Der Ostmark treue Alpensöhne

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Einleitung
Widersprüche und Fragen
Infolge des sogenannten »Anschlusses« der Republik Österreich an das Deutsche Reich im März 1938 wurde während des Zweiten Weltkrieges mehr als eine
Million wehrpflichtiger Männer aus dem Gebiet der »Ostmark«, wie das ehemalige Österreich nun genannt wurde, in die deutschen Streitkräfte eingezogen.
Trotz der Fülle an Literatur über die Anschlusszeit, das Dritte Reich und den
Zweiten Weltkrieg ist unser Wissen über die Kriegserfahrungen dieses substanziellen Anteils der österreichischen Bevölkerung erstaunlich gering.
So ist bekannt, an welchen Kriegsschauplätzen die mehrheitlich aus Österreichern zusammengesetzten Divisionen eingesetzt waren, aber wir wissen fast
nichts über die innere Haltung dieser Männer, ihre subjektive Erfahrung von
Wehrdienst und Krieg, oder wie sie sich – wenn überhaupt – von ihren altreichsdeutschen Kameraden unterschieden. Was ging in diesen Männern innerlich vor, die quasi über Nacht für ein anderes Vaterland kämpfen mussten?
Wie war es möglich, ein relativ großes Kontingent mit einer eigenen Militärtradition augenscheinlich erfolgreich in die Wehrmacht zu integrieren? In diesen Bereichen ist unser Wissen bestenfalls punktuell.
Gerade aus diesem Grund konnte bis heute immer wieder behauptet werden,
dass die Österreicher unwillige Soldaten gewesen seien, die in einem Krieg, mit
dem sie sich angeblich nicht identifizierten, geopfert wurden bzw. dass deren
angeblich diskriminierende Behandlung seitens der deutschen »Fremdherrscher« auch in den Streitkräften die Entwicklung eines österreichischen Sonderbewusstseins gefördert hätte.1
1 So versicherte schon 1946 das von der österreichischen Regierung herausgegebene Rot-WeißRot-Buch (allerdings ohne jeden Beleg), dass jeder österreichische Soldat die »besonders
ungerechte und demütigende« Behandlung von Österreichern in der Wehrmacht bestätigen
könne. Zit. nach Heidemarie Uhl: The Politics of Memory. Austria’s Perception of the Second
World War and the National Socialist Period, in: Günter Bischof/Anton Pelinka (Hg.): Historical Memory and National Identity, New Brunswick, N. J., 1997, 64 – 94, 68. F¦lix Kreissler
18
Einleitung
Solche Aussagen entsprechen der von der Republik Österreich nach 1945
offiziell vertretenen und auf die Moskauer Deklaration der Alliierten von 1943
zurückgehende »Opferthese«, der zufolge Österreich für sämtliche Vorgänge
während der Anschlusszeit keinerlei Verantwortung trägt, da der Staat Österreich Hitlers erstes Opfer und die Österreicher – mit ganz wenigen Ausnahmen –
zur Mitarbeit im Dritten Reich gezwungen worden seien.2 Diese »Reinwaschung« der Österreicher von den Verbrechen des Dritten Reichs diente dazu,
die Wiederherstellung der österreichischen Souveränität zu beschleunigen.
Damit eng verbunden waren Behauptungen, dass die negative Anschlusserfahrung die Österreicher nach Jahrhunderten der Unklarheit schließlich ihrer eigenständigen nationalen Identität bewusst werden ließ.
All dem steht jedoch in beinahe krassem Gegensatz der Gesamteindruck der
äußerlichen Haltung der österreichischen Soldaten gegenüber, welcher sich vom
Verhalten der Kameraden aus dem Altreich praktisch nicht abhebt: Wie die
anderen Deutschen kämpften Österreicher loyal und entschlossen bis zum
Kriegsende, wie diese waren Österreicher in Kriegsverbrechen verwickelt, und
wie bei diesen war der Widerstand gering und die Desertionsrate unauffällig.
