorie in: Integr. Therapie, 1-2/1984 - S. 73 f
Petzold, Hilarion, a.a.O. - S. 89
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99 nicht definiert.
6.3
Die Bedeutung des Introjektionskonzeptes für eine
institutionsorientierte Sozialarbeit
Mit dem Introjektionsbegriff beschreibt die Psychoanalyse einen der frühesten Lernprozesse des Kindes. Freud beschreibt mit Introjektionen einen
Prozeß, der das Über-Ich bildet, mit folgenden Worten: "Das Ich hat sich
um Eigenschaften des Objekts bereichert, es hat das Objekt in sich selbst
introjiziert."(112)
Das Introjektionskonzept steht in der Gestalttherapie an zentraler Stelle.
Perls operierte mit diesem Begriff bereits in seinem 1947 erschienenen,
manchmal etwas verworren wirkenden Werk, "Das Ich, der Hunger und die
Aggression", indem er sagt: "Introjektion bedeutet, die Struktur von Dingen
zu erhalten, die man in sich aufgenommen hat, während der Organismus
ihre Zerstörung fordert."(113)
Introjiziert werden von frühester Kindheit an, die elterlichen Ge- und Verbote. Dadurch bildet sich die Struktur heraus, die die Psychoanalyse das
Über-Ich nennt.
Perls lehnte den Über-Ich-Begriff ab und differenzierte stattdessen in "Ich"
und "Nicht-Ich". Wobei er dem Ich die "guten" Eltern und dem Nicht-Ich
die "bösen" Eltern zuschreibt.(114)
Damit macht es sich aber Perls unnötig schwer, da er so die Entlastungsfunktion des Über-Ichs schwerlich erkennen kann.
Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse, der institutionellen Analyse und
der Gestalttherapie können wir Introjekte folgendermaßen betrachten:
Introjekte sind verinnerlichte Normen und Wertsysteme, die uns zunächst
von den Eltern und später von Institutionen aufgezwungen werden. Diese
Introjekte haben durch ihren regelhaften Charakter zunächst eine Entlastungsfunktion für den Menschen, die es ihm ermöglicht, sich in unterschiedlichen Lebenslagen zu orientieren. Zur Krise kommt es immer dann,
wenn Introjekte und die Erfordernisse spezifischer Lebenslagen nicht
kompatibel sind.
(112)
(113)
(114)
Freud, zit. in: Laborde/Brown, Die Bedeutung des Introjektionskonzepts für die
integrative Erziehung in: Int. Therapie, 1/14981 - S. 3
Perls, Frederick S., Das Ich, der Hunger und die Aggression, Stuttgart, 1978 - S.
154
Perls, Fritz, a.a.O. - S. 60
100
Viele dieser Introjekte sind durchaus sinnvoll und regeln das tägliche Leben eines Kindes, wenn es nicht von den Eltern kontrolliert wird. So z.B.
die elterliche Forderung, "man faßt keinen heißen Ofen an" oder "man
schlägt andere Kinder nicht einfach". Andere Introjekte wiederum verhindern die Entwicklung und den Austausch, wie z.B. "man zeigt keine Gefühle, man tut das nicht" usw. Introjekte haben nun die Eigenschaft, sich zu
unbewußten Strukturen zu entwickeln und so das Leben zu steuern. Eine
solche Steuerung kommt einer Fremdbestimmung gleich. Dies geschieht
aber nicht, wenn die Introjekte "assimiliert" werden. Das bedeutet: während
das Introjekt noch gewissermaßen als Fremdkörper im Individuum wirkt,
wird durch die Assimilation, das aus der Außenwelt kommende vom
Individuum angeeignet und dadurch Teil der eigenen Persönlichkeit. "Was
wir aus unserer Umwelt wirklich assimilieren, wird unser eigen. Wir
können damit machen was wir wollen. Wir können es zurückhalten oder es
in der neuen Form, zu der es in uns geworden ist, wiedergeben. Was wir
aber unzerkaut hinunterschlucken, was wir unkritisch annehmen, was wir
in uns hineinlassen, ohne es zu verdauen, ist ein Fremdkörper, ein Parasit,
der sich in uns breitmacht. Es ist kein Teil von uns, mag er auch noch so
aussehen, als sei er es. Es ist immer noch ein Teil der Umwelt."(115)
Perls vergleicht den psychischen Assimilationsprozeß mit dem der Nahrungsaufnahme. Normen und Werte, Theorien und Informationen werden
vom Einzelnen aus der Umwelt aufgenommen. Diese psychischen Strukturen müssen nun, um eigene innere Strukturen zu werden "verdaut"
werden. Das ist der Prozeß der Assimilation, in dem der Einzelne sich
kritisch mit den Forderungen aus der Umwelt auseinandersetzt, überprüft
und entscheidet, was er sich zu eigen machen will und was nicht. In der
frühen Kindheit ist dies zunächst nicht möglich. Das Kleinkind ist den elterlichen Introjekten zunächst ausgeliefert.
Im Laufe der Entwicklung jedoch, gibt es immer wieder Phasen, in denen
sich das Kind gegen die elterlichen Gebote abzugrenzen versucht und eigene Regelsysteme zu entwickeln trachtet. Die spektakulärste Phase in
dieser Hinsicht ist sicherlich die Pubertät.
Der oben skizzierte Institutionsbegriff geht davon aus, daß Institutionen das
Individuum von permanenten Entscheidungsprozessen entlasten. Verinnerlichte Regeln und Normen stellen so gesehen eine Entlastung für den
(115)
Perls, Fritz, a.a.O. - S. 51
Fehler! Textmarke
101 nicht definiert.
Einzelnen im Umgang mit seiner sozialen Welt dar. Allerdings bedeuten
Regeln und Normen eine Fremdbestimmung, wenn die Introjekte nicht
vom Individuum assimiliert worden sind.
Ziel einer institutionsanalytisch-gestalttherapeutisch orientierten Sozialarbeit muß es daher sein, dem Einzelnen die Assimilation von gesellschaftlichen Regelsystemen zu ermöglichen und gesellschaftliche Regelsysteme so zu beeinflussen, daß sie von möglichst allen gesellschaftlichen Gruppen assimilierbar sind.
6.31 Fallbeispiel:
Wegen des Frisierens eines Mofas verurteilte der Jugendrichter den fünfzehnjährigen Markus zu einem Jugendarrest von einer Woche, nachdem
andere erzieherische Maßnahmen durch das Jugendamt den Jugendlichen
nicht davon abhalten konnten, weiterhin sein Mofa zu frisieren. In der Jugendarrestanstalt auf dieses Vergehen angesprochen, antwortet Markus:
"Ein Mofa mit 25 km/h ist ein Verkehrshindernis."
Bevor es zum Jugendarrest kam, wurden folgende "Introjektionsversuche"
unternommen.
1.
Stillegung eines Mofas und Ermahnung durch die Polizei.
2.
Richterliche Weisung, Geldbuße, Sozialstunden.
3.
Hausbesuch des Jugendamtes, Information der Eltern und Ermahnung durch das Jugendamt.
4.
Verkehrsunterricht an 3 Nachmittagen.
5.
Verhandlung durch den Jugendrichter mit der Anordnung des Jugendarrestes.
6.
Aufklärung über die rechtlichen Folgen bei weiteren Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung.
Die Äußerung, "ein Mofa mit 25 km/h ist ein Verkehrshindernis" macht
Markus zwei Tage vor der Entlassung.
Die Frage des Sozialarbeiters, ob ihm denn schon jemals einer Recht gegeben habe, oder zumindestens Verständnis für sein Argument zeigte, erzeugte deutliche Verwunderung bei Markus. Alle bisherigen erzieherischen
Maßnahmen liefen darauf hinaus, daß er einsehen möge, daß man mit
einem Mofa nicht schneller als 25 km/h fahren dürfe, dabei sei man damit
ein "echtes Verkehrshindernis".
Im Gespräch mit dem Jugendlichen geht der Sozialarbeiter zunächst auf
seine bisher gemachten Erfahrungen mit Erziehungsbehörden ein und be-
102
kommt die Antwort, daß Markus alle an seiner Verkehrserziehung Beteiligten für "Panneköppe" und "Rotlichtschläfer" hält, die ihn nur davon
abhalten wollen, am Straßenverkehr teilzunehmen.
Im Weiteren erzählt Markus davon, wie sicher er im Straßenverkehr ist,
weil er schon von frühester Kindheit an durch den Vater mit Autos und
Verkehr vertraut gemacht worden ist und was ihm damals seine Spielzeugautos, Dreiräder und Fahrräder bedeutet haben. Bei dem hier beschriebenen Fall handelt es sich wohlgemerkt um eine sogenannte
Bagatelle für die Jugendgerichtshilfe, die, wie in diesem Fall, zur
Kriminalisierung eines ansich harmlosen Phänomens führen kann.
Betrachtet man jedoch die Unfallstatistiken bei männlichen jugendlichen
Fahranfängern, stellt man eine signifikant hohe Unfallrate fest, obwohl
Knaben seit ihrer frühesten Sozialisation mit Verkehrsspielzeug vertraut
gemacht werden.
Es stellt sich die Frage, in welcher Form hat Markus die "Institution
Straßenverkehr" introjiziert, wodurch werden Assimilationsprozesse verhindert und auf welcher Ebene liegt das Problem.
Die Sozialarbeiter der Jugendgerichtshilfe sagen, daß fast alle Jugendlichen
ihr Mofa frisieren, weil niemand langsamer als die Freunde sein will. Wenn
dem so ist, müssen wir erkennen, daß ein allgemeines Problem in der
Person von Markus individualisiert wird. Das individuelle Problem von
Markus liegt dann evtl. nur noch darin, daß er so ungeschickt ist, sich
immer wieder erwischen zu lassen, oder er macht mit diesem "Symptom"
eine Mitteilung.
Der sozialtherapeutische Ansatz der Gestalttherapie reflektiert das hier
beschriebene individuelle Phänomen vor dem Hintergrund seiner institutionellen Widersprüchlichkeit.
In dieser institutionellen Widersprüchlichkeit treffen im Falle des Straßenverkehrs introjezierte Norm- und Werthaltungen von Konkurrenz,
Unabhängigkeit, Stärke usw. auf Introjektionsversuche von Solidarität,
Rücksicht und Gemeinschaft. Die Assimilation dieser Widersprüche ist nur
über eine Auseinandersetzung mit normen- und werteverkörpernden
Objekten zu erreichen.
Das Gespräch zwischen dem Sozialarbeiter und Markus entwickelt sich
dergestalt, daß der Jugendliche darüber spricht, wie es früher war, als er
Spielzeugautos geschenkt bekam.
Fehler! Textmarke
103 nicht definiert.
Markus:
SozArb:
Markus:
SozArb:
M.:
S.:
M.:
S.:
M.:
S.:
M.:
S.:
M.:
Mein Vater hat mir dann auch immer die technischen Sachen
von den Autos erklärt, besonders die Rennwagen.
Scheinen ja interessante Gespräche damals gewesen zu sein.
Dabei hat er immer ne Dieselkutsche gefahren.
Und wie ist das für Dich?
Find ich ziemlich blöd den Alten, große Sprüche aber nur nen
Diesel unterm Arsch find ich echt lächerlich, aber das will er
ja nicht hören. Mir könnte sowas ja nicht passieren, wenn ich
schnell fahren will, dann träume ich nicht nur davon, dann
mach ich das auch.
Dein Vater träumt nur von schnellen Autos, Du aber nicht.
(lacht) Naja von Autos kann ich ja auch nur träumen aber mit
dem Mofa ist das schon was anderes. Aber da gibts auch so
Typen, die immer nur hinterherfahren.
Sag mal, und Dein Vater fährt nicht mal son bißchen riskant
Hat er mir ja früher erzählt, so mit Ralley und so, schläft aber
in Wirklichkeit fast ein und träumt dabei, er führe Ralley.
Magst Du Dir vielleicht mal vorstellen, wie Du in der Rolle
Deines Vaters Auto fahren würdest?
Wie, ich soll mich in meinen Alten versetzen, ist ja echt ätzend.
Ja, spiel mal Deinen Vater in seinem Auto.
Ach du Scheiße, naja ich kanns ja mal versuchen.
Im anschließenden Rollenspiel übernimmt Markus die Rolle seines Vaters.
In der Identifikation mit diesem setzt er sich zunächst mit dessen "Feigheit"
auseinander, kann aber auch die Trauer darüber spüren, die der Vater hat,
weil er sich durch die Realitäten des Verkehrs in seinem "Freiheitsdrang"
eingeschränkt fühlt.
Im weiteren Verlauf des Rollenspiels verspürt Markus die Last des
"Verantwortungsgefühls" des Vaters.
Im Rollenspiel wird mit einem leeren Stuhl gearbeitet, auf den sich Markus
setzt, wenn er die Rolle des Vaters übernimmt. Auf seinem eigenen Stuhl
ist er Markus.
Nachdem Markus aus der Rolle des Vaters auf seinen eigenen Stuhl zurückgekehrt ist, kann er Enttäuschung und Wut darüber empfinden, daß der
Vater ihn an diesen Seiten seines Lebens bisher nur unzureichend
104
teilnehmen ließ. In einem neuerlichen Rollenspiel (Stuhlarbeit) kommt es
nun zum Dialog zwischen Markus und dem imaginierten Vater (Markus
auf dem anderen Stuhl).
In diesem Dialog kann der Jugendliche dem (imaginierten) Vater seine
Enttäuschung und seinen Ärger zum Ausdruck bringen.
Diese emotionale Auseinandersetzung mit dem väterlichen Objekt wurde in
der Realität bisher versäumt, was dazu führte, daß alte Introjekte nicht
verarbeitet (assimiliert) werden konnten und daß dadurch für neue Erfahrungen mit Regeln keine Kapazitäten mehr vorhanden waren, also neue
Regeln und Normen und alte Introjekte sich gegenüberstehend, ausschlossen. Durch die Auseinandersetzung mit dem (imaginierten) Vater sollte es
Markus ermöglicht werden, die alten väterlichen Introjekte, soweit sie
seiner Persönlichkeit entsprachen, zu assimilieren und die nicht-persönlichkeitskompatiblen Reste auszuscheiden.
Nach diesem Prozeß besteht erst die Möglichkeit zur Annahme neuer Regeln und Normen. Diese Assimilation ist jedoch wiederum nur vor dem
Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem ganzen Feld möglich.
6.311 Therapeutische Auseinandersetzung mit dem Feld
In der Arbeit mit dem jugendlichen "Verkehrsstraftäter" Markus, geht der
Sozialarbeiter davon aus, daß es sich bei der Auffälligkeit des Jugendlichen
um ein Symptom handelt, das eine gesellschaftliche Problemkonstellation
deutlich macht. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer individuellen
Disposition.
Diese individuelle Disposition wurde in dem eben beschriebenen Einzelgespräch bearbeitet.
Der zweite Schritt besteht nun darin, die gesellschaftspolitische Verwurzeltheit der Problematik transparent zu machen.
Wenige Wochen nach seinem Jugendarrest erhielt Markus eine Einladung
zu einem Jugendfreizeitwochenende durch das Jugendamt.
Diese Jugendfreizeit wurde mit zwanzig Teilnehmern und Teilnehmerinnen
in einer Jugendbildungseinrichtung, von Freitagnachmittag bis Sonntagmittag veranstaltet.
Neben einigen Freizeitaktivitäten wurde eine Gruppenarbeit mit Rollenspielen und Planspielen durchgeführt.
Fehler! Textmarke
105 nicht definiert.
Das Planspiel, welches am Samstagnachmittag und Samstagabend durchgeführt wurde, hatte das Thema: "Wirtschaft und Verkehr - Geld und
Auto".
Die methodische Grundlage für das Planspiel ist die "kontextuelle Argumentationsmethode" nach Paul Goodman (siehe auch Kapitel über Goodman).
Goodman beschreibt dieses methodische Vorgehen folgendermaßen: "Wir
weisen nach, daß der Betrachter innerhalb seiner Erfahrungsbedingungen
diese Überzeugung haben muß, und dann ermöglichen wir, durch
spielerische Bewußtmachung der einschränkenden Bedingungen, die
Entstehung eines besseren Urteils (...)."(116) Goodman nennt diese Methode
"Argumentationsmethode ad hominem"(117)
Gerade das Argument von Markus, "ein Mofa mit 25 km/h ist ein Verkehrshindernis", ist rational nicht widerlegbar und nur in seinem gesamten
Erfahrungskontext zu verstehen. "Da ist die einzig sinnvolle Argumentationsmethode, das ganze Umfeld des Problems ins Bild zu bekommen, einschließlich der Bedingungen, der Erfahrung, des sozialen
Milieus und der persönlichen >Widerstände< des Betrachters."(118)
Das Thema des Planspiels kam aus der Überlegung zustande, daß die
Mehrheit der Jugendlichen Eigentumsdelikte rund um das Auto begangen
hatten. Also, Mofa-, Auto- und Fahrraddiebstähle.
Das Planspiel wurde in groben Zügen durch die Sozialarbeiter vorbereitet
und hatte das Ziel, möglichst viele am Verkehr beteiligte gesellschaftliche
Gruppen darzustellen.
Die 1. Phase war die Anwärmphase.
Nachdem die Teilnehmer sich aus über 150 möglichen Rollen diejenigen
ausgesucht hatten, mit denen sie sich identifizieren wollten, stellte sich jeder in seiner Rolle vor. Markus spielte einen Großaktionär der Automobilindustrie. Es gab desweiteren die Polizei, Gebrauchtwagen- u. Schrotthändler, Sportwagenfahrer, Spediteure, Bauunternehmer, den Finanzminister, Großindustrielle, Autodiebe, Versicherungen, Richter uvm.
