Einleitung Widersprüche und Fragen Infolge des sogenannten »Anschlusses« der Republik Österreich an das Deutsche Reich im März 1938 wurde während des Zweiten Weltkrieges mehr als eine Million wehrpflichtiger Männer aus dem Gebiet der »Ostmark«, wie das ehemalige Österreich nun genannt wurde, in die deutschen Streitkräfte eingezogen. Trotz der Fülle an Literatur über die Anschlusszeit, das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg ist unser Wissen über die Kriegserfahrungen dieses substanziellen Anteils der österreichischen Bevölkerung erstaunlich gering. So ist bekannt, an welchen Kriegsschauplätzen die mehrheitlich aus Österreichern zusammengesetzten Divisionen eingesetzt waren, aber wir wissen fast nichts über die innere Haltung dieser Männer, ihre subjektive Erfahrung von Wehrdienst und Krieg, oder wie sie sich – wenn überhaupt – von ihren altreichsdeutschen Kameraden unterschieden. Was ging in diesen Männern innerlich vor, die quasi über Nacht für ein anderes Vaterland kämpfen mussten? Wie war es möglich, ein relativ großes Kontingent mit einer eigenen Militärtradition augenscheinlich erfolgreich in die Wehrmacht zu integrieren? In diesen Bereichen ist unser Wissen bestenfalls punktuell. Gerade aus diesem Grund konnte bis heute immer wieder behauptet werden, dass die Österreicher unwillige Soldaten gewesen seien, die in einem Krieg, mit dem sie sich angeblich nicht identifizierten, geopfert wurden bzw. dass deren angeblich diskriminierende Behandlung seitens der deutschen »Fremdherrscher« auch in den Streitkräften die Entwicklung eines österreichischen Sonderbewusstseins gefördert hätte.1 1 So versicherte schon 1946 das von der österreichischen Regierung herausgegebene Rot-WeißRot-Buch (allerdings ohne jeden Beleg), dass jeder österreichische Soldat die »besonders ungerechte und demütigende« Behandlung von Österreichern in der Wehrmacht bestätigen könne. Zit. nach Heidemarie Uhl: The Politics of Memory. Austria’s Perception of the Second World War and the National Socialist Period, in: Günter Bischof/Anton Pelinka (Hg.): Historical Memory and National Identity, New Brunswick, N. J., 1997, 64 – 94, 68. F¦lix Kreissler 18 Einleitung Solche Aussagen entsprechen der von der Republik Österreich nach 1945 offiziell vertretenen und auf die Moskauer Deklaration der Alliierten von 1943 zurückgehende »Opferthese«, der zufolge Österreich für sämtliche Vorgänge während der Anschlusszeit keinerlei Verantwortung trägt, da der Staat Österreich Hitlers erstes Opfer und die Österreicher – mit ganz wenigen Ausnahmen – zur Mitarbeit im Dritten Reich gezwungen worden seien.2 Diese »Reinwaschung« der Österreicher von den Verbrechen des Dritten Reichs diente dazu, die Wiederherstellung der österreichischen Souveränität zu beschleunigen. Damit eng verbunden waren Behauptungen, dass die negative Anschlusserfahrung die Österreicher nach Jahrhunderten der Unklarheit schließlich ihrer eigenständigen nationalen Identität bewusst werden ließ. All dem steht jedoch in beinahe krassem Gegensatz der Gesamteindruck der äußerlichen Haltung der österreichischen Soldaten gegenüber, welcher sich vom Verhalten der Kameraden aus dem Altreich praktisch nicht abhebt: Wie die anderen Deutschen kämpften Österreicher loyal und entschlossen bis zum Kriegsende, wie diese waren Österreicher in Kriegsverbrechen verwickelt, und wie bei diesen war der Widerstand gering und die Desertionsrate unauffällig. Thesen und Antworten Die vorliegende Studie versucht, die Lücke in unserem Wissen über die Österreicher in der Wehrmacht zu schließen und dadurch die soeben aufgeworfenen Widersprüche aufzulösen, wobei die zentralen Themen sich thesenartig wie folgt umreißen lassen: • Spannungen und Reibereien aufgrund verschiedener Mentalitäten und Traditionen waren eher ein Phänomen der Vorkriegszeit während und unmittelbar nach der Eingliederung des Bundesheeres, das jedoch schon zu diesem Zeitpunkt durch eine Reihe integrationsfördernder Kräfte mehr als aufgewogen wurde. Individuelle Vorbehalte konnten allerdings weiterhin fortbestehen. (Der Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozess mit Hindernissen, Wien 1984) beschreibt die Anschlusszeit als Hölle auf Erden für Zivilisten und Soldaten gleichermaßen. Hermann Hagspiel (Die Ostmark. Österreich im Großdeutschen Reich 1938 bis 1945, Wien 1995, 331 – 332) behauptet, dass das österreichische Kontingent wie ein »Hilfsvolk« behandelt und dadurch in der Wehrmacht die Entwicklung eines neuen Nationalbewusstseins »vorweggenommen« worden sei. 2 Laut Unabhängigkeitserklärung der neuen österreichischen Regierung vom 27. 4. 1945 habe das NS-Regime das »Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt […], den kein Österreicher jemals gewollt hat […] oder gutzuheißen instand gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat«, online: http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen& Gesetzesnummer=10000204 (25. 8. 2014). Thesen und Antworten 19 • Eine der wichtigsten integrativen Kräfte war der Krieg an sich, und zwar sowohl hinsichtlich der Kriegsführung allgemein innewohnender Faktoren als auch mit dem spezifischen Kriegsverlauf zusammenhängender. Daran änderte auch die Verschlechterung der Kriegslage nach dem Angriff auf die Sowjetunion nichts, da die »positiven« durch »negative«, aber um nichts weniger integrative Kräfte ersetzt wurden, während andere (wie z. B. Kameradschaft) sich nach dem Grundsatz, »Je intensiver der Krieg, umso besser die Integration«, verstärkten. • Daraus ergibt sich ein signifikanter Unterschied zur Erfahrung und Haltung der österreichischen Zivilbevölkerung, wo diese Faktoren naturgemäß nicht wirksam sein konnten und die Integration, vor allem nachdem die negativen Auswirkungen der verschlechterten Kriegslage auch im Zivilbereich spürbar wurden, hinterherzuhinken begann. • Überdies förderte das von mir als »bewaffnete Volksgemeinschaft« bezeichnete Konzept (welches auch die Verbundenheit zwischen Front und Heimat, quer über alle Gaue hinweg, zu vertiefen suchte) die fruchtbare Zusammenarbeit der angeblich verschieden begabten Stämme in den Streitkräften und nutzte dabei die in Österreich besonders tief verwurzelten und populären Gefühle von Stammesdenken, Regionalismus und Heimatverbundenheit aus. • Überdies hegten viele Reichsdeutsche ein grundsätzlich positives Klischee von Österreichern, das genau dem Bild entsprach, das die Österreicher von sich selbst hatten und welches von der Monarchie über die Erste Republik und sogar bis in die Zweite Republik in wesentlichen Elementen unverändert blieb, sodass Österreicher auch im Dritten