Thesen und Antworten
Die vorliegende Studie versucht, die Lücke in unserem Wissen über die Österreicher in der Wehrmacht zu schließen und dadurch die soeben aufgeworfenen
Widersprüche aufzulösen, wobei die zentralen Themen sich thesenartig wie
folgt umreißen lassen:
• Spannungen und Reibereien aufgrund verschiedener Mentalitäten und Traditionen waren eher ein Phänomen der Vorkriegszeit während und unmittelbar nach der Eingliederung des Bundesheeres, das jedoch schon zu diesem
Zeitpunkt durch eine Reihe integrationsfördernder Kräfte mehr als aufgewogen wurde. Individuelle Vorbehalte konnten allerdings weiterhin fortbestehen.
(Der Österreicher und seine Nation. Ein Lernprozess mit Hindernissen, Wien 1984) beschreibt die Anschlusszeit als Hölle auf Erden für Zivilisten und Soldaten gleichermaßen.
Hermann Hagspiel (Die Ostmark. Österreich im Großdeutschen Reich 1938 bis 1945, Wien
1995, 331 – 332) behauptet, dass das österreichische Kontingent wie ein »Hilfsvolk« behandelt
und dadurch in der Wehrmacht die Entwicklung eines neuen Nationalbewusstseins »vorweggenommen« worden sei.
2 Laut Unabhängigkeitserklärung der neuen österreichischen Regierung vom 27. 4. 1945 habe
das NS-Regime das »Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg
geführt […], den kein Österreicher jemals gewollt hat […] oder gutzuheißen instand gesetzt
war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der
Feindschaft oder des Hasses gehegt hat«, online: http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen& Gesetzesnummer=10000204 (25. 8. 2014).
Thesen und Antworten
19
• Eine der wichtigsten integrativen Kräfte war der Krieg an sich, und zwar
sowohl hinsichtlich der Kriegsführung allgemein innewohnender Faktoren
als auch mit dem spezifischen Kriegsverlauf zusammenhängender. Daran
änderte auch die Verschlechterung der Kriegslage nach dem Angriff auf die
Sowjetunion nichts, da die »positiven« durch »negative«, aber um nichts
weniger integrative Kräfte ersetzt wurden, während andere (wie z. B. Kameradschaft) sich nach dem Grundsatz, »Je intensiver der Krieg, umso besser die
Integration«, verstärkten.
• Daraus ergibt sich ein signifikanter Unterschied zur Erfahrung und Haltung
der österreichischen Zivilbevölkerung, wo diese Faktoren naturgemäß nicht
wirksam sein konnten und die Integration, vor allem nachdem die negativen
Auswirkungen der verschlechterten Kriegslage auch im Zivilbereich spürbar
wurden, hinterherzuhinken begann.
• Überdies förderte das von mir als »bewaffnete Volksgemeinschaft« bezeichnete Konzept (welches auch die Verbundenheit zwischen Front und Heimat,
quer über alle Gaue hinweg, zu vertiefen suchte) die fruchtbare Zusammenarbeit der angeblich verschieden begabten Stämme in den Streitkräften und
nutzte dabei die in Österreich besonders tief verwurzelten und populären
Gefühle von Stammesdenken, Regionalismus und Heimatverbundenheit aus.
• Überdies hegten viele Reichsdeutsche ein grundsätzlich positives Klischee
von Österreichern, das genau dem Bild entsprach, das die Österreicher von
sich selbst hatten und welches von der Monarchie über die Erste Republik und
sogar bis in die Zweite Republik in wesentlichen Elementen unverändert
blieb, sodass Österreicher auch im Dritten Reich trotz aller Anpassungen
gewissermaßen »Österreicher« bleiben durften. Zusätzlich wurde als wichtiger Teilaspekt auch das Bild vom österreichischen Soldaten einer dezidiert
positiven Revision unterzogen.
• Klischees verdeutlichen auch die generelle Wichtigkeit des Individualismus
bei der Beurteilung der österreichischen Integration, da weder Reichsdeutsche noch Österreicher monolithische Blöcke bildeten, sodass Einstellungen,
Sicht- und Verhaltensweisen sehr von der Disposition des Einzelnen abhingen und nicht verallgemeinert werden dürfen.