Die Vorstellung der verschiedenen Rollen wurde durch Interviews durch
die Gruppenleiter vertieft. Zum Schluß der Aufwärmphase schlossen sich
die verschiedenen Rollenträger zu Kleingruppen mit ähnlichen Interessen
zusammen. Markus war in der Gruppe "Geldverdienen am Auto", ge(116)
(117)
(118)
Perls, Hefferline, Goodman, a.a.O. - S. 27
Fatzer, Gerhard, Ganzheitliches Lernen, Paderborn, 1988 - S. 41
Perls, Hefferline, Goodman, a.a.O. - S. 27
106
meinsam mit der Vertreterin der Automobilindustrie, dem Straßenbau und
dem Finanzminister. Es gab noch die Gruppe der Ordnung (Polizei, Justiz,
ADAC), der Händler und der Kriminellen.
Die 2. Phase war die Aktivierungsphase.
Es wurden drei Papiere an die Teilnehmer ausgegeben. Das erste Papier
enthielt die Situationsbeschreibung: ein Autodieb stiehlt einen Sportwagen
und fährt diesen zu Schrott. Wie kommt es dazu und wie wirkt sich dies
Ereignis auf die Beteiligten aus? Das zweite Papier beschreibt die Rolle des
Protagonisten, also die des Autodiebes. Auf dem dritten Papier sind Namen
und Alter aller anderen Beteiligten mit einigen knappen, klischeehaften
Charakteristika angegeben.
Die 3. Phase war die Spielphase.
Der Ablauf des Spiels wurde kurz von der Gruppe erörtert und dann in
Szene gesetzt. Das Thema wurde folgendermaßen eingekreist.
Der Autodieb Ede Flach stiehlt dem Sportwagenfahrer Hans Huschke seinen Porsche-Carrera. Mit diesem verunglückt er nach einer eintägigen
Spritztour vom Ruhrgebiet an den Bodensee auf einer kurvenreichen
Landstraße. Der Wagen weist Totalschaden auf, Ede Flach wird mit mittelschweren Verletzungen in ein Unfallkrankenhaus am Bodensee eingeliefert. Die Presse erfährt davon und es erscheint ein Artikel, den alle
Beteiligten lesen und über den sie aus ihrer Rolle heraus laut nachdenken
oder diskutieren. In der ersten Phase des Spieles haben die Beteiligten
zunächst die Aufgabe die Bedingungen für den Diebstahl herzustellen.
Hierzu wird von allen Beteiligten ordentlich Werbung für Sportwagen
betrieben. Diese Werbung erzeugt bei Ede Flach das Bedürfnis nach einem
Sportwagen. Nach dem Unfall diskutieren die Kleingruppen über die
Zeitungsmeldung und was diese für jeden persönlich bedeutet. Z.B.:
Bauunternehmer: "Ich sage ja immer, wir brauchen bessere Straßen, naja
es mußte ja erst wieder einer verunglücken, bis wir nun
endlich den Bauauftrag für die Straßenbegradigung
erhielten."
Industrieller:
"Wenn das Auto mit ABS ausgerüstet wäre, hätte
er die Kurve schaffen können."
Aktionär:
"Naja, dem Absatz kanns ja nicht schaden, jeder Totalschaden führt dazu, daß wir einen neuen Porsche verkaufen."
Solche oder ähnliche Diskussionen finden nun in allen Kleingruppen statt.
Fehler! Textmarke
107 nicht definiert.
Die 4. Phase war die Feedbackphase.
Die Spielphase wurde mehrfach von Feedbackphasen unterbrochen. In
diesen Phasen äußerten sich die Spieler über die Wirkung, die die gerade
erlebte Szene auf sie gehabt hat. Feedback wurde direkt, persönlich und
beschreibend gegeben, nach Möglichkeit nicht wertend. Nach der ersten
Spielphase, also der Phase, die den Autodiebstahl ermöglichen sollte, äußerten viele Teilnehmer sich dahingehend, daß sie den Eindruck hätten,
einigen wäre es ganz recht, wenn Autos gestohlen würden.
Eine Feedbackphase wurde nach jeder Kleingruppendiskussion eingeschoben. Z.B. nach der Diskussion der Händler: "Ihr streitet Euch ja schon
darum, wer den dicksten Reibach mit dem Schrott macht."
Die 5. Phase war die Reflexionsphase.
In dieser Phase verließen die Teilnehmer wieder ihre Rollen und diskutierten über das, was sie im Spiel erlebt hatten. Die Reflexion fand auf zwei
Ebenen statt. Die erste Ebene fragte nach den beteiligten Personen. Dabei
wurde den Teilnehmern deutlich, daß alle Personen außer dem Autodieb,
versuchten, aus der Situation Gewinn zu machen:
Markus:
Ede F.:
Markus:
Ede F.:
Ich fand das so echt geil, daß ich als Aktionär daran verdienen
kann, wenn die anderen im Verkehr Scheiße bauen.
Aber ich muß es ausbaden.
Mir war das total egal, weil mein Freund der Richter ja für
Recht und Ordnung sorgt und daran so gut verdient, daß er
sich auch wieder ein schnelles Auto kaufen kann.
Und ich bin der Angeschissene.
Auf der zweiten Ebene der Reflexionsphase wurde nun das Thema bearbeitet. Hier gelang es den Jugendlichen nun in eine Diskussion einzutreten,
die sich mit dem Thema "Verteilungsgerechtigkeit und Macht" auseinandersetzte. Diese Diskussion wurde von den Jugendlichen so konzentriert und engagiert geführt, daß sowohl der Samstagabendumtrunk eingeschränkt wurde und daß die Diskussion am Sonntag noch fortgesetzt werden mußte. Nahezu alle Teilnehmer des Wochenendes äußerten sich dahingehend, daß sie mitteilten nun ganz andere Zusammenhänge zu erkennen,
daß ihnen das Wochenende viel gebracht habe und es auch noch Spaß
gemacht hätte. (119)
(119)
Daigl, Klaus A., Kleine Planspiele für Helfer, Freiburg, 1988
108
Wenn wir nun verstehen wollen, welche intrapersonalen-, interpersonellenund institutionellen Prozesse im hier geschilderten Beispiel wirksam
werden, so erscheint es recht hilfreich, den Feldbegriff etwas näher zu
beleuchten.
6.4
Die Entwicklung des Feldes
Im Gegensatz zu Perls behält Petzold das psycho-analytische Über-IchKonzept bei, und bezieht dieses besonders auf kognitives und soziales
Lernen.
Ähnlich wie auch die "analyse institutionelle" von Lapassade sieht Petzold
in der psychoanalytischen Theorie des Ödipuskomplexes eine Metapher für
den Prozeß des Überganges aus der Mutter-Kind-Dyade in einen komplexer werdenden Bezugsrahmen. Dies geschieht dadurch, daß das Kind den
Vater in sein Leben eintreten erleben muß. "Nun tritt aber mit der
fortschreitenden kognitiven Reife und den Differenzierungsmöglichkeiten
des Ichs, der Vater (oder eine andere wichtige Bezugsperson) in die
Erlebniswelt des Kindes, und dieses muß schmerzlich erfahren, daß es die
Mutter nicht für sich alleine besitzt, sondern teilen muß, und daß dieses
Teilen bestimmten, von der Mutter und vom Vater gesetzten Regeln
unterliegt, die für das Kind weitgehend unverfügbar bleiben."(120)
Diese "Triangulation" ist der Beginn einer fortschreitenden und immer
differenzierter werdenden Aneignung der sozialen Welt.
Mit dem Erkennen komplexerer sozialer Situationen tritt das Individuum in
ein >Feld< ein, das von Kurt Lewin verstanden wird als eine "Gesamtheit
gleichzeitig bestehender Tatsachen, die als gegenseitig voneinander
abhängig begriffen werden."(121)
Für die Orientierung und die Durchsetzung von individuellen Interessen in
solch komplexen sozialen Situationen (Feldern) ist es für den Einzelnen
von besonderer Bedeutung, das jeweilige Normen- und Wertgefüge
wahrnehmen zu können, und die eigene innere Normen- und Wertstruktur
damit in Übereinstimmung zu bringen. Hierzu verhilft eine differenzierte
Über-Ich-Struktur.
(120)
(121)
Petzold, Hilarion, Vorüberlegungen und Konzepte ..., a.a.O. - S. 91
Lewin, Kurt, zit. in: Lück, Helmut E., Feldtheoretische Betrachtungen zur
Hilfeleistung in: Guss, Kurt, Gestalttheorie und Sozialarbeit, Darmstadt, 1979 S. 45
Fehler! Textmarke
109 nicht definiert.
Die von Petzold oben beschriebene Über-Ich-Entwicklung kennzeichnet
den fortschreitenden Prozeß des Eintritts des Menschen in immer neue und
differenziertere Institutionen. Diese Sichtweise ermöglicht die Integration
von Gestalttherapie, Institutionsanalyse und Sozialarbeit.
Mit der Triangulation, die durch das väterliche Objekt beginnt, macht das
Kind seine ersten Institutionserfahrungen. Da sich die Triangulation dem
Kind gleichsam aufzwingt und es ihr nicht entrinnen kann, ist es gezwungen, die damit einhergehenden Normen zu introjizieren. Eine Assimilation kann Petzold nach nur dann erfolgen, wenn bereits ein gestärktes
Ich vorhanden ist. Ein schwaches Ich kann häufig dem Ansturm von
Außenzuschreibungen nicht standhalten. Desweiteren ist für eine Assimilation der institutionellen Normen und Werte aus dem Triangulationsprozeß die liebevolle Auseinandersetzung des väterlichen Objektes mit
dem Kind nötig, andernfalls prägen die Introjekte aus diesem Prozeß jeden
weiteren Institutionseintritt (Kindergarten, Schule, etc.).
Mit Beginn der Triangulation fängt der Mensch an sich mehr und mehr als
eine Person mit einem Umfeld in einem räumlich und zeitlich gestaffelten
Kontinuum wahrzunehmen. Er trägt in jedem Moment seiner gegenwärtigen Existenz die Geschehnisse der Vergangenheit in sich. Als Person definiert er sich darüber. "In gleicher Weise steht er in einem soziokulturellen
(Volks- und Schichtzugehörigkeit) und einem sozio-physikalischen (Land,
geographische Region) Zusammenhang, der sich als gestaffelte Figur/Grund-Relation erweist und als Bezugsrahmen die aktuelle >Hier-undJetzt-Situation<, die Familie, die allgemeine Lebenssituation (Beruf,
Freundeskreis etc.), die soziale Schicht und den Kulturkreis umfaßt."(122)
Entsprechend der Assimilierbarkeit der Normen und Werte unterschiedlicher Institutionen entwickelt der Einzelne Über-Ich-Strukturen, die entweder Teil seines Selbst geworden, also assimiliert sind oder als Fremdkörper in Form von Introjekten toxisch in ihm wirken. Diese toxischen
Introjekte können auf weitere Institutionserfahrungen ihrerseits vergiftend
wirken.
Die Auseinandersetzungen und die Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Institutionen werden nun aus Sicht einer sozialpädagogischen
Analyse der bestehenden Institution geführt. Diese Analyse hat uns schon
lange zu der Erkenntnis gebracht, daß in den Institutionen >krank(122)
Petzold, a.a.O. - S. 78
110
machende< Mechanismen wirksam sind, die in unterschiedlicher Weise die
Assimilation von gesunden Über-Ich-Strukturen erschweren oder
verhindern.
Diese sozialpädagogische Analyse sinnstiftender Gesellschaftsinstanzen
wurde bereits in den frühen fünfziger Jahren von Paul Goodman, dem
Mitbegründer der Gestalttherapie radikal formuliert.
6.5
Die Institutionskritik Paul Goodmans
Die sozialpädagogische Konzeption von Paul Goodman beinhaltet sozialkritische Ideen und Überlegungen, die zu alternativen Möglichkeiten von
Erziehung, Schule und Leben formuliert werden.
Diese Ansätze wurden stark von Goodmans Arbeit als Gestalttherapeut
geprägt.
"Goodman hat stärker als Perls den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang ins Auge gefaßt, in den Therapie und Pädagogik verflochten sind und
an dem sie leiden."(123)
Er beschreibt die Widersprüche der verwalteten Welt, in die der junge
Mensch hineinwächst. Dieses "Aufwachsen im Widerspruch" (Growing Up
Absurd) zwingt den Menschen zu Alternativen. Goodmans Werk ist vor
dem Hintergrund der amerikanischen Jugend- und Beatnikbewegung (ca.
ab 1954) entstanden. Dabei werden die subkulturellen Strömungen stark
kritisiert, weil sie Ausdruck einer unverbindlichen und unpolitischen
Jugendbewegung sind.
Auch die Gestalt-Bewegung der siebziger Jahre war häufig die versuchte
Flucht in eine subkulturelle Nische, die als Alternative zur bürokratisierten,
technisierten und entmenschlichten Welt gesehen wurde.
Diesen Weg des "Aussteigens", wie er in der Tat von vielen amerikanischen Schulen begangen wurde, wollte Goodman nicht gehen, da er
jegliches politisches "Awareness" (Wachsein, Bewußtsein) vermissen läßt.
Bei Goodman handelt es sich vielmehr um konkrete Alternativen zu realen
Institutionen, mit der Zielrichtung, daß diese Alternativen sich ausbreiten
mögen und im Idealfall zur Regel werden.
Goodmans Verständnis für die "Drop-outs" (Schulverweigerer), die zu
Beginn der sechziger Jahre in den USA ein echtes Problem für das Bil(123)
Petzold, Hilarion, Gestaltpädagogik in: Petzold/Brown - Gestaltpädagogik,
München, 1978 - S. 8
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111 nicht definiert.
dungswesen darstellten(124), entstand aus seinem kritischen Verhältnis zum
amerikanischen Schulsystem, wo nach seiner Meinung die Gesellschaft
ihrer Aufgabe, den jungen Menschen zu erziehen, nicht gerecht wurde.
"Erziehung ist eine natürliche gesellschaftliche Funktion und geschieht
unvermeidlich, da die Jugend zwischen Aktivitäten der Erwachsenen und
in ihren Institutionen (oder dagegen) aufwächst; und die Erwachsenen ernähren, belehren, trainieren, verwerten und mißhandeln die Jugend.(125)
Das formalisierte Erziehungssystem wird der "menschlichen Natur" nicht
gerecht, da es die Bildung des Menschen mechanisiert betrachtet und das
Erleben des Menschen in seiner psychosomatischen und sozialen Verknüpftheit weitestgehend außer Acht läßt.
Mit der Einführung des Begriffes "menschliche Natur" stellt Goodman den
Bezug zum gestalttheoretischen Ansatz in der Pädagogik her, der ein "nicht
feststehendes Wesen des Menschen" ins Zentrum der anthropologischen
Betrachtung rückt.(126)
Die von der Erwachsenenwelt geschaffenen Institutionen, und hier besonders das Schulsystem, stehen der "menschlichen Natur" häufig entgegen; mehr noch, "die menschliche Natur" ist von dem herrschenden
System verbogen und beleidigt worden. Der "Mensch" läßt sich nicht mehr
als ein Wesen definieren, das in das herrschende System paßt, wenn das
herrschende System offensichtlich für den Menschen nicht paßt.(127)
Goodmans Position gegenüber den Hochschulen ist ebenfalls sehr kritisch.
Er ruft die Studenten dazu auf, die Hochschulen zu verlassen und
alternative Einrichtungen zu organisieren. Dabei sollen die dem wissenschaftlichen Denken zugrunde liegenden Ideen gelernt werden und in Einklang gebracht werden mit den Gefühlen und Erfahrungen der Studenten.
Die Leitbilder, die Goodman hierbei zugrunde legt, beschreibt Rolf
Schwendter als "das Syndrom eines anarchistisch-wissenschaftlich-humanistischen Ideals".(128)
Aus diesen Ansätzen entwickelt sich Gestaltpädagogik, die als alternative
Pädagogik zu machbarem Widerstand der Betroffenen aufruft.
(124)
(125)
(126)
(127)
(128)
Goodman, Paul, Das Verhängnis der Schule, Frankfurt, 1964
Goodman, a.a.O. - S. 18
Stach, Reinhard, Die konstituierenden und erschließenden Momente der pädag.
Situation in: Guss, Gestalttheorie u. Erziehung, Darmstadt, 1975 - S. 53 ff
Goodman, Paul, Aufwachsen im Widerspruch, Darmstadt, 1956 - S. 40
Schwendter, Rolf, Theorie der Subkultur, Köln/Berlin, 1971 - S. 190
112
Gesellschaftsveränderung kann dabei jedoch nicht durch Theoretisieren
geschehen, sondern durch konkretes Handeln einzelner Gruppen in der
jeweiligen Lebenssituation, die zum Handeln zwingt.
Goodmans Ansatz setzt sich einerseits von bürokratischen, sozial- und
unterrichtstechnologischen Methoden des Schulunterrichts ab, und er
grenzt sich andererseits von den klassischen und humanistischen Bildungstheorien des Bürgertums ab. Es werden keine radikalen Forderungen
nach totaler Revolution erhoben, sondern die Gestaltpädagogik wird als
Alternative innerhalb eines bestehenden Systems verstanden, das sich
seinerseits durch den Einfluß der Alternativpädagogik ändern und entwickeln können müßte.
Die existenzphilosophische Grundlage in Goodmans Werk wird deutlich,
wenn er die Frage der menschlichen Wahl in das Zentrum seiner Überlegungen stellt.
Die Frage der Wahl heißt: unter welchen Bedingungen will ich leben, was
laß ich mit mir machen und welchen Situationen will ich mich aussetzen?
Oder will ich Situationen in die Hand nehmen und sie verändern?
"Frei wählen können heißt nicht, sich beliebig verhalten, sondern auf
Wirklichkeit antworten."(129)
Durch die Gestaltpädagogik sollen Verfahren entwickelt werden, mit denen
auf die herkömmliche Schulform geantwortet werden soll, oder mit denen
alternative Einrichtungen aufgebaut werden sollen. Goodman fordert
Alternativschulen innerhalb der Gesellschaft, die aber statt an die
bürokratischen und sozialtechnischen Zwänge der Regelschule gebunden
zu sein, alternatives und kreatives Arbeiten von Lehrern in öffentlichen
Schulen ermöglichen sollen.