Reich trotz aller Anpassungen gewissermaßen »Österreicher« bleiben durften. Zusätzlich wurde als wichtiger Teilaspekt auch das Bild vom österreichischen Soldaten einer dezidiert positiven Revision unterzogen. • Klischees verdeutlichen auch die generelle Wichtigkeit des Individualismus bei der Beurteilung der österreichischen Integration, da weder Reichsdeutsche noch Österreicher monolithische Blöcke bildeten, sodass Einstellungen, Sicht- und Verhaltensweisen sehr von der Disposition des Einzelnen abhingen und nicht verallgemeinert werden dürfen. • Ähnlich gilt für die Wehrmacht, dass die österreichische Integration besser als Teilprozess der permanenten Vergrößerung der landsmannschaftlichen Zusammensetzung der Wehrmacht verstanden werden kann. Die Österreicher waren nur eines von vielen neuen Kontingenten, das vor 1938 nicht zum kleindeutschen Reich gehört hatte, und die Eingliederung von Soldaten mit einem anderen Hintergrund war daher keine singulär österreichische Erfahrung. • Zeit wirkte sich in mehrfacher Hinsicht integrationsfördernd aus, da die anfänglichen Spannungen hauptsächlich ein Generationenproblem waren, 20 Einleitung und immer mehr leichter begeisterungsfähige und beeinflussbare Jüngere nachrückten, die nicht nur mit dem reichsdeutschen System besser vertraut waren, sondern auch reichsdeutsche Haltungen zu übernehmen begannen. Die zusammenfassende Analyse aller Faktoren ergibt, dass der Wehrmachtsdienst der österreichischen Soldaten von einem anhaltenden und verschiedene Phasen durchlaufenden Integrationsprozess gekennzeichnet war, der von anfänglichen Spannungen zur vollständigen Integration bis hin zur praktischen Ununterscheidbarkeit der Österreicher von den Reichsdeutschen führte und nur von außen – durch die militärische Niederlage des Dritten Reichs – beendet wurde. Diese äußerst erfolgreich verlaufende Integration erklärt neben der hohen Loyalität und Kampfmoral der österreichischen Soldaten auch, warum sich innerhalb der Wehrmacht bis zu deren Kapitulation – besonders im Vergleich zur Zivilbevölkerung – praktisch kein »nationales« österreichisches Sonderbewusstsein entwickelte, weshalb die Opferthese sich auch bezüglich der österreichischen Wehrmachtsoldaten als völlig unhaltbar erweist. Ferner kann der Ist-Zustand des offiziellen großdeutschen Nationalismus jener Zeit dahingehend charakterisiert werden, dass die Wehrmacht sich nur hinsichtlich der Österreicher (und vermutlich auch Sudetendeutschen) zu einer »großdeutschen Kampfgemeinschaft« entwickelte, während alle anderen neuen Kontingente Großdeutschland nicht als ihr neues Vaterland akzeptieren wollten oder konnten. Methode Methodologisch wurden dieses Schlussfolgerungen durch die Sichtung, Sammlung, Kategorisierung und Interpretation von Äußerungen österreichischer Wehrmachtsoldaten erreicht, die geeignet sind, über deren Erfahrungen, also das, was ihnen passiv widerfuhr, und Haltungen, d. h., wie sie selber Dinge sahen und sich aktiv verhielten, Auskunft zu geben. Dazwischen gibt es keine scharfe Grenze, denn eine Haltung kann schließlich bereits die Reaktion auf eine vorangegangene Erfahrung sein. Obwohl Wehrmacht und Zweiter Weltkrieg den institutionellen bzw. chronologischen Rahmen bilden, ist dies keine klassische Militärgeschichte mit Analysen von Truppenbewegungen oder Schlachtverläufen, sondern vielmehr eine Nacherzählung des Zweiten Weltkrieges »von unten«, aus der Perspektive der österreichischer Soldaten, welche sich bemüht, so weit wie möglich »in die Köpfe der Soldaten hineinzusehen«. Nur so kann überprüft werden, ob die nach außen hin loyale Haltung auch wirklich den innersten Gefühlen der Soldaten Methode 21 entsprach, ob diese Ausdruck einer erfolgreichen Integration und Akzeptanz war, denn das Regime wusste selbst nur zu genau – entsprechend oft wurde dies in den Berichten über die Kampfmoral der Truppe betont –, dass »Stimmung« nicht gleichbedeutend mit »Haltung« ist.3 Die Darstellung weist auch starke kulturgeschichtliche Züge auf, da die Evidenz auch aus so verschiedenen Bereichen wie Ethnologie und Psychologie, Unterhaltung und Musik, Reisen und Tourismus sowie Essen und Trinken gewonnen wurde. Zwar bildeten die Österreicher kein eigenständiges oder abgesondertes Element innerhalb der Wehrmacht, etwa in der Form hundertprozentig österreichischer Einheiten, aber immerhin existierten mit den sogenannten »ostmärkischen Großverbänden« Divisionen, die sich überwiegend aus Österreichern zusammensetzten. Wie viele Historiker schließe auch ich mich den Erkenntnissen von Christoph Rass hinsichtlich der Aufrechterhaltung des regionalen Rekrutierungssystems an, wonach diese Divisionen trotz vorübergehender Engpässe und Durchmischungstendenzen als im Wesentlichen österreichische Einheiten gelten und damit über österreichische Haltungen und Erfahrungen Auskunft geben können. Dennoch sind vor allem in den militärischen Akten Äußerungen, die unzweifelhaft von Österreichern stammen, rar gesät, was eine große Herausforderung für den Anspruch der Repräsentativität darstellt, nachdem Aussagen möglichst über das gesamte Kontingent und nicht nur über einzelne Gruppen oder gar Einzelpersonen gemacht werden sollen, was eine Hauptschwäche vieler existierender Studien ist.4 Um ein ausgewogenes und aussagekräftiges Bild von der österreichischen Wehrmachtserfahrung zeichnen zu können, ist es daher notwendig, sowohl positive als auch negative Stimmungsäußerungen aufzuzeichnen und gegeneinander abzuwägen. Falls dabei eine kritische Masse von Aussagen mit Bezug auf ein bestimmtes Thema in dieselbe Richtung deutet, kann man daraus schließen, dass dies eine vorherrschende Meinung, Haltung etc. unter den Soldaten war. Falls auch nur eine Stimme von der Mehrheit abweicht, wird man so weit wie möglich untersuchen müssen, ob es sich dabei tatsächlich um eine Minderheitenmeinung handelte, oder ob diese aufgrund der Quellenlage möglicherweise verzerrt und in Wirklichkeit von einer signifikant größeren Personenzahl geteilt wurde. Weiter gilt es aufgrund der Provenienz der Äußerungen 3 M. I. Gurfein/Morris Janowitz: Trends in Wehrmacht Morale, in: POQ 10/1 (1946), 78 – 84, 2. 