Gestalttherapie 2.Korr 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 289 289 Frühe Störungen als Anwendungsgebiet von Gestalttherapie Elisabeth Salem 1. Begriffliche Klärung Unter dem Stichwort „Frühe Störungen“ heißt es im Wörterbuch der Psychotherapie: „Damit sind Störungen in der Entwicklung einer Person während der ersten drei Lebensjahre gemeint, die zu ernsthaften und andauernden Schädigungen in der späteren Entwicklung führen können“ (Stumm und Pritz, 1999). Dem Konzept der frühen Störung – es stammt aus postfreudianischen Entwicklungen der Psychoanalyse – liegt die Annahme zugrunde, dass sich in den frühen (präödipalen) Lebensphasen ein stabiles Selbst, ausgestattet mit reifen und differenzierten Schutz- und Verarbeitungsmechanismen, erst herausbildet. Daher muss sich der Säugling, bzw. das Kleinkind bei Überforderung und/oder Traumatisierung „primitiverer“ Schutzmechanismen bedienen, um zu überleben. Das Fatale dabei ist, dass diese frühen Schutzmechanismen im Sinne eines Reizschutzes zwar zum Überleben in überwältigenden Situationen beitragen, jedoch zugleich in ihrer undifferenzierten Wirkungsweise die Entwicklung des Selbst-Umweltfeldes sehr schwer beeinträchtigen können. So erspart beispielsweise die projektive Verarbeitung heftiger Affekte oder Spannungen dem Selbst einerseits eine massive Erschütterung und Vernichtungsangst, hat aber andererseits, wenn längerfristig vonnöten, zur Folge, dass der innerpsychische Spielraum für die Wahrnehmung und Verarbeitung affektiver Spannungen nicht entsprechend wachsen kann. Die Funktion der Differenzierung zwischen Innen und Außen und die Fähigkeit zur Realitätsprüfung können Schaden nehmen und in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden. Psychotische Entwicklungen, schwere Persönlichkeits- und Borderlinestörungen, Suchtentwicklungen, aber auch psychosomatische Erkrankungen werden zu den daraus resultierenden Störungen gezählt.1 Das bedeutet, dass letztendlich mit Ausnahme der Symptomneurosen alle schwereren psychischen Störungen unter die Kategorie „frühe Störungen“ zu subsumieren wären. Daher ist der Begriff der frühen Störung als eigene diagnostische Kategorie nicht sinnvoll; dennoch beinhaltet er psychotherapeutisch relevante Perspektiven. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll gezeigt werden, wie der Begriff der frühen Störung gestalttherapeutisch zu verstehen ist, welchen Platz er 1 Vgl. Hochgerner und Wildberger, 1992. Gestalttherapie 2.Korr 290 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 290 Elisabeth Salem im Rahmen klinischer Diagnostik einnimmt und welche Konsequenzen sich daraus für den psychotherapeutischen Umgang ergeben. Im Detail soll das Konzept der frühen Störung nur anhand der Borderline- und der schweren Persönlichkeitsstörung veranschaulicht werden, da andere Störungsbilder als Anwendungsfelder der Gestalttherapie in diesem Abschnitt bereits vorgestellt sind.2 2. Konzepte der frühen Störung Ursprünglich war mit dem Konzept der frühen Störung auch die ätiologische Annahme verbunden, dass solche Störungen auf Traumatisierungen während dieser Zeit zurückzuführen seien und die Folge einer Fixierung auf eben diese Entwicklungsstufe seien. Vor allem letztere Annahme wurde mittlerweile vor allem auf der Basis der Ergebnisse der Säuglingsforschung relativiert3: Wahrscheinlich und am häufigsten ist es so, dass die Schädigungen nicht nur als Folge einzelner Traumata in der frühen Kindheit erfolgen, sondern aus längerfristigen und/oder wiederholten Negativ-Erfahrungen im Umgang mit wichtigen Bezugspersonen resultieren. Die frühen Verarbeitungsmöglichkeiten sind aufgrund der Unreife des Selbst noch wenig ausdifferenziert; zur Abwehr des überfordernden Erlebens werden Kontaktunterbrechungsfunktionen wirksam, die zwar das unmittelbare psychische und physische Überleben sichern, zugleich jedoch – im Sinne von „Nebenwirkungen“ – die Funktionen des sich entwickelnden Selbst so verformen und seine Gestaltbildungsprozesse so sehr deformieren, dass sich die Interaktionsprozesse zwischen dem Kind und seiner Umwelt auch in der Folge sehr schwierig und destruktiv gestalten. Es kann zu Sekundärtraumatisierungen kommen, weil die bedeutsamen Bezugspersonen mit dem entwicklungsgestörten Kind nicht angemessen umgehen können. Da die meisten psychopathologischen Phänomene Bestandteile von Reaktionen auf eine Schädigung sind und nicht diese selbst, stellt sich die Frage, welche Erlebnisinhalte in welcher Weise diese Abwehr-, Schutz- und Kompensationsvorgänge notwendig machen. Psychotherapeutisch zu erforschen sind daher sowohl die Wirkungsweise und das Ausmaß der wahrnehmbaren Mechanismen der Kontaktunterbrechung und -vermeidung, als auch die Frage, was an Erleben vermieden und entstellt werden soll und was daran so unerträglich für das Selbst ist. Ein Teil der gestalttherapeutischen Literatur der 80er Jahre hob die defizitären Aspekte des Selbst bei frühen Störungen hervor (z. B. Dreitzel, 1988; Beaumont, 1988 a, b; Müller-Ebert et al., 1988), wobei oft frühe Störungen mit schweren gleichgesetzt wurden. H. Beaumont spricht von fragilen Selbstprozessen und weist darauf hin, dass der gestalttherapeuti2 3 Vgl. im vorliegenden Band besonders die Beiträge von Hochgerner und Schwarzmann (S. 313–336), Gollner (S. 281–294), Wildberger und Hochgerner (S. 146–152) und Warta (S. 357–374). S. Hochgerner und Wildberger, 1992, Einleitung sowie Staemmler, 2000. Gestalttherapie 2.Korr 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 291 Frühe Störungen als Anwendungsgebiet von Gestalttherapie 291 sche Umgang mit solchen Menschen zu modifizieren ist: Neurotiker, die über ein ganzheitlich integriertes, stabiles Selbst verfügen, können ihre Kontaktfunktionen auch mittels erlebnisaktivierender Techniken der Gestalttherapie wiederbeleben. Dagegen empfehle sich für die Psychotherapie mit fragilen Selbstprozessen auch in Anlehnung an die Kohut’sche Selbstpsychologie eine mehr empathisch-stützende, ich-stärkende und nicht regressionsfördernde Vorgangsweise. Auch die sog. Re-Parenting-Funktion, die im Rahmen der Integrativen Therapie die nachträgliche Beelterung schwerst beeinträchtigter KlientInnen meint, ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Die Bedeutung der Hintergrundarbeit für die Diagnostik und Therapie von schweren Störungen der Selbstprozesse wurde betont: Einerseits soll eine geschützte, haltende und damit auch strukturierte therapeutische Situation geschaffen werden, andererseits sind die in der therapeutischen Situation ablaufenden Kontaktprozesse in Beziehung zum je gegenwärtigen Kontext außerhalb der Therapie zu setzen und zu besprechen (vgl. auch Votsmeier, 1988; Janssen, 1999). Die Differenziertheit und Komplexität der Phänomenologie von frühen Störungen spricht dagegen, sie vorwiegend generell unter dem Gesichtspunkt der defizitären Selbstentwicklung zu betrachten. Daher orientieren gestalttherapeutische AutorInnen in der Folge ihr klinisches Verständnis von frühen und schweren Störungen (wie dies auch für den vorliegenden Aufsatz gilt) mehr an der psychodynamischen Literatur im Sinne von Kernberg (1992), Rohde-Dachser (1986) und Mentzos (1996), welche der Bearbeitung von Aggression und Destruktivität auch innerhalb der therapeutischen Beziehung von Beginn an große Aufmerksamkeit widmet. Ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Ansätzen besteht in den zugrundeliegenden Annahmen darüber, welche Bedeutung den psychischen Symptomen und Verhaltensmustern, die frühe Schädigungen bewirken, zukommt. In Anlehnung an die Selbstpsychologie Kohuts (Kohut, 1979) werden die mit frühen Störungen assoziierten Verhaltensmuster und Strategien vorwiegend als Ausdruck und Kompensation von Mangelerscheinungen begriffen: Z. B. wird bei narzisstischen Störungen das grandiose Selbst als Kompensation des narzisstisch entleerten schwachen Selbst in Folge unzureichender narzisstischer Spiegelung und Zufuhr verstanden; in der der Behandlung solcher Prozesse wird daher die empathische Spiegelung als vorrangig dargestellt.4 Eine Gefahr bei dieser Vorgangsweise besteht darin, dass pathologische und konflikthafte Aspekte des Narzissmus übersehen und genährt werden. Damit schwinden zunächst Symptome und Leidensdruck, die Therapie wird beendet und die Störung eher chronifiziert. 4 Die vorliegende Darstellung des selbstpsychologischen Ansatzes greift nur einen Aspekt desselben heraus und ist sehr verkürzt; dies dient nur der Veranschaulichung der Tatsache, dass der psychodynamische Schwerpunkt ein anderer ist. Gestalttherapie 2.Korr 292 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 292 Elisabeth Salem Dagegen sieht die psychodynamische Perspektive den Fokus in den, dem Verhalten jeweils zugrundeliegenden Konflikten und Polaritäten. Das heißt, dass Symptome und Kontaktvermeidungsmechanismen überwiegend in ihrer Bedeutung für die mögliche Konflikt- und Spannungsbewältigung im jeweils aktuellen Zusammenhang mit bedeutsamen anderen Menschen (Objekten) verstanden und interpretiert werden.5 Daher wird den aggressiv-destruktiven Impulsen auch von Beginn an innerhalb der therapeutischen Beziehung besondere Aufmerksamkeit geschenkt.6 Widersprüche zwischen Worten und Taten, zwischen Affekten, Haltungen und Handlungen in Beziehung zu anderen Menschen und auch zur Therapie sind so bald wie möglich zu klären, taktvolles Konfrontieren mit Widersprüchen gilt als hilfreich. Die psychodynamische Sichtweise wird besonders klar von Mentzos (Mentzos 1996) vertreten und zwar in einer Weise, die mit grundlegenden Annahmen der Gestalttherapie kompatibel ist. Da das diagnostische Modell Mentzos’ mit Ausnahme der Psychosomatik das gesamte Spektrum der Phänomene früher, d. h. präödipaler Schädigungen umfasst und ordnet, sei es im Folgenden ausführlich dargestellt: Analog zu dem von Mentzos (1996) beschriebenen theoretischen Modell der Diagnostik neurotischer Störungen beinhaltet auch seine Diagnostik präödipaler Schädigungen drei Dimensionen: 1. den zugrundeliegenden Konflikt, bzw. die der jeweiligen Entwicklungsaufgabe entsprechende Bipolarität (Mentzos, 1996, S. 37 f.) 2. den Modus der Konfliktverarbeitung, die entsprechenden Formen der Abwehr, bzw. gestalttherapeutisch die jeweils vorherrschenden Formen der Kontaktunterbrechung 3. die Ich-Struktur, bzw. die Beschaffenheit des Selbst in seinen Funktionen. Im Folgenden sollen Mentzos’ drei diagnostischen Dimensionen in Grundzügen dargestellt werden. 2.1 Polaritäten der frühen Entwicklungsaufgaben Durchaus in Einklang mit der Gestalttherapie versteht Mentzos die frühe menschliche Entwicklung als eine Abfolge von in Polaritäten differenzierten Aufgaben und entsprechend notwendigen Integrationsleistungen: a) Die entwicklungsgeschichtlich erste Aufgabe besteht nach Mentzos in der Selbstkonstituierung, bzw. Selbst-Objektdifferenzierung. Ihr Gegen5 6 Der lang vergessene, um nicht zu sagen verleugnete, zentrale Stellenwert der Interpretation in der Gestalttherapie wurde in den letzten Jahren speziell von Yontef (1999) und Spagnuolo Lobb (1999) sowie G. Wollant (in der Demonstration am EAGT-Kongress und am Weltkongreß 1999) beschrieben und betont. Eine anwendungsorientierte Beschreibung der Merkmale gestalttherapeutischer Interpretationen findet sich auch bei Yontef, 1993, S. 405 ff. Vgl. Kernberg, 1985; Yeomans et al., 1994. Gestalttherapie 2.Korr 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 293 Frühe Störungen als Anwendungsgebiet von Gestalttherapie 293 pol wäre das Versinken in Fusion, Symbiose oder Konfluenz oder auch der Autismus, in dem der/die Andere als ein Gegenüber nicht vorkommt. b) Die zweite Aufgabenstellung der Entwicklung besteht darin, die guten und die bösen Selbstanteile wie auch die gute und böse Sicht von der äußeren Welt, bzw. den bedeutsamen anderen Menschen integriert erleben zu können. Die integrierte Perspektive wäre, dass ich selber und auch die „Welt“ nicht nur als entweder gut oder nur schlecht erfahren werden, sondern die Spannung zwischen den Polaritäten ertragen wird und in eine differenzierte und differenzierende Sicht von sich und „der Welt“ mündet. c) Die dritte und präödipal letzte Entwicklungsaufgabe besteht in der basalen Bewältigung7 der Polarität zwischen Autonomie und Abhängigkeit. Dies bedeutet, fähig zu sein, dauerhafte und nahe Beziehungen zu leben, darin auch abhängig sein zu können, ohne sich dabei selbst zu verlieren oder aufzugeben. Die für unser Thema relevante Annahme über frühe Störungen besteht darin, dass die in den Aufgaben beinhalteten Themen auch in späteren Beziehungen erneut anklingen und daher, sofern sie nicht ausreichend gut bewältigt wurden, wiederholt zu ähnlich gelagerten Schwierigkeiten und Eskalationen führen. Gestalttherapeutisch sagen wir, dass die im Rahmen der frühen Beziehungen nicht ausreichend gut bewältigten Entwicklungsaufgaben tiefe Bedürfnisse im Sinne offener Gestalten hinterlassen, die sich dann in den erwachsenen Beziehungen unbewusst und in verzerrter Weise Geltung verschaffen. 