Das Jetzt-Prinzip - Weiterbildung

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Das Jetzt-Prinzip
Stefanie Seimetz Mai 1993
"Das Jetzt-Prinzip" - dieser Grundsatz in der Gestalttherapie hat mich von Anfang an
fasziniert und war eines der Motive für mich, die Ausbildung zu machen. Wie wichtig es für
mein Leben sein könnte, dieses "Jetzt" zu begreifen, das habe ich in der Meditation erfahren,
besonders in einem Kurs für Zen-Meditation. Dort haben wir versucht, zu spüren, was "jetzt"
ist.
Mein großes Interesse an diesem "Jetzt" rührt aber auch aus der Erfahrung mit einer psychisch
kranken Frau her, die eine lange Therapiegeschichte hinter sich hat. Trotz unzähliger
Sitzungen, jahrelangen Suchens und Bohrens hat sich für diese Frau das Leben nicht
wesentlich verändert und sie steht noch immer regelmäßig am Rande des Selbstmordes. Ich
habe nie verstanden, wie sehr die gefühlskalte Mutter noch in der Gegenwart dieser Frau
vorkommt - obwohl die Mutter schon sehr lange keine wirkliche Rolle mehr spielt und aus
dem Leben der Frau längst verschwunden ist. In der Therapie hat meine Bekannte sich wieder
und wieder mit der Vergangenheit beschäftigt, festgestellt, was ihr alles entgangen ist, was
man ihr zugefügt hat - schreckliche Sachen. Aber ich habe irgendwann begriffen, dass sie
diese schrecklichen Entbehrungen in der Gegenwart nicht mehr aufholen, nicht mehr gut
machen kann. Sie wird niemals diese Mutter als zugewandt und liebevoll erleben können,
einfach weil diese Mutter so nicht ist und weil die Zeit der Kindheit längst abgeschlossen ist.
"Jetzt" könnte meine Bekannte andere Erfahrungen machen - wenn sie denn wirklich könnte.
Wie also macht man Erfahrungen "jetzt"?
"Jetzt" ist die Grenze zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Wenn wir uns vorstellen,
dass Zeit gleichförmig fließt, gleichförmig vergeht, dann ist dieses "Jetzt" eine Grenze, die
sich bewegt - von der Vergangenheit in die Zukunft hinein (Skizze!). Diese Vorstellung von
Gegenwart liegt der klassischen Physik zugrunde, wie wir es vielleicht noch in der Schule
gelernt haben. Da muss Zeit eine gleich bleibende Größe sein. Um Versuche zu machen, muß
eine Sekunde immer gleich lang sein, muss der Zeitabschnitt, in dem ich untersuche,
vergleichbar, messbar, nachvollziehbar sein.
Was "Jetzt" ist, ist natürlich auch ein Thema der Philosophie - als ein Beispiel möchte ich
Heidegger zitieren, der erstaunlich nah an dieser physikalischen Definition von Gegenwart ist.
Er sagt "Jedes Jetzt ist auch schon ein Soeben oder ein Sofort." Wenn man das mal zu Ende
denkt, dann kommt man zu dem Ergebnis: Eigentlich gibt es gar kein Jetzt. Kann ja auch
nicht: eine Grenze hat ja selber keine Ausdehnung, sondern trennt zwei Räume voneinander.
Können wir denn gar nichts richtig erleben, gar nicht richtig leben, sondern sind immer hin
und her gerissen zwischen Vergangenheit und Zukunft?
Jeder weiß, dass wir Zeit so nicht erleben. Wir erleben ein "Jetzt". Ihr könnt mir sagen, ob ihr
mir jetzt noch zuhört, oder ob der Blick aus dem Fenster eure Aufmerksamkeit stärker fesselt
- jetzt, in diesem Augenblick.