4 So stützt Hagspiel (Ostmark, 328) seine Behauptung von der Entwicklung eines neuen österreichischen Nationalbewusstseins innerhalb der Wehrmacht auf den Beschwerdebrief eines einzigen Soldaten. Kreissler (Lernprozess) scheint nur Hinweise gesammelt zu haben, die seine vorweggenommene Position unterstützen, und Karl R. Stadler (Österreich 1938 – 1945. Im Spiegel der NS-Akten, Wien/München 1966, 407) gibt offen zu, dass seine Studie um eine österreichfreundliche Darstellung bemüht ist. 22 Einleitung zu berücksichtigen, ob eine Stimmung für das gesamte Kontingent repräsentativ sein kann oder nur für eine oder mehrere Untergruppen. Schließlich gab es nicht die eine österreichische Wehrmachtserfahrung, sondern nur die Summe einer Vielzahl von Einzelerfahrungen, welche sowohl von persönlichen (wie etwa Herkunft, Alter, Beruf, Bildung, sozialer und politischer Hintergrund) als auch militärisch-strukturellen Kriterien (wie Waffengattung, Einheit, Rang, Verwendung und Kriegsschauplatz) beeinflusst wurde.5 Daher ist bei der Interpretation österreichischer Stimmen auch der Vergleich mit der Situation der anderen »Neulinge« in der Wehrmacht, also von Kontingenten aus Bevölkerungsgruppen, die vor 1938 nicht zum Deutschen Reich gehört hatten und sich im Dritten Reich und dem reichsdeutschen Militärsystem erst zurechtfinden mussten, aufschlussreich. Historiografie Die existierende Historiografie zum Thema »Österreicher in der Wehrmacht« ist von einem Mangel an direkt relevanten Werken und einem Überfluss an Werken zu eng verwandten Themen wie Zweiter Weltkrieg, die Wehrmacht im Allgemeinen und die Anschluss-Ära gekennzeichnet. Die aus der Waldheim-Affäre (1986) und den Gedenken zum 50. Jahrestag des Anschlusses (1988) hervorgegangene heftige Kontroverse um die Mitschuld von Österreichern an den Verbrechen des Dritten Reichs zwang die österreichische Geschichtsforschung zu einer kritischeren Untersuchung der Rolle von Österreichern während des Anschlusses.6 Gewiss, der Anschluss bedeutete auch Diktatur sowie die Beseitigung politischer Gegner und anderer unliebsamer Personen. Aber die große Masse der Österreicher hatte nichts zu fürchten; viele 5 Ein Wehrmachtsveteran bemerkte im Anschluss an den Vortrag von Otto Scholik bei der Gesellschaft für Politisch-Strategische Studien in Wien am 19. 10. 2004, dass niemand eine allgemeine »Kriegserfahrung« besitze, sondern dass es nur individuelle »Kriegserlebnisse« gebe. Vgl.: Johann Christoph Allmayer-Beck: Verständnis für die Kriegsgeneration, in: Ders.: Militär, Geschichte und politische Bildung, Wien 2003, 209 – 212, 210. Die Bedeutung des Generationenfaktors als Ursache für unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerung der Vergangenheit wird betont von Reinhart Koselleck: Der Einfluss der beiden Weltkriege auf das soziale Bewusstsein, in: Wolfram Wette (Hg.): Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, 324 – 343, 327; Gabriele Rosenthal: Biographische Verarbeitung von Kriegserlebnissen, in: Dies. (Hg.): »Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun.« Zur Gegenwärtigkeit des »Dritten Reiches« in erzählten Lebensgeschichten, Opladen 1990, 7 – 25, 18 – 21. 6 Der ÖVP-Präsidentschaftskandidat und ehem. UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim wurde beschuldigt, seinen Wehrmachtdienst absichtlich verschwiegen zu haben, was zu der (unbewiesenen) Behauptung führte, dass er in die Deportation der griechischen Juden verwickelt gewesen sei. Historiografie 23 Österreicher waren selber Täter oder in der Hierarchie des Dritten Reichs prominent vertreten, die freiwillige Mitgliedschaft in Partei und SS war hoch und der Widerstand genauso schwach ausgeprägt wie im Altreich. Wien erwarb sich bald einen zweifelhaften Ruf für antisemitische Ausschreitungen und effiziente Arisierungen.7 All dies wurde seither in zahlreichen Studien untersucht, sodass heutzutage die Opferthese von keinem Historiker mehr ernst genommen wird, und auch das offizielle Österreich hat mehrfach die Mitschuld von Österreichern an den Verbrechen des Dritten Reichs eingestanden.8 Ähnliches gilt für die Literatur zur österreichischen Nationswerdung nach 1945, welche von der Annahme, dass die zunehmende Anschluss-Frustration aufgrund altreichsdeutscher Bevormundung und der Einwirkungen des Krieges die Österreicher sich zunehmend ihrer eigenen Identität bewusst werden ließ, dominiert ist. Ursprünglich versuchte eine Reihe österreichischer Historiker und Publizisten, alle historischen Verbindungen zum deutschen Volk zu kappen und zu beweisen, dass die Österreicher schon immer ein eigenständiges Volk und österreichische Geschichte ein einziger Emanzipationsprozess von »Deutschland« gewesen sei.9 Heute ist das Verhältnis entspannter, und jüngst wurden auch differenziertere Studien vorgelegt, die belegen, dass nach 1945 noch etliche Jahrzehnte vergingen, bevor ein gefestigtes Nationalbewusstsein entstehen konnte, und dass viele Strategien in diesem Zusammenhang auf einer künstlichen Abgrenzung von Deutschland beruhten.10 Dennoch sind die allgemeine österreichische Ge7 Außer Hitler umfasste die Führung des Dritten Reiches die Österreicher Ernst Kaltenbrunner und Arthur Seyß-Inquart. Fast alle Gauleiter waren Österreicher. Wichtige Rollen in der Shoah spielten die Österreicher Odilo Globocnik, Franz Stangl und Anton und Alois Brunner. Gerhard Botz: Eine deutsche Geschichte 1938 bis 1945? Österreichische Geschichte zwischen Exil, Widerstand und Verstrickung, in: Zeitgeschichte 14/1 (1986), 19 – 38. Der Anschluss war von besonders abstoßenden antisemitischen Ausschreitungen begleitet, und Adolf Eichmann begann seine »Karriere« in Wien, wo er effizient die Auswanderung der Juden organisierte. Bruce F. Pauley : From Prejudice to Persecution. A History of Austrian Anti-Semitism, Chapel Hill 1992; Hans Safrian: Die Eichmann-Männer, Wien 1993. 8 1991 entschuldigte sich zum ersten Mal ein österreichischer Bundeskanzler, Franz Vranitzky, offiziell für die von Österreichern begangenen Verbrechen, und seit 1995 haben die österreichischen Regierungen wiederholt Programme zur Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus eingerichtet. 9 Alfred Missong: Die österreichische Nation, Wien 1946; Albert Massiczek (Hg.): Die österreichische Nation. Zwischen zwei Nationalismen, Wien 1967; Ernst Joseph Görlich/ Felix Romanik: Geschichte Österreichs, Innsbruck/Wien/München [1970]; Georg Wagner (Hg.): Von der Staatsidee zum Nationalbewusstsein. Studien und Ansprachen, Wien 1982. 