26 29. August 2014 Roberto Prosseda ist einer der grossen Pianisten unserer Zeit – und noch viel mehr: Er tritt mit Robotern und Rock-Bands auf, in grossen Konzerthallen, aber auch in Krankenhäusern und Gefängnissen. Er baut längst vergessene Instrumente nach und erregte mit der Entdeckung und Uraufführung teils unbekannter Mendelssohn-Klavierwerke international Aufmerksamkeit Interview MAGAZIN EIN KLAVIERVIRTUOSE IM KAMPF GEGEN LEID UND LANGEWEILE von Claudia Magerl Maestro Prosseda, wann waren Sie zum letzten Mal in der Schweiz? Beim Montebello-Festival im Juli, nunmehr zum vierten Mal. Im Januar habe ich in Lugano am Pedalflügel ein Konzert mit der Orchestra della Svizzera Italiana gegeben und eine neue CD aufgenommen. Sie sind schon in vielen ganz grossen Konzerthallen aufgetreten. Wie fühlen Sie sich an einem so kleinen Auftrittsort wie Burg Montebello? Wohler als in den grossen! In Montebello habe ich einen viel besseren Kontakt mit dem Publikum. Durch die Nähe können die Menschen im Auditorium selbst die leisesten Töne hören, die in grossen Hallen verloren gehen. So ist ein grosses Ausdrucksniveau möglich. Sie sind Mendelssohn-Spezialist. Was gefällt Ihnen so an seiner Musik? Mendelssohn vereint Lyrismus und Formalismus. Seine Musik ist immer ehrlich. Er ist ein Meister grossen Ausdrucks, aber nie übertrieben. Man braucht allerdings viel Liebe zum Detail. Schumann, Liszt oder Chopin zum Beispiel sind einfacher zu interpretieren. Vielen Künstlern genügt es, sich allein auf ihre Musik zu konzentrieren. Ihnen nicht. Sie zeigen auch Forscherdrang, manchmal fast kriminalistische Züge, etwa wenn Sie nach unbekannten Mendelssohn-Stücken forschen oder beim Neubau des fast vergessenen Pedalflügels. Was reizt Sie an solchen zusätzlichen, aussergewöhnlichen Unternehmungen? Es ist immer das gleiche Motiv: Ein Musiker hat die Aufgabe, den Menschen Erfahrungen zu vermitteln, die sie nicht haben: starke, aber ehrliche Emotionen, intensiv und immer neu. Es gibt faszinierende Dinge zu entdecken, wie etwa die unbekannten Mendelssohn-Stücke, die rund 200 Jahre alt sind, um sie dann dem Publikum zu offerieren. Solche Entdeckungen sollen neue Stimulanzen darstellen, um der Langeweile der Zuhörer entgegenzutreten, denn die ist ein echtes Problem. Als Musiker sollte man sich überlegen: Wie bringe ich das Publikum dazu, mit der Musik mitzufühlen? Es ist unglaublich, wie viele Pianisten es gibt, die alle gleich spielen, als gäbe es ein Gleichheitsgesetz, das sie einhalten müssten. Ihr bislang exotischster Konzertpartner war wohl der Klavierroboter Teotronico. Obwohl er sich immer ein bisschen arrogant gibt, scheinen Sie bei Ihren gemeinsamen Auftritten stets grossen Spass zu haben. Warum begannen Sie, mit ihm zusammenzuarbeiten? Wie war das? Werden Sie auch weiterhin gemeinsam auftreten? Für mich ist es von grundlegender Wichtigkeit, das Publikum effektiv zu erreichen. Ich glaube, dass 99 Prozent der Menschen nicht ins Kammerkonzert kommen, weil sie Angst haben sich zu langweilen. Mit Teo kann man Interesse wecken. Mit ihm kann ich Zuhörlektionen über die Verschiedenartigkeit unserer Interpretationen machen. Die Zuhörer merken, dass ein Roboter zwar jede Note perfekt spielt, dass die Interpretation eines Menschen aber nuanciert ist und dadurch ganz andere Gefühle weckt. Und, ja, wir treten auch weiterhin zusammen auf, bei einem Konzert im September, danach bei einer Tournee in der Türkei und in den USA. Hätten Sie gerne 53 Finger wie Teo, um noch besser spielen zu können? Nein! (Lacht) Mit genügen meine zehn. Damit kann ich weitaus mehr Nuancen schaffen