Augustin hat ganz anders über Zeit gesprochen - für ihn gab es eigentlich nur das Jetzt, nur
die Gegenwart. Er sagt:
"Zeiten sind drei: eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem,
eine Gegenwart von Künftigem…und zwar ist da Gegenwart von Vergangenem, nämlich
Erinnerung; Gegenwart von Gegenwärtigem, nämlich Augenschein; Gegenwart von
Künftigem, nämlich Erwartung."
(Augustin in: Suzuki: "Der westliche und der östliche Weg." Seite 62: "Aber die Gegenwart,
wäre sie immerzu gegenwärtig und ginge nicht in Vergangenheit über, wahrlich, dann wäre
sie nicht Zeit, sondern Ewigkeit".)
Diese Erklärung von Augustin - immerhin schon 1600 Jahre vor Perls - scheint mir ganz gut
in den Grundsatz der Gestalttherapie "leben im Hier und Jetzt" hineinzupassen. Augustin sagt
da nämlich deutlich, dass auch Vergangenheit und Zukunft von uns nur in der Gegenwart
erlebt werden können.
Also, es gibt offensichtlich das "Jetzt", wie jeder von uns aus eigenem Erleben weiß, aber wie
lange dauert dieses Jetzt?
Zu diesem Thema habe ich ein spannendes Buch von Ernst Pöppel gelesen. Pöppel arbeitet
am Institut für Medizinische Psychologie in München. Zum Thema "Grenzen des
Bewusstseins" beschäftigt hat er zahlreiche medizinisch-psychologische Versuche
durchgeführt und ausgewertet. Seine Ergebnisse haben, so meine ich, eine Reihe von
Konsequenzen für unsere Vorstellung von "Bewusstsein" - also auch für die GestaltForderung nach "Bewusstheit", aber sie schaffen auch ganz neue Zugänge zur Erfahrung von
Welt, zu einer anderen, vielleicht realeren Sicht von Wirklichkeit. Einige von seinen
Ergebnissen möchte ich in diesem Referat vorstellen.
Zuerst also die Frage: Wie lange dauert das "Jetzt"?
Pöppel bietet in seinem Buch dazu einige Versuche an, die ich jetzt mit Euch wiederholen
möchte. Denn was Ihr selbst erlebt habt, versteht ihr viel einfacher, als wenn ich darüber nur
berichte.
1. Metronom (Pöppel 55)
Ein Metronom benutzen in der Regel Musiker, um beim Üben eines Stückes das Tempo
beizubehalten, also nicht an den schwierigen Stellen langsamer zu werden und an den
einfachen ein bisschen Tempo zu machen. Natürlich verändert der Musiker das Tempo
innerhalb eines Stückes, aber das will er ja bewusst einsetzen, es soll nicht davon abhängen,
ob er diesen Lauf hinkriegt oder nicht. Also schaltet er das Metronom als gleichmäßigen
Zeitgeber ein.
Ihr hört jetzt im genau gleichen Zeitabstand von einer halben Sekunde genau gleich laute
Schläge.
Einschalten (auf 120 Schläge pro Minute)und einige Zeit laufen lassen,
dann Stopp
Bitte versucht jetzt, in diesen gleichmäßigen Schlag einen Rhythmus hineinzuhören, einen
Takt, indem Ihr jedem zweiten Schlag des Metronoms einen stärkeren Akzent gebt.
Vorführen, dann ohne Stimme weiter laufen lassen, dann Stopp
Ihr könnt also der gleichförmigen Folge der Schläge einen subjektiven Akzent geben. Ihr
könnt auch jedem dritten oder jedem vierten Schlag innerlich so einen Akzent versetzen und
wenn ich dabei jetzt nicht spreche, kann sogar jeder in der Gruppe einen anderen, seinen
eigenen, Akzent in das Schlagen des Metronoms hineinhören.
Einschalten und Stopp
Von einer bestimmten Grenze ab geht das nicht mehr. Niemand kann zum Beispiel einen
Zehner - oder einen Elferrhythmus hören.