10 Ernst Bruckmüller : Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien 1996; Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005; Peter Thaler : The Ambivalence of Identity. The Austrian Experience of Nation-Building in a Modern Society, West Lafayette, Ind., 2001; Matthias Pape: Ungleiche Brüder. Österreich und Deutschland 1945 – 1965, Köln 2000. Die Spannung zwischen dem 24 Einleitung schichtsschreibung, populäre Darstellungen, Medien und Öffentlichkeit immer noch stark von einer »nationalösterreichischen« Richtung geprägt, welche die österreichische Emanzipation und Eigenständigkeit betont und die deutschen Verbindungen herunterspielt oder ignoriert. Die umfangreiche Literatur über die Ostmark hat etliche Studien zu verschiedenen Aspekten der österreichischen Mitgliedschaft im Dritten Reich produziert, wie etwa die Durchführung des Anschlusses sowie die AnschlussZeit in politisch-administrativer, sozio-ökonomischer und regionaler Hinsicht.11 Der Sammelband »NS-Herrschaft in Österreich«, der Beiträge führender Historiker aus ihrem jeweiligen Fachgebiet beinhaltet, fasst den Forschungsstand von 1988 zusammen und wurde 2000 erneut herausgegeben.12 Obwohl das Ziel dieser Arbeiten darin besteht, die österreichische Rolle und Erfahrung im Dritten Reich möglichst umfassend zu beschreiben, haben sie die österreichischen Wehrmachtsoldaten bisher weitestgehend vernachlässigt und das Thema nur vereinzelt gestreift.13 Dieser Forschungsbereich wirft jedoch die wichtige Frage auf, ob und wie sich die Anschluss- und Kriegserfahrung der Zivilisten von jener der Soldaten unterschied? Die Stimmung unter den Zivilisten in der Ostmark – die vom Altreich kaum abwich – ist bisher am gründlichsten von Evan B. Streben nach einer eigenen österreichischen Identität und den starken deutschen Bindungen kennzeichnet Friedrich Heer : Der Kampf um die österreichische Identität, Wien 1981. Für nichtösterreichische Sichtweisen des jüngeren deutsch-österreichischen Verhältnisses siehe: William T. Bluhm: Building an Austrian Nation. The Political Integration of a Western State, New Haven 1973; John W. Boyer: Some Reflections on the Problem of Austria, Germany, and Mitteleuropa, in: CEH 22 (1989), 301 – 315; Harry Ritter : Austria and the Struggle for German Identity, in: GSR 15 (1992), 111 – 129. 11 Siehe u. a.: Erwin A. Schmidl: März 38. Der deutsche Einmarsch in Österreich, Wien 1987; Gerhard Botz: Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938 – 1940), Wien 1972; Norbert Schausberger: Der Griff nach Österreich. Der Anschluss, München 1978; Radomr Luža: Austro-German Relations in the Anschluss Era, Princeton, N. J., 1975; Rudolf G. Ardelt/Hans Hautmann (Hg.): Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich, Wien 1990; Tim Kirk: Nazism and the Working Class in Austria. Industrial Unrest and Political Dissent in the »National Community«, Cambridge/New York 1996; Gerhard Botz: Wien vom »Anschluss« zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, Wien/München 1978; Ernst Hanisch: Gau der guten Nerven. Die nationalsozialistische Herrschaft in Salzburg 1938 – 1945, Salzburg 1997; Stefan Karner : Die Steiermark im Dritten Reich 1938 – 1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung, Graz 1986; Gert Kerschbaumer : Faszination Drittes Reich. Kunst und Alltag der Kulturmetropole Salzburg, Salzburg [1988]. 12 Emmerich Tlos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich 1938 – 1945, Wien 1988; ders. u. a. (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000. 13 Walter Manoschek/Hans Safrian: Österreicher in der Wehrmacht, in: Tlos u. a., NS-Herrschaft (2000), 123 – 158; Hans Safrian: Österreicher in der Wehrmacht, in: Wolfgang Neugebauer/Elisabeth Morawek (Hg.): Österreicher und der Zweite Weltkrieg, Wien 1989, 39 – 57. Historiografie 25 Bukey analysiert worden und war von zunehmender Kriegsmüdigkeit und Defätismus gekennzeichnet, vor allem seit die negativen Auswirkungen des Krieges, wie Versorgungsengpässe und Bombenangriffe, auch die Ostmark erreicht hatten.14 Die vorliegende Studie kann daher auch als militärische Ergänzung zu Bukey gelesen werden. Die österreichische Militärgeschichtsschreibung widmet den Österreichern in der Wehrmacht naturgemäß mehr Aufmerksamkeit. Die Ergebnisse der älteren Werke, welche sich hauptsächlich mit strukturellen und rein militärischen Aspekten beschäftigen, sind bis heute nicht durch neuere Studien ersetzt worden und haben daher nichts an ihrer Gültigkeit eingebüßt. Peter Gschaiders unpublizierte Dissertation ist das Standardwerk zur Eingliederung des Bundesheeres in die Wehrmacht und bietet eine detaillierte Darstellung der organisatorischen und rechtlichen Aspekte des Eingliederungsprozesses inklusive der Übernahme und Umschulung der Offiziere. Die Studie von Gschaider erwähnt Spannungen zwischen Österreichern und Reichsdeutschen aufgrund verschiedener Mentalitäten und Traditionen, identifiziert aber auch bereits einige wichtige Integrationsmechanismen, wie die Wiederherstellung des österreichischen Selbstbewusstseins und den Generationenfaktor, die von der vorliegenden Studie bestätigt werden.15 Die organisatorische Geschichte der beiden Wehrkreise und der Luftwaffe auf dem österreichischen Territorium wurde in zwei Publikationen von Othmar Tuider abgehandelt.16 Johann Christoph Allmayer-Beck schließlich verdanken wir die grundlegende Beschreibung des Kampfeinsatzes der in der Ostmark aufgestellten und von dort ergänzten Wehrmachtdivisionen.17 Seit der Waldheim-Affäre von 1986 ist die österreichische Literatur zur Wehrmacht von Angriffen auf die Opferthese als »Lebenslüge« der Zweiten Republik anstelle von dringend benötigter Grundlagenforschung, wie etwa über den österreichischen Wehrmachtsdienst, geprägt.18 Freilich bietet sie wertvolle 14 Evan B. Bukey : Hitler’s Austria. Popular Sentiment in the Nazi Era, 1938 – 1945, Chapel Hill 2000. Für das Gesamtreich siehe: Marlis G. Steinert: Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf/Wien [1970]. 15 Peter Gschaider : Das österreichische Bundesheer 1938 und seine Überführung in die deutsche Wehrmacht, Dissertation (Universität Wien), 1967. 16 Othmar Tuider : Die Wehrkreise XVII und XVIII 1938 – 1945, Wien 1975; ders.: Die Luftwaffe in Österreich 1938 – 1945, Wien 1985. 17 Johann Christoph Allmayer-Beck: Die Österreicher im Zweiten Weltkrieg, in: Ludwig Jedlicka (Hg.): Unser Heer. 300 Jahre österreichisches Soldatentum in Krieg und Frieden, Wien 1963, 343 – 375, 365. Allmayer-Beck diente selbst als Wehrmacht-Offizier bei der 21. (ostpreuß.) ID und der 10. Pz.-Gren.-Div. Für eine kurze Zusammenfassung des österreichischen Wehrmachteinsatzes siehe: Lothar Höbelt: Österreicher in der Deutschen Wehrmacht, 1938 – 1945, in: Truppendienst 28 (1989), 417 – 432. 