SUCHT: - Die theoretischen Grundlagen für die Soziale Arbeit - von A. Knoll Die Humanistischen Konzepte Seit dem Anfang der siebziger Jahre haben sich in Deutschland neue psychotherapeutische Konzepte durchgesetzt. Diese Therapierichtungen wurden in Amerika maßgeblich von deutschsprachigen Emigranten entwickelt, die vor ihrer Flucht aus dem Nazi-Deutschland meistens Psychoasnalytiker gewesen sind. Man spricht heute davon, daß es dann zu Beginn der siebziger Jahre einen regelrechten „Psychoboom“ gegeben hat, mit dem neue Therapien in Mode kamen. Dieser Psychoboom war maßgeblich beteiligt an der Entwicklung der ersten Drogentherapieeinrichtungen im Lande. Etwa zur gleichen Zeit wurde Alkoholismus in Deutschland als Krankheit anerkannt. Dadurch wandelten sich die sozialfürsorgerisch und erzieherisch ausgerichteten Heilstätten für Alkoholkranke zunehmend in psychotherapeutisch ausgerichtete Fachkliniken. Dies führte dazu, daß sich die Therapeuten der alten Heilstätten zunehmend an den moderneren Drogentherapiekonzepten orientierten. Als Resultat dieser Entwicklung kann heute gesehen werden, daß die Drogen- und Alkoholtherapien sich in ihrer psychotherapeutischen Ausrichtung völlig aneinander angeglichen haben. Dazu gehört, daß einige der neuen Drogentherapierichtungen wieder verschwunden sind und daß diejenigen, die heute übrig geblieben sind sich weit verbreitet haben und von Renten- und Krankenversicherungen anerkannt werden. In ihrer Suchttheorie greifen die humanistischen Methoden vielfach auf die Psychoanalyse zurück. Einige der humanistischen Therapien gehören heute zu den Standardweiterbildungen für Psychologen, Sozialarbeiter und Ärzte. Sie finden darüberhinaus in allen psychosozialen Bereichen Anwendung, also von der allgemeinen Lebensberatung über die Suchttherapie bis hin zur Arbeit in der Psychiatrie. Selbst moderene Managment- und Unternehmensberatungen bedienen sich in ihren Schulungen heute diesen Methoden und Konzepten. Die bekanntesten Konzepte der humanistischen Psychologie heißen Klientenzentrierte Gesprächsführung, Gestalttherapie und Psychodrama. Diese Therapierichtungen wurden zunächst in Abgrenzung zur Psychoanalyse entwickelt. An der Psychoanalyse wird kritisiert, daß sie den Mensch zunächst als reines Triebwesen sieht, welches rücksichtslos versucht seine Selbsterhaltungs- und Arterhaltungsenergien umzusetzen. Erst durch Druck aus der Umwelt fügt sich dieses Triebwesen den Anforderungen der Realität und bildet ein eigenes Ich aus. Die humanistischen Modelle hingegen sehen den Menschen zunächst uneingeschränkt als gut an. Demzufolge ist der Mensch ein Wesen welches nach Wachstum, Entwicklung und Sinn strebt. An diesem Wachstumsprozessen wird er aber in unterschiedlichster Weise durch äußere Umstände gehindert. Wenn diese Entwicklungsbehinderungen nicht aus dem Weg geräumt werden können entwickeln sich Störungen, die dann später zu seelischen Beeinträchtigungen jedweder Art werden können. Grundsätzlich wird zwar das psychodynamische Erklärungsmodell der Sucht von der Ich-Psychoanalyse übernommen, es gibt aber eine etwas andere Herangehensweise. Man beschäftigt sich mit Wachstumshindernissen. Wenn bestimmte Entwicklungsprozesse gestört verlaufen, können keine neuen Erfahrungen gemacht werden. Das Individuum versucht immer wieder die alte Phase abzuschließen. Die Gestalttherapie nennt das in ihrem Psycho-Jargon ein „unerledigtes Geschäft“. Erst wenn ich das alte Geschäft erledigt habe, kann ich neue Geschäfte machen und mich weiterentwickeln. Im Fall Claudia wird das sehr gut deutlich. Claudia hat als kleines Mädchen alles daran gesetzt von ihrer Mutter angenommen und bestätigt zu werden. Sie war hübsch und klug. Dafür bekam sie aber nur Kälte und Ablehnung von der Mutter zu spüren. Das „Geschäft“ wäre vermutlicht erledigt gewesen, wenn Claudias Mutter ihrem Kind gezeigt hätte, daß sie liebenswert ist. Weil das vernutlich nicht angemessen geschehen ist, versuchte Claudia immer wieder, sich als liebes und kluges Mädchen zu präsentieren und die negativen, aggressiven und kritschen Persönlichkeitsanteile zu unterdrücken. Selbst als Claudia die besten Noten in der Schule hatte, verhinderte die Mutter ihren weiteren Wachstumsprozeß, indem sie ihr den Besuch einer weiterführenden Schule versagte. Dadurch, daß Claudia von ihrer Mutter nicht angenommen wurde konnte