Dass diese Möglichkeit, Schläge zu einer Gestalt zusammenzufassen, begrenzt ist, kann man
leicht nachweisen.
Achtet bitte noch einmal jeweils auf Zweiergruppen, versucht also, immer zwei Schläge als
zueinander gehörig zu hören. Ich verändere einige Male den zeitlichen Abstand zwischen den
Schlägen.
Versuch: Einschalten bei 160 und bei 40
Jetzt steht das Metronom bei 40, das heißt der zeitliche Abstand zwischen den Schlägen
beträgt 1,5 Sekunden. Auf die Bildung von Gruppen muss man sich schon ganz schön
konzentrieren, manche schaffen es vielleicht jetzt schon nicht mehr. Leider hat mein
Metronom hier eine Grenze, es schlägt nicht langsamer. Im Labor hat Pöppel den Versuch
fortgesetzt und die Abstände noch vergrößert, bis er zu einer Grenze kam, die niemand mehr
überschreiten konnte. Diese Grenze der subjektiven Gruppenbildung liegt bei 2,5 bis 3
Sekunden. (Pöppel 55/56)
Pöppel hat diese Grenze übrigens nicht entdeckt, sondern der Begründer der experimentellen
Psychologie, Wilhelm Wundt.
Für das Gehirn liegt also eine zeitliche Grenze der Integrationsfähigkeit vor. Subjektiv
Akzente setzen bedeutet ja, zwei oder noch mehr Schläge zu einer Einheit, zu einer Gestalt,
zusammenzufassen. Der lautere - der subjektiv lautere - Schlag wird auf den leiseren bezogen
und beide zusammen bilden eine Einheit. Und so eine Einheit können wir nicht beliebig
ausdehnen. Pöppel nimmt an, dass dieser zeitlich auf wenige Sekunden begrenzte
Integrations-Mechanismus die Grundlage des „Jetzt" - Gefühls ist.
Ein anderer Versuch stammt nicht aus dem Bereich des Hörens, sondern des Sehens. Bitte
guckt euch den Würfel (Pöppel 57) auf dem Arbeitsblatt einmal an. Vielleicht kennen einige
von Euch dieses Bild schon. Man kann diesen Würfel auf zwei Arten sehen. Einmal ist das
untere Quadrat die Vorderseite des Würfels, das andere Mal ist das obere Quadrat die
Vorderseite.
Anschauen des Blattes, bis jeder die beiden Sichtweisen hat.
Wenn Ihr jetzt ein bisschen länger diesen Würfel - er heißt übrigens nach dem Entdecker
dieser Doppelperspektive "Neckerscher Würfel" - anschaut, dann könnt ihr den Wechsel der
Perspektive richtiggehend trainieren.
"Trainings"phase: auf Eigen-Befehl Wechsel der Perspektive.
Vielleicht habt Ihr schon gemerkt, dass Ihr eine gewisse Geschwindigkeit beim Kippen des
Würfels nicht überschreiten könnt. Lasst es uns jetzt mal in der anderen Richtung
ausprobieren. Bitte guckt euch jetzt den Würfel auf eine Weise an und vermeidet mit aller
Willenskraft, die andere Perspektive zu sehen.
kurze Pause, in der jeder feststellt, dass das unmöglich ist
Die zeitliche Grenze, wann man spätestens doch wieder den anderen Würfel sieht, liegt bei 3
Sekunden.
Es gibt nur einen Trick, diesem Wechsel der Perspektive zu entkommen - wenn man sich
nicht mehr auf den Würfel, sondern auf einzelne Punkte oder Linien konzentriert. Aber dann
ist ja auch nicht mehr der Würfel Inhalt des Bewusstseins, sondern eben diese Punkte oder
Linien.