2.2 Vorherrschender Modus der Konfliktverarbeitung (Kontaktunterbrechung): An frühe Störungen, bzw. frühe Mechanismen der Kontaktunterbrechung denken wir, wenn in den ersten Kontakten eine eher wenig differenzierte, oft verarmte und zugleich chaotisch anmutende Sicht und Darstellung von Problemen, Beziehungen und Situationen dominieren, wenn die Regulierung von Nähe und Distanz sowie der Affekte nicht stimmig scheint. Bei genauerem Erforschen sind Mechanismen der Verleugnung und Spaltung sowie Projektionen und projektive Identifizierung sowohl in der Erzählung 7 Bewältigung heißt hier nicht, dass diese Konflikte ein für allemal gelöst sind, sondern dass mit den ersten Erfahrungen dieser Polaritäten auch eine gewisse Fähigkeit und Struktur geschaffen wird, die z. B. eine Art Grundvertrauen beinhaltet, dass Beziehungen einer Belastung durch Konflikte standhalten können und damit Selbstaufgabe zum Erhalt einer Beziehung nicht notwendig ist. Welche Balance zwischen Autonomie und Selbstaufgabe Menschen der Moderne finden, bleibt eine lebenslange Aufgabe, wobei die Spannung zwischen Flexibilität und Stabilität sowie zwischen Verbindlichkeit und Spontaneität in nahen Beziehungen eine Herausforderung für das ganze Leben darstellt. Gestalttherapie 2.Korr 294 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 294 Elisabeth Salem als auch im aktuellen Verhalten in der therapeutischen Beziehung wahrzunehmen. 2.3 Beschaffenheit des Ich oder des Selbst Mentzos bezeichnet als Indikatoren für die Beschaffenheit des Ich die Stabilität der Ich-Grenze sowie den Grad der Integration und Kohäsion. Für die Gestalttherapie greife ich im Zusammenhang damit Votsmeiers Begriff der „psychischen Struktur“ auf (Votsmeier, 1999). Er versteht darunter: „[…] das Gefüge von psychischen Funktionen und deren inneren Zusammenhalt, welches der Person ihre Selbstregulierung und kreative Anpassung in ihrer Lebensgestaltung und das Empfinden von Identität und Selbstwert ermöglicht“ (Votsmeier, 1999, S. 715). Dem entsprechend sieht Votsmeier das Kriterium für das Vorliegen einer strukturellen Störung nicht in einer klinischen Diagnose, sondern im Grad des Integrationsniveaus der psychischen Struktur. Diese Sichtweise entspricht der psychodynamischen Auffassung, die daher auch die Technik des diagnostischen Erstgesprächs als „Strukturelles Interview“ bezeichnet. Ein wesentliches Ziel des strukturellen Erstgesprächs besteht darin, das Ausmaß des Vorhandenseins bzw. Fehlens einer „Integrierten Identität“ zu erforschen (Kernberg, 1992, Teil 1): Kernberg meint damit die innere Vorstellung, die ein/e KlientIn von sich selber und von bedeutsamen anderen Menschen (Selbstbild, Fremdbild) hat, sowie die Fähigkeit, diese zu vermitteln und sich in andere Personen einzufühlen. Dies alles ermöglicht der TherapeutIn, ein klares, ganzheitliches Bild vom Anderen und den für sie/ihn wichtigen Personen zu entwickeln. Eine der wichtigsten Dimensionen der gestalttherapeutischen Konzeption des Selbst ist damit erfasst: nämlich sein grundsätzlich relationaler Charakter, der sich in Beziehungen zu anderen Menschen stets aufs Neue realisiert. Schon der Begriff „Selbst“ setzt ein sich zu sich selbst in Beziehung setzendes Ich voraus. Von außen kann es nur mittelbar in der Beziehung sichtbar werden und schließt damit die Interaktion und Reaktion des Gegenübers (auch) in Form der Gegenübertragung immer schon ein: Wie mir jemand vermittelt, was ihn als ganze Person ausmacht, darin zeigen sich auch die Funktionen des Selbst (Ich-, Es- und Persönlichkeitsfunktionen), die Fähigkeit zu Offenheit und Abgrenzung im Kontakt, zur Einfühlung in andere Personen und vorhandene Integrationsleistungen. Für die Diagnostik entscheidend ist nicht nur, was die KlientInnen uns erzählen, sondern auch, was wir wahrnehmen und beobachten können, welche Reaktionen diese Wahrnehmungen in uns auslösen, wie die Interaktion sich gestaltet und welche Vorstellungen, Empfindungen, Gefühle und Bilder in uns bereits während der Kontaktprozesse in den ersten Sitzungen entstehen. Damit sind Mentzos’ drei diagnostische Dimensionen in ihren Grundzügen skizziert. Vor ihrem Hintergrund lassen sich bestimmte Störungen aus Gestalttherapie 2.Korr 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 295 Frühe Störungen als Anwendungsgebiet von Gestalttherapie 295 dem Bereich früher Schädigungen, wie Borderline- und schwere Persönlichkeitsstörungen besser verstehen: „The diagnostic process is a search for meaning. In Gestalttherapy theory meaning is the relationship between figure and ground.“ (Yontef, 1993, S. 400) 3. Neurotische, Borderline- und Persönlichkeitsstörungen Als nächstes wäre zu beschreiben, wie sich frühe Störungen auf dem Hintergrund des dreidimensionalen Modells sinnvoll positionieren lassen. Ich beschränke mich dabei auf die im Zusammenhang mit frühen Störungen am häufigsten genannten diagnostischen Kategorien: Die folgende Einteilung orientiert sich am Grad der Beeinträchtigung der Ich- bzw. Selbstfunktionen und reicht von neurotischen über Borderline- zu psychotischen Störungen: a) Für neurotische Störungen gilt, dass das Vorhandensein von frühen Kontaktvermeidungsmechanismen zunächst nichts über das Niveau der Störung aussagt: Auch Neurotiker können projizieren, auf frühe Introjekte zurückgreifen, konflikthafte Bereiche oder Themen abspalten und Sorgen ausblenden.8 Lediglich das Fehlen reifer Verarbeitungsmechanismen, dass beispielsweise rationalisierende Rechtfertigungen, durchdachte und sinnhafte Erklärungen für extrem negative oder positive