• Ähnlich gilt für die Wehrmacht, dass die österreichische Integration besser
als Teilprozess der permanenten Vergrößerung der landsmannschaftlichen
Zusammensetzung der Wehrmacht verstanden werden kann. Die Österreicher waren nur eines von vielen neuen Kontingenten, das vor 1938 nicht zum
kleindeutschen Reich gehört hatte, und die Eingliederung von Soldaten mit
einem anderen Hintergrund war daher keine singulär österreichische Erfahrung.
• Zeit wirkte sich in mehrfacher Hinsicht integrationsfördernd aus, da die
anfänglichen Spannungen hauptsächlich ein Generationenproblem waren,
20
Einleitung
und immer mehr leichter begeisterungsfähige und beeinflussbare Jüngere
nachrückten, die nicht nur mit dem reichsdeutschen System besser vertraut
waren, sondern auch reichsdeutsche Haltungen zu übernehmen begannen.
Die zusammenfassende Analyse aller Faktoren ergibt, dass der Wehrmachtsdienst der österreichischen Soldaten von einem anhaltenden und verschiedene
Phasen durchlaufenden Integrationsprozess gekennzeichnet war, der von anfänglichen Spannungen zur vollständigen Integration bis hin zur praktischen
Ununterscheidbarkeit der Österreicher von den Reichsdeutschen führte und
nur von außen – durch die militärische Niederlage des Dritten Reichs – beendet
wurde.
Diese äußerst erfolgreich verlaufende Integration erklärt neben der hohen
Loyalität und Kampfmoral der österreichischen Soldaten auch, warum sich innerhalb der Wehrmacht bis zu deren Kapitulation – besonders im Vergleich zur
Zivilbevölkerung – praktisch kein »nationales« österreichisches Sonderbewusstsein entwickelte, weshalb die Opferthese sich auch bezüglich der österreichischen Wehrmachtsoldaten als völlig unhaltbar erweist.
Ferner kann der Ist-Zustand des offiziellen großdeutschen Nationalismus
jener Zeit dahingehend charakterisiert werden, dass die Wehrmacht sich nur
hinsichtlich der Österreicher (und vermutlich auch Sudetendeutschen) zu einer
»großdeutschen Kampfgemeinschaft« entwickelte, während alle anderen neuen
Kontingente Großdeutschland nicht als ihr neues Vaterland akzeptieren wollten
oder konnten.
Methode
Methodologisch wurden dieses Schlussfolgerungen durch die Sichtung,
Sammlung, Kategorisierung und Interpretation von Äußerungen österreichischer Wehrmachtsoldaten erreicht, die geeignet sind, über deren Erfahrungen,
also das, was ihnen passiv widerfuhr, und Haltungen, d. h., wie sie selber Dinge
sahen und sich aktiv verhielten, Auskunft zu geben. Dazwischen gibt es keine
scharfe Grenze, denn eine Haltung kann schließlich bereits die Reaktion auf eine
vorangegangene Erfahrung sein.
Obwohl Wehrmacht und Zweiter Weltkrieg den institutionellen bzw. chronologischen Rahmen bilden, ist dies keine klassische Militärgeschichte mit
Analysen von Truppenbewegungen oder Schlachtverläufen, sondern vielmehr
eine Nacherzählung des Zweiten Weltkrieges »von unten«, aus der Perspektive
der österreichischer Soldaten, welche sich bemüht, so weit wie möglich »in die
Köpfe der Soldaten hineinzusehen«. Nur so kann überprüft werden, ob die nach
außen hin loyale Haltung auch wirklich den innersten Gefühlen der Soldaten
Methode
21
entsprach, ob diese Ausdruck einer erfolgreichen Integration und Akzeptanz
war, denn das Regime wusste selbst nur zu genau – entsprechend oft wurde dies
in den Berichten über die Kampfmoral der Truppe betont –, dass »Stimmung«
nicht gleichbedeutend mit »Haltung« ist.3 Die Darstellung weist auch starke
kulturgeschichtliche Züge auf, da die Evidenz auch aus so verschiedenen Bereichen wie Ethnologie und Psychologie, Unterhaltung und Musik, Reisen und
Tourismus sowie Essen und Trinken gewonnen wurde.