18 Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, 26 Einleitung Erkenntnisse darüber, wie die österreichische Nachkriegsgesellschaft die Geschichte und das Vermächtnis von Nationalsozialismus und Krieg durch bestimmte Erinnerungsmechanismen und Tabuisierungen derart rekonstruierte, dass sich jeder, einschließlich der Soldaten, als Opfer sehen konnte. Aber methodisch sind diese Studien, obwohl sie bisweilen auf Interviews mit Veteranen zurückgreifen, mehr an Diskursanalysen entschuldigender, verzerrender oder unterdrückender Repräsentationstechniken interessiert, als an dem Versuch, den Kriegsdienst der Veteranen als solchen so authentisch wie möglich zu rekonstruieren.19 Es blieb daher dem Politikwissenschaftler Walter Manoschek, teilweise gemeinsam mit Hans Safrian, vorbehalten, in einer Reihe von Studien zumindest die österreichische Beteiligung an der verbrecherischen Seite des Krieges aus Akten und persönlichen Dokumenten darzustellen.20 Auch in den jüngsten Forschungen zu Spezialthemen wie Militärjustiz und Desertion erfährt man wenig über die große Masse der Soldaten, die nicht von diesen speziellen Themen betroffen waren.21 Gleiches gilt für Marcel Steins auf den Generalsrang beschränkte Studie der Karrieren und Haltungen österreichischer Wehrmachtoffiziere.22 Das Werk »Österreicher in der Deutschen Wehrmacht« von Bertrand Michael Buchmann ist eine großteils auf Sekundärquellen basierende Alltagsgeschichte über Wehrmachtsoldaten im Allgemeinen 19 20 21 22 Frankfurt a. M. / New York 1994; Wolfgang Kos/Georg Rigele (Hg.): Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996; Bischof/Pelinka, Austrian Historical Memory and National Identity. Für eine kurze Zusammenfassung siehe: Heidemarie Uhl: Das »erste Opfer«. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik, in: ÖZP 30/1 (2001), 19 – 34. Kritik am Vorwurf der »Lebenslüge« üben: Gerald Stourzh: Erschütterung und Konsolidierung des Österreichbewusstseins – vom Zusammenbruch der Monarchie zur Zweiten Republik, in: Richard G. Plaschka/Gerald Stourzh/Jan Paul Niederkorn (Hg.): Was heißt Österreich? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute, Wien 1995, 289 – 311, 307 – 309; Felix Butschek: Österreichs Lebenslügen – oder wie wissenschaftlich ist die Geschichtsschreibung?, in: Europäische Rundschau 24/1 (1996), 17 – 28; Hubert Feichtlbauer: Der Fall Österreich. Nationalsozialismus, Rassismus: Eine notwendige Bilanz, Wien 2000. Alexander Pollak: Die Wehrmachtslegende in Österreich. Das Bild der Wehrmacht im Spiegel der österreichischen Presse nach 1945, Wien 2002; Meinrad Ziegler/Waltraud Kannonier-Finster: Österreichs Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, Wien/Köln/Weimar 1993; Ela Hornung: Trümmermänner. Zum Schweigen österreichischer Soldaten in der Deutschen Wehrmacht, in: Kos/Rigele, Inventur, 232 – 250; Ruth Beckermann: Jenseits des Krieges. Ehemalige Wehrmachtssoldaten erinnern sich, Wien 1998; Hannes Heer u. a. (Hg.): Wie Geschichte gemacht wird. Zur Konstruktion von Erinnerung an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg, Wien 2003. Walter Manoschek: »Serbien ist judenfrei.« Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1993; ders./Safrian, Österreicher. Walter Manoschek (Hg.): Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003; Maria Fritsche: Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht, Wien 2004. Marcel Stein: Österreichs Generale im deutschen Heer, 1938 – 1945. Schwarz/Gelb, Rot/ Weiss/Rot, Hakenkreuz, Bissendorf 2002. Historiografie 27 und bietet neben einigen bekannten und dringend revisionsbedürftigen Beobachtungen keine neuen Einsichten über die spezifisch österreichische Wehrmachtserfahrung.23 Hingegen gewährt die auf Primärquellen beruhende Dissertation von Richard Germann auch wertvolle Einblicke in die Gefühls- und Erfahrungswelt der Mannschaften und Unteroffiziere.24 Eine groß angelegte Umfrage unter ehemaligen österreichischen Wehrmachtsoldaten bietet zwar Aufschluss über Meinungen zu einer Vielzahl von Themen in der Form vorgefertigter Antwortmöglichkeiten, kann aber, da die Veteranen nicht selber zu Wort kommen, keine Aussagen über tiefere Beweggründe machen.25 Schließlich wertet derzeit ein von Gerhard Botz geleitetes Projekt am Ludwig BoltzmannInstitut für Historische Sozialwissenschaft in Wien unter tausenden geheimen Abhörprotokollen deutscher Kriegsgefangener in alliierten Lagern die Aussagen österreichischer Soldaten aus, welche die Erkenntnisse der vorliegenden Studie bestätigen.26 Die deutsche Militärgeschichtsschreibung hat eine praktisch unüberschaubare Vielzahl von Studien über die Wehrmacht hervorgebracht.27 Der Fokus der älteren Werke war auf Strukturen und Eliten, wie etwa das deutsche Offizierskorps, gerichtet.28 Mit der zunehmenden Bedeutung von Sozial- und Alltags23 Bertrand Michael Buchmann: Österreicher in der Deutschen Wehrmacht. Soldatenalltag im Zweiten Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 2009. 24 Richard Germann: Österreichische Soldaten in Ost- und Südosteuropa 1941 – 1945. Deutsche Krieger – nationalsozialistische Verbrecher – österreichische Opfer?, Dissertation (Universität Wien), 2006. Germanns Arbeit geht ebenfalls von einer erfolgeichen Integration der österreichischen Wehrmachtsoldaten aus. 25 Josef Schwarz u. a.: Österreicher im Zweiten Weltkrieg. Bewusstseinsstand von österreichischen Soldaten in der deutschen Wehrmacht 1938 – 1945. Endbericht, Wien 1993 [= Endbericht]. Die Umfrage wurde von Josef Schwarz privat durchgeführt und in Zusammenarbeit mit den Wiener Instituten für Zeitgeschichte bzw. Konfliktforschung analysiert. Von 9.000 angeschriebenen Personen beantworteten etwa 1.400 (15 Prozent) den Fragebogen. Etwa 1.200 Antworten waren verwertbar, wovon schließlich 1.119 Eingang in die Studie fanden, was der sehr hohen Ausschöpfung von 12,43 Prozent (üblich sind Werte um fünf Prozent) entspricht. Die Datenbank erzielt relativ hohe Repräsentativität hinsichtlich des beruflichen Hintergrundes, der Altersstruktur (über 60 Prozent wurden 1920 – 25, also in der Altersgruppe mit den höchsten Verlusten, geboren), der Einziehungsjahre (der Schwerpunkt liegt auf 1939 – 43) sowie der Verteilung auf Waffengattungen und Dienstgrade (8,1 Prozent Offiziere, 31,2 Prozent Unteroffiziere, 61 Prozent Mannschaften). Lediglich der regionale Hintergrund bleibt unbekannt, aber nachdem jedes Bundesland trotz unterschiedlicher Einwohnerzahlen je 1.000 Fragebögen erhielt, sind Bundesländer mit niedrigeren Einwohnerzahlen wahrscheinlich überrepräsentiert. 26 Mitteilung von Projektmitarbeiter Richard Germann an den Verfasser. 27 Anstelle einer langen Liste von Einzeltiteln siehe die Literaturangaben in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg [= DRZW], 10 Bde., Stuttgart/München 1979 – 2008. 