Gestalttherapie Vorlesung „Klinische Sozialarbeit“ Prof. Dr. Ralph Viehhauser Fritz Perls (1893-1970) Kurzbeschreibung der Gestalttherapie Die Gestalttherapie hat sich vornehmlich aus der therapeutischen Praxis entwickelt. Sie orientiert sich an humanistischen Grundprinzipien. Auch Perls vertrat die Ansicht, dass der Mensch seinem Wesen nach gut sei, man müsse ihm nur ermöglichen, diese seine wahre Natur auszudrücken, sich seiner Grundbedürfnisse und Wünsche bewusst zu werden und sich auf seinen „Instinkt“ zu verlassen. Psychische Probleme haben ihren Ursprung in Frustrationen und Verleugnungen dieses angeborenen Guten. Im Gegensatz zur Klientenzentrierten Therapie setzt die Gestalttherapie sehr stark auf ein aktives, direktives Vorgehen und den Einsatz von Techniken. Gestalttherapeutisches Störungskonzept Nach Auffassung der Gestalttherapie leidet der neurotische Mensch v.a. daran, dass er vermeintlich kritische Ereignisse und Regungen vermeidet. Er blendet seine Wahrnehmung aus und vermeidet es, Gedanken oder Handlungen zu Ende zu führen. Das führt allmählich dazu, dass er den Kontakt zur Umwelt und auch zu sich selbst verliert, dass sein Erleben verarmt, dass sein Verhalten oft richtungslos wird, insgesamt eben mehr durch Vermeidung als durch sinnvolle Zielsetzungen bestimmt ist. Perls spricht von „growth disorder“ oder „disturbance of development“. Gestalttherapeutisches Behandlungskonzept Entsprechend der starken psychoanalytischen Grundausrichtung ist Gestalttherapie im Kern eine Widerstandsanalyse. Im Gegensatz zur Psychoanalyse wird der Widerstand aber nicht gedeutet, sondern dem Klienten erfahrbar gemacht. In der Therapie geht es demnach v.a. darum, dem Klienten zu helfen, dass ihm unerwünschte Gefühle bewusst werden und er die Fähigkeit entwickelt, diese zu ertragen. Die wichtigsten Schritte praktischer gestalttherapeutischer Arbeit (1) Bewusstheit entwickeln für das „Hier und Jetzt“ (2) Erleben der selbst-frustrierenden Aspekte des eigenen Verhaltens (3) Verantwortung für sich selbst übernehmen (4) Akzeptanz für sich selbst entwickeln (5) Aufgeben der Fassadenhaftigkeit und Kontaktvermeidung. Konfrontativer Stil Im Gegensatz zu anderen Therapieverfahren wird in der Gestalttherapie der Konfrontation und Frustration des Klienten eine große Bedeutung beigemessen. Dahinter steckt die Überzeugung, dass der Klient eine starke Tendenz hat, problematische Inhalte und Gefühle zu vermeiden und auf diese Weise seine Neurose aufrechterhält. Konfrontationen sollten allerdings auch in der Gestalttherapie nur auf der Basis einer tragfähigen Therapeut-Klient-Beziehung stattfinden, die gleichzeitig durch Unterstützung gekennzeichnet ist. Gestalttherapeutische Regeln „Hier-und-Jetzt“-Prinzip „Ich“-Sprache statt „Es“-Sprache Semantik der Verantwortlichkeit Das Prinzip „Interaktion“ Das Prinzip „Bewusstheit“ Gestalttherapeutische Experimente Gestalttherapeuten regen vielfältig zu Experimenten an, die dem Klienten neue Erfahrungen ermöglichen sollen. Beispiele hierfür sind: Dialogspiele: zur Bearbeitung der Polarität der Wünsche zur Integration verschiedener Persönlichkeitsanteile imaginative Dialoge mit nicht anwesenden Personen Rollenspiele Weitere Experimente sind z.B.: imaginative Techniken: (z.B. die Technik des leeren Stuhls), Traumarbeit, Körperarbeit, Übungen zur Entwicklung der Sinne, zum Empfinden und Ausdrücken von Gefühlen, zu Kontakt und Begegnung mit anderen, Arbeit mit kreativen Medien. Kern-Gebote der gestalttherapeutischen Lebensphilosophie (nach Marcus, 1979) Lebe jetzt! Kümmere dich um die Gegenwart statt um die Vergangenheit und die Zukunft! Lebe hier! Beschäftige dich mit dem Anwesenden statt mit dem Abwesenden! Höre auf, dir etwas vorzustellen. Erfahre die Realität! Höre auf, unnötig zu denken! Besser: Probier und schau! Experimentiere mit dir! Drücke dich lieber aus, anstatt zu manipulieren, zu erklären, zu rechtfertigen und zu urteilen! Lass dich auf Unerfreuliches und Schmerz ebenso ein wie auf Freude! Schränke dein Bewusstsein nicht ein! Also: Vermeide nichts! Akzeptiere keine „sollte“ oder „müsste“ außer deinen eigenen. Bete keine Götzenbilder an! Übernimm die volle Verantwortung für deine Handlungen, Gefühle, Gedanken! Akzeptiere dich (und die anderen), wie du jetzt bist (wie sie jetzt sind)! Bewertung der Gestalttherapie Positives: Die Gestalttherapie hat eine sehr große Vielfalt an therapeutischen Techniken entwickelt, hat v.a. viel zum Baustein „erlebnisaktivierende Methoden“ beigetragen. Kritik: Die theoretische Basis ist wenig elaboriert. Empirische Wirksamkeitsnachweise fehlen bislang weitgehend! Gestalttherapeutische Konfrontations-Techniken können in der Hand von unzureichend ausgebildeten Therapeuten dem Klienten schaden zu fügen. Vorsicht vor „Psychotechniker“ und „Gestaltklempner“! Bedeutung der Gestalttherapie für die Klinische Sozialarbeit Gestalttherapie wird in Deutschland seit Jahrzehnten von einer beachtlichen Zahl von Fachkräften praktiziert: in verschiedensten Aufgabenfeldern: nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch in der Beratung und speziellen Feldern der Sozialarbeit mit klinischen Aufgabenstellungen. Pauls (2004, S. 194): „Im Felde der klinisch-sozialarbeiterisch orientierten Fallarbeit bieten erfahrungsorientierte Methoden viele Anregungen und Regeln, wie man Lernsituationen schaffen kann, die nachholende und übende Erfahrungen in verschiedensten psychischen und sozialen Funktionsbereichen fördern.“