Gestalttherapie

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Gestaltpsychologie
Ein weiteres tragendes Element der Gestalttherapie kam aus der Gestaltpsychologie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Max Wertheimer
(1880–1932) entwickelt wurde. Die Kernaussage der Gestaltpsychologie
liegt darin, dass die Wahrnehmung des Menschen nicht einfach die Umwelt abbildet und es dann ins Bewusstsein transportiert, sondern dass das
Wahrgenommene bereits vorher strukturiert wird. Ein einfaches Beispiel
für diesen Vorgang stellen viele Punkte dar, die in Kreisform angeordnet
sind. Obwohl objektiv nur ein paar Punkte zu sehen sind, nehmen Auge
und Gehirn die Punkte dennoch als Kreis wahr, wenn sie dicht genug beieinanderliegen (vgl. Abb. 2.1).
A bbildung 2.1: Unser Gehirn nimmt die Umwelt (hier: Punkte)
strukturiert wahr (hier: in Form eines Kreises)
Um die Annahmen der Gestaltpsychologie zu überprüfen, bemühte sich
vor allem der Neurologe Kurt Goldstein (1878–1965) um wissenschaftliche und experimentelle Vorgehensweisen, und es gelang ihm tatsächlich,
die Hypothesen zu bestätigen, sodass die wahrnehmungstheoretischen
Erkenntnisse in der psychologischen Fachwelt anerkannt wurden. Kurt
Lewin (1890–1947) übertrug diese Erkenntnisse auch in die Sozialpsychologie, die unter anderem den Begriff der „Ganzheit“ hervorhebt.
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In aller Kürze kann gesagt werden, dass sich die Gestaltpsychologie damit
befasst, wie die menschliche Wahrnehmung Gestalten „richtig“ erfasst,
während die Gestalttherapie den Fokus darauf legt, dass das Individuum
aufgrund von psychischen Prozessen und Lernerfahrungen einige Gestalten „nicht richtig“ bilden kann.
Existenzialismus
Eine weitere Strömung, die zum Entstehen der Gestalttherapie beigetragen hat, ist der Existenzialismus. Zu seinen berühmtesten Vertretern gehören Sartre, Heidegger, Jaspers oder Camus.
Im Kern sagt der Existenzialismus aus, dass vorgefertigte Denkmodelle
oder Anleitungen für das Leben nicht wirklich relevant seien, sondern
dass vielmehr das Lebensgefühl zähle, die Gegenwart, der erlebbare Moment. Edmund Husserl (1859–1938) vertrat die Ansicht, dass der Blick
auf das Konkrete gerichtet werden solle, auf die Phänomene, die rund
um den Menschen wahrnehmbar sind, und weniger auf irgendwelche
Theoriekons­trukte.
Fritz Perls schreibt dazu (1969, S. 24): „Der Existenzialismus will Konzepte abschaffen und nach dem Prinzip der Bewusstheit arbeiten, auf der
Grundlage der Phänomenologie.“
Noch heute ist die Phänomenologie ein sehr wichtiger Teil der Gestalttherapie, denn sie vermeidet Interpretationen und bleibt bei dem, was wirklich vorhanden ist.
Der Einfluss des Existenzialismus auf die Gestalt ist sicherlich weniger
konkret als beispielsweise der der Gestaltpsychologie; es handelt sich dabei eher um eine Art Zeitgeist, um eine grundsätzliche Veränderung der
Gesellschaft, die sich in vielen Bereichen – unter anderem in Kunst oder
Pädagogik – bemerkbar machte.
Ich-Du-Beziehung
Einen sehr viel konkreteren Einfluss auf die Entwicklung der Gestalttherapie nahm der jüdische Religions- und Sozialphilosoph Martin Buber
(1878–1965), vor allem mit einem seiner Hauptwerke Ich und Du (1983),
in dem er eine dialogische Auffassung von Kommunikation vertritt. Im
Wesentlichen unterscheidet Buber das „Ich“ und das „Du“, welches eine
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Beziehung auf gleicher Ebene darstellt und eine respektvolle und achtsame Haltung einnimmt. Demgegenüber existiert ebenfalls ein „Ich und Es“,
wobei das „Es“ auf etwas Objekthaftes hinweist, etwas, das sich nicht auf
gleicher Ebene befindet und dementsprechend auch mit weniger Respekt
und Achtsamkeit behandelt wird.