sie den Entwicklungsprozeß, indem positive und negative Persönlichkeitsanteile verschmolzen werden, nicht abschließen. Weil dieses „Geschäft nicht erledigt“ wurde, gelang es Claudia nie sich als ganzer Mensch fühlen, die aggressiven Anteile ihrer Person blieben abgespalten. Deshalb kann sie später zwar klug und hübsch sein, sich innerlich aber nie so fühlen. Innerlich bleibt sie gehemmt und unsicher weil sie ihre aggressiven Energien 1 SUCHT: - Die theoretischen Grundlagen für die Soziale Arbeit - von A. Knoll nicht aktivieren kann. Erst nachdem sie Wodka getrunken hat bekommt sie künstlich für eine Weile das verschmelzende Gefühl. Sie ist dann ein ganzer Mensch und kann ihre Lebensenergien mobilisieren. In ihren Liebesbeziehungen wiederholt Claudia nun auch diese Spaltungen. Nur diejenigen Männer sind für sie interessant, bei denen sie auch wieder diese Aufspaltung erleben kann. Die guten Gefühle in der Liebe und Sexualität, die bösen Gefühle im Streit und in den Schlägen. An ihrem ersten Freund, der sie nicht schlug, hat sie bald das Interesse (und die Lust) verloren. An den schlagenden Männern hing sie und je brutaler sie geschlagen wurde umso leidenschaftlicher konnte sie auch die Sexualität erleben. So kommt es, daß das Leben der erwachsenen Claudia fast ausschließlich von dem Versuch geprägt war, endlich die „alten Geschäfte“ zu erledigen. Aus Sicht der Gestalttherapie verarbeitet Claudia ihre Erfahrungen, im „Hier und Jetzt“, also in der Gegenwart, nicht angemessen. Sie versucht statt dessen ständig einen alten, unabgeschlossenen Konflikt aus ihrer Vergangenheit abzuschließen. Dadurch, daß sie unbewußt in ihren Partnerschaften immer wieder den Versuch unternimmt, die früheren emotionalen Konflikte mit ihrer Mutter abzuschließen, ist sie nicht wirklich wach im Hier und Jetzt. Das führt dazu, daß sie keine wirklich neuen Erfahrungen macht. Sie ist gefühlsmäßig in der Vergangenheit gefangen. Für eine Weile kann sie ihre alten Konflikte künstlich beheben, indem sie Wodka trinkt. Bei diesen Gelegenheiten hat sie kurzzeitig das Gefühl, den alten Konflikt abgeschlossen zu haben. Sie fühlt sich frei und als „ganzer Mensch“. Da aber die Droge (der Wodka) seine Wirkung nur für eine begrenzte Zeit entfaltet, wird ihr das Fehlende, nach dem Nachlassen der Alkoholwirkung, noch mehr Schmerz bereiten. Um der Unerträglichkeit des inneren Schmerzes zu entgehen, sucht sich Claudia nun Quellen äußeren Schmerzes. Dazu bieten sich jetzt die schlagenden Männer an. So gesehen stellen die prügelnden Partner für Claudia keine Strafe sondern eine Hilfe dar. Aus diesem Teufelskreis kann Claudia nur herauskommen, wenn es ihr gelingt, während der Therapie die alten unabgeschlossenen Konflikte, zu bearbeiten und abzuschließen. Aus der Sicht des Psychodramas sind alle Menschen von Natur aus kreativ und zum Handeln bestimmt. Claudias Handlungsmöglichkeiten sind jedoch aufgrund ihrer psychosozialen Vorgeschichte defizitär und verkümmert. In der psychodramatischen Therapie sollen nun die Handlungsmöglichkeiten wiederhergestellt werden. Der Begründer des Psychodramas, J. L. Moreno hat beobachtet, daß Kinder ihre Alltagskonflikte im Spiel verarbeiten. Die am weitesten entwickelte Form des Kinderspiels zur Konfliktbewältigung ist das Rollenspiel. In den Rollten Vater, Mutter, Kind verarbeiten unsere Kinder viele Konflikte. Sie gelangen dadurch zu Kreativität und unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten. Claudia war aber durch die Schwere ihrer Konflikte derart blockiert, daß sie diese Möglichkeiten als Kind gar nicht wahrnehmen konnte. Das wird erst später deutlich als Claudia sich in der Disco gehemmt und hilflos fühlt. Erst durch den Alkoholkonsum gelingt es ihr „mitzuspielen“ (ausgelassen zu tanzen und zu flirten). Folglich ist auch aus der Sicht des Psychodramas der Alkoholkonsum ein Hilfsmittel, spielerische Aktivitäten und kreatives Handeln zu ermöglichen. Viele alkoholkranke Menschen, die einmal mit Therapie in Berührung gekommen sind, haben auch Rollenspiele kennengelernt. Dabei kann beobachtet werden, daß bei einer ganz erheblichen Zahl dieser Menschen eine große Abneigung gegen Rollenspiele besteht. „Komm mir bloß nicht schon wieder mit diesen komischen Rollenspielen, ich bin doch hier nicht im Kindergarten.