Erlebnisse oder auch für symptomatische Verhaltensweisen fehlen, legt den Schluss nahe, dass nur unreife Verarbeitungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Neurotiker verfügen über ein relativ integriertes Selbst in dem Sinne, dass sie ihr vorherrschendes Temperament, ihre dominierenden Stimmungslagen, ihren Geschmack, ihre Gewohnheiten und Bedürfnisse, Werte und Überzeugungen sowie ihre Stärken und Schwächen ganz gut beschreiben können und einen gewissen Sinn auch für längerfristige, zeitliche Perspektiven aufweisen. Im Gegensatz zu schwereren Störungen fehlt die Tendenz, Sachverhalte misszuverstehen. Im Gespräch ergibt sich kaum ein Druck für den/die TherapeutIn, Situationen aus einer verzerrten, einseitigen Perspektive wahrzunehmen. Symptome, Verhaltensprobleme und Einengungen werden als ichfremd erlebt und die Bereitschaft, eigene Anteile sowie innere Konflikte und Polaritäten zu erforschen, ist relativ hoch.9 8 9 Auch nonverbale frühkindlich anmutende Inszenierungen können – wenn sie dort eingesetzt werden, wo Sprache nicht ausreicht – die Möglichkeiten, sich zu verständigen und Bedürfnisse zu befriedigen, kreativ erweitern (vgl. Staemmler, 2000). Eine phänomenologisch und psychodynamisch genaue Beschreibung von neurotischen, Borderline- und psychotischen Verhaltensweisen findet sich bei McWilliams, 1994, Kap. 4. Gestalttherapie 2.Korr 296 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 296 Elisabeth Salem b) Im Gegensatz zu den Neurosen verortet Mentzos die Psychosen [...] dort, wo die Ich-Grenzen mangelhaft ausgebildet, wo das Selbst von dem Nicht-Selbst nicht eindeutig unterschieden werden kann und dort, wo die wichtige entwicklungspsychologische Aufgabe der Subjekt-Objekt-Trennung nicht adäquat gelöst wurde […], sowie dort, wo primitive, grobe Abwehr- und Kompensationsmechanismen (wie Wahnideen und Halluzinationen) im Vordergrund stehen (Mentzos, 1996, S. 112). Als im intermediären Bereich zwischen Neurosen und Psychosen liegend, erwähnt Mentzos neben den Borderlinestörungen eine ganze Reihe klinischer Zustandsbilder, wie atypische Hysterien, latente Psychosen, das psychische Korrelat einiger Psychosomatosen und einen großen Teil der Persönlichkeitsstörungen. 3.1 Störungen des „intermediären Bereichs“ Folgt man der gestalttherapeutischen Literatur zum Thema Borderline- und Persönlichkeitsstörungen, so fällt auf, dass beide Störungsbilder phänomenologisch ähnlich beschrieben sind und für die gestalttherapeutische Behandlung ähnliche Modifikationen der Techniken vorgeschlagen werden.10 Am klarsten und häufigsten beschrieben ist die narzisstische Persönlichkeitsstörung.11 Bei der Borderlinestörung wird die Polysymptomatik sowie mangelhaftes Containment von Affekten und Gefühlen hervorgehoben. Fast alle der erwähnten GestattherapeutInnen haben dabei in ihre Konzeption auch Erkenntnisse der psychodynamischen Theorie, der psychoanalytischen Entwicklungstheorie sowie Ergebnisse der Babyforschung (Stern, 1994) und die klinische Diagnostik nach DSM-III eingearbeitet. Dennoch stellt sich nach Durchsicht auch anderer Literatur die Situation so dar, dass das Verhältnis zwischen Borderline- und Schweren Persönlichkeitsstörungen unklar und verwirrend ist und dass es vielfältige Überschneidungen, Übergänge, aber auch Gegensätze gibt. Die Schwierigkeit der diagnostischen Zuordnung von Borderlinestörung und Persönlichkeitsstörung, sowie die Dynamik ihrer möglichen Übergänge wird auf dem Hintergrund des nachfolgend abgebildeten dreidimensionalen Modells von Mentzos verständlich (Abb. 1): Die klinischen Beschreibungen der Gestalttherapie lassen sich den von Mentzos beschriebenen Achsen zuordnen, sodass sich ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Modus der Erlebnisverarbeitung, Grund-Konflikten, bzw. -Polaritäten und psychischer Struktur ergibt. Darüber hinaus wird ersichtlich, dass Persönlichkeits- oder Charakterstörungen entsprechend dem Entwicklungsniveau der beteiligten Dimensionen sowohl im Vordergrund, als auch im Hintergrund verschiedenster klinischer Diagno10 11 Z. B.: Müller, 1988; Müller-Ebert et al. 1988; Votsmeier, 1988, 1999; Polo, 1993; Janssen, 1999. Johnson, 1988; Salem, 1999; Wardetzki, 1991; Yontef, 1993. Gestalttherapie 2.Korr 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 297 Frühe Störungen als Anwendungsgebiet von Gestalttherapie 297 Abb. 1: Borderline-Störung und Persönlichkeitsstörung (aus: Mentzos S. [1996]: Psychodynamische Modelle in der Psychiatrie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S. 116. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.). sen liegen können. Borderline- und schwere Persönlichkeitsstörungen sind nahe beieinander angesiedelt und können einander überlagern. 3.2 Psychodynamische Phänomenologie von Borderlinestörungen 1. Grundkonflikte, Polaritäten: Angst vor Beziehung (Nähe) und vor Trennung; vor Autonomie und Abhängigkeit (u. a.: Dreitzel, 1988; Yontef, 1993); Wunsch, blind vertrauen zu können und totales (oft paranoides) Misstrauen; Konflikt zwischen Selbstaufgabe in der Beziehung und Isolation; Bedürfnis nach Zugehörigkeit versus Eigenständigkeit (Janssen, 1999); autistische versus fusionäre Tendenzen; strikte Trennung in nur gutes oder nur schlechtes Selbst und nur gute oder nur schlechte relevante Bezugspersonen und entsprechende Beziehungen (u. a. Mentzos, 1996). 2. Vorherrschende Modi der Verarbeitung, der Kontaktunterbrechung: Konfluenz, die einhergeht mit rasch wachsender Angst vor Identitätsverlust und unvermittelt mit Kontaktabbruch endet; Introjektion widersprüchlicher Inhalte; Projektion von miteinander unvereinbaren, unerwünschten, unerträglichen Bewusstseinsinhalten, wodurch das Selbst Gestalttherapie 2.Korr 298 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 298 Elisabeth Salem weiter entleert und die PatientInnen sich noch hilfloser ausgeliefert und ohnmächtig fühlen und die Angst vor der Umwelt steigt; Projektive Identifizierung, welche zu heillosen Verwicklungen mit nahen Bezugspersonen, aber auch in der Psychotherapie führen kann12; Retroflektionen besonders aggressiver Natur, die sich in Form von Selbstverletzungen, Süchten, Suizid etc. manifestieren können (Janssen, 1999; Polo, 1993 in Anlehnung an Polster und Polster, 1986); Spaltung als Abwehr von Fragmentierung, Auflösung oder weiterer Regression (Janssen, 1999 in Anlehnung an Kernberg, 1992) und der ungeheuren Angst davor; Spaltung als Dichotomisierung von Polaritäten, statt deren Integration: D. h. es besteht „awareness“ von beiden Polen, aber nicht zur gleichen Zeit, oder der andere Pol wird erinnert, aber das dazugehörige Gefühl fehlt (Yontef, 1993, S. 462 ff.). Yontef spezifiziert den Modus der Spaltung bei Borderlinestörungen noch vor dem Hintergrund von gestalttherapeutischen Basisannahmen über Kontaktprozesse: „The borderline splits connecting and separating.