Zwar bildeten die Österreicher kein eigenständiges oder abgesondertes Element innerhalb der Wehrmacht, etwa in der Form hundertprozentig österreichischer Einheiten, aber immerhin existierten mit den sogenannten »ostmärkischen Großverbänden« Divisionen, die sich überwiegend aus Österreichern
zusammensetzten. Wie viele Historiker schließe auch ich mich den Erkenntnissen von Christoph Rass hinsichtlich der Aufrechterhaltung des regionalen
Rekrutierungssystems an, wonach diese Divisionen trotz vorübergehender
Engpässe und Durchmischungstendenzen als im Wesentlichen österreichische
Einheiten gelten und damit über österreichische Haltungen und Erfahrungen
Auskunft geben können. Dennoch sind vor allem in den militärischen Akten
Äußerungen, die unzweifelhaft von Österreichern stammen, rar gesät, was eine
große Herausforderung für den Anspruch der Repräsentativität darstellt,
nachdem Aussagen möglichst über das gesamte Kontingent und nicht nur über
einzelne Gruppen oder gar Einzelpersonen gemacht werden sollen, was eine
Hauptschwäche vieler existierender Studien ist.4
Um ein ausgewogenes und aussagekräftiges Bild von der österreichischen
Wehrmachtserfahrung zeichnen zu können, ist es daher notwendig, sowohl
positive als auch negative Stimmungsäußerungen aufzuzeichnen und gegeneinander abzuwägen. Falls dabei eine kritische Masse von Aussagen mit Bezug
auf ein bestimmtes Thema in dieselbe Richtung deutet, kann man daraus
schließen, dass dies eine vorherrschende Meinung, Haltung etc. unter den Soldaten war. Falls auch nur eine Stimme von der Mehrheit abweicht, wird man so
weit wie möglich untersuchen müssen, ob es sich dabei tatsächlich um eine
Minderheitenmeinung handelte, oder ob diese aufgrund der Quellenlage möglicherweise verzerrt und in Wirklichkeit von einer signifikant größeren Personenzahl geteilt wurde. Weiter gilt es aufgrund der Provenienz der Äußerungen
3 M. I. Gurfein/Morris Janowitz: Trends in Wehrmacht Morale, in: POQ 10/1 (1946), 78 – 84, 2.
4 So stützt Hagspiel (Ostmark, 328) seine Behauptung von der Entwicklung eines neuen
österreichischen Nationalbewusstseins innerhalb der Wehrmacht auf den Beschwerdebrief
eines einzigen Soldaten. Kreissler (Lernprozess) scheint nur Hinweise gesammelt zu haben,
die seine vorweggenommene Position unterstützen, und Karl R. Stadler (Österreich 1938 –
1945. Im Spiegel der NS-Akten, Wien/München 1966, 407) gibt offen zu, dass seine Studie um
eine österreichfreundliche Darstellung bemüht ist.
22
Einleitung
zu berücksichtigen, ob eine Stimmung für das gesamte Kontingent repräsentativ
sein kann oder nur für eine oder mehrere Untergruppen.
Schließlich gab es nicht die eine österreichische Wehrmachtserfahrung,
sondern nur die Summe einer Vielzahl von Einzelerfahrungen, welche sowohl
von persönlichen (wie etwa Herkunft, Alter, Beruf, Bildung, sozialer und politischer Hintergrund) als auch militärisch-strukturellen Kriterien (wie Waffengattung, Einheit, Rang, Verwendung und Kriegsschauplatz) beeinflusst wurde.5
Daher ist bei der Interpretation österreichischer Stimmen auch der Vergleich
mit der Situation der anderen »Neulinge« in der Wehrmacht, also von Kontingenten aus Bevölkerungsgruppen, die vor 1938 nicht zum Deutschen Reich gehört hatten und sich im Dritten Reich und dem reichsdeutschen Militärsystem
erst zurechtfinden mussten, aufschlussreich.