Goodman sieht in den schulischen Institutionen Einrichtungen, deren
Bedingungen es verhindern, daß die jungen Menschen sich entwickeln
können.
Das weist auf die zentrale Frage in Goodmans Werk hin, die von Stefan
Blankertz folgendermaßen formuliert wird: Goodman "fragt nämlich,
welches denn die Bedingungen seien, die verhindern, daß die Menschen ein
(129)
Goodman, Paul, Freiheit und Lernen in: Neue Sammlung, Göttingen, 1969 - S.
420
Fehler! Textmarke
113 nicht definiert.
>gutes Leben< und >glückliches Zusammenleben< führen, fragt nach den
Ursachen individueller Unzufriedenheit und sozialer Mißstände."(130)
Für Goodman war die Gestalttherapie stets auch ein Mittel der praktischen
Sozialpolitik. Er war einer der Pioniere der Bewegung der Bürgerinitiativen. Seine Position des kritischen Pragmatismus zielte stets darauf
ab, bei den Menschen politische Bewußtheit zu schaffen, um konkrete
politische Veränderungen einleiten zu können.
Für Goodman war Gestalttherapie - und hier unterscheidet er sich von Perls
- immer nur ein Instrument, über Heilung und Linderung von Störungen
hinaus, Bewußtsein zu schaffen, Fähigkeit zu kommunizieren, sich in der
Gesellschaft zu orientieren und zu ihrer Humanisierung beizutragen.
"Denn die Gesellschaft, in der wir leben, ist unsere, und es liegt an uns, an
unserer Bereitschaft, Verantwortung - und damit auch Leiden - zu
übernehmen, um sie zu einer menschlichen Gesellschaft zu machen."
(Petzold, 1984).
6.51 Goodman - Lapassase
Für eine Sozialpädagogik, die die Institution reflektiert, erscheint es sinnvoll, den Ansatz von Paul Goodman durch die Arbeiten von Georges Lapassade zu erweitern, denn erst hierdurch wird deutlich, welches Ziel die
Introjektionsgewalt der bürokratischen Pädagogik verfolgt.
Nach Lapassade ist das eigentliche Stofflernen nur als ein Nebenprodukt zu
verstehen, das dadurch zustande kommt, daß das bürokratische Schulsystem Brüche aufweist und daß es immer wieder einige Lehrer gibt, die
um menschlichen Kontakt bemüht sind.
Als tatsächliches Ziel der Schule sieht Lapassade die Anpassung des Zöglings an ein bürokratisches System, also die Introjektion von Prinzipien der
verwalteten Welt mit dem Ziel, die Herrschaft der Bürokratie zu stützen.
"Hätten die Menschen nicht während ihrer ganzen Kindheit die pädagogische Herrschaftsform an sich selbst erfahren, so würden sie die bürokratische Herrschaft niemals hinnehmen, sie erschiene ihnen als die schlimmste
aller Entfremdungen. Das Gemeinsame an der pädagogischen und der
bürokratischen Herrschaftsform liegt darin, daß beide vorgeben, das Beste
zu wollen für das geführte oder verwaltete Subjekt, wenn es nötig ist,
(130)
Blankerts, Stefan, Paul Goodmans Ethik und ihre Bedeutung für die Gestalttherapie in: Int. Therapie 2-3/1988 - S. 173
114
gegen dieses selbst; die Menschen werden so umfassend wie möglich
verwaltet und dem gemeinsamen Zweck geopfert."(131)
Diese Entfremdungsprozesse bezeichnen wir in der Gestalttherapie als Introjektionen, die als Fremdkörper im Menschen wirken, ihn angepaßt und
gefügig machen und Spontaneität, Kreativität und Wachheit verhindern.
Eine assimilierte Über-Ich-Struktur hingegen hat die Funktion innerer Institutionen, die dem Menschen ein Höchstmaß an flexibler Anpassungsleistung unter Wahrung seiner eigenen Identität ermöglicht. Der Mensch hat
dadurch die Möglichkeit, stets seine innere und seine äußere Realität mit
Bewußtheit (Awareness) wahrzunehmen und so die Unterschiede zwischen
beiden zu erkennen.
Goodmann sieht, daß das Ziel vernünftigen menschlichen Handelns nicht
nur in der individuellen Befriedigung liegen kann, sondern darüber hinaus
in der Sicherung der allgemeinen Bedingungen, die Befriedigung ermöglichen.
Das Scheitern ist darauf zurückzuführen, daß die Menschen zwar vorgeben
mit diesen Zielen beschäftigt zu sein, daß sie sich jedoch Bedingungen
schaffen, unter denen Befriedigung nicht möglich ist. Diese Bedingungen
bezeichnet Goodman mit dem Begriff "self-conquest" oder Selbstvergewaltigung. Blankerts übersetzt diesen Terminus mit "Selbstkolonialisation".
Bei Mentzos ist dieser Aspekt als "neurotische Mechanismen"(132) beschrieben. Der Bürokratiebegriff bei Lapassade enthält ebenfalls diese
Dimension, wie wir gleich sehen werden:
"Die Menschen der Selbstkolonialisierung formen eine Gesellschaft, in der
sie sich gegenseitig die Möglichkeitsbedingungen des Glücks verstellen.
Das drückt sich in der politischen Verfassung des Gemeinwesens, in den
Institutionen aus. Die Analyse der institutionellen Verhärtung von
Selbstkolonialisierung bildet das Zentrum von Goodmans Schriften."(133)
Neurotische Mechanismen und Bürokratismus sind somit Formen der
"Selbstkolonialisierung".
(131)
(132)
(133)
Lapassade, a.a.O. - S. 184
Mentzos, Stavros - a.a.O.
Besems, This, Philosophisch-anthropologische Bemerkungen zur integrativen
Therapie/Gestalttherapie in: Int. Therapie 3-4/1977 - S. 181
Fehler! Textmarke
115 nicht definiert.
6.6
Zusammenfassende theoretische Darstellung der
Gestalttherapie
Die Gestalttherapie betrachtet den Menschen als eine Leib-Geist-SeeleEinheit in einem sozio-ökologischen Feld. Sie versucht eine Integration
dieser verschiedenen Bereiche herzustellen und eventuell abgespaltene
Teile zu Ganzheiten zusammenzufassen.
Der Begriff von der >Gestalt< meint in diesem Sinne, daß der Mensch als
Geist-Leib-Seele-Einheit gesehen wird, dessen Elemente in ständiger
Wechselwirkung miteinander stehen, in Abhängigkeit und Interaktion mit
dem jeweiligen sozio-ökologischen Feld.
"Vom Gedanken über den totalen Menschen und über die Einheit von
Selbst und Körper ist es nur ein kleiner Sprung zur Gestalt (...) als ein
Subjekt, das wir nicht kennenlernen können. indem wir nur eine Anzahl
loser Elemente aneinanderreihen. Die volle Einheit des Seins können wir
nicht mit einer Summierung, die aufgeteilt oder analysiert werden muß,
vergleichen. Wollen wir trotzdem Teile des Menschen betrachten, müssen
wir uns vor Augen halten, daß jeder Teil allein für sich nur in der Funktion
des Ganzen zu verstehen ist. Das Ganze steht immer vor dem Teil."(134)
Für die Sozialarbeit ist es von zentraler Bedeutung, daß eine Gestalt sich
immer als umgrenzte, einheitliche Figur von einem Hintergrund abhebt.
Damit wird die Person-Umwelt-Relation deutlich.
"Das Wort Gestalt bezieht sich auf die Form, die Figur oder das Ganze, auf
die strukturelle Ganzheit. Die Natur ist wohlgeordnet; sie besteht aus
sinnvollen Ganzheiten. Hierbei taucht die Figur auf und geht mit dem
Grund eine Verbindung ein, und diese Beziehung zwischen Figur und
Grund ist die Bedeutung. Im Sinne der Gestalttherapie ist eine gute Gestalt
deutlich erkennbar, und das Figur-Grund-Verhältnis richtet sich nach und
speist sich aus den Quellen, der sich jeweils verändernden momentanen
Bedürfnisstruktur des Einzelnen. Eine gute Gestalt ist weder zu starr, oder
zu rigide, noch zu wandelbar oder zu veränderlich.(135)
Daraus wird deutlich, daß der Organismus, der in "gutem Kontakt" mit
seinem Umfeld steht, seine Anpassungsvorgänge selbst reguliert und eine
Balance herzustellen trachtet. Die Gestalttherapie bezeichnet diesen Vor(134)
(135)
Yontef, Gary M., Gestalttherapie, 1977, S. 41
Petzold, Hilarion, Integrative Gereagogik in: Petzold/Brown, Gestaltpädagogik,
München, 1977 - S. 219
116
gang als organismische Selbstregulierung, die von Hilarion Petzold folgendermaßen beschreiben wird: "Die Gestalttherapie geht davon aus, daß
der menschliche Organismus die Fähigkeit besitzt, sich in seinem Umfeld
nicht störend oder zerstörend in den Regulationsvorgang eingreift. Das
bestimmende Prinzip in der organismischen Selbstregulation ist das der
homöostatischen Balance. Diese ist umfeldabhängig und im Verlauf des
Lebens altersbedingten Veränderungen unterworfen."(136)
Die Sozialarbeit machte in der Vergangenheit in besonders auffälligem
Maße immer wieder die Erfahrung, daß der organismischen Selbstregulation ihres Klientels sehr deutliche Grenzen gesetzt sind, da das Klientel der
Sozialarbeit zum größten Teil aus einem sozialen Umfeld stammt, welches
störend oder zerstörend auf die Selbstregulation des Organismus einwirkt.
Die Konsequenz daraus ist, daß Sozialarbeit, die sich dem Gestaltansatz
verpflichtet fühlt, stets auch das störende Feld zum Gegenstand ihrer
Behandlung machen muß.
6.61 Quellen und Konzepte der Gestalttherapie
Als Quellen der Gestalttherapie sind eine Vielzahl psychologischer, philosophischer und wissenschaftstheoretischer Schulen zu verstehen, die zu
einem Gesamtkonzept integrierbar sind.
Aus den daraus abgeleiteten Konzepten lassen sich dann die konkreten
Handlungsmethoden ableiten.
6.611 Psychoanalyse
Fritz Perls entwickelte die Gestalttherapie aus der Psychoanalyse heraus
zunächst als eine Antithese zur Psychoanalyse, indem er dem klassischen
Libidoprinzip ein Ich-psychologisches Konzept entgegensetzte. "In der
Psychoanalyse wird die Bedeutung des Unbewußten und des Geschlechtstriebes, der Vergangenheit und der Kausalität, der Übertragung
und der Verdrängung betont, aber die Funktion des Ichs und der Hungertriebe, der Gegenwart und der Zielgerichtetheit, der Konzentration, der
spontanen Reaktion und der Rückwendung werden entweder unterschätzt
oder vernachlässigt."(137)
(136)
(137)
Perls, 1946 - a.a.O., S. 14
Petzold, 1984 - a.a.O.
Fehler! Textmarke
117 nicht definiert.
Nachdem die Psychoanalyse in der Gestalttherapie der frühen siebziger
Jahre teilweise in ideologischer Weise abgelehnt wurde, hat die Entwicklung im klinischen Bereich dazu geführt, daß insbesondere in Europa die
Psychoanalyse als zentrale Quelle der Gestalttherapie gewürdigt wird. Dies
trifft besonders für die Ich-Psychologie und die Psychologie des Selbst
(Narzißmustheorie) zu. Wie oben bereits beschrieben, ist in Petzolds
"Vorüberlegungen und Konzepten zu einer integrativen Persönlichkeitstheorie" auch wieder der Begriff des Über-Ich an zentraler Stelle zu
finden.(138)
Man kann heute vielleicht sagen, daß die Gestalttherapie die am naturwissenschaftlichen Denken des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts
orientierte Psychoanalyse durch ein phänomenologisch-systemisch-ganzheitliches Paradigma erweitert, ohne auf die fundamentalen Erkenntnisse
der klassischen Analyse zu verzichten. So gesehen steht sie ganz in der
Tradition einer psychoanalytischen Bewegung, die sich im Zuge sich
permanent vollziehender, gesellschaftlicher Wandlungen ihrerseits weiterentwickelt.
Petzold hat die Unterschiede von Gestalttherapie und Psychoanalyse bereits
1973 wie folgt beschrieben: "Die phänomenologische Betrachtungsweise
im Unterschied zur kausalen; die Gegenwartszentriertheit im Unterschied
zur analytischen Ausrichtung auf die Vergangenheit; das Prinzip der
Gestaltdynamik (d. i. das Entstehen, Schließen und Integrieren psychischer
Gestalten) im Unterschied zum Libidoprinzip; die Assimilation von
Emotionen im Unterschied zur Entladung von Emotionen; die Selbstinterpretation im Unterschied zur Fremdinterpretation."(139)
Der für die Sozialarbeit vielleicht entscheidende psychoanalytische Einfluß
auf die Gestalttherapie dürfte von der Psychoanalytikerin Karen Horney
ausgegangen sein, bei der Perls in den zwanziger Jahren in Lehranalyse
war. Leider wurde der kulturkritische Ansatz von Karen Horney sowohl in
der Sozialarbeit als auch in den gestalttherapeutischen Publikationen bis
heute nicht ausreichend gewürdigt.(140)
(138)
(139)
(140)
Petzold, Hilarion, Gestalttherapie und Psychodrama, Kassel, 1973 - S. 10
Horney, Karen, Der neurotische Mensch unserer Zeit, München, 1973
Straub, Helga, Psychodrama in: Fachlexikon der soz. Arbeit, a.a.O., S. 668
118
6.612 Psychodrama
Eine Vielzahl von Behandlungstechniken der Gestalttherapie ist dem Psychodrama entlehnt. Hierzu gehören solch klassische Techniken wie die
Arbeit mit dem leeren Stuhl, das Rollenspiel und der Rollentausch, um nur
einige zu nennen. Das Psychodrama beruht auf der anthropologischen
Vorstellung von Moreno. "Nach dieser ist der Mensch von Natur aus zum
Handeln bestimmt und kreativ; seine Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten sind jedoch häufig infolge sozialer und ökonomischer Mißstände
verkümmert und müssen wieder entfaltet werden."(141)
6.613 Östliche Philosophien
Die Vorstellungen von wacher Bewußtheit (Awareness) im Hier und Jetzt
stehen in engem Zusammenhang mit Bewußtseinsvorstellungen von ZenBuddhismus und Yoga. Perls selbst hat einige Zeit in japanischen ZenKlöstern verbracht. "Die wache Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt (...) und
ihre Bedeutung für das therapeutische Geschehen wurde für Perls durch die
Begegnung mit dem Zen-Buddhismus noch intensiviert."(142)
6.614 Phänomenologie
Die Phänomenologie als philosophische und wissenschaftstheoretische
Quelle der Gestalttherapie ist von so entscheidender Bedeutung, daß die
Gedanken hierzu in einem eigenen, ausführlicherem Kapitel abgehandelt
werden. (Kap. 6.8)
6.615 Gestalttheorie
Der Begriff "Gestalttherapie" wurde von Perls von der in den zwanziger
Jahren entwickelten Gestalttheorie entlehnt. Sein erstes Buch "Ich Hunger
und Aggression" widmete Perls einem führenden Kopf der Gestaltpsychologen, Max Wertheimer.
Es gibt dennoch eine große Kluft zwischen den erkenntniswissenschaftlich
orientierten Theoretikern und den handlungswissenschaftlich ausgerichteten Therapeuten. Hans-Jürgen und Irene Walter zitieren in ihrem
Aufsatz "Klinische Psychologie muß Gestalt annehmen" die Schülerin von
Kurt Lewin, die Gestalttheroretikerin Maria Ovsianka mit folgenden
Worten: "Während ich selbst manche Möglichkeiten sehe, durch Ausnut(141)
(142)
Petzold, Hilarion, zit. in: Rahm, Dorothea, Gestaltberatung, Paderborn, 1979
Walter, Hans-Jürgen und Irene, Klin. Psychologie muß Gestalt annehmen in:
Psychologie heute, 6/1979 - S. 47
Fehler! Textmarke
119 nicht definiert.
zung des Gestaltkonzeptes den Spielraum menschlichen Verbesserungsbemühens zu erweitern, bin ich gleichzeitig besorgt über die weitgehende
und etwas naive Erklärungen von Leute wie Fritz Perls."(143)
Die grundlegende Erkenntnis der Gestalttheorie besagt, daß wir aus der
Umgebung aufgenommene Reize immer zu in sich geschlossenen Ganzheiten zusammenfügen.
Die Gestalttheoretiker haben etwa 100 Gesetze entdeckt, nach denen
menschliche Wahrnehmung erfolgt. Diese Gesetze werden auch "Gestaltfaktoren" genannt. Sie sind bei der Erforschung der optischen
Wahrnehmung entdeckt worden.
Dabei fällt besonders die "Tendenz zur Bildung guter Gestalten" auf. Diese
Tendenz kann man an zwei Phänomenen besonders gut beobachten.
Erstens neigen die Menschen dazu, all diejenigen Dinge ihres Erlebens zu
einer Gestalt zusammenzuschließen, die in einem Zusammenhang zueinander stehen und dadurch eine bestimmte Ordnung ergeben, die sich von
anderen Ordnungen abgrenzt.
Zweitens neigen wir Menschen dazu, gestörte oder unvollständige
Gestalten zu vervollkommnen.