Angewandt auf die Wurzeln der Gestalttherapie bedeutet dies, dass die
klassische, frühere Psychoanalyse mit dem Patienten auf der Couch und
einem Therapeuten, der die Aussagen des Patienten interpretiert, sich eher
auf einer „Ich-Es- Ebene“ bewegt, während die Gestalttherapie das Dialogische sucht, die Begegnung auf gleicher Ebene mit einer offenen inneren
Haltung von Respekt und Würdigung, einer „Ich-Du-Beziehung“.
Laura Perls studierte in den 1920er-Jahren bei Buber, und Fritz Perls kam
ebenfalls mit den Schriften von Landauer und Buber in Berührung, allerdings finden sich keine direkten Hinweise auf den Einfluss dieser Werke in
den ersten Büchern von Fritz Perls.
Spätestens aber die nächste Generation von Gestalttherapeuten wie Gary
Yonntef, Lynn Jacobs oder Erving und Miriam Polster beschäftigte sich
eingehend mit den Schriften von Martin Buber und deren Bedeutung, mit
der „wirklichen Begegnung“ von Klient und Therapeut“ und der Authentizität in dieser Beziehung.
Körper und Bewegung
Prägend für die Gestalttherapie, vor allem in der Arbeit von Laura Perls,
war sicherlich auch die Einbeziehung vom Körper, nicht nur in Bezug zu
Mimik, Gestik, Körperhaltung und Atmung, sondern auch in der konkreten Anwendung von Bewegung, Berührung und Kontakt. Auch Musik
und andere kreative Medien wurden zur Unterstützung des therapeutischen Prozesses angeboten. Da Laura Perls dem Tanz sehr verbunden war,
lag es nahe, dass sie nicht nur ruhig mit ihren Klienten vis-á-vis arbeitete,
sondern der Gestik und Mimik, vor allem aber der Bewegung Raum gab.
Wesentlich starrer erscheint im Gegensatz dazu die klassische Psychoanalyse, die den Klienten auf der Couch liegen lässt, während der Therapeut
dabei sitzt und fast ausschließlich kognitiv arbeitet und weniger den ganzen Körper mit einbezieht.
Die Gestalttherapie bevorzugt generell eher experimentelle Methoden,
denn dabei steht das Erfahrungslernen der Klienten im Vordergrund und
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mit allen Wahrnehmungskanälen können neue Ressourcen entdeckt oder
ausgebaut werden.
Die Gestalttherapie lässt sich zusammenfassend beschreiben als eine T herapieform, die aus der Psychoanalyse hervorgegangen ist, aber von Fritz und L aura
Perls wesentlich weiterentwickelt wurde, und zwar durch Einflüsse der Gestaltpsychologie, des Existenzialismus, des Gedankenguts von Martin Buber und letztendlich auch durch die persönliche Entwicklung der beiden Gründer in kritischer
Auseinandersetzung mit ihren persönlichen Vorlieben und ihren wechselnden
Umweltbedingungen.
2.3 Krankheit aus Sicht der Gestalttherapie
Was bedeutet es eigentlich, „krank zu sein“? Ist ein Mensch bereits krank,
wenn er sich nicht gesund fühlt, oder bedarf es der Diagnose eines Arztes,
Heilpraktikers oder Therapeuten, um Krankheit zu diagnostizieren? Zur
näheren Bestimmung des Phänomens „Krankheit“ werfen wir zuerst einmal einen Blick auf die „Gesundheit“.
Die Gestalttherapie versteht unter Gesundheit einen Zustand, der ein
fortwährendes Sich-Einlassen auf den Lebensprozess ermöglicht, ein Vo­
ranschreiten von Situation zu Situation, die einerseits gekennzeichnet sind
durch Wahrnehmung der äußeren Begebenheiten und Kontakte und andererseits durch innere Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse und Erfahrungen. Dabei ist das Erleben im „Außen“ und im „Innen“ eines Menschen
miteinander verwoben.