Historiografie
Die existierende Historiografie zum Thema »Österreicher in der Wehrmacht« ist
von einem Mangel an direkt relevanten Werken und einem Überfluss an Werken
zu eng verwandten Themen wie Zweiter Weltkrieg, die Wehrmacht im Allgemeinen und die Anschluss-Ära gekennzeichnet.
Die aus der Waldheim-Affäre (1986) und den Gedenken zum 50. Jahrestag des
Anschlusses (1988) hervorgegangene heftige Kontroverse um die Mitschuld von
Österreichern an den Verbrechen des Dritten Reichs zwang die österreichische
Geschichtsforschung zu einer kritischeren Untersuchung der Rolle von Österreichern während des Anschlusses.6 Gewiss, der Anschluss bedeutete auch
Diktatur sowie die Beseitigung politischer Gegner und anderer unliebsamer
Personen. Aber die große Masse der Österreicher hatte nichts zu fürchten; viele
5 Ein Wehrmachtsveteran bemerkte im Anschluss an den Vortrag von Otto Scholik bei der
Gesellschaft für Politisch-Strategische Studien in Wien am 19. 10. 2004, dass niemand eine
allgemeine »Kriegserfahrung« besitze, sondern dass es nur individuelle »Kriegserlebnisse«
gebe. Vgl.: Johann Christoph Allmayer-Beck: Verständnis für die Kriegsgeneration, in: Ders.:
Militär, Geschichte und politische Bildung, Wien 2003, 209 – 212, 210. Die Bedeutung des
Generationenfaktors als Ursache für unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerung der
Vergangenheit wird betont von Reinhart Koselleck: Der Einfluss der beiden Weltkriege auf das
soziale Bewusstsein, in: Wolfram Wette (Hg.): Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1992, 324 – 343, 327; Gabriele Rosenthal: Biographische
Verarbeitung von Kriegserlebnissen, in: Dies. (Hg.): »Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler
nichts mehr zu tun.« Zur Gegenwärtigkeit des »Dritten Reiches« in erzählten Lebensgeschichten, Opladen 1990, 7 – 25, 18 – 21.
6 Der ÖVP-Präsidentschaftskandidat und ehem. UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim wurde
beschuldigt, seinen Wehrmachtdienst absichtlich verschwiegen zu haben, was zu der (unbewiesenen) Behauptung führte, dass er in die Deportation der griechischen Juden verwickelt
gewesen sei.
Historiografie
23
Österreicher waren selber Täter oder in der Hierarchie des Dritten Reichs
prominent vertreten, die freiwillige Mitgliedschaft in Partei und SS war hoch
und der Widerstand genauso schwach ausgeprägt wie im Altreich. Wien erwarb
sich bald einen zweifelhaften Ruf für antisemitische Ausschreitungen und effiziente Arisierungen.7 All dies wurde seither in zahlreichen Studien untersucht,
sodass heutzutage die Opferthese von keinem Historiker mehr ernst genommen
wird, und auch das offizielle Österreich hat mehrfach die Mitschuld von
Österreichern an den Verbrechen des Dritten Reichs eingestanden.8
Ähnliches gilt für die Literatur zur österreichischen Nationswerdung nach
1945, welche von der Annahme, dass die zunehmende Anschluss-Frustration
aufgrund altreichsdeutscher Bevormundung und der Einwirkungen des Krieges
die Österreicher sich zunehmend ihrer eigenen Identität bewusst werden ließ,
dominiert ist. Ursprünglich versuchte eine Reihe österreichischer Historiker
und Publizisten, alle historischen Verbindungen zum deutschen Volk zu kappen
und zu beweisen, dass die Österreicher schon immer ein eigenständiges Volk
und österreichische Geschichte ein einziger Emanzipationsprozess von
»Deutschland« gewesen sei.9
Heute ist das Verhältnis entspannter, und jüngst wurden auch differenziertere