“(Yontef, 1993, S. 463). Dadurch umfasst das Splitting nahezu alle Bereiche des Denkens, der Wahrnehmung und des Fühlens. Dies hat nach Yontef damit zu tun, dass Kontakt und Verbundenheit mit Fusion, Regression, Verlust von Autonomie und jeglicher Kompetenz gleichgesetzt wird, während Getrenntsein und Autonomie Zerstörung, totale Isolation und Verhungern bedeuten. Genannt werden können auch fehlende oder mangelhaft ausgebildete Fähigkeiten, bzw. Funktionen des Selbst: so ein Mangel an Fähigkeit zu Orientierung (v. a. in der Phase des Vorkontakts), zur Impulskontrolle und zum Ertragen innerer Spannungen; fehlende Fähigkeit zu Deflektion und zum Abschließen von Kontaktprozessen. 3. Struktur des Ich oder Selbst: Mentzos versteht darunter bei frühen Identitätsstörungen eine mangelnde Stabilität der Ich-Grenzen sowie einen zu geringen Grad an Kohäsion und Integration aufgrund einer missglückten Bewältigung der Trennung von der Mutter und mangelhafter Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt. Dass für Mentzos die Stabilität der Ich-Grenze ein Kriterium struktureller Reife ist, könnte gestalttherapeutisch missverstanden werden, ist doch die Flexibilität der Grenze im Kontakt mit der Umwelt für die Gestalttherapie zugleich Bedingung und Folge von Entwicklung und Wachstum; Stabilität setzt also Flexibilität voraus. Das Selbst manifestiert sich im Kontaktprozess und ist an der Figur-Grund-Bildung über die Selbstfunktionen beteiligt (Fuhr und Gremmler-Fuhr, 1995). In Zusammenhang mit frühen Störungen verstehen wir unter labilen Selbst-Grenzen vor allem verschwommene oder poröse Konturen, die sich in ebensolchen Gestaltbildungsprozessen niederschlagen. D. h. die Figur-Grund Bildung, die Fähigkeit zu gerichteter Aufmerksamkeit und Wahrnehmung ist beeinträchtigt. Die mangelnde Stabilität der Ich-Grenzen drückt sich auch darin aus, dass unter dem 12 ausführlich beschrieben bei Ogden, 1979. Gestalttherapie 2.Korr 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 299 Frühe Störungen als Anwendungsgebiet von Gestalttherapie 299 Eindruck rasch wechselnder Affekte Selbst-, Fremdwahrnehmung und die Selbstbewertung starken Schwankungen und Widersprüchen unterliegen Rohde-Dachser (1986) differenziert in diesem Zusammenhang entsprechend dem DSM-III noch genauer zwischen der Schizotypischen Störung und der Borderlinestörung und ordnet der Schizotypischen Persönlichkeitsstörung als Folge der vorherrschend projektiven Abwehr folgende Merkmale zu: Beziehungsvorstellungen, paranoide Ideen, magisches Denken und Sinnestäuschungen, in denen z. B. die Kraft und der Einfluss nicht anwesender Personen gespürt wird; Entfremdungserlebnisse als Ausdruck von Verschiebungen von psychischem Innen- und Außenraum, unvollständige Differenzierung von Ich- und Objektrepräsentanzen. Dagegen ist bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung die Integration der Polarität von Gut und Böse innerhalb des Ich nicht gelungen. Daher präsentieren sich solche Patienten entweder als nur gut, nur Opfer, grandios etc., oder als das Gegenteil, nämlich schlecht, wertlos und unfähig etc; dasselbe gilt auch für ihre Sicht auf die für sie wichtigen Beziehungen, bzw. Objekte. Als Folge des vorherrschenden Modus der Spaltung (siehe oben!) zeigen sich solche KlientInnen als hoch emotional, mit klaren, starken und rasch wechselnden Affekten. Wahrzunehmen sind abrupte Veränderungen der Einstellungen und Haltungen gegenüber anderen und sich selber als Folge widersprüchlicher und dissoziierter Ich-Anteile, die einander rasch ablösen können. Dabei sind die Ich-Grenzen nach außen so stabil13, dass die Kohäsion des Ich durch die Spaltungen nicht bedroht ist. Im Gegenteil – erst, wenn als Folge therapeutischer Arbeit die Spaltungen nicht mehr zu halten scheinen, entstehen Unsicherheit und Verwirrung. Der daraus resultierende Mangel an Orientierung zeigt, welch wichtige Orientierungsfunktion die Polarisierung in gut und böse hatte: Auch wenn sie der Komplexität der inneren und äußeren Welt nicht gerecht wird, schafft sie doch Ordnung im drohenden Chaos. Aus der gestalttherapeutischen Perspektive des Selbst ergibt sich aus den oben beschriebenen Phänomenen, dass bei solchen Störungen der Zugang zu einem „dauerhaften, stabilen Selbstempfinden“ (Fuhr und GremmlerFuhr, 1995, S. 165) nicht möglich ist. Die Integration der Polaritäten des „Sich-mit-sich-selbst-über-die-Zeit-identisch-Fühlens“ und zugleich ständig Neues zu erfahren und assimilieren zu können, ist nicht ausreichend gegeben. 13 Als Folge von Spaltung und Dissoziation ändert sich „nur der Inhalt des Selbst“ häufig, während das Bewusstsein der eigenen Person stabil bleibt. Der inhaltliche Wechsel, der sich z. B. in einer kompletten Haltungsänderung äußert, bleibt meist unbewusst und wird, wenn angesprochen, oft rationalisiert und bagatellisiert; er ist aber durchaus bewusstseinsfähig und die Einsicht ist meist von Unlust- und Schamgefühlen begleitet. Gestalttherapie 2.Korr 300 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 300 Elisabeth Salem Weitere gestalttherapeutische Beschreibungen von Borderline-Phänomenen finden sich bei Janssen (1999) und Votsmeier (1999). Das Selbst bei Borderline- PatientInnen beschreibt Janssen wie folgt: Das Selbst kann seine wichtigsten Funktionen, sich selbst als eigenständiges Wesen zu erleben, gleichzeitig Verbindung zur Welt und zu anderen herzustellen, und zwar in einer Kontinuität, die fließende und doch eindeutige Grenzen erlaubt, also nicht in angemessener Weise