Der Gestaltpsychologe Wolfgang Metzger sagt dazu: "Der Drang, Gestörtes in Ordnung zu bringen und bei Unentwickeltem Geburtshelfer zu
sein, gehört zweifellos zu den tiefsten Triebanlagen im Menschen."(144)
Die Art und Weise wie diese menschliche Neigung wirkt, wird durch die
Gestaltgesetze aufgezeigt. Das Gesetz der Nähe und das Gesetz der
Gleichartigkeit besagen beispielsweise, daß diejenigen Elemente zusammengeschlossen werden, die sich sehr nah oder sehr ähnlich sind. In einer
Anzahl kreisförmig angeordneter Punkte oder in einer kreisförmig gezogenen Linie, deren Endpunkte sich nicht berühren, erkennen nahezu alle
Menschen einen Kreis. Das bedeutet, die unfertige Figur wird zu einer
sinnvollen Ganzheit zusammengefügt.
Experimentell kann man die Tendenz zur Bildung guter Gestalten auch
dadurch demonstrieren, daß man eine Versuchsperson bei der Ausübung
von geschlossenen Handlungsabläufen unterbricht. Die Versuchsperson
zeigt danach eine außerordentlich starke Tendenz, die unterbrochene
Handlung wieder aufzunehmen und abzuschließen, auch wenn der Versuchsleiter dies ausdrücklich verbietet. Die Gestalttheorie gehört zu einer
(143)
Metzger, W. - zit. in: Walter, 1979, a.a.O. - S. 46
Metzger, W., Was ist Gestalttheorie? in: Guss, Gestalttheorie und Erziehung,
Darmstadt, 1975 - S. 1
(145) Stevens, J., Die Kunst der Wahrnehmung, München, 1975
(144)
120
Gruppe von wissenschaftlichen Ansätzen, die in anderen Wissenschaften
andere Bezeichnungen haben. In der Physik ist die Feldtheorie und in der
Biologie die Systemtheorie bekannt. Die Unterschiede liegen hauptsächlich
im Gegenstand der Erforschung.
In der Physik ist es die unbelebte Natur, in der Biologie die lebendige
Natur und in der Psychologie das menschliche Erleben und Verhalten.
"Die theoretische Frage ist überall dieselbe. Es ist durchweg die Frage nach
der Ordnung, - die Frage nach der Art und Weise, wie etwa die Ordnung
des Aufbaues (der Struktur) verhältnismäßig beständiger Gebilde, die
Ordnung von Geschehensabläufen und besonders auch die Ordnung des
Zusammenspiels der zahlreichen Funktionen innerhalb eines komplexen
beständigen Gebildes - z.B. eines Organismus - zustande kommt, erhalten
bleibt und bei Störungen wiederhergestellt wird."(145)
Die Gestaltgesetze der Gestaltpsychologie sind für die Gestaltarbeit von
besonderer Bedeutung. Zusammenfassend handelt es sich um folgende
Prinzipien.
(146)
Rahm, Dorothea - a.a.O. - S. 165
Fehler! Textmarke
121 nicht definiert.
a)
Das Prinzip der Ganzheitlichkeit
Dieses Prinzip besagt, daß das Ganze mehr und etwas anderes ist, als
die Summe seiner Teile. Dem folgend sieht die Gestalttherapie den
Menschen als Geist-Leib-Seele-Einheit, die nicht in Einzelbereiche
zergliedert und bearbeitet werden kann. Ebenfalls wird der Mensch
in seinem Umfeld als Einheit betrachtet, so daß der Mensch nicht aus
seinem Umfeld gelöst verstanden werden kann.
b)
Das Figur-Hintergrund-Prinzip
Gestalten heben sich als abgesonderte, umgrenzte, gegliederte,
möglichst einheitliche und geschlossene Bereiche (Figuren) jeweils
von einem unstrukturierten Grund ab, wobei ein Umkippen oder
Verschieben von Figur und Grund stattfinden kann. Für die Gestaltarbeit bedeutet dies, daß stets mit dem im Vordergrund Stehenden (Figur) gearbeitet wird, wobei allerdings Figur und Grund kippen können und Figur zum Grund wird und umgekehrt.
c)
Die Tendenz zur Bildung guter Gestalten
Wie oben erwähnt, wohnt dem Menschen die Tendenz zur Bildung
"guter Gestalten" inne. Diese Tendenz wird von der Umwelt beeinträchtigt, gestört oder verhindert. In der Gestalttherapie schließlich soll es dem Klienten ermöglicht werden, solch unabgeschlossene
Gestalten nachträglich zu schließen. Die Tendenz zur Schließung
offener Gestalten können wir auch als eine Tendenz dazu verstehen,
unerledigte oder unklare Situationen zu erledigen oder zu klären.
Unter die Tendenz zur Bildung guter Gestalten fallen neben der
Tendenz zur erwähnten Schließung von offenen Gestalten noch
weitere Prinzipien:
Das Prägnanzprinzip bewirkt, daß unklare Gestalten deutlich werden.
Das Konstanzprinzip besagt, daß gute Gestalten auch unter veränderten Bedingungen als solche wahrgenommen werden.
Das Kontinuitätsprinzip beschreibt, wie gute Gestalten dazu tendieren, sich dauerhaft fortzusetzen.
Das Homöostaseprinzip führt dazu, daß Zustände des Ungleichgewichts dazu tendieren, sich wieder in ein Gleichgewicht zu regulieren.
122
6.62 Konzepte
Aus den oben beschriebenen Quellen leiten sich die Konzepte der Gestalttherapie ab:
6.621 Awareness
Ein zentrales Konzept der Gestalttherapie ist mit dem Awareness-Begriff
verbunden. In der deutschen Sprache übersetzt man diesen Begriff am
günstigsten mit "wacher aufmerksamer Bewußtheit".
"Es handelt sich um einen Zustand aufmerksamer Wachheit gegenüber den
Dingen, die im jeweiligen Augenblick hier und jetzt in mir, mit mir und
um mich herum vorgehen. Gegenüber dieser gespannten Wachheit ist das
Wachsein, in dem wir gewöhnlich leben, getrübt, gedämpft und in seiner
Wahrnehmungskapazität eingeschränkt."(146)
Awareness umfaßt drei Ebenen:
Interne Awareness (Selbstbewußtsein bzw. Selbstwahrnehmung)
Externe Awareness (Wahrnehmung des Anderen und der Umwelt)
Meditative Awareness (Wahrnehmung eigener Phantasietätigkeit und
Vorstellung)
Ziel der Gestaltarbeit ist es, dem Klienten zu ermöglichen, seine Awareness
zu steigern, um sich selbst, die Welt in der er lebt und das Zusammenspiel
zwischen Selbst und Welt, bewußter wahrnehmen zu können.
Bewußte Wahrnehmung ist nur in der unmittelbaren Gegenwart, im Jetzt
möglich. Durch Interventionen wie: "Wie erleben Sie das jetzt?" oder:
"Was fühlen Sie gerade?", wird der Klient aufgefordert, sich im Hier und
Jetzt bewußt wahrzunehmen. In diese bewußte Wahrnehmung wird auch
der gesamte Körper des Klienten miteinbezogen.
"Die Gestalttherapie geht davon aus, daß allein die Intensivierung von
Awareness schon therapeutische Wirkung haben kann."(147)
(147)
(148)
Perls, Fritz, 1976 - a.a.O. - S. 49
Perls, 1976 - a.a.O. - S. 53
Fehler! Textmarke
123 nicht definiert.
6.622 Hier und Jetzt
In enger Verbindung mit dem Awareness-Konzept steht das Hier-und-JetztKonzept. Nur die Wahrnehmung des Gegenwärtigen führt zu einer
Erhöhung der Bewußtheit. Indem der Klient dazu veranlaßt wird, im Jetzt
zu bleiben, kann der Kontakt mit den Empfindungen gelingen. Das
Verlassen der Hier-und-Jetzt-Situation führt beim Klienten zu kognitiven
Vorgängen, wie zum Beispiel dem Durchdenken von Vergangenem oder
dem Planen von Zukünftigen. Diese Vorgänge haben zwar auch ihren
Platz, werden aber im Zentrum therapeutischen Geschehens als Vermeidungsmechanismen definiert. Durch die Zentrierung auf das Hier-undJetzt können Vergangenes und Zukünftiges gefühlt, d.h. erlebt werden. Und
nur das Durchleben vergangener Konfliktsituationen hat heilende Wirkung,
nicht das darüber Nachdenken.
Vergangenheit und Zukunft werden also in der Gestalttherapie trotz der
Betonung des Hier-und-Jetzt nicht ausgeschlossen. Situationen aus der
Vergangenheit werden im gegenwärtigen Prozeß neu erlebbar gemacht.
Das Darüberreden wird in der Gestaltarbeit durch das Erleben mit Empfindungen und Bewußtheit im Hier-und-Jetzt ersetzt.
Im Anschluß an einen Prozeß, indem dieses Erleben im Mittelpunkt stand
und zu einem Abschluß gebracht wurde, wird auch in der Gestalttherapie
das Erlebte kognitiv reflektiert und auch evtl. über Vergangenes nachgedacht.
6.623 Vermeidungsmechanismen
Der Zustand wacher Bewußtheit im Hier-und-Jetzt wird durch verschiedene Störfaktoren verhindert. Diese Störfaktoren stammen aus der Vergangenheit des Menschen. Es handelt sich dabei um nicht-abgeschlossene
Situationen, also um sog. offene Gestalten, die das Individuum daran hindern, die Gegenwart unvoreingenommen wahrzunehmen. Für Perls ist die
unerledigte Situation der Ursprung der Neurose. Unerledigte Situationen
ereignen sich und entstehen an der Kontaktgrenze zwischen Mensch und
Umwelt. An der Kontaktgrenze geschieht die Balance zwischen den persönlichen Bedürfnissen des Menschen und den Anforderungen der Gesellschaft. Wenn der Mensch nicht dazu in der Lage ist, die Balance zwischen
seinen Bedürfnissen und den Anforderungen aus der Umwelt herzustellen,
entstehen neurotische Störungen. "Traumatische Neurosen sind im
wesentlichen Verteidigungsstrukturen, entstanden aus dem Versuch des
124
Individuums, sich vor einem überaus schrecklichen Überfall der Gesellschaft oder einem Zusammenprall mit der Umwelt zu schützen."(148)
Aus diesem Konflikt entstehen Mechanismen, die dem Individuum zukünftig dazu verhelfen sollen, ähnlich dramatische Erfahrungen nicht mehr
machen zu müssen. Diese Vermeidungsmechanismen führen nun dazu, daß
die Realität so gesehen wird, wie sie für das Individuum keine
vermeintliche Gefahr mehr darstellt. Es handelt sich also um eine neurotische verzerrte Sicht der Wirklichkeit. Für diese neurotischen Mechanismen hat die Gestalttherapie eine gebündelte Typologie entwickelt. Sie
heißen:
Introjektion; Projektion; Retroflektion; Konfluenz.
Diese Vermeidungsmechanismen verhindern, daß der Mensch der Welt
offen und wach gegenübersteht. Es tritt also gewissermaßen eine Trübung
der Bewußtheit (Awareness) ein. Wegen dieser Trübung der Awareness
durch die Vermeidungsmechanismen, wird im individuellen Entwicklungsprozeß die Bildung "guter Gestalten" andauernd gestört. Um das Wachstum
und die Tendenz zur Bildung guter Gestalten für den Klienten zu ermöglichen, versucht die Gestalttherapie diese Vermeidungsmechanismen, soweit
das für den Klienten möglich ist, aufzudecken und zu beseitigen. Im
Folgenden werden diese Vermeidungsmechanismen in knapper Form vorgestellt. Das für die Sozialarbeit so zentrale Introjektionskonzept wurde
oben bereits ausführlich behandelt.
Introjektion:
Hierbei werden externe Vorstellungen, Wünsche und Werte unreflektiert
und unkritisch aufgenommen. Das externe Material ist ein Fremdkörper im
Organismus, da es nicht assimiliert, also nicht zu eigen gemacht ist.
"Introjektion ist also der neurotische Mechanismus, mit dem wir in uns
Regeln, Einstellungen, Handlungs- und Denkweisen ansiedeln, die nicht
unsere eigenen sind."(149)
Projektion:
"Der Projektor lehnt bestimmte Aspekte seiner selbst ab und schreibt sie
der Umwelt zu."(150)
(149)
Polster, Ering und Miriam, Gestalttherapie, München, 1975 - S. 77
(150) Polster, a.a.O. S. 98
(151)
Bünting, Wolf E., Die Gestalttherapie des Fritz Perls in: Eicke, Dieter, Psychologie des 20. Jahrhunderts (Bd. III/2), Zürich, 1977 - S. 1056
(152)
Petzold, 1974, zit. in: Petzold/Sieper, Quellen
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125 nicht definiert.
Es handelt sich dabei quasi um die Umkehrung der Introjektion. Während
der introjezierende Mensch dazu neigt, sich für Dinge verantwortlich zu
fühlen, die eigentlich Sache der Umwelt sind, ist die Projektion hingegen
eine Tendenz, die Umwelt für das verantwortlich zu machen, was im Selbst
begründet liegt.
Sichtbar wird der Projektionsmechanismus häufig auf sprachlicher Ebene.
Hier schlägt er sich in einem häufig depersonalisierten Sprachstil nieder,
wie z.B. dem häufigen Gebrauch von "man" u.ä.
Gewöhnlicherweise handelt es sich bei Projektionen um Introjekte, die zur
Projektion führen.
Typische Beispiele dafür sind die sexuell gehemmte Frau, die sich darüber
beklagt, daß alle Männer sich ihr unsittlich nähern, und der hochmütige und
kalte Mann, der die Unfreundlichkeit der anderen beklagt.
Besonders häufig werden persönliche Eigenschaften, die der Einzelne an
sich selbst ablehnt, in anderen Menschen gesehen und dort bekämpft.
Retroflektion:
Der retroflektierende Mensch tut sich selbst das an, was er am liebsten den
anderen antäte.
Für ihn ist das einzig ungefährliche Objekt im Felde er selbst. Er lenkt
seine Impulse nach innen und macht sich selbst, anstelle der Umwelt, zum
Ziel seines Verhaltens. Seine Persönlichkeit ist in einen Handelnden und
einen Behandelnden gespalten. Wünsche, die an andere gerichtet werden,
ohne daß sie erfüllt werden, erfüllt sich der retroflektierende Mensch selbst.
Dadurch, daß er systematisch den eigenen Körper quält, ruft er psychosomatische Beschwerden hervor. Über diesen Weg gelingt es dem Retroflektierenden dann doch noch auf seine Umwelt einzuwirken. Denn auf
indirektem Wege erreicht er durch den Eindruck, den seine Befindlichkeit
auf seine Mitmenschen macht, daß die unmittelbare Umwelt sich ihm
zuwendet.
Ein gutes Beispiel dafür gibt uns das Bild der Mutter, die jedesmal, wenn
ihr Kind etwas getan hat, was nicht in ihrem Sinne liegt, Herzschmerzen,
Gallenkoliken usw. bekommt. Durch das Schuldgefühl, welches sie im
Kinde auslöst, erfährt sie auf diesem Wege wieder dessen Zuneigung und
Reue.
126
Konfluenz:
Konfluenz ist der Wunsch und das Bemühen nach weitgehender Übereinstimmung mit der Umwelt, der konfluente Mensch ist bestrebt, Unterschiede zu vermindern und sich zu arrangieren.
Da die Konfluenz auf der Unterdrückung von eigenen Persönlichkeitsanteilen beruht, ist sie eine sehr schwache Basis für zwischenmenschliche
Beziehungen. Beziehungen können daher nur zwischen Partnern entstehen,
die sich darauf geeinigt haben, nicht miteinander zu streiten. In der Regel
paßt sich der konfluente Partner stets den Wünschen und Forderungen des
anderen Partners an.
In ähnlicher Weise ist der konfluente Mensch stets darauf bedacht, eine
einseitige Übereinkunft mit der Gesellschaft zu treffen; "er wird sich gut
benehmen, sich anpassen, all die Dinge tun, von denen er annimmt, daß die
Gesellschaft sie erfordert. Er wird nicht einmal Gedanken aufgreifen oder
Ziele verfolgen, die die Gesellschaft nicht billigt oder fördert."(151)
Deflektion (Polster/Polster):
Polster/Polster erweitern die vier von Perls beschriebenen Vermeidungsmechanismen durch einen fünften; die Deflektion. Deflektierende Menschen entziehen sich dem direkten Kontakt mit ihren Mitmenschen. Dies ist
gekennzeichnet durch Verhaltensweisen wie Weitschweifigkeit, übertriebene Ausdrucksweise, scherzhaften Ton ohne Blickkontakt, nicht zur
Sache kommend, schlechte und nichtssagende Beispiele anführend, höflich
statt direkt, stereotype Sprache, ständig über zurückliegende Ereignisse
lamentieren usw.
Alle diese Deflektionsmechanismen führen zur Verwässerung gegenwärtiger Interaktion. Dadurch, daß es nicht zu effektiven Interaktionsprozessen
kommt, verfehlen die Handlungen ihr Ziel.
"Die Reaktion des Ehemannes: >Ach Liebling, nun laß uns doch einmal
vernünftig reden< auf den Wutausbruch der Ehefrau ist eine typische
Deflektion."(152)
Kreativer Widerstand
Die oben beschriebenen Mechanismen sind nicht in jedem Falle
"neurotisch". Im Gegenteil, sie können auch kreative und wachstumsfördernde Aspekte enthalten, und sie gehören in jedem Falle zum Verhaltensrepertoire im Umgang mit gesellschaftlichen Strukturen.
(153)
(154)
Perls, 1976, a.a.O. - S. 34
Portels, Gerhard, Zur Prophylaxe von Neurosen - eine gestalttherapeutische
Perspektive in: Integr. Therapie - 2-3/1983 - S. 183
Fehler! Textmarke
127 nicht definiert.
Neurotisch sind diese Mechanismen nur dann, wenn sie unbewußt die
Kontaktgrenze zur Umwelt verleugnen, überspielen oder entschärfen und
dadurch die Entfaltung der Person im Kontakt mit der Umwelt behindern,
weil Objekte aus der Umwelt nicht wahrgenommen, aufgenommen oder
assimiliert werden.