Bitte seht euch jetzt das andere Bild (Pöppel 60) an. Ihr könnt sowohl einen Mann als auch
eine Maus sehen. Wenn Ihr bei diesem Bild jetzt das Spiel mit dem Wechsel der Perspektive
wiederholt, kommt ihr zum selben Ergebnis. Interessant ist, dass man jetzt wirklich auch von
den Inhalten ganz verschiedene Dinge sieht - eben war es ja immer noch ein Würfel, jetzt ist
es jeweils ein anderer Gegenstand.
Spannend ist auch: Wenn der Betrachter beide Interpretationsmöglichkeiten, also Mann und
Maus entdeckt hat, dann muss er auch beide sehen. Wenn man sich zum Beispiel dazu
zwingen will, nur die Maus zu sehen, stellt man fest, dass nach wenigen Sekunden schon
wieder der Mann gesehen wird.
Pöppel hat übrigens festgestellt, dass große Werke der Musik (z.B. Eingangsmotiv der 5.
Sinfonie von Beethoven) oder der Lyrik (z.B. Goethe "Prometheus") ebenfalls in dem 3Sekunden-Takt komponiert sind. Dieses Schema findet sich auch in Texten afrikanischer
Sprachen oder im Japanischen. Es handelt sich also nicht um kulturgeschichtliche
Entwicklungen oder gar Verabredungen, sondern offenbar um natürliche Vorgaben.
Was bedeuten diese Versuche für unser Verständnis vom "Jetzt"?
Wir können davon ausgehen, dass das Jetztgefühl eine subjektive Realität ist. Es gibt
Mechanismen in unserem Gehirn, die dafür sorgen, dass aufeinanderfolgende Ereignisse bis
zu einer Grenze von etwa 3 Sekunden zu einer Einheit zusammengeschweißt werden. Wir
haben weiter gesehen, dass eine Bewusstseinsinhalt jeweils eine Überlebenschance von drei
Sekunden hat und dass es innerhalb dieser Dauer immer nur einen einzigen
Bewusstseinsinhalt gibt. Dieser einmalige Bewusstseinsinhalt erscheint uns als gegenwärtig.
Das Jetzt hat eine zeitliche Ausdehnung von maximal drei Sekunden (Zusammenfassung s.
Pöppel 63).
Wie kommt man nun von diesem kurzen "Jetzt" zur Gesamtheit von Zeit? Was also macht
"Dauer" aus, wann ist auch etwas langweilig, wann nicht?
Mir scheint an diesen Versuchen von eben wichtig, dass das Zeiterleben subjektiv ist. Diese
Tatsache ist auch so eine Binsenweisheit aus dem eigenen Erleben, die aber in unserem
Umgang mit der Wirklichkeit gar keine Rolle spielt oder keine Rolle spielen darf.
Wenn ich sonntags meine Predigt halte, dann dauert das ungefähr 15 Minuten. Diese Zeit
vergeht mir wie im Fluge. Bei meinen Zuhörern kann ich das nicht mit der gleichen
Gewissheit sagen. Vielmehr muss ich wohl den genervten Gesichtern meiner Konfirmanden
entnehmen, dass ihnen diese mir so kurzweilige Viertelstunde unnötig lang erscheint - sie
langweilen sich.
Es ist aber doch für den genervten Konfirmanden wie für die engagierte Predigerin die gleiche
Zeit vergangen: auf unseren Uhren sind die Zeiger in einem Winkel von 90 Grad vorgerückt.
Es ist eben tatsächlich nicht dieselbe Zeit vergangen, und wir leben nur in der Fiktion, als
wäre Zeit immer gleich lang. Eine notwendige Fiktion vielleicht - ich weiß nicht, ob wir es
sonst hinkriegten, alle zur selben Zeit mit unserem Seminar beginnen zu können - aber eben
eine Fiktion.