28 Grundlegend für die Wehrmacht als Institution sind: Rudolf Absolon: Wehrgesetz und Wehrdienst 1935 – 1945. Das Personalwesen in der Wehrmacht, Boppard a. Rh. 1960; ders.: Die Wehrmacht im Dritten Reich, 6 Bde., Boppard a. Rh., 1969 – 1995. Zu den Einheiten der 28 Einleitung geschichte wurde seit den 1970er-Jahren vermehrt Militärgeschichte »von unten« geschrieben, um herauszufinden, wie die durchschnittlichen Landser mit dem Kriegserlebnis umgingen.29 Dadurch rückten auch bisher vernachlässigte Themen wie Desertion oder die Beteiligung an Kriegsverbrechen zusehends in den Mittelpunkt.30 Wichtige Beiträge zu der Brutalisierung der deutschen Kriegsführung lieferte in den 1980er-Jahren Omer Bartov, der diese mit dem Zerfall der kleinsten Wehrmachteinheiten, der sogenannten Primärgruppen, als Folge der hohen Verluste in Russland, in Kombination mit harschen Disziplinarmaßnahmen, politischer Indoktrination und materieller Unterlegenheit zu erklären versuchte.31 Bis dahin hatte die Studie von Edward A. Shils und Morris Janowitz aus dem Jahre 1948, wonach die allerseits geachtete Kampfmoral der Wehrmacht gerade auf die landsmannschaftliche Kohäsion der Primärgruppen, welche sich aus Soldaten aus der gleichen Region zusammensetzten, zurückführen sei, nahezu als Dogma gegolten.32 Vor zehn Jahren gelang es jedoch dem Politikwissenschaftler Christoph Rass anhand einer groß angelegten Studie über eine Infanterie-Division zu zeigen, dass die Wehrmacht durchaus in der Lage war, die regionale Homogenität ihrer Einheiten im Großen und Ganzen so lange aufrechtzuerhalten, bis das gesamte Rekrutierungssystem Ende 1944 kollabierte.33 29 30 31 32 33 Wehrmacht siehe: Georg Tessin: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939 – 1945, 16 Bde., Osnabrück 1965. Zum deutschen Offizierskorps siehe: Hans Hubert Hofmann (Hg.): Das deutsche Offizierskorps 1860 – 1960, Boppard a. Rh. 1980; Hansgeorg Model: Der deutsche Generalstabsoffizier. Seine Auswahl und Ausbildung in Reichswehr, Wehrmacht und Bundeswehr, Frankfurt a. M. 1968. Wette, Krieg; Hans Joachim Schröder : Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten, Tübingen 1992; Detlef Vogel/Wolfram Wette (Hg.): Andere Helme – andere Menschen? Heimaterfahrung und Frontalltag im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler Vergleich, Essen 1995; Stephen G. Fritz: Frontsoldaten. The German Soldier in World War II, Lexington, Ky., 1995; Klaus Latzel: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis, Kriegserfahrung 1939 – 1945, Paderborn 1998; Sönke Neitzel/Harald Welzer : Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011. Norbert Haase/Gerhard Paul (Hg.): Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1995. Christopher R. Browning: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992. In der Öffentlichkeit erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt 1995 mit der sogenannten »Wehrmacht-Ausstellung«. Siehe: Hannes Heer/Klaus Naumann (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944, Hamburg 1995. Omer Bartov : Hitler’s Army. Soldiers, Nazis, and War in the Third Reich, New York 1991. Edward A. Shils/Morris Janowitz, Cohesion and Disintegration in the Wehrmacht in World War II, in: POQ 12 (1948), 280 – 315. Vgl.: Martin L. van Creveld: Fighting Power : German and US Army Performance 1939 – 1945, Westport, Conn., 1982. Christoph Rass: »Menschenmaterial«. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten einer Infanteriedivision 1939 – 1945, Paderborn 2003; ders.: Das Sozialprofil von Kampfverbänden des deutschen Heeres 1939 bis 1945, in: DRZW, Bd. 9/1: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben (2004), 641 – 741, 724, 740. Historiografie 29 Generell muss in diesem Zusammenhang festgestellt werden, dass die Literatur über die Streitkräfte des Dritten Reichs dazu tendiert, die Wehrmacht allein im Kontext des deutschen Nationalstaates und mit Fokus auf das preußische Element als dominierenden Faktor zu behandeln. Dabei ignoriert sie mit ganz wenigen Ausnahmen die durch die permanente Vergrößerung des deutschen Machtbereichs hervorgerufenen landsmannschaftlichen Veränderungen in der Zusammensetzung der Wehrmacht sowie das Verhältnis der verschiedenen Gruppen zueinander.34 Die ethnische Zusammensetzung der deutschen Streitkräfte wird fast ausschließlich in Studien zur Waffen-SS thematisiert, welche das österreichische Element jedoch ebenfalls nicht beachten.35 Auch Studien über das Verhältnis zwischen Wehrmacht und nationalsozialistischer Volksgemeinschaft beschränken sich im Wesentlichen auf die Frage nach der Mobilisierung der Bevölkerung. Der Umstand, dass die nationale Basis jener Volksgemeinschaft und damit auch das für die Einziehung zur Wehrmacht zur Verfügung stehende menschliche Reservoir während des Krieges beständig erweitert wurde, und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, werden dabei nicht berücksichtigt.36 Anders ausgedrückt: Das Verhältnis zwischen altreichsdeutschen und anderen Soldaten ist in der deutschen Militärgeschichtsschreibung kein Thema. Die große Ausnahme ist Rüdiger Overmans, der die deutschen Kriegsverluste mittels einer auf der Grundlage von Gefallenenmeldungen erstellten Datenbasis analysierte und die Kriegstoten dabei auch nach regionaler Herkunft kategorisierte. Dabei fällt auf, dass die Todesquote der aus dem österreichischen Staatsgebiet stammenden Soldaten etwas unterhalb des Reichsdurchschnitts liegt.37 Dies ist der einzige Bereich, in dem sich die Österreicher messbar von den 34 Dazu gehört Bernhard R. Kroeners kurze Behandlung diskriminierenden Verhaltens gegenüber Österreichern und anderen Neulingen in: Ders.: »Menschenbewirtschaftung«, Bevölkerungsverteilung und personelle Rüstung in der zweiten Kriegshälfte (1942 – 1944), in: DRZW, Bd. 5/2: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942 bis 1944/45 (1999), 777 – 1001, 871, 983 – 984; sowie Nikolaus von Preradovich: Die militärische und soziale Herkunft der Generalität des deutschen Heeres: 1. Mai 1944, Osnabrück 1978. 35 Valdis O. Lumans: Himmler’s Auxiliaries. The Volksdeutsche Mittelstelle and the German National Minorities of Europe 1933 – 1945, Chapel Hill 1993; Hans Werner Neulen: An deutscher Seite. Internationale Freiwillige von Wehrmacht und Waffen-SS, München 1985; Franz W. Seidler : Avantgarde für Europa. Ausländische Freiwillige in Wehrmacht und Waffen-SS, Selent 2004; Rolf-Dieter Müller : An der Seite der Wehrmacht. Hitlers ausländische Helfer beim »Kreuzzug gegen den Bolschewismus« 1941 – 1945, Berlin 2007. 36 Manfred Messerschmidt: Der Reflex der Volksgemeinschaftsidee in der Wehrmacht, in: Ders.: Militärgeschichtliche Aspekte der Entwicklung des deutschen Nationalstaates, Düsseldorf 1988, 197 – 220; Sven Oliver Müller: Nationalismus in der deutschen Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, in: DRZW, Bd. 9/2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung (2005), 9 – 92. 