Kreative Introjektion ist beispielsweise das bewußte Auswendiglernen
von Daten und Fakten.
Kreative Projektion verhilft uns dazu, uns in andere hineinzuversetzen
(Rollenspiel, Schauspieler, Schriftsteller, Therapeuten).
Kreative Retroflektion kann Selbstbefriedigung und Selbstkontrolle bedeuten.
Kreative Konfluenz ermöglicht die volle Hingabe im Orgasmus oder die
Harmonie im Orchester.
Kreative Deflektion ermöglicht uns durch "Small Talk" die Umwelt auf
Distanz zu halten.
6.63 Die Kontaktgrenze
Eine zentrale Grundannahme in der Theorie von Fritz Perls bezieht sich auf
eine These von Kurt Lewin, die besagt, daß jedes Handeln eine Funktion
des totalen Feldes ist, also von Organismus und Umwelt.
Die Bedeutung der Gestalttherapie für die Sozialarbeit geht aus dieser
Grundannahme hervor:
"Kein Individuum ist sich selbst genug; das Individuum ist unvermeidlich
in jedem Augenblick Teil eines Feldes. Sein Verhalten ist eine Funktion
des ganzen Feldes, das ihn und seine Umwelt einschließt."(153)
Da insbesondere Paul Goodman, aber auch Perls, immer wieder darauf
hingewiesen haben, daß das Leiden der Menschen seinen vielfachen Ursprung in gestörten und krankmachenden Umweltbedingungen hat, stellt
sich für eine sozialtherapeutisch ausgerichtete Gestaltarbeit stets die Frage,
wie kann sich der Organismus vor schädlichen Einwirkungen des Feldes
schützen, und wie kann das Feld dergestalt beeinflußt werden, daß es
anstatt schädigend zu wirken, förderlich auf das Individuum einwirkt.
Zwischen Feld und Organismus besteht eine Kontaktgrenze. Kontakt muß
dabei als Wahrnehmung und Verarbeitung des anderen verstanden werden.
(155)
Perls, 1976, a.a.O. - S. 34
(156) Portels, Gerhard, Zur Prophylaxe von Neurosen - eine gestalttherapeutische
Perspektive in: Integr. Therapie - 2-3/1983 - S. 183
(157) Merleau-Ponty, zit. in: Petzold/Siepel, a.a.O. - S. 30
128
Kontakt ist kein Zustand sondern ein Tätigkeit. Das Individuum macht
Kontakt, nimmt Kontakt auf, oder das Andere, das Fremde und
Verschiedene nimmt Kontakt zum Individuum auf. Dabei ist die Kontaktgrenze keine starre Grenzlinie, sondern sie kann flexibel sein, also beispielsweise im Körperinneren liegen oder hinter tatsächlichen Grenzen,
Gartenzäunen, Mauern usw.
Die Fähigkeit, diese Flexibilität zu handhaben und über Nähe und Distanz
jeweils zu entscheiden, ist eine Funktion des Ichs. Die Kontaktgrenze ist
gleichzeitig der Ort der Berührung und der Trennung.
Für Fritz Perls gilt auch für die Beziehung zwischen Organismus und
Umwelt das Modell von Hunger und Nahrungsaufnahme. Zum einen kann
das Fremde und Andere aus der Umwelt wie Nahrung aufgenommen
werden. Es wird gekaut, geschluckt, verdaut und dient zum Aufbau und
Wachstum des Organismus. Bei anderen Gelegenheiten wird das Neue
vermieden und es kommt zum Rückzug.
Da es soziale Welten gibt - oder auch Institutionen - die entweder
"nahrhaft" oder "vergiftend" für den Organismus sein können, wird es für
das Individuum bedeutsam, mit welchen sozialen Welten es in Kontakt
steht. Diese sozialen Welten (Felder) sind jedoch für das Individuum nicht
beliebig verfügbar und so sind unterschiedliche Menschen auch mit mehr
oder weniger schädigenden Feldern in Kontakt (Ein Asylbewerber kann
beispielsweise nur unter sehr erschwerten Bedingungen förderlichen
Kontakt aufnehmen.). Die gestalttherapeutische Neurosentheorie versteht
Neurosen als Probleme an der Grenze zwischen Ich und Umwelt, also an
der Kontaktgrenze. Die Umwelt besteht beispielsweise aus anderen Individuen, den Institutionen, aus der Gesellschaft und der Welt. Neurosen sind
Probleme im Kontakt damit. Es handelt sich also um Kontaktprobleme im
weitesten Sinne, wobei Kontakt kein Zustand ist, sondern eine Tätigkeit.
Bei Menschen mit neurotischen Störungen ist die Fähigkeit, Kontakt mit
oder Rückzug von der Umwelt vorzunehmen, gestört. Demzufolge handelt
es sich bei Neurosen um Störungen der Balance im Organismus/UmweltFeld. Da die Gestalttherapie in der Vergangenheit nahezu ausschließlich als
"humanistische Psychologie" verstanden wurde, sind diese Konflikte
naturgemäß psychologisch angegangen worden, d.h. man hat das Problem
beim Individuum gesehen und am Ich angesetzt. Gestalttherapie sah aber
schon immer die drei Möglichkeiten der Veränderung: 1. Veränderungen
beim Individuum, 2. Veränderung bei der Umwelt, und 3. Veränderung im
Individuum/Umwelt-Feld. Viele gestalttherapeutische Schulen haben in der
Vergangenheit nur beim Ich angesetzt.
Fehler! Textmarke
129 nicht definiert.
"Dies ist eins der folgenreichsten Mißverständnisse, das der humanistischen Psychologie und der Gestalttherapie zum Teil zu Recht den Vorwurf
eingehandelt hat, zu >überpsychologisieren und zu untersoziologisieren<,
daß die Anhänger - genauer die falschen Anhänger - nur noch in sich
hineinhorchen und dabei den Kontakt mit der Umwelt verlieren, also
selbstgenügsam werden. Dies ist eine andere Ausprägung von Neurose im
Sinne von Perls."(154)
Für die Sozialarbeit eröffnet sich hier die Möglichkeit, den alten Konflikt,
Probleme zwar gesellschaftlich zu begreifen, den Einzelnen aber in seiner
individuellen Not zu erleben, zu überwinden. Indem Konflikte an der
Kontaktgrenze zwischen Individuum und Institution behandelt werden,
kann die Veränderung sowohl auf das Individuum, als auch auf das
institutionelle Gesamtgefüge einwirken. Also auf das individuelle Über-Ich
und die institutionelle Organisation.
6.7
Anthropologische Konzepte gestaltpädagogischen Handelns
Das (päd)agogische Handeln der Gestalttherapie entspringt der folgenden
anthropologischen Grundformel:
"Der Mensch ist ein Leib-Geist-Seele-Subjekt in einem sozialen und ökologischen Umfeld, mit dem er in einem unlösbaren Verbund steht. In Interaktion mit diesem Umfeld gewinnt er seine Identität."(155)
Die nachfolgende Darstellung stützt sich im wesentlichen auf die Ausführungen von H. Petzold und J. Sieper.
Leib-Subjekt, Umfeld, Identität
Der Mensch wird als Ganzheit in seinem Lebensraum betrachtet. Sowohl
die Einheit von Leib und Geist, als auch die Einheit von Mensch und
Umwelt können nicht getrennt werden. Die Umwelt wirkt gestaltend auf
den Menschen, und der Mensch wirkt gestaltend auf die Umwelt. In der
Interaktion der Geist-Leib-Seele-Einheit des Menschen mit der Umwelt
wächst seine Identität. Die Identität besteht in dem Geist-Leib-Seele-Sein
und dem In-der-Welt-Sein. Gestaltpädagogisches Ziel ist die Förderung
von personaler und sozialer Bewußtheit (Awareness).
(158)
(159)
Knoll, Andreas, Gruppensupervision - Vom psychoanalytischen Ansatz zum
Gestaltansatz - Diplomarbeit, 1979, überarb,. Fassung aus meiner Diplomarbeit
Petzold, Hilarion, Gestaltpädagogik - S. 7 in: Petzold/Brown, a.a.O.
130
Integration und Kreation
Die Identität wird bestimmt durch Integration und Kreation. Integration
bedeutet die bewußte Wahrnehmung (Awareness) der Wirklichkeit.
Kreation ist die Schaffung von Wirklichkeit durch bewußtes Handeln. Integration bewahrt die Identität, während Kreation Wachstum und Identitätserweiterung bedeutet. Gestaltpädagogisches Ziel ist daher die Förderung von Integrations- und Kreationsfähigkeit.
Lernen als Evidenzerfahrung
Erfahrung und Lernen geschieht auf körperlicher, emotionaler und rationaler Ebene gleichermaßen. Durch diese ganzheitliche Erfassung werden
Lernerfahrungen einsichtiger und nachhaltiger. In Evidenzerfahrungen
erlebt sich der Mensch bewußt in sich und der Welt. Ziel dieses ganzheitlichen Lernens ist, daß der Mensch sich und seine Umwelt komplex vernetzt wahrnimmt, was zur Selbst-Verständlichkeit seines Da-Seins und
Mit-Seins führt.
Agogik aus der Begegnung
Die Identität entwickelt sich aus der Begegnung mit dem Anderen und den
Dingen der Welt. Die Begegnung zwischen dem Ich und dem Du hat in der
Gestaltpädagogik und integrativen Agogik große Bedeutung. Bedeutenden
Einfluß auf das Konzept der Begegnung hatten die Philosophen Buber und
Merleau-Ponty sowie als Therapeuten Moreno und Perls. Perls versteht
unter Begegnung die Fähigkeit des Kontaktes und der Grenzziehung.
Begegnung ist auf vier Arten möglich:
1.
Begegnung mit mir selbst
Durch Selbstwahrnehmung begegne ich mir selbst. Die Begegnung
des Menschen mit sich selbst, als "Selbstfindung" verstanden, ist die
Voraussetzung, um anderen begegnen zu können.
2.
Begegnung mit dem Du, dem anderen Menschen
Erst durch die Begegnung mit den Mitmenschen verwirklicht sich
das Menschsein. Begegnung ermöglicht Identität.
3.
Begegnung mit den Dingen
Die Dinge gehören zum Umfeld, das den Menschen umgibt. Die
Begegnung mit den Dingen kann zur Identität und Integration in und
mit dem Umfeld führen. In der Beziehung zu belebten und unbelebten Dingen erfährt der Mensch seine ökologische Allverbundenheit.
4.
Begegnung mit der Transzendenz
Fehler! Textmarke
131 nicht definiert.
Die drei oben beschriebenen Begegnungsweisen beinhalten stets die
Möglichkeit der Transzendierung. Dadurch, daß der Mensch sich in
seinem Leib, im Anderen und in den Dingen erlebt, kann er dabei
auch eine übergeordnete Zugehörigkeit erleben. "Weil das Sein nicht
vor mir ist, sondern mich umgibt und in einem gewissen Sinne mich
durchdringt, und meine Sicht nicht von anderswoher geschieht,
sondern aus der Mitte des Seins."(156)
Ziel der Gestaltpädagogik ist die Förderung Begegnungsfähigkeit des
Menschen auf diesen vier Ebenen.
Engagement und Integrität
Engagement beinhaltet Partizipation, Intersubjektivität, Solidarität, Verantwortung und Korrespondenz. Das bedeutet weiterhin, daß der Mensch
sich entschließt, in seiner konkreten Situation zu handeln. Die Entscheidung ist stets wert- und zielorientiert, da sie personen- und situationsbezogen getroffen wird. Das Engagement hat die Integrität (Ganzheit, Unversehrtheit) des Selbst, des Anderen und der Dinge zu wahren.
Synopse, Synergie und Korrespondenz
Grundlage dieses Konzeptes ist das gestalttheoretische Ganzheits- bzw.
Übersummationstheorem.
Das Synopseprinzip (Zusammenschau) besagt, daß nicht die einzelnen
Teile, sondern die Ganzheit des Menschen, der Dinge und Situationen zu
erfassen sind.
Das Prinzip des Zusammenwirkens (Synergieprinzip) bezieht sich sowohl
auf das personale als auch auf das soziale System. Synopse und Synergie
vollziehen sich in der Korrespondenz.
Mit Korrespondenz wird die persönliche und direkte Auseinandersetzung
in und über konkrete Situationen bezeichnet.
Kreative Anpassung und kreative Veränderung
Unter kreativer Anpassung wird die Fähigkeit verstanden, sich adäquat den
Gegebenheiten anzupassen, ohne die eigene und/oder fremde Integrität zu
schädigen.
Da Anpassung immer die Gefahr der Stagnation beinhaltet, wie kreativ sie
auch sein mag, wird dieses Konzept durch den Gedanken von der kreativen
(160)
Heidegger, Martin, Sein und Zeit - S. 27, Tübingen, 1976
132
Veränderung erweitert. Kreative Veränderung zielt dabei auf Einzelne,
Gruppen und Sozietäten.
Agogik im Lebensganzen
Bildung wird als lebenslanger Prozeß verstanden. Die Fragmentierung
verschiedener Bildungsläufe entsprechend unterschiedlicher Lebensabschnitte widerspricht der Auffassung der integrativen Agogik vom Lebenslauf als Lebensganzem.
6.8
Phänomenologie - wissenschaftstheoretische und philosophische
Grundlage der Gestalttherapie(157)
"Die Gestalttherapie selbst hat ihre Wurzeln in der Psychoanalyse, der
Gestalttheorie und im existentialistisch-phänomenologischen Denken."(158)
Der existentialistisch-phänomenologische Ansatz ist auf die praktische
Wirklichkeit des menschlichen Miteinander der französischen Schule verpflichtet. Keine vom Alltag abgehobene Philosophie, sondern Konzepte
von Intersubjektivität, schöpferischer Freiheit und Menschenwürde sind
handlungsleitend.
Das Fundament, auf dem die existentialistische Weltanschauung beruht, ist
die Phänomenologie, die Husserl um die Jahrhundertwende entwickelte.
Die Maxime der Phänomenologie kann als "zu den Sachen selbst"(159)
beschrieben werden.
Zum besseren Verständnis des Phänomenologiebegriffs erscheint mir die
Beschreibung der Methode zunächst als am anschaulichsten.
(161)
Heidegger, Martin, Sein und Zeit - S. 27, Tübingen, 1976
(162) Husserl, zit. in: Braun/Radermacher, Wissenschaftstheoretisches Lexikon,
Graz/Linz/Köln 1978 - S. 410
(163)
Merleau-Ponty, zit. in: Klaus/Buhr, Philosophisches Wörterbuch - S. 830, Berlin
(DDR), 1972
(164)
Merleau-Ponty, Vorlesungen I - S. 192 ff, Berlin, 1972
Fehler! Textmarke
133 nicht definiert.
6.81 Wissenschaftstheoretische Definition
des Phänomenologiebegriffs
"Zu den Sachen selbst." Der Ausdruck "Sachen" ist im weitesten Sinne zu
verstehen, also für Dinge, Werte, Phänomene menschlichen Lebens usw.
Die meisten Menschen sind nicht fähig zum phänomenologischen Sehen,
da für sie die "Sachen" hinter ihren eigenen Vorurteilen und Selbstverständlichkeiten des Lebens verborgen liegen.
Dies trifft nicht nur auf einzelne Menschen zu, sondern auch auf wissenschaftliche Disziplinen. Oft bestimmt in den Wissenschaften ja die Forschungsmethode das Forschungsziel. Das macht blind für die Erforschung
andersgearteter "Sachen". Durch die Forderung "zu den Sachen selbst",
kann postuliert werden, daß die jeweiligen Voraussetzungen verlassen
werden müssen, damit jeweils andersgearteten "Sachen" erforscht werden
können. Multidisziplinarität ist ein Versuch, diesem Postulat Rechnung zu
tragen.
Zur Zeit Husserls war die Psychologie ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie eine Wissenschaft nicht in der Lage war, auf Grund einer
naturwissenschaftlichen Sicht der "Sachen", das menschliche Bewußtseinsleben in den Blick zu bekommen. Diese Kritik wird auch heute noch
vielfach von ganzheitlich orientierten Disziplinen geübt.
Allgemein ausgelegt gehört die Phänomenologie jedem selbstkritischen
Denken an.
Da die Phänomenologie jedoch eine charakteristische Lehre vom Erkennen
vertritt, muß weit über die allgemeine Sicht hinausgegangen werden. Es
handelt sich nämlich um eine Lehre vom Erkennen. Erkennen ist dabei ein
Schauen im weitesten Sinne.
Dabei kann nicht nur sinnlich Wahrnehmbares geschaut werden, sondern
auch Sachverhalte, ideal und abstrakte Gebilde, mathematische Größen
oder geistige Gegebenheiten, wie Werte u.ä,
Der Begriff "Schau" wird auch mit dem Terminus "Intuition" besetzt.
Mit dem Begriff "Evidenz" wird eine Berufungsinstanz für die Intuition
eingeführt. Der Evidenzbegriff deutet darauf hin, daß es eine Auffassung
gibt, der zufolge das menschliche Leben danach strebt, Erfüllung durch
Schauen zu erzielen.
134
Aus der Lehre vom Erkennen entstehen zwei Grundbegriffe:
1.
Geschaut wird das Gegebene.
Dabei taucht die Schwierigkeit auf, daß das subjektive Erkennen auf
objektives "Ansichseiendes", also schon auf Transzendenz treffen
kann. Dem begegnet die Phänomenologie mit der verblüffenden und
in der Gestalttherapie wiederkehrenden Erkenntnis: "Was sich mir in
einer Anschauung als gegeben zeigt, das bin ich in den Grenzen, in
denen es sich mir darbietet, hinzunehmen berechtigt."(160)
2.