Und das, so hat Pöppel gezeigt (Pöppel 85), hängt mit den Bewusstseinsinhalten, mit der Zahl
der "Jetzte" zusammen. Der amerikanische Physiker Richard Feymann hat formuliert "Zeit ist,
was passiert, wenn sonst nichts passiert." (Pöppel 16 und 84). Erst, wenn sonst nichts passiert,
kommt uns Zeit ins Bewusstsein. Wann immer uns die Zeit ins Bewusstsein kommt, wird uns
langweilig. Der Unterschied zwischen langweiligen und kurzweiligen Situationen liegt
offenbar darin, dass der mengenmäßige Inhalt dessen, was mir ins Bewusstsein kommt,
verschieden ist. Um im Beispiel zu bleiben, wenn ich in meiner Predigt damit beschäftigt bin,
meine Gedanken in Sprache zu übersetzen und versuche, meine Zuhörer zu erreichen, dann
kommen beständig neue Inhalte, die mich interessieren, ins Bewusstsein. Die genervte
Konfirmandin bekommt durch meine Predigt keine Bewusstseinsinhalte, die sie interessieren,
und außerdem hat sie keinerlei Möglichkeit, dieser Situation zu entkommen. Langeweile
entsteht also, wenn wenige mich interessierende Inhalte ins Bewusstsein kommen und
außerdem keine Möglichkeit besteht, diese Situation zu verändern (Pöppel 82).
Paradox ist nun: was uns in der Gegenwart als unendliche Langeweile erscheint, das ist als
Vergangenheit schnell vergangen. Was wir als kurzweilig erlebt haben, das ist im Rückblick
lang (Pöppel 86). Wer zum Beispiel im Urlaub einen Ausflug macht, den ganzen Tag
unterwegs ist, unbekannte Landschaft, Menschen, Situationen erfährt, der fragt sich vielleicht
am Abend, ob das wirklich alles an einem einzigen Tag passiert ist.
Auch diese Beobachtung ist alt - wer etwa den "Zauberberg" von Thomas Mann gelesen hat,
ist damit wohl vertraut. Interessant finde ich, dass dieses Erleben mit der Fähigkeit unseres
Gehirns zu tun hat, Bewusstseinsinhalte im Jetzt zu erfahren - im 3-Sekunden-Takt. Und die
Zeit "fließt" nicht gleichmäßig, jedenfalls erleben wir das nicht so, sondern mal vergeht sie
schnell - wenn ein Bewusstseinsinhalt den anderen ablöst, mal langsam.
Soweit die Ergebnisse Pöppels. Welche Konsequenzen haben diese Erkenntnisse für die
Gestalttherapie?
Ein entscheidendes Element der Gestalttherapie ist das "Jetzt-Prinzip".
Diesem Prinzip liegt eine Vorstellung von Zeit zugrunde, wie ich sie vorhin von Augustin
zitiert habe.
"Gestalttherapie betrachtet die Vorgänge des Erinnerns und des Planens als gegenwärtige
Funktionen, obwohl sie sich auf Vergangenheit und Zukunft beziehen. " (Polster 21) Die
Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Zukunft wird in der Gestalttherapie nicht
abgelehnt.
Wohl aber das Verhalten vieler Menschen, als befänden sie sich noch in der Vergangenheit
oder schon in der Zukunft. Was in der Vergangenheit geschehen ist, kann eine "unerledigte
Situation" sein und insofern noch immer in die Gegenwart einwirken. Nur, wenn etwas in der
Vergangenheit assimiliert wurde, also zuerst zerstört und dann dem eigenen Organismus
angepasst wurde, beeinflusst es die Gegenwart nicht negativ. Gestalttherapie begibt sich nicht
in die vergangene Situation hinein, als könne man diese nachträglich noch verändern, sondern
sieht auf die Auswirkungen der unerledigten Situation auf die Gegenwart. Wie zeigt sich die
unerledigte Situation aus der Vergangenheit in den Bewusstseinsinhalten des Betreffenden?
"Was früher zurückgedrängt ….war, wird jetzt durch gegenwärtig vorhandene motorische und
sensorische Realitäten wiedergeboren. Der Prozess wird durch Erkennung, Verstärkung und
Konzentration fortgesetzt, bis die motorische Entladung - die nur in der Gegenwart möglich
ist - den Menschen vom Zwang befreit, in der toten Vergangenheit zu leben."