als Perfektion trifft Emotion: Musikroboter Teotronico und Pianist Prosseda sind nicht immer ein harmonisches, stets aber ein unterhaltsames Gespann Teo das mit seinen 53 schafft. Was ist seine grösste Schwäche? Er hat keine Emotionen und kann sie daher auch nicht teilen. Mögen Sie nur Kammermusik oder auch andere Stilrichtungen? Ich mag und höre so gut wie alle Musikrichtungen: Oper, Symphonie, Jazz, Filmmusik, auch Pop. Ich bin auch nicht gegen elektronische Instrumente. Es kommt nur darauf an, was dahinter steckt, auf die Kreativität. Es muss gute, ehrliche Musik sein, die intensive Emotionen weckt. Dann ist sie gut. Auf das Genre lege ich nicht sonderlich viel Wert. Wovon träumen Sie als Mensch, wenn Sie an die Zukunft denken? Natürlich will ich glücklich sein, aber mehr noch träume ich davon, andere glücklich zu machen. Ich träume davon, die Musik zu benutzen, um sie in den Dienst anderer zu stellen, um die Bezie- hungen zwischen den Menschen zu verbessern. So wie Töne immer in Beziehung zueinander stehen, stehen auch die Menschen miteinander in Beziehung. So hat jedes Gefühl mit dem anderer zu tun. Die Musik kann Dinge vermitteln wie vielleicht kein anderes Medium. Musik kann helfen, durch Gefühle Beziehungen zu knüpfen. Und was wünschen Sie sich als Musiker? Früher träumte ich vom grossen Ruhm. Heute aber finde ich zum Beispiel Glück darin, nach meinen Konzerten heim zu meiner Familie zurückzukehren. Ausserdem möchte ich die Musik aus dem Konzertsaal rausbringen, hinein in Schulen, Gefängnisse, sozialen Einrichtungen. So nehme ich an dem Projekt “Donatori di musica”* teil. Das ist ein Netzwerk aus Musikern, Ärzten und Freiwilligen, die Live-Musik etwa in die Krankenhäuser bringen. Mit solchen Auftritten versuche ich das Leiden, den Aufenthalt, die Konfrontation etwa mit Krebs zu lindern. Ich habe dabei oft festgestellt, dass es die Kranken nicht interessiert, ob ich berühmt bin oder nicht. Wir sollten also unser Ego vergessen, vielmehr mit anderen teilen. Ich versuche daher, durch meine Musik Glück zu bringen. Wir leben heute sehr oberflächlich. So ist auch die Musik nicht dazu da, reich und berühmt zu werden. Wichtig im Leben ist, auch mal Frieden zu finden, sich zum Beispiel mal die Ruhe zu nehmen, einander in die Augen zu schauen. Hier in der Schweiz nehme ich mir gern Zeit, die Berge anzuschauen, den Anblick zu geniessen. Das ist wahrer Reichtum! Was raten Sie der musikalischen Jugend? Gibt es denn unmusikalische Jugendliche? Die Musik gehört doch allen! Wir alle sind Musik. Wichtig ist es, das Herz zu öffnen um zu hören. So versteht man die anderen. Wenn wir offen sind zuzuhören, können wir immer eine Lösung für unsere Probleme finden, auch für solche wie Rassismus oder Kriege. Aber wir hören einfach nicht zu! Gute Musik kann da ansetzen. *Infos unter www.donatoridimusica.it Info Prosseda wann und wo? Neue Perspektiven sind sein Fach Egal wo das Piano steht – Hauptsache, es bringt Freude Sonntag, 31. August, Festival “Le altre note”, Piano-Duett mit Alessandra Ammara, Valdidendro (Provinz Sondrio, Lombardei), Infos: www.touringclub.it/evento/festival-lealtrenote, Eintritt frei. Donnerstag, 11. September, Kammermusikfestival Asolo Musica, “Bianchi, Rossini e Verdi” – eine Reise durch die Geschichte der klassischen italienischen Musik mit der preisgekrönten Rockband “Elio e le Storie Tese”, Asolo (Provinz Treviso, Venetien), Informationen unter: www.asolomusica.com. Mittwoch, 24. September, Torino Spiritualità, Projekt mit dem Schauspieler Toni Servillo, Turin, ab 10. September Vorverkauf unter www.torinospiritualita.org.