Im Schauen wird das Gegebene in seinem Wesen erkannt. Die Anschauung zielt auf das Wesen des Gegebenen. Die Wesensschau ist
zugleich häufiger Kernpunkt, wie auch Streitpunkt der Phänomenologie. Die eidetische Variation ist die von Husserl entwickelte
Methode der Wesensschau, die den Weg der Gewinnung des Wesens
nach einzelnen Schritten von einem Ausgangspunkt aus genau
angibt.
In der Phänomenologie kommt es also darauf an zu beschreiben, nicht
zu erklären oder zu analysieren.
In seinen frühen Werken gab Hussel der Phänomenologie die Aufgabe,
beschreibende Psychologie zu sein.
"Ich bin nicht das Ergebnis oder der Kreuzungspunkt der vielfachen Kausalitäten, die meinen Körper oder mein Psychisches bestimmen, ich kann
mich weder als einen Teil der Welt denken, als ein einfaches Objekt der
Biologie, der Psychologie und der Soziologie, noch mich ganz im Universum der Wissenschaften erschöpfen. Alles was ich von der Welt weiß,
selbst durch die Wissenschaft, weiß ich von meiner Sicht oder meiner Erfahrung der Welt aus, ohne welche die Symbole der Wissenschaft keinen
Sinn besäßen ... Die Wissenschaft hat nicht und wird niemals den gleichen
Daseinssinn haben, wie die wahrgenommene Welt, aus dem einfachen
Grunde, weil sie eine Bestimmung oder Erklärung der Welt ist. ... Zu den
Sachen selbst zurückkehren, heißt, zu dieser Welt vor aller Erkenntnis
zurückkehren, von der die Erkenntnis immer spricht, und im Verhältnis zu
der jede wissenschaftliche Bestimmung abstrakt, zeichenhaft und abhängig
ist. Denn: die Welt ist kein Objekt, deren Konstitutionsgesetze ich besitze,
sie ist das natürliche Milieu und das Feld meiner Gedanken und all meiner
ausdrücklichen Wahrnehmungen. Die Wahrheit wohnt nicht nur in dem
inneren Menschen..., oder vielmehr es gibt keinen inneren Menschen, der
(165)
Thomae/Faeger, Einführung in die Psychologie - Bd. 7, Frankfurt, 1969 - S. 156
Fehler! Textmarke
135 nicht definiert.
Mensch ist in der Welt, er kennt sich in der Welt. Wenn ich vom
Dogmatismus des gesunden Menschenverstandes oder vom Dogmatismus
der Wissenschaft aus zu mir selbst komme, treffe ich nicht auf ein Zentrum
innerer Wahrheit, sondern auf ein der Welt hingegebenes Subjekt."(161)
6.82 Die Phänomenologie Merleau-Pontys
Merleau-Ponty versuchte in seinen Arbeiten, die Beziehung zwischen den
wichtigsten psychologischen Arbeitsrichtungen und der Phänomenologie
zu klären. Er setzte sich mit der Tiefenpsychologie, dem Behaviorismus
und der Gestalttheorie auseinander. Der Gestalttheorie mißt Merleau-Ponty
in seinem Werk einen besonderen Stellenwert bei.
Den Behaviorismus lehnt er nicht von vornherein ab, was erstaunen läßt, da
es sich beim Behaviorismus um eine szientistische Psychologie handelt, die
doch im krassen Gegensatz zur abstrakten Philosophie steht, da sie die
philosophische Introspektion zugunsten eines objektivistischen Empirismus
ablehnt.(162)
Merleau-Ponty sieht in der Kritik des Behavioristen Watson an der introspektiven Psychologie die Beschreibung des Menschen, der in dauernder
Auseinandersetzung und Explikation mit und durch die physikalische und
soziale Welt steht. Die hohe Übereinstimmung zwischen Watson und
Skinner mit Merleau-Ponty läßt sich darauf zurückführen, daß all diese
Autoren das Verhalten als Gegenstand der Psychologie anerkannt wissen
wollen. Doch Merleau-Ponty sieht im Verhalten mehr als die von außen
registrierbare und meßbare Bewegung der Behavioristen. Und genau an
diesem Punkt übt er deutliche Kritik am Behaviorismus. Für ihn ist Verhalten eine Struktur, die weder der inneren noch der äußeren Welt allein
angehört. Merleau-Ponty stellt die These auf, Verhalten sei eine Gestalt,
und zwar eine existentielle Gestalt.(163)
Die Behavioristen vertreten das Konstanz-Prinzip, demzufolge jeder objektive Reiz mit einer Empfindung in einer eins-zu-eins Beziehung steht.
Die Gestaltpsychologen wenden dagegen ein, daß Empfindungen nicht von
äußeren Reizen, sondern von dem Verhältnis von Figur zum Grund im
Wahrnehmungsgeschehen abhängen. Die Elemente, die in die Wahrnehmung eingehen, seien zwar bedeutsam aber offen, unbestimmt und
mehrdeutig und nicht von Anfang an geschlossen, bestimmt und eindeutig.
(166)
ibid. S. 157
136
"Wahrnehmung erscheint danach als das Erfassen des immanenten Sinnes
an den Dingen, als Akt des Aufspürens des der Welt schon vor unseren
Interpretation zugehörigen Sinngehaltes."(164)
Im Gegensatz zu den Behavioristen begreift Merleau-Ponty die Wahrnehmung nicht lediglich als einen passiven Akt, sondern als einen Akt, in
dem wir uns mit der Welt auseinandersetzen, die nur teilweise gegeben ist,
da sie stets mehrdeutig ist. Der existentielle Akt der Wahrnehmung ist
demzufolge weder rein rezeptiv noch rein kreativ, vielmehr drückt er unser
grundlegend mehrdeutiges Verhältnis zur Welt aus.
Die Mehrdeutigkeit, in der Merleau-Ponty die Welt sieht, wird auch in
seiner psychoanalytischen Betrachtungsweise sehr deutlich, wo er eine
Vereinigung zwischen Existenz und Geschlechtlichkeit sieht:
"Geschlechtlichkeit und Existenz durchdringen einander; die Existenz
strahlt in die Geschlechtlichkeit, die Sexualität in die Existenz aus, so daß
die Feststellung des Anteils sexueller Motivation für einen bestimmten
Entschluß oder eine gegebene Handlung unmöglich ist. Unmöglich, eine
solche Handlung als >sexuelle bedingt< oder >nicht sexuelle bedingt< zu
charakterisieren."(165)
Merleau-Ponty ist in seiner Philosophie ein Vertreter der Offenheit des
philosophischen Denkens. Der verfestigten Systembildung im philosophischen Denken wird abgesagt. Die existentialistisch-phänomenologische
Position von Merleau-Ponty ist auf die praktische Wirklichkeit des menschlichen Miteinander ausgerichtet und sie stellt folgende Begriffe heraus:
Leiblichkeit, Ich und Du, Intersubjektivität, Sein und Haben, Intuition,
schöpferische Freiheit, Hoffnung, Engagement, Wert und Sinn.
Diese Begriffe kann man gleichzeitig als Leitbegriffe einer Gestalttherapie
begreifen, wie sie sich in Deutschland in den letzten fünfzehn bis zwanzig
Jahren, insbesondere am Fritz-Perls-Institut entwickelt hat.
6.83 Der Phänomenologiebegriff Heideggers
Bei der Erörterung des Heideggerschen Phänomenologiebegriffs gehe ich
nur am Rande auf die aktuelle Heideggerdebatte des Jahres 1989 ein, die
sich vornehmlich mit der Person Heideggers und seiner Rolle im
Nationalsozialismus auseinandersetzte.
Fehler! Textmarke
137 nicht definiert.
Heidegger beschreibt die Phänomenologie als einen Methodenbegriff. "Er
charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser."(166)(S. 26)
Die Phänomene als Solche beschreibt Heidegger als Gesamtheit dessen
"was ans Licht gebracht werden kann" (S. 28). Allerdings sind mit den
Erscheinungen, die sich zeigen, nicht die eigentlichen Phänomene gemeint,
jedoch zeigen sie das Vorhandensein einer Störung an, die sich selbst nicht
zeigt und das eigentliche Phänomen ist. Zwar ist das Erscheinen selbst
nicht das Phänomen, jedoch ist ein Erscheinen "nur möglich auf dem
Grunde eines Sichzeigens von etwas" (S. 29).
Die eigentlichen Phänomene treten also in Form von Erscheinungen auf,
hinter denen sie sich verbergen können. Über die Auseinandersetzung mit
den Erscheinungen gelangt man nun zum eigentlichen Phänomen. Heidegger differenziert und problematisiert den Ausdruck "Erscheinungen"
noch weiter, worauf ich an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingehe.
Heidegger bezeichnet den Phänomenbegriff Kants als einen vulgären Phänomenbegriff, da er unter dem Phänomen das Sichzeigende versteht,
während bei Heidegger das Phänomen sich hinter dem Sichzeigenden
verbirgt. Kant versteht nach Heideggers Auffassung unter dem Sichzeigenden das Seiende.
Der phänomenologische Begriff vom Phänomen geht darüber hinaus. Das
griechische Wort "Logos" weist auf Wahrheit hin. Phänomenologie als die
Wahrheit über die Phänomene? Heidegger weist darauf hin, daß "wahr" im
griechischen Sinne das schlichte Wahrnehmen von etwas ist.
"Und weil die Funktion des Logos (griech.) im schlichten Sehenlassen von
etwas liegt, im Vernehmenlassen des Seienden, kann Logos (griech.)
Vernunft bedeuten" (S. 34). Wenn jetzt die beiden Begriffe Phänomen und
Logos herausgestellt und definiert werden, sagt Phänomenologie: "Das was
sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen
lassen."
Der Begriff Phänomenologie sagt nun etwas über die Methode aus, wie
etwas in dieser Wissenschaft behandelt werden soll.
"Wissenschaft >von< den Phänomenen besagt: eine solche Erfassung ihrer
Gegenstände, daß alles, was über sie zur Erörterung steht, in direkter
Aufweisung und direkter Ausweisung abgehandelt werden muß" (S. 35).
Ziel der Phänomenologie ist es demnach, zu sehen, was sich zunächst und
zumeist gerade nicht zeigt. Das aber, was sich nicht zeigt, gehört dennoch
wesenhaft zu dem, was sich zumeist zeigt, und zwar so, "daß es seinen Sinn
138
und Grund ausmacht" (S. 35). Daran wird deutlich, daß es sich nicht um
irgendein >Seiendes< handelt, sondern um das >Sein des Seienden<, oder
vereinfacht gesagt um das >Wesen der Dinge<.
Daraus ergibt sich, daß der Zugang zur Ontologie (Lehre vom Sein) nur
über die Phänomenologie möglich ist.
Eigentlich wird davor gewarnt, das Heideggersche Denken an die psychologische Betrachtungsweise heranzurücken, denn Heidegger hat seine
Ontologie des menschlichen Daseins deutlich von der Denk- und Arbeitsweise der Psychologie abgerückt. "Die existentiale Analytik des Daseins
liegt vor jeder Psychologie, Anthropologie und erst recht jeder Biologie."
Durch diese Forderung gerät Heideggers Phänomenologie, im Gegensatz
zum auf die praktische Lebenswirklichkeit ausgerichteten Ansatz MerleauPontys, in einen zunehmend elitärer wirkenden Raum.- Dieser elitäre
Anspruch Heideggers mag auch im Zusammenhang mit seiner zweifelhaften Rolle im Nationalsozialismus stehen und stellt den Angelpunkt der
Heidegger-Kritik von 1989 dar.
Heidegger entfernt sich durch die oben zitierte Aussage von der gelebten
Wirklichkeit und erhebt den Anspruch, durch seine "thematische Analyse
des Daseins" eine Erklärung zu liefern, die jenseits aller Psychologie liegt.
Merleau-Ponty hingegen bezieht gerade die gelebte Wirklichkeit in sein
Denken mit ein: "Unser Ziel ist es, ein Verständnis zu gewinnen von den
Beziehungen zwischen dem Bewußtsein - der organischen, der psychologischen oder selbst der sozialen Natur."(167)
6.84 Die Wirkung des phänomenologischen Denkens in der praktischen
Gestalttherapie
Phänomenologie, als wissenschaftstheoretische und philosophische
Grundlage der Gestalttherapie, wirkt sich direkt auf die Praxis der gestalttherapeutischen Intervention aus.
"... wir sind (...) von der linearen Kausalität zum Prozeßdenken, vom
Warum zum Wie übergegangen."(168)
Durch das Wie wird auf die Struktur geschaut. Struktur und Funktion
werden als identisch betrachtet. Wenn die Struktur verändert wird, ändert
sich die Funktion und umgekehrt. "Wenn ihr Wie fragt, schaut ihr auf die
(167)
(168)
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung - S. 202, Berlin, 1966
Heidegger, Martin - a.a.O. - S. 27
Fehler! Textmarke
139 nicht definiert.
Struktur, ihr seht das, was jetzt geschieht, ihr habt ein tieferes Verständnis
des Geschehens." (Perls, 1976)
Warum-Fragen führen im therapeutischen Prozeß lediglich zu Rationalisierungen und Erklärungen und ergeben ein unaufhörliches Nachfragen
nach dem Grund des Grundes des Grundes usw. Die Ereignisse
(Phänomene) sind eben dadurch gekennzeichnet, daß sie durch viele
"Ursachen" überdeterminiert sind. Deshalb ist der Ausgangspunkt der gestalt-therapeutischen Intervention die konkrete Beschreibung des Erlebens
in der Hier-und-Jetzt-Situation. Das Symptom wird im Hier-und-Jetzt geschaut, zum Zwecke des Zugangs zum Kern oder Wesen des Sichtbaren.
"Wenn der Patient erst einmal das >jetzt< benutzt hat, wir er leichthin
weiter die Gegenwart benutzt, auf phänomenologischer Basis arbeiten
und, (...) das Material aus der vergangenen Erfahrung heranschaffen, das
nötig ist, um eine Gestalt zu schließen, eine Erinnerung zu assimilieren und
die organismische Balance zu berichtigen."(169)(169)
Für die Sozialarbeit ist das gestalttherapeutische Bewußtheits-Konzept
(Awareness) von entscheidender Bedeutung. Die Klientel der Sozialarbeit
sind häufig gesellschaftlichen Bedingungen ausgesetzt, die sie veranlassen,
oft im Bewußtsein der schädigenden Auswirkungen, diese Bedingungen
nicht wahrzunehmen oder nach Kausalitätsprinzipien zu suchen. In der
Sozialarbeit nach 1968 wurde versucht, mit Hilfe von Ideologien Bewußtseinsbildung zu fördern. Dies wurde von den Betroffenen häufig als
ein "Überstülpen von Ideen der Gebildeten und Studenten" erlebt und
konnte nicht mit ihren Lebensrealitäten in Einklang gebracht werden.
Förderung von Bewußtsein im phänomenologischen Sinne bedeutet, dem
Individuum zu eigener, vorurteilsfreier Wahrnehmung der ihn umgebenden
Welt oder seiner inneren Welt zu verhelfen.
Phänomenologie bedeutet in der Praxis, das Wahrnehmen der Welt mit
Bewußtheit, ohne Vorurteil im weitesten Sinne und ohne ideologische
Vorannahmen. Dies gilt für den Sozialarbeiter im Besonderen, ist aber auch
Ziel des Prozesses beim Klienten.
(169)
Merleau-Ponty, zit. in: Dahl, Der phänomenol. Ansatz Merleau-Pontys u. seine
Bedeutung f. d. Gestalttherapie in: Int. Therapie 2-3/1981 - S. 93
140
6.9 Verfahren und Techniken der Gestaltarbeit
Die oben beschriebenen Grundlagen und Konzepte der Gestalttherapie
prägen die Haltung der Gestalttherapeuten. Gestalttherapie ist somit
weniger ein Verfahren, daß auf elaborierte Techniken zurückgreift, sondern
sie versteht sich vielmehr als eine grundlegende Haltung des Therapeuten,
der durchaus ganz auf Techniken verzichten kann. Diese Haltung ist jedoch
nicht durch Theoriestudium erlernbar, sondern sie muß in Eigentherapie
und Selbsterfahrung erworben werden.
Wenn ich im Folgenden dennoch einige Techniken exemplarisch
beschreibe, so sind diese nur vor dem Hintergrund dieser "therapeutischen
Haltung" zu verstehen. Natürlich gibt es umfangreiche Literatur zu
gestalttherapeutischen Techniken, jedoch muß vor dem rein technischen
Gebrauch dieser Gestalt-methoden gewarnt werden, weil auch der Einsatz
dieser Verfahrensweisen stets die "therapeutische Haltung" voraussetzt.
Gestalttechniken sind im Gegensatz zur Klientenzentrierten Gesprächsführung eher direktiv. D.h. der Therapeut fordert den Klienten zu konkreten
Erfahrungen im Therapieprozeß auf.
Gestalttechniken sind im Gegensatz zur psychoanalytischen Therapie
beschleunigend. D.h. der Therapeut führt den Klienten gezielt zu tieferen
Bewußtseinsschichten, die affektiv stark besetzt sind.
Gestalttechniken erscheinen auch suggestiv. D.h. der Therapeut fordert den
Klienten auf, körperliche Phänomene bewußter und verstärkter wahrzunehmen, und er verknüpft diese Phänomene mit seelischem Erleben.
Ziel der Gestaltarbeit ist zunächt immer eine Erhöhung der Awareness
(Bewußtheit). Damit ist das zentrale Konzept der Gestalttherapie angesprochen.
Hierzu gibt es allgemeine Gestaltübungen, die gezielt die Awareness
schulen. Das "Bewußtseinskontinuum" ist eine solche Übung, in der der
Therapeut den Klienten dazu anleitet, sich für eine gewisse Zeit seiner
selbst bewußt zu sein, indem der Klient alles was er aktuell wahrnimmt
aufmerksam baobachtet. Dabei kann zusätzlich mit "Figur und
Hintergrund" gearbeitet werden. Z.B.:
Th: Lassen Sie sich doch mal einen Moment Zeit, um zu
beobachten was Sie gerade um sich herum wahrnehmen.