Studien vorgelegt, die belegen, dass nach 1945 noch etliche Jahrzehnte vergingen, bevor ein gefestigtes Nationalbewusstsein entstehen konnte, und dass viele
Strategien in diesem Zusammenhang auf einer künstlichen Abgrenzung von
Deutschland beruhten.10 Dennoch sind die allgemeine österreichische Ge7 Außer Hitler umfasste die Führung des Dritten Reiches die Österreicher Ernst Kaltenbrunner und Arthur Seyß-Inquart. Fast alle Gauleiter waren Österreicher. Wichtige Rollen in
der Shoah spielten die Österreicher Odilo Globocnik, Franz Stangl und Anton und Alois
Brunner. Gerhard Botz: Eine deutsche Geschichte 1938 bis 1945? Österreichische Geschichte
zwischen Exil, Widerstand und Verstrickung, in: Zeitgeschichte 14/1 (1986), 19 – 38. Der
Anschluss war von besonders abstoßenden antisemitischen Ausschreitungen begleitet, und
Adolf Eichmann begann seine »Karriere« in Wien, wo er effizient die Auswanderung der
Juden organisierte. Bruce F. Pauley : From Prejudice to Persecution. A History of Austrian
Anti-Semitism, Chapel Hill 1992; Hans Safrian: Die Eichmann-Männer, Wien 1993.
8 1991 entschuldigte sich zum ersten Mal ein österreichischer Bundeskanzler, Franz Vranitzky,
offiziell für die von Österreichern begangenen Verbrechen, und seit 1995 haben die österreichischen Regierungen wiederholt Programme zur Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus eingerichtet.
9 Alfred Missong: Die österreichische Nation, Wien 1946; Albert Massiczek (Hg.): Die
österreichische Nation. Zwischen zwei Nationalismen, Wien 1967; Ernst Joseph Görlich/
Felix Romanik: Geschichte Österreichs, Innsbruck/Wien/München [1970]; Georg Wagner
(Hg.): Von der Staatsidee zum Nationalbewusstsein. Studien und Ansprachen, Wien 1982.
10 Ernst Bruckmüller : Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlich-politische Prozesse, Wien 1996; Oliver Rathkolb: Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis
2005, Wien 2005; Peter Thaler : The Ambivalence of Identity. The Austrian Experience of
Nation-Building in a Modern Society, West Lafayette, Ind., 2001; Matthias Pape: Ungleiche
Brüder. Österreich und Deutschland 1945 – 1965, Köln 2000. Die Spannung zwischen dem
24
Einleitung
schichtsschreibung, populäre Darstellungen, Medien und Öffentlichkeit immer
noch stark von einer »nationalösterreichischen« Richtung geprägt, welche die
österreichische Emanzipation und Eigenständigkeit betont und die deutschen
Verbindungen herunterspielt oder ignoriert.
Die umfangreiche Literatur über die Ostmark hat etliche Studien zu verschiedenen Aspekten der österreichischen Mitgliedschaft im Dritten Reich
produziert, wie etwa die Durchführung des Anschlusses sowie die AnschlussZeit in politisch-administrativer, sozio-ökonomischer und regionaler Hinsicht.11 Der Sammelband »NS-Herrschaft in Österreich«, der Beiträge führender
Historiker aus ihrem jeweiligen Fachgebiet beinhaltet, fasst den Forschungsstand von 1988 zusammen und wurde 2000 erneut herausgegeben.12 Obwohl das
Ziel dieser Arbeiten darin besteht, die österreichische Rolle und Erfahrung im
Dritten Reich möglichst umfassend zu beschreiben, haben sie die österreichischen Wehrmachtsoldaten bisher weitestgehend vernachlässigt und das Thema
nur vereinzelt gestreift.13 Dieser Forschungsbereich wirft jedoch die wichtige
Frage auf, ob und wie sich die Anschluss- und Kriegserfahrung der Zivilisten von
jener der Soldaten unterschied? Die Stimmung unter den Zivilisten in der Ostmark – die vom Altreich kaum abwich – ist bisher am gründlichsten von Evan B.