erfüllen. Daher können wir von fragilen Selbstprozessen sprechen (Janssen, 1999, S. 779). Votsmeier (1999) bezieht sich auf die organisierenden Stützfunktionen des organismischen Hintergrunds. In Form der Vermeidung von Wahrnehmung (z. B. durch Dissoziation) waren sie zwar früher einmal im Sinne eines Schutzes vor überwältigenden, widersprüchlichen Reizen sinnvoll, doch haben sie zugleich die Entwicklung der Fähigkeit zu flexibler Kontaktnahme und Assimilation von Neuem behindert. Votsmeier spricht in diesem Zusammenhang von protektiv bedingten Symptomen, die sich im Dienste der Wiederherstellung der Homöostase und der Ich-Grenze als fixierte Schutz- und Kompensationsmechanismen laufend wiederholen. Manifest werden sie als charakteristisches Vermeidungsverhalten oder destruktives Ausagieren. Zur Diagnostik der strukturellen Störungen, wie Votsmeier die frühen Störungen nennt, schlägt er vor, sich der entsprechenden Struktur-Achse des OPD14 zu bedienen. Es empfiehlt sich, die dort aufgelisteten strukturellen Fähigkeiten als Anhaltspunkte für die gestalttherapeutische Diagnostik zu nützen. 3.3 Die Relation zwischen Persönlichkeits- und Borderlinestörungen Mentzos (1996) unterscheidet in seinem Modell zwischen psychischen Störungen, die sich in Symptomen manifestieren und solchen, die in Besonderheiten des Verhaltens oder des Charakters bestehen. Letztere breiten sich – als Charakter- oder auch Persönlichkeitsstörungen bezeichnet – vor dem Hintergrund des gesamten Spektrums symptomatischer Störungsbilder aus, das – mit Ausnahme der schizophrenen und schizoaffektiven Psychosen – von diversen neurotischen bis zu Borderlinestörungen und affektiven Psychosen reicht (vgl. Abb. 1, S. 303 ). Mentzos begründet dies damit, dass sich die in Attitüden, im Verhalten und im Charakter manifestierenden psychischen Störungen unter psychodynamischen Gesichtpunkten nicht wesentlich von den entsprechenden symptomatischen Störungen unterscheiden: Beide beruhen auf ähnlichen Konflikten bei ähnlichen strukturellen Mängeln und weisen ähnlich gelagerte Abwehr-, bzw. Verarbeitungsmechanismen auf. Wie bei den Neurosen die jeweiligen Grundkonflikte entweder über das Auftauchen von Symptomen verarbeitet werden können oder aber 14 Arbeitskreis OPD, 1998. Gestalttherapie 2.Korr 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 301 Frühe Störungen als Anwendungsgebiet von Gestalttherapie 301 sich in bestimmten, dauerhaften Charakterzügen, Verhaltensmustern und Erlebensweisen niederschlagen, so gilt dies auch für Persönlichkeitsstörungen. So wie es beispielsweise eine symptomatische Zwangsneurose mit einer entsprechenden Abwehr, die zu Zwangssymptomen führt, gibt, so kann der strukturell gleiche Konflikt sich mittels entsprechender Abwehrmechanismen, etwa einer Reaktionsbildung lediglich als Überfreundlichkeit, Übergenauigkeit oder Geiz im Charakter zeigen. Die psychotherapeutische Herausforderung im Umgang mit Charakterstörungen liegt darin, dass die damit verknüpften Attitüden und Verhaltensmuster ich-synton und als Selbstverständlichkeit nicht hinterfragt sind und – ähnlich wie Vorurteile – verteidigt werden. Es hängt auch vom gesellschaftlichen und situativen Kontext ab, wann überhaupt von einer Störung die Rede sein kann, bzw. wann Aspekte des Verhaltens und der Attitüden als „gestört“ und/oder störend wahrgenommen werden. Der Bereich von Persönlichkeits- bzw. Charakterstörungen umfasst somit beinahe das ganze Spektrum psychischer Störungen – oder umgekehrt formuliert – alle klinischen Zustandsbilder sind vor dem Hintergrund (und in Interaktion mit) der Persönlichkeit oder dem Charakter zu betrachten. Allerdings sieht Mentzos nur einen geringen Teil der uns klinisch begegnenden Persönlichkeitsstörungen im neurotischen Bereich angesiedelt. Vielmehr müsste man seiner Meinung nach von „Charakterpsychosen“, „Charakter-Borderline“ und „charakternarzisstischen Störungen“ sprechen, wobei das Wort Charakter nur bedeutet, dass der Modus der Verarbeitung sich nicht in Symptomen, sondern über die Entwicklung bestimmter Verhaltensmuster, Attitüden und Charakterzüge manifestiert. Nach diesem Modell wird auch verständlich, wie manchmal auch im Zuge von Therapien oder anderer lebensgeschichtlicher Entwicklungen und Veränderungen Symptome und/oder Charakterzüge einander ablösen, wie verschiedene Merkmale sich zu Syndromen finden und verfestigen. Die am häufigsten, wenngleich in unterschiedlicher Schwere auftretende Persönlichkeitsstörung ist die narzisstische (in Anlehnung an Kohut), die – bei schon relativ kohärentem Kernselbst – vor allem durch Probleme der Selbstwertregulation gekennzeichnet ist. Auf diese richten sich entsprechende Abwehrstrategien und manifestieren sich in charakteristischen Verhaltensmustern, die in der Literatur recht häufig und gut beschrieben sind.15 Daneben gibt es aber auch noch prognostisch ungünstigere Zustandsbilder, die psychoanalytisch als pathologischer Narzissmus bezeichnet werden: Unter der Voraussetzung, dass das Selbst die Auseinandersetzung mit der realen Bezugsperson aufgegeben hat und sich selber omnipotent als „Nabel der Welt“ phantasiert, scheinen menschliche Beziehungen wertlos. Solche Menschen können sich auch auf eine therapeutische Beziehung nicht einlassen bzw. zerstören sie, bevor so etwas wie ein gemeinsamer 15 Vgl. Kohut, 1979; Johnson, 1988; Salem, 1999. Gestalttherapie 2.Korr 302 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 302 Elisabeth Salem emotionaler Raum entstehen kann.16 Darin liegt ein Gegensatz zu Personen mit – nach DSM III beschriebenen – histrionischen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen, die sich von ihren bedeutsamen Beziehungen extrem abhängig fühlen und entsprechend regressiv, passiv-erwartungsvoll und klammernd sind. Insgesamt ist für die Psychotherapie die Tatsache von Bedeutung, dass hinter einer Charakterstörung oft eine tieferliegende Verletzlichkeit des Selbst liegen kann, mitunter auch eine von psychotischem Ausmaß (vgl. Mentzos, 1996, S 120). 