(Polster 22)
Die Erfahrungen, die einer in der Therapie macht, sind also Übungen im uneingeschränkten
Leben im "Jetzt". Polster meinen "Da das Leben des Neurotikers grundsätzlich
anachronistisch ist, bedeutet jede Rückkehr zum gegenwärtigen Erlebnis in sich selbst schon
einen Angriff auf die Neurose."
(25)
Die Gestalttherapie geht mit den Ergebnissen von Pöppels Gehirnforschung an dieser Stelle
zusammen, als Erfahrungen, Bewusstsein eben tatsächlich nur im Jetzt - im Drei-SekundenTakt - gemacht werden können. Nur in dieser ganz kurzen Zeitspanne ist es überhaupt
möglich, einen Inhalt "festzuhalten", zu erkennen. Nur in den drei Sekunden kann ich etwas
erleben - natürlich immer wieder, wiederholt, aber eben nur Jetzt.
Kontakt, Sinneswahrnehmung, Erregung, Gestaltbildung - diese Elemente des Gewahrseins
oder der Bewusstheit (Perlst/Hefferline/Goodman 14/15) sind Erlebnisse, die mein Gehirn im
3-Sekunden-Takt bewältigt.
Das Wörtchen "mein" im letzten Satz habe ich ganz bewusst verwendet. Denn Pöppels
Erkenntnisse machen offenkundig, dass jeder Mensch ein eigenes "Jetzt" erlebt. Es gibt keine
allgemeingültigen Aussagen darüber, was denn "Jetzt" gerade passiert. Wie in dem Beispiel
mit der Langeweile: was ich zur Zeit in meine Bewusstseinsinhalte packe oder eben nicht,
hängt von mir selbst ab. Perls/Hefferline/Goodman empfehlen dementsprechend (53), den
"Sinn dafür zu schärfen, dass du es bist, der dies erlebt, was immer es sei." Sie sind der
Meinung, dass allein der pedantische Gebrauch der Wörter "jetzt", "hier" und "in diesem
Augenblick", der wie ein sprachlicher Kunstgriff aussieht, dazu hilft, die "Jetzigkeit" des
eigenen Erlebens klar und wirklich werden zu lassen.
Perls war der Meinung, dass "Bewusstheit per se - durch und aus sich selbst heraus ….heilsam sein kann" (Perls25).
Das Prinzip des Hier und Jetzt - und da bin ich wieder der bei Zen-Meditation angelangt, von
der die ganze Geschichte für mich ihren Ausgang nahm - beschreibt er als ein Koan, als eine
jener Aufgaben, die der Meister einem Zen-Schüler stellt, die unlösbar erscheinen. "Das Koan
lautet: nichts existiert außer dem Hier- und jetzt". (Perls 49) Es hört sich tatsächlich sehr nach
Zen-Buddhismus an, wenn er weiter schreibt "Das Jetzt ist…..der Ort der Ungewissheit, der
Schwebe; es ist ein Nullpunkt, es ist ein Nichtsein.
…….In eben dem Augenblick, in dem ich etwas erlebe und darüber spreche, meine
Aufmerksamkeit darauf richt, ist der Augenblick auch schon vergangen. Was nützt es also
über das "Jetzt" zu reden? Das nützt in vieler Hinsicht." (49)
Literatur:
Perls, F.S.: "Gestalttherapie in Aktion", Stuttgart 1991
Perls, F.S. u. Hefferline, R.F. u. Goodman, P.:
"Gestalttherapie Praxis", Stuttgart 1979
Polster, E. u.M.: "Gestalttherapie. Theorie und Praxis der integrativen Gestalttherapie.",
Frankfurt a.M. 1973,
Pöppel, E.: "Grenzen des Bewusstseins. Über Wirklichkeit und
Welterfahrung", Stuttgart 1988
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