Kl: Schweigt ca. 3 Min.
Fehler! Textmarke
141 nicht definiert.
Th:
Versuchen Sie doch nun mal von der äußeren Wahrnehmung
auf die innere Wahrnehmung zu wechseln; was geschieht
gerade in Ihnen?
Kl: Ich spüren mein Herz schlagen.
Th: Bleiben Sie mal dabei.
In dieser kurzen Sequenz wird sowohl die direktive Vorgehensweise des
Therapeuten deutlich, wie auch das Abzielen auf die "Awareness" sowie
die Zentrierung auf das "Hier und Jetzt". Suggestiv mutet die Arbeit dann
an, wenn der Therapeut anschließend den Klienten dazu auffordert, den
Herzschlag verstärkt wahrzunehmen und ihn dann nach inneren Bildern zu
diesem Körperphänomen befragt:
Th: Achten Sie doch mal darauf was noch in Ihnen vorgeht wenn
Sie ihren Herzschlag jetzt spüren.
Kl: Das macht mir doch irgendwie Angst.
Th: Bleiben Sie mal bei der Angst und achten Sie drauf was sich
tut.
Kl: Es ist irgendwie beklemmend, ich fühle mich so eingeklemmt
als würde mir jemand einen Eisenring um die Brust
schmieden.
Th: Was geschieht da?
Kl: Irgendjemand hält mich fest; ich erinnere mich an eine
Situation
aus meiner Schulzeit, wir waren auf dem Schulhof . . .
Th: Erzählen Sie die Situation in der Gegenwart. Wir sind auf dem
Schulhof . . . .
Der Klient erzählt nun von einer für ihn beängstigenden Situation aus
seiner Schulzeit, in der er von älteren Mitschülern unterdrückt und
gedemütigt wurde. Dadurch, daß er bei seiner Erzählung im Hier und Jetzt
bleibt, erlebt er die Situation in Anwesenheit des Therapeuten mit all den
bedrohlichen Affekten nocheinmal. Dieses Wiedererleben hat oft einen
traumähnlichen Charakter und ist mit sehr starken Gefühlen besetzt. Ziel
der Gestaltarbeit ist es nun, diese wiedererlebte Situation zu einem
Abschluß zu bringen, damit der erwachsene Mensch sich in seinem Alltag
nichtmehr mit so vielen unerledigten Kindheitsgefühlen belasten muß.
Man kann die Gestalttherapeutischen Techniken grob unterteilen in:
1.
Beratungs- und Gesprächsführungstechniken
2.
Kreative Techniken
3.
Körper- und Bewegungstechniken
142
4.
Rollenspieltechniken und Planspieltechniken
Die therapeutischen Techniken finden Anwendung in den verschiedensten
Feldern, von der psychotherapeutischen- über die sozialtherapeutische
Arbeit bis hin zu Gestaltpädagogischen Anwendungsgebieten.
In der nachfolgenden exemplarischen Darstellung werde ich die Beratungsund Gesprächsführungstechniken etwas ausführlicher behandeln. Sehr
umfassend sind diese Techniken von Dorothea Rahm in ihrem Buch "Gestaltberatung" dargestellt.
6.91 Beratungs- und Gesprächsführungstechniken
Wie oben bereits erwähnt, geht es in der Gestalttherapie zunächst um eine
therapeutische Haltung. Zu dieser Haltung gehört, daß alle Gesprächsführungsverfahren in eine "therpeutische Beziehung" eingebettet sind.
Diese Beziehung muß in der Anfangsphase eines jeden Beratungsprozesses
zunächst aufgebaut werden. Gestaltarbeit unterscheidet sich hier nicht von
anderen Beratungskonzepten, seien sie nun psychoanalytisch, klientenzentriert oder familientherapeutisch. Die Beziehung spielt darüberhinaus
auch in gestaltpädagogischen Konzepten die zentrale Rolle.
Die im nachfolgenden Kapitel vorgestellten Techniken sollen lediglich
einen knappen Einblick in technische Möglichkeiten bieten. Letztendlich
bleibt die technische Umsetzung der Gestaltarbeit auch der Kreativität der
Beraterin oder Therapeutin überlassen. Techniken und Verfahrensweisen
sind u.a. ausführlich bei D. Rahm und J. Stevens (a.a.O.) beschrieben.
Für den eigentlichen gesprächsführungstechnischen Prozeß schlägt
Dorothea Rahm folgende Unterscheidung vor:
1.
Gestaltmethoden zur Einsichtsförderung
2.
Gestaltmethoden zur Förderung eigener Verantwortlichkeit und
Entscheidungsfähigkeit.
6.912 Gestalttechniken zur Einsichtsförderung
In der Praxis werden die im Folgenden aufgeführten Techniken kaum in so
abgegrezter Weise vorkommen, vielmehr werden die Gesprächsführungstechniken permanent kombiniert. Dennoch kann man folgende Techniken
unterscheiden:
Fehler! Textmarke
143 nicht definiert.
1. Aufmerksam machen:
Der Klient wird auf Äußerungen aufmerksam gemacht, von denen der
Berater meint, daß sie für ihn von Bedeutung sind. Diese Gedanken,
Gefühle und Verhaltensweisen werden vom Klienten in der Regel nicht
bewußt wahrgenommen. Sie sind häfig non-verbal oder es handelt sich um
Widersprüchlichkeiten zwischen verbalem und non-verbalem Ausdruck,
Versprecher,
stereotype
Redeweisen
oder
plausibilitäsarme
Argumentationen.
z.B. Non-verbal:
- Ihre Stimme ist ganz leise geworden als Sie begannen über dieses Thema
sprechen
- Ich sehe gerade wie Sie bei diesem Gedanken die Fäuste ballen, können
Sie das mal fühlen
- Sie scheinen Tränen in die Augen zu bekommen, wenn Sie über Ihre
Mutter sprechen
z.B. Widersprüche zwischen verbal und Nonverbal
- Sie lächeln während Sie von einem traurigem Erlebnis sprechen
- Sie schütteln dauernd den Kopf während Sie von Ihren Erfolgen reden
z.B. Sereotype Redeweisen
- Sie reden seit fast zehn Minuten ohne Unterbrechung, was fühlen Sie
eigentlich gerade
- Ich höre Sie dauernd von man oder wir sprechen, versuchen Sie doch
mal in der Ich-Form zu reden
Bei der Technik des Aufmerksammachens kommt es für den Berater darauf
an, daß er im Beratungsprozeß selbst dem Klienten seine ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen läßt und besonders auch dessen nicht-verbale
Äußerungen beachtet. Dabei ist der gesamte körperliche Ausdruck von
Bedeutung, handelt es sich nun um einen zitternden Fuß,
zusammengepresste Lippen oder geballte Fäuste.
2. Wiederholen
Bei dieser Technik bittet der Berater den Klienten beiläufig gemachte
Äußerungen nocheimal bewußt zu wiederholen. z.B.:
- können Sie diese Handbewegung nocheinmal machen
- sie haben eben so nebenbeigesagt, daß sie glauben, daß ihre Frau sie
auch nicht mehr liebt, können sie das nocheinmal sagen
144
3. Übertreiben
Beim übetreiben wird der Klient dazu aufgefordert eine beiläufig gemachte
Äußerung übertrieben zu wiederholen. z.B.:
- als sie eben darüber sprachen, daß ihr Kollege hinterhältig ist wurden sie
etwas lauter, können sie das noch lauter sagen
- machen Sie diese Handbewegung doch mal etwas ausladender
4. Assoziationen
Der Berater fordert den Klienten auf aktuelle Gefühle mit weiteren
Erfahrungen zu verknüpfen. z.B.
- Woher kennen sie dieses Gefühl
- Was fällt ihnen dazu ein
5. Aushalten
Der Berater fordert den Klienten auf, bei aktuellen Gefühlen zu verweilen,
besonders dann, wenn der Klient schnell über etwas hinweggehen will. z.B.
- können Sie sich dieses Gefühl, was in ihnen hochkommt mal gestatten
- bleiben Sie doch einmal eine Weile in dieser Stimmung, . . was geschieht
6. Vergangenheit und Zukunft vergegenwärtigen
Gestaltherapie arbeitet im Hier und Jetzt. Wenn der Klient beispielsweise
von Zukunftssorgen spricht, kann er diese Situationen im gegenwärtigen
Beratungsprozeß durcherleben.
- beschreiben Sie doch einmal ganz genau die Situation in der Prüfung, die
Sie nächste Woche erwartet, beschreiben Sie sie so, als fände Sie jetzt
statt.
Auch vergangene Situationen werden vergegenwärtigt indem der Berater
den Klienten dazu auffordert die Situation mit all ihren Umständen in der
Gegenwart zu schildern. z.B.
- vielleicht versuchen Sie mal die Situation auf dem Schulhof von damals
ganz genau in ihrer Phantasie zu rekonstruieren, wie sieht es dort gerade
aus?
7. Phantasiearbeit
Phantasiearbeit ist eine eigenständige Technik in der Gestalttherapie. Sie
wird oft als geleitete Phantasie in völlig eigenständigen Selbstefahrungsund Therapieprozessen angewendet. In der Beratungsarbeit kann aber
Phantasiearbeit oft hilfreich aktuelle Widerstände deutlich machen. z.B.
Fehler! Textmarke
145 nicht definiert.
Kl:
Ber:
Kl:
Ber:
Irgendwie kann ich da nicht weiterreden, da blockiert mich was.
Beschreiben Sie doch mal diese Blockade.
Das ist wie ein großer Stein, den man mir vor die Füße gerollt hat.
Wie sieht der denn aus?
8. Identifikation
Die
Gestalttherapie
betrachtet
alle
Phantasieäußerungen
als
Manifestationen des Ichs. Diese Manifestationen sind oft vom Ich
abgespalten und sollen im Therapieprozeß wieder integriert werden. z.B.:
Ber: Sie haben gerade den großen Stein beschrieben, der Ihnen da vor die
Füße gerollt wurde, vielleicht versuchen Sie mal die Rolle dieses
Steines zu spielen.
Kl: Hmm, ich kanns ja mal versuchen. Also, ich bin ein schwerer Stein,
ein Mühlstein und ich liege schon viele Jahre hier. Ich liege hier vor
den Füßen von Hans, damit der nicht sehen kann was sich hinter mir
verbirgt.
In dieser Situation kann der Berater mit dem Stein in einen Dialog treten.
Der Stein kann beispielsweise eine Abwehr gegen unangenehme Gefühle
oder Erfahrungen symbolisieren. In der Gestaltarbeit werden diese Widerstände ernstgenommen und indem der Klient sich damit auseinandersetzt
kann er Auskunft über deren Sinn und Funktionsweise erhalten, was ihn
dann evtl. dazu bewegen kann, den Widerstand in bestimmten Situationen
beiseitezuräumen.
Die Technik der Identifikation ermöglicht es des Weiteren auch sich mit
anderen Personen, Objekten oder Symbolen zu identifizieren.
9. Dialoge
Die wohl bekannteste Gestalttechnik ist die Arbeit mit dem leeren Stuhl.
Bei dieser Übung, führt der Klient einen Dialog mit einer Person, die er in
Immagination auf einen leeren Stuhl setzt. In Verbindung mit der zuvor
beschriebenen Technik der Identifikation kann der Klient sich nun mit der
imaginierten Person identifizieren und dadurch mit sich in einen Dialog
treten. Die Technik des Dialoges ist aber keinesfalls auf die Übungen mit
dem leeren Stuhl beschränkt, sie kann ebensogut mit Handpuppen, mit
eigenen Körperteilen, Objekten oder Symbolen durchgeführt werden. So
kann auch mit dem großen Stein aus dem vorangegengenen Beispiel ein
Dialog geführt werden. z.B.
Ber: Vielleicht befragen Sie mal den Stein nach seiner Funktion
Kl: Stein, warum stellst du dich mir in den Weg?
146
Ber: Wechsel, was sagt der Stein?
Kl: Stein: Ich beschütze dich vor schlechten Gedanken, Hans.
Hans: Warum muß ich beschützt werden?
Stein: Weil du nicht traurig werden sollst.
10. Sprachliche Äußerungen
Stereotype oder relativierende sprachliche Äußerungen werden in der
Gestaltarbeit vom Berater oft gespiegelt oder kommentiert. Dabei handelt
es sich um einschränkende Redeweisen, z.B.:
- eigentlich, ziemlich, relativ, wenigstens usw.
um vagen Ausdruck von Sachverhalten, z.B.:
- vielleicht, es könnte sein, ich glaube, teilweise usw.
um innere Widersprüchlichkeiten, z.B.:
- ja . . . aber, natürlich . . . allerdinds usw.
um Verallgemeinerungen, z.B.
- man, wir, jemand, immer, alle, nie usw.
Das Kommentieren von solchen sprachlichen Äußerungen wird bereits im
Erstkontakt mit Klienten eingestzt und hat dort häufig die Auswirkung, daß
der Klient sein Anliegen nicht nur als Bericht erstattet, sonder schon eine
Erhöhung der Bewußtheit erfährt, wodurch er schneller an für ihn
emotional bedeutsamen Sequenzen herangeführt wird.
11. Das Bewußtseinskontinuum
Das Bewußtseinskontinuum habe ich bereits zum Eingang dieses Kapitels
beschrieben. Es kann ganz gezielt im Sinne einer Trainingsmethode zur
Konzentrations- oder Aufmerksamkeitsübung eingesetzt werden. Die verschiedenen Möglichkeiten zum Einsatz dieser Technik sind von John O.
Stevens in seinem Buch "Die Kunst der Wahrnehmung" ausführlich
beschrieben worden. Grunsätzlich achtet der Klient beim Bewußtseinskontinuum ganz auf sich selbst, ausgehend von der Fragestellung, "was
erlebe ich jetzt". Dabei wird auf Gefühle, Gedanken, Bewegungen und
Signale aus dem Körperinneren geachtet. Sinneseindrücke wie, Sehen,
Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen werden auf diese Weise ganz bewußt
registriert.
Fehler! Textmarke
147 nicht definiert.
6.913 Gestalttechniken zur Förderung von eigener Verantwortlichkeit und
Entscheidungsfähigkeit
Die im Folgenden exemplarisch vorgestellten Techniken greifen auf die
Techniken zur Förderung von Bewußtheit zurück, sind aber in ihrer
Zielrichtung auf die Übernahme von Eigenverantwortung durch den
Klienten
ausgerichtet.
Folgende
Beraterinterventionen
sind
charakteristisch:
- was wollen Sie; was möchten Sie jetzt
- was tun Sie gerade; möchten Sie das wirklich; sind Sie sich sicher
- was hindert Sie daran; was vermeiden Sie jetzt
Diese Interventionen können in folgenden Techniken angewendet werden:
1. Phantasiearbeit
Mit Hilfe von Phantasiearbeit können dem Klienten seine Blockierungen
verdeutlicht werden, in der Arbeit während der Entscheidungsphase kann
er erproben mit diesen Blockierungen umzugehen. Das Beispiel mit dem
großen Stein, der den Widerstand symbolisiert könnte in dieser Phase
dergestalt aussehen:
Ber: Beschreiben Sie doch mal Ihre Blockade
Kl: Das ist wie ein großer Stein, den man mir vor die Füße gerollt hat.
Ber: Was wollen Sie denn damit machen?
Kl: Irgendwie zur Seite rollen.
Ber: Was hindert Sie daran?
Hier wird deutlich, daß der Berater den Klient nicht nur zur Wahrnehmung
seiner inneren Prozesse und Widerstände führt, sondern er gibt ihm auch
die Verantwortung für seine Widerstände und macht damit deutlich, daß
die Blockade eine abgespalten Ich-Funktion darstellt, die der Klient bei
Übernahme von Eigenverantwortung in das Ich integrieren kann.
2. Dialoge
Mit Dialogen wird in der Entscheidungsphase vornehmlich bei ambivalenten und sich widersteitenden Impulsen beim Klienten gearbeitet. Fritz
Perls führt hier die Begrifflichkeit vom "Top-Dog" und "Under-Dog" ein.
In der deutschen Umgangssprache können wir den Under-Dog als den
"Inneren Schweinehund" bezeichnen, der die Aktivitäten lähmt und den
Top-Dog als den "Moralischen", der eigenes Versagen beklagt und
Leistung einfordert. Durch einen Dialog zwischen diesen beiden
148
Persönlichkeitsanteilen, der mit der Technik des leeren Stuhls geführt
werden kann, soll eine Einigung zwischen den Widerstreitenden Anteilen
erreicht werden. Auch hier steht der Gedanke von den abgespaltenen IchAnteilen hinter der Übung. Im Dialog der beiden Teile soll ein Kompromiß
gefunden werden, indem Top-Dog und Under-Dog als Persönlichkeitsanteile gleichermaßen akzeptiert werden; also letztendlich Manifestationen
ein und desselben Ichs sind.
3. Sprachliche Äußerungen
Viele Sprachäußerungen deuten darauf hin, daß Menschen nicht die volle
Verantwortung für sich übernehmen. Bestes Beispiel dafür ist die häufig
gebrauchte Floskel, "man müßte mal". Ziel der gestalttherapeutischen Intervention kann sein, daß der Klient Verantwortung für seine eigenen
Gefühle, Gedanken und Handlungsweisen übernimmt. Dafür gibt es drei
technische Vorgehensweisen: Ich-Sprache, Veränderung von Verben und
Fragen.
Ich-Sprache
Der Klient wird zum bewußten gebrauch der Ich-Form aufgefordert und
zur Vermeidung von Worten wie es, man, wir, du. z.B.
Kl: es ist langweilig
Ber: versuchen Sie mal zu sagen, ich langweile mich
Kl: ich langweile mich . . . naja, ich könnte ja was dagegen unternehmen.
oder:
Kl: man sollte sich in der Öffentlichkeit nicht küssen
Ber: versuchen Sie mal Ihre Meinung auszudrüchen, vielleicht mit den
Worten mich stört . . .