37 Rüdiger Overmans: Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 1999, 30 Einleitung reichsdeutschen Soldaten unterscheiden lassen. Da sich die österreichische Todesquote allerdings während des gesamten Krieges konstant leicht unterhalb des Durchschnitts befindet, dürfte dies am ehesten auf eine statistische Ungenauigkeit zurückzuführen sein, die mit der Größe der Stichprobe zusammenhängt, als auf irgendwelche anderen Faktoren.38 Umgekehrt jedoch verstärkt die Anzahl der tatsächlich gefallenen Österreicher eher den Eindruck einer »substanziellen Beteiligung« an der deutschen Kriegsanstrengung.39 Quellen Das österreichische Kriegsarchiv in Wien besitzt die Nachlässe rund zweitausend österreichischer Militärs. Von diesen können gemäß Findbüchern etwa zweihundert in irgendeiner Weise mit der Wehrmacht in Verbindung gebracht werden. Davon wurde eine Anzahl nach oberflächlicher Ansicht als ungeeignet ausgeschieden.40 Von den rund 170 verbleibenden und akribisch durchgesehenen Nachlässen enthielten ungefähr 100 brauchbare Informationen. Diese stammen von prominenteren Offizieren bis hinunter zu einfachen Soldaten oder Personen, die bloß in einem Naheverhältnis zur Wehrmacht standen, und sind sehr unterschiedlich in Bezug auf Quantität und Qualität. Sie umfassen sowohl detaillierte Tagebücher, Briefe und zeitgenössische Unterlagen wie auch Erin228, 230 – 231, 246 – 248. Der österreichische Anteil an Wehrmachtsoldaten betrug (übereinstimmend mit dem Anteil der Österreicher an der Reichsbevölkerung) acht Prozent, aber nur fünf Prozent bei den Gefallenen. Die Todesquote für Soldaten aus dem gesamten Reich betrug 12,7 Prozent, aber nur acht Prozent bei den österreichischen Soldaten. Die niedrigere österreichische Gefallenenrate betonte bereits Peter J. Katzenstein: Disjoined Partners. Austria and Germany since 1815, Berkeley 1976, 172 – 173. 38 Keinesfalls eine zunehmende Distanzierung aufgrund eines erwachenden Österreichbewusstseins, wie von Hanisch (Gau, 92) und Rathkolb (Republik, 382) in Betracht gezogen. Andere mögliche, aber äußerst unwahrscheinliche Gründe wären besseres Kampfvermögen (aufgrund der Einstellung oder besserer Ausbildung im Bundesheer), größere Zurückhaltung im Kampf (aus mangelnder Identifikation mit dem Krieg oder Feigheit), Verwendung in weniger tödlichen Funktionen oder Kriegsschauplätzen. Overmans selbst (Verluste, 275, 295) schränkt die Aussagekraft seiner Zahlen (von möglichen statistischen Ungenauigkeiten abgesehen) mit dem Hinweis ein, dass zusätzliche Forschung zum österreichischen Kontingent, v. a. die Einsätze von Österreichern betreffend, notwendig wäre. 39 Thaler, Ambivalence, 88. 40 Nicht berücksichtigt wurden die Nachlässe von Franz Böhme, Glaise-Horstenau, Löhr und Rendulic, da deren Ansichten hinreichend bekannt sind. Siehe: Manoschek/Safrian, Österreicher (über Böhme); Lothar Rendulic: Gekämpft, gesiegt, geschlagen, Wels/Heidelberg 1952; Edmund Glaise von Horstenau: Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau, 3 Bde., hg. von Peter Broucek, Wien/Köln/Graz 1980 – 1988; sowie die eher hagiografische Löhr-Biografie von Jaromir Diakow : Generaloberst Alexander Löhr. Ein Lebensbild, Freiburg i. Br. 1964. Wissenschaftliche Biografien der vier Männer sind nach wie vor Desiderata. Quellen 31 nerungen und gleich nach Kriegsende verfasste Pamphlete bis hin zu eher fragmentarischen Evidenzen wie Zeitungsausschnitte oder Kritzeleien. Die Nachlässe, welche das Rückgrat dieser Studie bilden, wurden durch drei Gruppen von Quellen komplementiert. Zunächst durch eine Reihe von Interviews mit Zeitzeugen, von denen beinahe alle selbst in der Wehrmacht gedient haben. Dieser Quellentyp besitzt den Vorteil, dass gezielt Fragen aufgeworfen werden können, die in den archivarischen Quellen nicht oder nicht genügend thematisiert sind. Die Rekrutierung der Gesprächspartner erfolgte durch eine Adressenliste von Absolventen der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt, den Bundesverband des »Österreichischen Kameradschaftsbundes« in Wien, den Besuch einzelner Kameradschaftstreffen in Wien, Umfragen im Familien- und Freundeskreis sowie durch Zeitungsannoncen und Flugblätter. Die zweite Kategorie umfasst die militärischen Akten des deutschen Bundesarchiv-Militärarchivs in Freiburg, vor allem jene Akten über die »ostmärkischen Divisionen« und die beiden Wehrkreise in der Ostmark, aber auch über die Wehrkreise, in denen Österreicher ausgebildet wurden oder welche Ersatz aus der Ostmark erhielten. Darüber hinaus gibt diese Quellengruppe Auskunft über Angelegenheiten, welche über den engen österreichischen Kontext hinausgehen, wie z. B. die Behandlung anderer Neulinge, Fragen von Führung und Ausbildung, Beurteilungen der Moral und der Kampfkraft von Truppen oder das Selbstverständnis der Wehrmacht. Die letzte Gruppe besteht aus diversen Quellen unterschiedlicher Provenienz. Da wäre zunächst einmal das Archiv der Republik in Wien mit seinen Akten betreffend das Büro des »Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich« (»Bürckel«/Materie und »Bürckel«/Nachträge), also der zentralen Autorität der Ostmark von 1938 bis 1940, sowie das Büro des Reichsstatthalters in Wien (RStH), der Regierungsgewalt in Wien von 1940 bis 1945.41 Trotz ihrer zivilen Natur enthalten diese Quellen auch zahlreiche Bezüge zur Wehrmacht. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in Wien enthält eine große Zahl von aufschlussreichen wehrmachtbezogenen Akten. Weitere wertvolle Informationen konnten im Industrieviertelmuseum in Wiener Neustadt, in der »Sammlung 1938« im Wiener Allgemeinen Verwaltungsarchiv und unter den Dokumenten in der Sammlung »Manuskripte – Allgemeine Reihe« des Kriegsarchivs gesichtet werden. Quellenkritisch sind mit Bezug auf die verwendeten Quellen drei wichtige Bemerkungen zu machen. Erstens, Feldpostbriefe und sämtliche Texte, die zur Veröffentlichung gedacht waren (wie Erlebnisberichte oder Zeitungsartikel), unterlagen der Zensur. Briefe wurden allerdings nur stichprobenartig zensu41 Die Funktion des Reichsstatthalters wurde 1940 in Personalunion mit dem (seit 1938 existierenden) Amt des Gauleiters von Wien vereinigt. 