Der Krankheitsbegriff ist vor allem im psychischen Bereich umstritten,
denn eine konkrete Diagnose, beispielsweise „Depression“, kann sowohl
beruhigend auf den Betroffenen wirken, weil er endlich zur diagnostizierten Krankheit Behandlungsmethoden ansteuern kann, sie kann andererseits aber auch als eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung wirken, indem alle Symptome der Depression nun deutlich zutage treten, die
vorher vielleicht gar nicht da waren. Therapeuten reden auch davon, dass
Klienten sich „in ihrer Krankheit einrichten“ oder sie gar als Schutzschild
oder Rechtfertigung dafür benutzen, was sie alles nicht machen können.
Damit liegt ein klares Dilemma vor: Einerseits müssen psychische Krankheiten beschrieben und klassifiziert werden, wie dies für Deutschland im
ICD (International Classification of Deseases; Internationale Klassifikation
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psychischer Störungen) der Fall ist, denn viele psychische Störungen bessern sich durch medikamentöse Behandlungen, und dafür bedarf es natürlich der Diagnose. Andererseits „erfüllen“ sich oft Symptome für eine
bestimme psychische Störung, wenn sie einmal diagnostiziert wird.
In der Praxis sieht das dann oft so aus, dass ein Klient von seinen Symptomen und Schwierigkeiten erzählt und der Arzt, Heilpraktiker für Psychotherapie oder der Therapeut eine „passende Nummer“ im ICD heraussuchen, um eine Diagnose zu stellen und der Krankenkasse eine „Nummer
der Krankheit“ geben zu können, damit eine Therapie auch bewilligt wird.
Bei der heutigen Lage der Verordnungen werden von der Krankenkasse
nur die tiefenpsychologische Therapie, die Verhaltenstherapie und die
psychologische Gesprächstherapie bezahlt, und diese dürfen auch nur von
Fachärzten und Psychologen durchgeführt werden, in Ausnahmefällen
auch von anderen Berufsgruppen, beispielsweise Sozialpädagogen oder
Sozialarbeiter, die bei Einführung des Psychotherapeutengesetzes 1999
bereits genügend Beratungs- und Therapiestunden nachweisen konnten.
Dies bedeutet, dass sämtliche humanistische Therapieansätze wie Gestalttherapie, Psychodrama oder die Integrative Bewegungstherapie nicht von
den Krankenkassen anerkannt und bezahlt werden. Dies wiederum führt
dazu, dass außerhalb von Kliniken und ambulanten Einrichtungen humanistische Therapien nur für Selbstzahler angeboten werden können – zum
Unmut vieler Klienten und Therapeuten.
Es liegt aber auch ein klarer Vorteil darin, dass die Gestalttherapie neben
anderen humanistischen Ansätzen nicht von der Krankenkasse abgerechnet werden kann: Es muss somit auch keine Diagnose oder Klassifizierung
erfolgen, der Klient wird nicht auf seine Krankheit „festgelegt“. Positiv ist
dies auch deshalb, weil in der Praxis die Unterscheidung zwischen „gesund“ und „psychisch gestört“ oft nur schwer zu treffen ist. Beispielsweise gelten bestimmte Ess- oder Schlafstörungen laut ICD als psychische
Störungen, doch haben einige ansonsten „gesunde Menschen“ genau diese Schwierigkeiten und Störungen. Ist eine Klientin nun also psychisch
krank, weil sie Schwierigkeiten mit dem Essen hat, aber körperlich gesund
ist und ansonsten ihr Leben sehr gut meistert? Eine knifflige Frage! Mit
dem Verzicht auf eine festlegende Diagnostik lässt die Gestalttherapie viel
Raum für den Klienten selbst, genau herauszufinden, wie sein Ist-Zustand
gerade aussieht und wie er diesen mit therapeutischer Hilfe verändern
will.
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