4. Gesichtspunkte der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung von Borderline- und Schweren Persönlichkeitsstörungen Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, Konzepte stationärer Behandlung vorzustellen. Dennoch ist zu erwähnen, dass es in den letzten Jahren auch in Österreich neben psychotherapeutisch orientierten Abteilungen für Psychosomatik und Suchtkranke vermehrt auch psychiatrische Abteilungen mit psychotherapeutisch orientierten Stationskonzepten gibt. Dies erleichtert auch die ambulante Psychotherapie schwerer Störungen, da stationäre Aufenthalte vonnöten sein können und ein psychodynamisches Verständnis seitens der Station auch die weitere ambulante Therapie fördert. Im folgenden sollen einige Besonderheiten der ambulanten Therapie von Borderline- und schweren Persönlichkeitsstörungen aufgezeigt werden.17 4.1 Therapiebeginn und die Etablierung einer therapeutischen Beziehung Die Therapie-Motivation ergibt sich häufig über äußeren Druck – sei es aufgrund des wiederholten Misslingens von privaten Beziehungen, von Arbeitsbeziehungen oder aufgrund institutioneller Zwänge (z. B. Abhängigkeit von illegalen Drogen). 16 17 Solche Menschen suchen nur selten freiwillig Psychotherapie. Ich erinnere mich beispielsweise an einen äußerlich gut angepassten „Betrüger“ – zugewiesen von der psychotherapeutischen Ambulanz –, der aufgrund der Anamnese und seiner aktuellen Verhaltensmuster dem pathologischen Narzissmus zuzuordnen war. Er litt unter innerer Leere, Beziehungsproblemen und schien sehr ehrgeizig zu sein. Sein Bemühen um Aufrichtigkeit in der therapeutischen Beziehung war berührend. Mechanismen der Spaltung, Konfluenz, Idealisierung und Entwertung schützten ihn davor, seine von Sadismus und Hass geprägte Gefühlswelt wahrzunehmen, vor allem aber zu spüren. Nach einer Unterbrechung aufgrund eines Urlaubs brach er die Therapie ab. Behandlungskonzepte für Borderline-Störungen sind ausführliche beschrieben bei Yontef (1993, S. 419–489) und Yeomans et al. (1994), weniger ausführlich bei Janssen (1999) und Votsmeier (1999). Gestalttherapie 2.Korr 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 303 Frühe Störungen als Anwendungsgebiet von Gestalttherapie 303 In der Vorgeschichte finden sich wiederholte Therapie-Versuche und Abbrüche; Relativ symptomfreie Phasen und Phasen mit schwer beeinträchtigenden Symptomen (z. B. Suizidhandlungen, massive Essstörungen, etc) wechseln einander ab. Oft werden keine Zusammenhänge zwischen eigenen Persönlichkeitsanteilen und den aus entsprechenden Handlungen resultierenden innerpsychischen und äußeren, sozialen Konsequenzen wahrgenommen, da projektive, rationalisierende Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen, sowie – im Falle von Widersprüchen – Spaltungsmechanismen vor einer solchen Einsicht schützen. Symptombildungen werden als ich-synton und naturgegeben („Ich bin halt ein reizbarer Mensch!“) erlebt. Bei solchen Menschen bedarf es einer längeren Anlaufzeit, während der die bis dahin nicht bewussten, aber bewusstseinsfähigen Inhalte und Zusammenhänge durch klärende und konfrontierende Interventionen verstehbar gemacht werden. Auf diese Weise sind während der ersten Sitzungen Therapieziele und Rahmenbedingungen, die Arbeitsweise und Arbeitsteilung während der Therapie sowie etwaige Hindernisse und Risiken zu klären und zu vereinbaren. Dabei ist es wichtig, ein „vorauseilendes“ scheinbares Einverständnis zu bemerken und zu hinterfragen, sowie auch den Ausdruck von Einwänden und Kritik gegenüber der Therapie zu fördern, um so auch negativen Einstellungen und Gefühlen innerhalb der therapeutischen Beziehung Raum zu schaffen.18 Dabei werden vor allem die Ich-Funktionen angesprochen und gefordert, sowie ein Gefühl der Selbstverantwortung gefördert. Auf diese Vereinbarungen kann immer wieder zurückgegriffen werden, sie können auch neu diskutiert und verändert werden und bieten damit auch in „gefährlichen“ Zeiten so etwas wie einen gemeinsamen Anker. 4.2 Besonderheiten während der Therapie Auffallend und schwierig zu handhaben ist eine anfänglich oft stark idealisierende Übertragung, die einerseits für den Aufbau der Therapiemotivation günstig erscheint, andererseits Kontakt und Beziehung hemmt. Unmerklich werden dabei oft in der TherapeutIn projektiv „Tabus gegenüber bestimmten Fragen und Themen“ etabliert, die mit einer unterschwelligen Drohung des Abbruchs verknüpft sind. Als Gegenübertragung entspricht dem z. B. der Eindruck, besonders vorsichtig sein zu müssen, das Befinden oder die Therapiemotivation nicht durch lästige oder bedrohliche Fragen gefährden zu dürfen. Solchen Phantasien und Gefühle verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit, ihre Bedeutung in zwischenmenschlichen Beziehungen gilt es zu verstehen, um sie als Hinweis auf entsprechende innere Beziehungs- und Gefühlswelten der Patienten nutzen zu können. 18 Zu Erst-Interview siehe bes. Kernberg (1985, Teil 1) und Yeomans et al. (1994). Gestalttherapie 2.Korr 304 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 304 Elisabeth Salem Besondere Vor(aus)sicht ist im Umgang mit selbst- und therapiegefährdendem Verhalten geboten, das manchmal mit harmlos erscheinenden Phänomenen beginnt (wie zu spät kommen), von dramatischen äußeren Ereignissen überlagert und verdeckt wird und im „überraschenden“ Therapie-Abbruch münden kann. In solchen Fällen ist es sehr hilfreich, die schon aus der Anamnese bekannten Gefährdungen auch für die vorliegende Therapie vorwegzunehmen (sich nicht beschwichtigen zu lassen) und genau zu besprechen, wie solche Tendenzen erkennbar wären und was hilfreich wäre. Auch sind vorangegangene Therapieversuche ausführlich zu explorieren; und zwar in dem, was KlientInnen daraus jeweils für sich lernen konnten und was letztlich zum Abbruch geführt hat. Insgesamt ist das Bewusstwerden und der Ausdruck der Ambivalenz in der Therapiemotivation und des Widerstandes gegen Veränderung zu fördern, und der etwaige Sekundärgewinn von Störungen relativ früh herauszuarbeiten. Auch wie möglicherweise (wieder-) auftretende suizidale und andere Krisen rechtzeitig erkennbar sind und ein selbstverantwortlicher Schutz und Umgang damit zu bewerkstelligen ist, soll von Beginn an besprochen werden, da andernfalls eskalierende Selbstmord-Drohungen die Grenzen der ambulanten Therapie, bzw. des/der TherapeutIn (z. B. durch