32 Einleitung riert, und auch wenn sie nur selten offene Kritik enthalten, so war umgekehrt kein Soldat gezwungen, sich enthusiastisch über den Kriegsverlauf oder seine Kameraden bzw. negativ über den Feind oder Defätisten zu äußern.42 Eine größere Einschränkung ist daher die »innere Zensur«, nämlich ob ein Soldat etwas a priori, ob positiv oder negativ, für mitteilenswert hält, oder es bevorzugt, sich über bestimmte Dinge auszuschweigen. Es galt daher, Soldatenbriefe auch zwischen den Zeilen zu lesen und zu versuchen, den Gesamteindruck von Briefen zu erfassen. In jedem Fall kann Kritik (die man durchaus finden kann) ebenso aussagekräftig sein wie ein Brief voller Belanglosigkeiten oder einer, dessen Autor über ein bestimmtes Thema ins Schwärmen gerät. Auch Zeugnisse von Personen mit eindeutig nationalsozialistischem Hintergrund dürfen nicht von vornherein als wertlos abgetan werden, da der Großteil der integrativen Mechanismen unabhängig von nationalsozialistischer Ideologie wirkte, und es häufig gerade überzeugte Nationalsozialisten waren, die mit Aspekten des Anschlusses unzufrieden waren. Zweitens, bei allen nach 1945 entstandenen Zeugnissen, etwa Interviews, Memoiren oder andere Rückblicke, besteht die Möglichkeit, dass die Vergangenheit verzerrend dargestellt wird.43 Da die typischen Verzerrungen jedoch bekannt sind, können die Aussagen entsprechend bereinigt werden, und auch hier gilt, dass niemand zu bestimmten Aussagen gezwungen war. Die Berücksichtigung von Quellen nichtösterreichischer Provenienz sowie die Situation andere Neulinge betreffend fungierte ebenfalls als Korrektiv zu allfälligen Verzerrungen in den österreichischen Quellen. Die weitaus größere Herausforderung bestand drittens jedoch darin, durch die Quellen einen möglichst hohen Grad an Repräsentativität mit Bezug auf die soziale, politische und regionale Zusammensetzung des österreichischen Kontingents zu erzielen. Allerdings stammt rund die Hälfte der Nachlässe von Offizieren (die nur drei Prozent des Wehrmachtpersonals ausmachten) – und damit aus dem konservativen, bürgerlichen bis aristokratischen Spektrum; der typische »Arbeiter« wurde weder Offizier, noch hinterließ er dem Kriegsarchiv irgendwelche Aufzeichnungen.44 Andererseits können auch Offiziersnachlässe 42 Thilo Stenzel: Russlandbild des »kleinen Mannes«. Gesellschaftliche Prägung und Fremdwahrnehmung in Feldpostbriefen aus dem Ostfeldzug (1941 – 1944/1945), in: Mitteilungen des Osteuropa-Instituts München 27 (1998), online: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/publikationen/mitteilungen/mitt_27.pdf (25. 8. 2014), 14 – 15. 43 Schröder, Gestohlene Jahre, 97 – 126; Koselleck, Einfluss, 331. Zum generellen Problem der Darstellung vergangener Ereignisse unter besonderer Berücksichtigung individueller Erfahrungen siehe: Reinhart Koselleck: Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, 144 – 157. 44 Insgesamt dienten ca. 18 Millionen Männer in der Wehrmacht. Wolfram Wette: Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden, Frankfurt a. M. 2002, 176. Aufbau 33 die Stimmen von Personen, die keine Offiziere waren oder nicht der konservativen Schichte entstammten, enthalten. Zudem konnte dieses Ungleichgewicht durch die anderen Quellengruppen etwas berichtigt werden. So wurden insgesamt 21 Personen interviewt, wobei eine Person über zwei ehemalige Wehrmachtsmitglieder Auskunft gab, und zwei andere Personen nicht in der Wehrmacht gedient hatten. Unter den 20 direkt auf die Wehrmacht bezogenen Stimmen dominiert eindeutig der Anteil der Nichtoffiziere (80 Prozent).45 Auch die Akten aus Freiburg enthalten eine große Zahl an Erlebnisberichten von einfachen Soldaten. Die regionale Herkunft betreffend sind die Stimmen, die in diese Studie Eingang gefunden haben, halbwegs gleichmäßig verteilt, wobei jene, deren Herkunft nicht eindeutig feststellbar war, die stärkste Gruppe ausmachen (rund 25 Prozent), gefolgt von Wienern (rund 20 Prozent), Steirern (rund 15 Prozent) und in Böhmen und Mähren Geborenen als drittstärkste Gruppe (rund acht Prozent). Aufbau Um den anhaltenden Charakter des Integrationsprozesses zu unterstreichen, bot sich ein chronologischer Aufbau der einzelnen Kapitel an. Das erste Kapitel erzählt die Vorgeschichte (inklusive der formellen Eingliederung des Bundesheeres) zu den eigentlichen Ereignissen zwischen 1938 und 1945, wobei einige relevante Aspekte, die in der Zeit vor 1938 begründet liegen, aufgeworfen und diskutiert werden. In dem Kapitel wird auch der Einsatz der Österreicher im Zweiten Weltkrieg skizziert sowie die Frage der Verteilung der österreichischen Soldaten auf die Einheiten der Wehrmacht erörtert. Kapitel zwei beschäftigt sich mit der Friedensperiode von März 1938 bis September 1939, die sowohl von Spannungen als auch von den ersten integrativen Kräften, welche beide aus der Inkorporation des Bundesheeres hervorgegangen waren, gekennzeichnet war. Das dritte Kapitel schildert, wie sich die Integration während der ersten Kriegsphase von 1939 bis Frühjahr 1941 aufgrund der sich aus dem erfolgreichen Kriegsverlauf ergebenden Mechanismen vertiefte. Kapitel vier hebt sich exkursartig von der Chronologie ab, da es die Wehrmacht als bewaffnete Version der Volksgemeinschaft interpretiert und jene diesem Konzept innewohnenden integrativen Kräfte, die weitgehend im deutschen Nationalismus wurzelten, analysiert. Der dramatisch veränderte Charakter des Krieges seit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 bis Mitte 1944 bildet den Fokus von Kapitel fünf und schildert, wie die bisher als positiv zu definierenden integrativen Kräfte 45 Sozial und politisch konnte ein relativ repräsentatives Spektrum erzielt werden. Siehe die Kurzbiografien der Interviewpartner im Anhang. 34 Einleitung großteils durch negative, aber keinesfalls weniger integrative Faktoren ersetzt wurden. Das sechste und letzte Kapitel analysiert die Kampfmotivation während der letzten Kriegsmonate sowie die wohlwollenden und ablehnenden Rezeptionen des Wehrmachtdienstes unmittelbar nach Kriegsende. *** Abschließend noch zwei Bemerkungen zur Schreibweise. Der Text benutzt deutsche Namen für sämtliche geografische Begriffe, da diese auch in den Quellen verwendet werden. Und obwohl Österreicher seit März 1938 deutsche Staatsangehörige oder »Ostmärker« waren, werden sie im Folgenden in der Regel als »Österreicher« bezeichnet, während für die anderen Deutschen der Begriff »Reichsdeutsche« verwendet wird, obgleich der Begriff »Altreichsdeutsche« akkurater wäre.46 46 Mit den Begriffen »Altreich« und »Altreichsdeutsche« wurden die Deutschen, die schon seit 1871 im Reich lebten, von jenen, die erst nach 1938 »heim ins Reich« gekehrt waren, unterschieden. In Österreich war es jedoch schon vor dem Anschluss (und fallweise noch nach 1945) üblich, von »Reichsdeutschen« oder von jemand »aus dem Reich« zu sprechen.