Kl: Ja, da haben Sie recht, mich stört es wirklich ungemein wenn Paare
sich in aller Öffentlichkeit küssen
Veränderung von Verben
Auch durch den Gebrauch von entfremdenden Verben kann es der Klient
vermeiden Verantwortung für sich zu übernehmen. Beispiele für solche
werben sind, "muß" und "sollte", die durch "will" oder "möchte"
ausgetauscht werden können. Oder z.B.
Kl: Ich hoffe daß ich jetzt nicht mehr am Geldautomaten spielen muß
Ber: Versuchen Sie es mal mit: ich werde jetzt nicht mehr . . .
Fragen
Auch durch Fragen vermeiden viele Menschen die Verantwortung zu
übernehmen. z.B.
- ist es hier nicht zu kalt? oder
- wie soll das bloß weitergehen?
Fehler! Textmarke
149 nicht definiert.
Veränderungen auf Probe
Hier geht es darum, daß viele Klienten Phantasien von den Auswirkungen
ihres Verhaltens haben, die der Realitätsprüfung nur selten Standhalten. Bei
dieser Technik handelt es sich um ein Verfahren mit oft starker suggestiver
Wirkung. Daher kann das Verfahren nur in einem fortgeschrittenen
Beratungsprozeß eingesetzt werden, bei dem die Beziehungsebene
zwischen Berater und Klient eine hohe Tragfähigkeit aufweist.
Die mildere Form ist die des Probehandelns in der Phantasie. Z.B.:
- stellen Sie sich doch einmal vor, sie würden sich um Ihren Vater mal
wirklich nicht scheren, beschreiben Sie mal ganz genau was dann alles
eintritt.
Eine stärke Intervention stellt die Verbindung von Probehandeln in der
Phantasie mit einer "Hausaufgabe" dar, bei der der Klient den Auftrag
erhält, daß ihn das Urteil des Vaters zu bestimmten Zeiten probeweise nicht
interessiert. Also beispielsweise täglich zwischen 18.00 und 19.00 Uhr.
Die hier beschriebenen Gestalttchniken kommen in der Regel erst in einem
fortgeschrittenen Beratungsprozeß zur Anwendung. Sie sind ohne eine vorausgegangene Beziehungsarbeit zwischen Berater und Klient nicht denkbar
und vor allen Dingen nicht ohne die Eingangs beschriebene Haltung. Diese
Haltung beinhaltet ein hohes Maß an permanenter Selbstreflexion durch
den Berater.
9.12 Kreative Techniken
Gestalttherapie versteht sich als Kreativitätsförderung. Daher nehmen kreative Techniken einen breiten Raum ein. Die der bildenden Kunst
verwandten Techniken finden breite Anwendung in der Ergotherapie,
besonders in der psychiatrischen Beschäftigungstherapie. Hier geht darum,
Menschen, deren verbaler Ausdruck in irgendeiner Weise behindet oder
blockiert ist, durch bildnerisches Gestalten, die Möglichkeit zu geben,
innere Zustände zum Ausdruck zu bringen. Die Ergotherapie kennt das
tiefenpsychologische Verfahren der "Gestaltungstherapie". Dieses
Verfahren ist nicht nur des Begriffes wegen verwandt, tatsächlich ist die
Arbeit mit kretiven Medien der Gestalttherapie in ihrer technischen
Anwendung der Gestaltungstherapie sehr ähnlich. Die Spezifik der
Gestaltarbeit ist dann jedoch in der Art und Weise zu sehen, wie das
kreative Produkt in der Besprechung ausgewertet wird. So kann es
150
beispielsweise vorkommen, daß ein psychiatrischer Patient ein Bild malt,
auf dem ein Haus, ein Baum und ein Hund zu sehen sind. In Anwendung
der oben bereits beschriebenen Technik der Identifikation, kann der
Therapeut nun den Patienten dazu veranlassen, sich mit den einzelnen
Objekten seines Bildes zu identifizieren; also die Rolle des Hundes zu
spielen und als Haus oder Baum antworten. Der Gedanke der hinter dieser
Technik steckt, ist der, daß alle Kreationen Ausdruck des Selbst (Ich) des
Klienten sind und die Identifikation für den Klienten zu einer eigenen
Entschlüsselung seiner Selbst-Manifestationen wird. Ähnliches geschieht
auch in der Arbeit mit Träumen in der Gestalttherapie. Hier, wie in allen
anderen Arbeiten mit kreativen Medien, vermeidet es der Therapeut die
Symbole zu deuten. Die Entschlüsselung der Traumsprache ebenso wie die
der Bildersprache wird mittels der Identifikationsarbeit ausschließlich
durch den Patienten geleistet.
Neben dem Malen kennt die Gestaltarbeit eine ganze Reihe weiterer
kreativer Medien. So wird beispielsweise mit Ton gearbeitet; es können
aber auch völlig ungewöhnliche Materialien verwendet werden, die aus der
Natur herbeigeschafft werden. Eine Übung zu Beginn eines längerfristigen
Gruppenprozesses bei Teilnehmern die sich nicht kennen, sieht beispielsweise vor, daß die Teilnehmer und Teilnehmerinnen ein Gegenstand aus
dem Freien suchen und sich in Identifikation mit diesem in der Gruppe
vorstellen. Das sind dann oftmals Blumen, Blätter oder Steine.
Das zuvor beschriebene Beispiel wird allerdings vorwiegend in der Arbeit
mit "Gesunden" zu Selbsterfahrungs- oder Ausbildungszwecken zur
Anwendung kommen, kann aber auch ein wunderbarer Einstieg sein für
sozialpädagogische Arbeit mit Kindern.
Als sehr verbreitete kreative Technik möchte ich noch das Lebenspanorama
anführen. Im Lebenspanorama zeichnet der Klient seinen ganzen Lebensweg. Er beginnt bei der Geburt und trägt alle wichtigen biographischen
Stationen ein. Das Lebenspanorama wird oft als Fluß gezeichnet, der mal
breiter und mal schmaler wird, der Hindernisse und Wasserfälle
überwinden muß und in den auch Nebenflüsse fließen. Das
Lebenspanorama kann auch über den gegenwärtigen Stand der
Entwicklung hinweggezeichnet werden, manchmal bis zum eigenen Tod.
Der Klient kann sich in der anschließenden Besprechung mit allen Teilen
seines Bildes identifizieren.
In der Supervisionsarbeit zeichnen die Mitarbeiter einer Institution diese,
dies kann als Organigramm geschehen aber auch mit anderen Symbolen,
Fehler! Textmarke
151 nicht definiert.
z.B. als Schiff. Hier diskutieren die Teammitglieder dann darüber welche
Funktionen sie auf dem Schiff einnehmen.
Kreative Techniken beschränken sich aber nicht nur auf Bildnerisches, es
wird auch mit Poesie und Darstellung gearbeitet. In der Poesiearbeit
werden kleine Verse und Gedichte verfasst. Die darstellerischen Techniken
erwähne ich weiter unten bei den Rollenspieltechniken.
9.13 Körper- und Bewegungstechniken
Viele atem- und bewegungstherapeutische Verfahren und die Bioenergetik
sind mit Gestalttherapie verwandt. Der Grundgedanke bei der Körperarbeit
ist, daß konflikthaftes seelisches Erleben in körperlichen Anspannungen
und Verkrampfungen zum Ausdruck kommen kann. Diese Verfahren
decken ein breites Spektrum von therapeutischen Interventionszielen ab.
Sie gehen von einfachen Lockerungsübungen mit mehr sportlichem
Charakter bis zu den tiefsten Schichten seelischen Erlebens, oftmals sogar
in den vorsprachlichen Bereich. Dabei kommt es dann zu "autonomen
Körperreaktionen" aus frühkindlichen Strukturen. Dies wird durch eine
Reihe von Körperübungen erreicht, die alle darauf Abzielen die Atmung zu
intensivieren, den momentanen Körperstand (auch grounding genannt) in
einer Ausdrucksform darzustellen, aus der alle Körperaktivitäten möglich
sind und die Muskelverspannungen maßvoll zu lösen. Bei diesen
höchswirksamen Techniken werden emmotionale Tiefungen erreicht, die
nur ein sehr langjährig geschulter Therapeut begleiten kann. Hierbei greift
der Therapeut auch aktiv in das Geschehen ein, etwa durch Massage,
Festhalten und berühren bestimmter Körperzonen.
Es gibt allerdings auch eine ganze Reihe körper- und bewegungsorientierter
Verfahren, die nicht auf die Tiefenschichten abzielen, sondern die auch im
selbsterfahrungs- und pädagogischen Bereich angewendet werden können.
Manche Bewegungsübungen können Wunder wirken bei Ermüdungen in
bildungsorientierten Gruppen, wie beispielsweise die Übung "Jünger werden". Hierbei wird eine Gruppe aufgefordert sich im Raum zu bewegen.
Dann gibt der Trainer die Anweisung, die Gruppenmitglieder mögen sich
doch mal so fühlen und bewegen wie Neunzigjährige. Nun wird die Gruppe
im Minutenabstand dazu aufgefordert sich immer zehn Jahre jünger zu
fühlen, dabei das alterentsprechende Tempo zu wählen und noch eine adäquate Begrüßungsart auszuführen. Die Gruppe bewegt sich nun immer
schneller, die Teilnehmer haben viel Spaß dabei, besonders wenn sie
schließlich als zehnjärige Fangen spielen dürfen. Nach einer solchen etwa
152
15-minütigen Aufwärmübung sind Lerngruppen zumeist wieder sehr
arbeitsfähig. Mit solchen oder ähnlichen Bewegungsübungen befaßt sich
heute die eigene Disziplin der Bewegungstherapeuten/innen.
4. Rollenspieltechniken und Planspiele
Weiter oben habe ich bereits das Psychodrama von Moreno als eines der
grundlegenden Konzepte der Gestalttherapie beschrieben. Das
Psychodrama ist heute die am weitesten verbreitete psycho- und
soziotherapeutische Methode, in der psychische und soziale Problem im
Rollenspiel zur Darstellung und Bearbeitung gebracht werden. Dabei greift
diese Methode auf ein ausgearbeitetes und differenziertes Repetoir an
Techniken zurück, die sich teilweise in der Gestalttherapie wiederfinden.
Während die Techniken im Psychodrama formal sehr streng umgesetzt
werden und die psychodramatische Arbeit in oftmals sehr aufwendiger
Weise von diesen Techniken bestimmt wird, geht die Gestaltarbeit weniger
streng, spontaner und punktueller mit diesen Verfahren um.
Einige spezielle Psychodramatechniken, die sich in der Gestaltarbeit
wiederfinden sind, die Arbeit mit dem leeren Stuhl, das Doppeln, das HilfsIch, der Rollentausch, um nur einige Beispiele aufzuführen.
Die Arbeit mit dem leeren Stuhl habe ich bereits weiter oben als eine der
gebräuchlichsten Gestalttechniken beschrieben. Sie wird im Psychodrama
meistens in der Arbeit mit Einzelnen angewendet, wenn keine anderen Personen zur Verfügung stehen, die die erwünschte Rolle darstellen können. In
der Gestaltarbeit wird diese Technik in allen Arbeitsformen je nach Bedarf
gewählt, also neben der Einzelberatung/therapie auch in der Gruppe, mit
Familien, in der Arbeit mit Paaren, selbst in Teams und Organisationen.
Die Arbeit mit dem leeren Stuhl ist auch besonders hilfreich in der
Fallsupervision. Hier kann die zu besprechende Klientin, in der
Immagination der Sozialarbeiterin oder Therapeutin auf den leeren Stuhl
gesetzt werden, wobei die Sozialarbeiterin nun die Rolle der Klientin
einnehmen kann, indem sie sich auf den leeren Stuhl setzt. Dadurch daß die
Sozialarbeiterin nun die Rolle der Klientin spielt wird ihr
Einfühlungsvermögen in diese erhöht und sie erhält Auskünfte daüber
welche Bewegründe sie bei der Klientin vermutet. Dadurch sollen sich
eigenen unbewußten Anteile, die wir oft als "blinde Flecken" bezeichnen,
erhellen. Psychoanalytisch ausgedrückt könnte man auch sagen, daß die
Soziolarbeiterin oder der Sozialarbeiter sich hierdurch ihrer
Gegenübertragungsanteile bewußt werden können.
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Das Doppeln wird oft in der dialogischen Arbeit eingesetzt. Z.B., zwei
Partner tauschen sich zu Beginn einer längeren Gruppenaktivität über ihre
Erwartungen und Befürchtungen bezüglich des bevorstehenden Gruppentrainings aus. Im Anschluß an diesen Dialog stellen sich die Partner gegenseitig mit ihren Erwartungen und Befürchtungen der Gesamtgruppe vor.
Dabei doppeln sich die Partner in der Weise, indem Partner A hinter Partner B tritt und nun als Partner B, in Ich-Form dessen Erwartungen und
Befürchtungen ausspricht. Im Anschluß daran geschieht das Gleiche in
umgekehrter Reihenfolge. Es ist sinnvoll bei dieser Übung die Partner dazu
aufzuforden, jedesmal wenn sie von einer fremden Rolle in ihre eigen Rolle
zurückkehren, die Floskel sprechen zu lassen: "eben war ich B, jetzt bin ich
wieder A."
Das Hilfs-Ich oder Alter-Ego ist erst in einem fortgeschrittenen
Arbeitprozeß möglich, daher ist hier auch nicht die zuletzt beschriebene
Floskel wichtig, sie wäre hier eher störend. Bei dieser Technik begibt sich
ein Gruppenmitglieder oder auch der Trainer hinter oder neben das
Gruppenmitglied welches im aktuellen Prozeß zwar gefühlsmäßig stark
involviert wirkt, daß aber im Moment seine Emotionen nicht auszudrücken
vermag. In dieser Situation wirkt der Andere für das blockierte Mitglied als
Hils-Ich, indem es die Gefühle, die es beim blockierten Teilnehmer zu
spüren meint, ausspricht.
Z.B. "ganz innen fühle ich mich jetzt tieftraurig". Dadurch soll es dem
blockiertem Teilnehmer ermöglicht werden seine Gefühle zu befreitem
Ausdruck zu bringen.
Der Rollentausch ist besonders in der Paar- und Familienarbeit eine sehr
hilfreiche Technik. Hierbei tauschen die zerstrittenen Partner
beispielsweise einfach ihre Plätze und werden vom Berater aufgefordert
nun mal aus der Rolle des jeweils Anderen zu argumentieren. Dadurch
können sich Standpunkt und Perspektive in Bezug auf den Partner
dramatisch verändern.Die hier dargestellten Techniken sind nur ein kleiner
Ausschritt aus dem psychodramaähnlichen Rollenspielrepertoir der
Gestaltarbeit. Letztendlich kommt es auch bei den Rolenspieltechniken auf
die Kreativität des Beraters oder der Therapeutin an, die innerhalb ihrer
Gestalt-Haltung und der Selbstreflexion die dem jeweiligen Prozeß
entsprechende Technik immer auch selbst kreieren kann. Einige
Rollenspieltechniken sind auch aus der Familientherapie bekannt. Hier ist
besonders die Skulpturarbeit zu nennen, in der ein Teilnehmer aus einer
Gruppe mit Zuhilfenahme der anderen Personen aus der Gruppe ein
zunächst statisches Gebilde aufstellt, in welchem die Gruppenmitglieder in
154
typische Haltungen und Positionen der eigenen Familienmitglieder positioniert werden. Anschließend spricht der Teilnehmer zu jedem Gruppenmitglied welche Funktion es in seiner Familie vertritt, wie er es in seiner
Familie erlebt und wie seine Stellung zu ihm ist. In der Skulpturarbeit kann
jetzt hieraus entweder eine Spielszene entwickelt werden oder die
Gruppenmitglieder berichten gleich darüber, was sie in der jeweiligen
Haltung und Position erlebt und empfunden haben. Das Spezifische an den
gestalttherapeutischen Rollenspieltechniken im Gegensatz zu den anderen
Verfahren ist ihre Kombinierbarkeit mit den weiter oben beschriebenen
Techniken. Diese Variationen im Beratungs- oder Therapieprozeß
verlangen vom Sozialarbeiter, von der Sozialarbeiterin immer selbst ein
hohes Maß von Bewußtheit (Awarenes). Dabei muß der Berater in der
Lage sein, stets zwischen der Awarenes seiner selbst und der Awarenes
beim Klienten zu osszilieren. Ersteres, um sich der eigenen
(Gegenübertragungs)Anteile sowie der eigenen Kreativität bewußt zu sein
und letzteres, um dem Klienten seine volle Empathie widmen zu können.So
schwierig wie das hier beschrieben ist, ist das auch. Dadurch wird auch
deutlich, daß diese Fähigkeit nicht durch Theoriestudium erworben werden
kann, sie kann nur Ergebnis einer intensiven, persönlichkeitsorientierten
Schulung sein. Das bedeutet, alle Interventionen und Techniken, die vom
Berater ausgeführt werden, sollte dieser im Laufe seiner Ausbildung in der
einen oder anderen Weise an sich selbst erlebt haben. Ein gründliches
Theoriestudium, wie es in der Fachhochschulausbildung von
Sozialarbeitern, gewährleistet sein sollte, bildet jedoch eine solide
Grundlage für das Erlernen der Gestalthaltung und ihrer Techniken.
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155 nicht definiert.
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1978 bis 1981
1981 bis 1986
1981 bis 1990
seit 1986
Schriftsetzerlehre
Sozialarbeiterstudium an der Gesamthochschule Kassel
Sozialarbeiter in Suchtberatungsstellen und einer
Drogentherapieeinrichtung in Kassel und Nürnberg
Diplomstudium Supervision, Gesamthochschule Kassel
Stationstherapeut in einer Fachklinik für Suchtkranke
Weiterbildung zum Gestalttherapeut durch das
Fritz-Perls-Institut (FPI)
Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Evangelischen
Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum
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