nächtliche Anrufe) überschreiten und zum Abbruch führen können.19 Dabei werden vergangene suizidale Tendenzen oft „vergessen“ oder bagatellisiert (weil sie mit zuviel Angst verknüpft sind); aktuelle Selbstmorddrohungen können „verkleidet“ auftreten und tauchen manchmal nach Sitzungen in Form von Phantasien und Gefühlen von Unbehagen, Angst und Sorge, etwas übersehen zu haben, in der TherapeutIn auf. Es empfiehlt sich, darüber bei der nächsten Gelegenheit zu sprechen und die vermuteten Grundlagen dafür in der Beziehungswelt der KlientIn zu erforschen. Eine besondere Herausforderung bieten KlientInnen, die anhaltend schweigen und angeben, nicht reden zu können, da ihnen nichts einfällt. Beginnende GestalttherapeutInnen sind versucht, kreative Medien anzubieten, was aber meist nichts anderes bedeutet, als einen Widerstand charakterlicher oder symptomatischer Natur zu umgehen, statt ihn zu bearbeiten und die damit verknüpften Gefühle zu erforschen. Ein großes Maß an Sensibilität und Takt erfordert der Umgang mit dem Phänomen der Unaufrichtigkeit: Angst, Scham, Projektionen und Spaltungsmechanismen führen dazu, dass sich durch Auslassungen und Hinzufügungen in der therapeutischen Beziehung emotionale Befriedigungen, wie das Gefühl des Einverständnisses, besonderen Mitgefühls und Loyalität, „erwirtschaften“ lassen, was in der Folge dazu führen kann, dass die Angst, seine/ihre „schlechten“ Teile zu zeigen, ins Unermesslich steigt und einen destruktiven Zirkel von Bedürftigkeit, Scham, Abwehr und Aggression, vernebelt durch Verwirrung, Unaufrichtigkeit und Auslassungen in Gang setzt. 19 Eine ausführliche klinische Beschreibung der Psychosomatik verschiedener Formen der Suicidalität findet sich bei Kind, 1992. Gestalttherapie 2.Korr 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 305 Frühe Störungen als Anwendungsgebiet von Gestalttherapie 305 Im Zusammenhang mit dem Phänomen der Unaufrichtigkeit wird besonders deutlich, wie wichtig eine professionell-verständnisvolle und zugleich nicht wertende, neutrale Haltung in der Therapie mit solchen KlientInnen ist: Einerseits, um selber nicht emotional verwickelt zu werden, andererseits, um damit auch dem/der KlientIn wohlwollende und taktvolle Klarheit bieten zu können und ihre Angst vor „realen“ Konsequenzen, wie z. B. Liebesverlust oder weggeschickt zu werden, eingrenzen zu können und bearbeitbar zu machen. Im Zuge der ausführlichen Besprechung und Klärung der aus Vorgeschichte und Art der Störung möglicherweise resultierenden Krisen und dem Erarbeiten hilfreicher und selbstverantwortlich gesteuerter Verhaltensweisen etabliert sich der/die TherapeutIn als ein Gegenüber, dem auch unangenehme und peinliche Dinge erzählt werden können; ein Gegenüber, das die für die Durchführung einer Therapie notwendigen Parameter und Umgangsweisen auch einfordert und das mit den dabei auftretenden Aggressionen und Schwierigkeiten auch so umgehen kann, dass (anstelle der anfänglich notwendigen Idealisierung) zumindest ansatzweise eine realistisch vertrauensvolle therapeutische Beziehung entsteht. Neben einfühl samer Begegnung erfährt der/die KlientIn, auch auf der Ich-Ebene angesprochen zu werden. Dabei wird der reflexive Modus als stützende Hintergrundfunktion aktiviert, was auch eine Stärkung des Ich zur Folge hat.20 Die therapeutische Beziehung wird durch die während einer längerfristigen Therapie wiederkehrenden Krisen noch oft auf die Probe gestellt: Idealisierungen treten immer wieder auf, Gegenübertragungsgefühle einer „seltsamen Abgehobenheit“, des Stillstands, der Vergeblichkeit verweisen etwa darauf, dass sich wieder unausgesprochene meist negative Übertragungsgefühle „angesammelt“ haben, die anzusprechen, zu bearbeiten und zu verstehen sind. Neben die Erforschung der Inhalte, welche die KlientInnen aus dem „Jetzt und Dort“ (Gegenwart), und aus dem „Dort und Früher“ (Vergangenheit) beziehen, tritt der emotionale Ausdruck und das Verstehen des „Hier und Jetzt“ und des „Hier und Dann/Damals“ innerhalb der therapeutischen Beziehung. Die Therapie entwickelt sich entlang beider Achsen, wobei dem Verstehen der gegenwärtigen Beziehungen, einschließlich der in ihnen jeweils involvierten unterschiedlichen Standpunkte, gegenüber der Erforschung der Kindheit der Vorrang einzuräumen ist. Dabei reicht es nicht aus, sondern schädigt u. U. die KlientInnen, wenn nur der subjektiven Erfahrung des Borderline-KlientInnen empathisch gefolgt wird (Yontef, 1993, S. 470). Vielmehr ist dem Fehlen, der Auslassung von Polaritäten und Perspektiven, dem Vermeiden ebenso wie projektiven Verzerrungen realer Objekte aktiv nachzugehen. In der dialogischen Auseinandersetzung zwischen TherapeutIn und KlientIn lässt sich die Fähigkeit zu „awareness“ und Kontakt sowohl hinsichtlich der eigenen Position als auch der des be20 Zum reflexiven Modus als Selbst-Stützung s. Votsmeier, 1999, S. 728 f. Gestalttherapie 2.Korr 306 13.05.2004 10:16 Uhr Seite 306 Elisabeth Salem deutsamen Anderen erweitern. Es bedarf dazu allerdings einer „autonom gesteuerten und wachsamen“ Aufmerksamkeit seitens der TherapeutIn (Yontef, 1993, S. 471). So gleicht die längerfristige Therapie mit Borderline-KlientInnen einer Schifffahrt bei rasch und extrem wechselndem Wetter: Umsichtig vorbereitet und detailliert miteinander besprochen, können beide – TherapeutIn und KlientIn – die Reise antreten, wobei die Ziele oft verloren zu gehen drohen, und auf getroffene Therapievereinbarungen zum Schutz und zur Festigung des Erarbeiteten, wie auch zur Neu-Orientierung immer wieder zurückzugreifen ist. Mit ihrem Schwerpunkt auf der Orientierung im Hier und Jetzt sowie der spezifischen Schulung, die eigene Gegenübertragung und die Ganzheitlichkeit des Anderen wahrzunehmen, und einer wohlwollend neutralen und doch selektiv authentischen Grundhaltung scheint die Gestalttherapie besonders geeignet, Borderline-PatientInnen ein haltendes, aber auch standhaltendes Gegenüber zu bieten. Eine hohe Sensibilität für Übertragung und Gegenübertragung lässt uns die damit verknüpften Wahrnehmungen und Phantasien nutzen, rechtzeitig aufgreifen und im Hier und Jetzt bearbeiten, damit die daraus gewonnene Erfahrung integriert werden kann.