“ Solche Sätze hören Berater und Therapeuten besonders aus dem Munde alkoholkranker Menschen sehr häufig. Gerade der Widerstand gegen diese spielerische Konfliktbearbeitung weist auf die besondere Sinnhaftigkeit dieser Methoden hin. Ohne Alkohol konnte Claudia, genau wie die meisten ihrer Leidensgefährten, keine kreative Ausgelassenheit erleben. Mit Alkohol sind viele Menschen mit Suchtproblemen zu den albernsten und dümmlichsten Spielchen in der Lage, wie ein Blick auf Karnevalsbräuche oder Urlaubsausschweifungen unter dem Motto Ballermann und Mallorca uns beweisen. Die Gesprächspsychotherapie ist auch unter den Bezeichnungen klientenzentrierte Gesprächsführung oder non-direktive Beratung bekannt. Diese Methode ist in der Sucht-Psychotherapie im engeren Sinne weniger verbreitet. Stattdessen finden wir sie mehr in der ambulanten Behandlung Suchtkranker, also in den Beratungsstellen. Der Grund dafür liegt in der betont nicht-direktiven Ausrichtung dieses Konzeptes. Das bedeutet, daß die Wertvorstellungen und Sichtweisen des Therapeuten weitgehend in den Hintergrund treten und direktive Maßnahmen vermieden werden. Ratschläge, Empfehlungen und Bewertungen werden nicht gegeben. Die hilfesuchende Person mit ihren jeweiligen Wünschen Zielen und Wertvorstellungen steht im Mittelpunkt. Die subjektive Sicht der eigenen Innenwelt und der umgebenden Außenwelt wird 2 SUCHT: - Die theoretischen Grundlagen für die Soziale Arbeit - von A. Knoll uneingeschränkt akzeptiert. Claudia und Stefan haben sich nach Abschluß ihrer stationären Therapie in der Fachklinik eine solche Therapie zur Nachsorge ausgesucht. Ziel der beiden war es, das eigene Gefühlsleben im Alltag besser verstehen zu können. Die Gesprächspsychotherapie nach Carl Rodgers geht im Grunde davon aus, daß das persönliche Wachstum sehr eng mit dem Vermögen zusammenhängt, sich selbst reflektieren zu können und für die eigenen Empfindungen Worte zu finden. Diese Fähigkeit wurde aufgrund äußerer Einflüsse bei Stefan und Claudia nicht hinreichend ausgebildet. Sie erlebten ihre Gefühle meist als diffus, unklar und allgemein. In der ambulanten Nachsorgetherapie begegnete ihnen die Gesprächstherapeutin mit uneingeschränkter Wertschätzung, Wärme und Einfühlungsvermögen. Diese drei Modalitäten sind als Grundeinstellungen der Gesprächpsychotherapioe unter dem Begriff „Therapeutenvariablen“ bekannt geworden. Weil sie sich von der Therapeutin geschätzt und akzeptiert fühlten, konnten sie von ihren alltäglichen Problemen nach der Therapie erzählen. Die Therapeutin spiegelte ihnen nun mit ihren eigenen Worten die gefühlsmäßigen Äußerungen. Durch die „Spiegelung des emotionalen Erlebnisinhaltes“ konnte Stefan nun differenzierte Worte für seine Gefühle finden. Das war besonders wichtig nachdem er eine Absage bei einer Stellenbewerbung erhalten hatte. In dieser Situation fühlte er „Saufdruck“. Dies ist ein sehr unklarer und diffuser Gefühlszustand den viele trockene Alkoholiker kennen. In der Gesprächstherapie erzählte er von diesem Erlebnis und in den Spiegelungen durch die Therapeutin fielen dann Sätze wie: „ Da fühlten sie sich wohl sehr niedergeschlagen, ..... das hat sie anscheinend ziemlich traurig gemacht, ....... na, das scheint sie aber wirklich sehr wütend gemacht zu haben... ..“ Dadurch daß Stefan, mit Hilfe der Spiegelungen durch seine Therapeutin, das undeutliche Gefühl „Saufdruck“ differenzieren konnte und statt dessen Niedergeschlagenheit, Trauer und Wut empfinden konnte, verschwand der Saufdruck. Man kann aus Sicht der Gesprächspsychotherapie sagen, daß Stefans Eltern vielleicht verhindert haben, daß ihr Sohn Wörter für seine Emotionen finden konnte. Das haben sie getan, indem sie unangenehme Gefühle fern gehalten, verneint und beschwichtigt haben anstatt sie ihm als Kind zu spiegeln und im somit die Fähigkeit vermitteln sie zu kennen und zu bewältigen. Bei den hier vorgestellten humanistischen Konzepten handelt es sich nur um eine Auswahl der heute am verbreitetsten Ansätze. Sie haben sich allerdings in den meisten Beratungsstellen und Kliniken weit verbreitet. Wie schon erwähnt greifen sie heute weitgehend auf die psychoanalytische Suchttheorie zurück und ergänzen diese mit ihrer jeweils eigenen Sichtweise. Oft arbeiten Therapeuten aus verschiedenen Schulrichtungen erfolgreich zusammen. Dies spricht für eine Kombination verschiedener Ansätze unter dem Dach einer psychodynamischen Theorie. 3