Streben nach einer eigenen österreichischen Identität und den starken deutschen Bindungen
kennzeichnet Friedrich Heer : Der Kampf um die österreichische Identität, Wien 1981. Für
nichtösterreichische Sichtweisen des jüngeren deutsch-österreichischen Verhältnisses siehe:
William T. Bluhm: Building an Austrian Nation. The Political Integration of a Western State,
New Haven 1973; John W. Boyer: Some Reflections on the Problem of Austria, Germany, and
Mitteleuropa, in: CEH 22 (1989), 301 – 315; Harry Ritter : Austria and the Struggle for German Identity, in: GSR 15 (1992), 111 – 129.
11 Siehe u. a.: Erwin A. Schmidl: März 38. Der deutsche Einmarsch in Österreich, Wien 1987;
Gerhard Botz: Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938 – 1940), Wien 1972; Norbert
Schausberger: Der Griff nach Österreich. Der Anschluss, München 1978; Radom†r Luža:
Austro-German Relations in the Anschluss Era, Princeton, N. J., 1975; Rudolf G. Ardelt/Hans
Hautmann (Hg.): Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich, Wien 1990; Tim
Kirk: Nazism and the Working Class in Austria. Industrial Unrest and Political Dissent in the
»National Community«, Cambridge/New York 1996; Gerhard Botz: Wien vom »Anschluss«
zum Krieg. Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale Umgestaltung am
Beispiel der Stadt Wien 1938/39, Wien/München 1978; Ernst Hanisch: Gau der guten Nerven. Die nationalsozialistische Herrschaft in Salzburg 1938 – 1945, Salzburg 1997; Stefan
Karner : Die Steiermark im Dritten Reich 1938 – 1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung, Graz 1986; Gert Kerschbaumer : Faszination Drittes Reich. Kunst und Alltag der Kulturmetropole Salzburg, Salzburg [1988].
12 Emmerich T‚los/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich
1938 – 1945, Wien 1988; ders. u. a. (Hg.): NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien
2000.
13 Walter Manoschek/Hans Safrian: Österreicher in der Wehrmacht, in: T‚los u. a., NS-Herrschaft (2000), 123 – 158; Hans Safrian: Österreicher in der Wehrmacht, in: Wolfgang Neugebauer/Elisabeth Morawek (Hg.): Österreicher und der Zweite Weltkrieg, Wien 1989, 39 –
57.
Historiografie
25
Bukey analysiert worden und war von zunehmender Kriegsmüdigkeit und Defätismus gekennzeichnet, vor allem seit die negativen Auswirkungen des Krieges, wie Versorgungsengpässe und Bombenangriffe, auch die Ostmark erreicht
hatten.14 Die vorliegende Studie kann daher auch als militärische Ergänzung zu
Bukey gelesen werden.
Die österreichische Militärgeschichtsschreibung widmet den Österreichern
in der Wehrmacht naturgemäß mehr Aufmerksamkeit. Die Ergebnisse der älteren Werke, welche sich hauptsächlich mit strukturellen und rein militärischen
Aspekten beschäftigen, sind bis heute nicht durch neuere Studien ersetzt worden
und haben daher nichts an ihrer Gültigkeit eingebüßt. Peter Gschaiders unpublizierte Dissertation ist das Standardwerk zur Eingliederung des Bundesheeres
in die Wehrmacht und bietet eine detaillierte Darstellung der organisatorischen
und rechtlichen Aspekte des Eingliederungsprozesses inklusive der Übernahme
und Umschulung der Offiziere. Die Studie von Gschaider erwähnt Spannungen
zwischen Österreichern und Reichsdeutschen aufgrund verschiedener Mentalitäten und Traditionen, identifiziert aber auch bereits einige wichtige Integrationsmechanismen, wie die Wiederherstellung des österreichischen Selbstbewusstseins und den Generationenfaktor, die von der vorliegenden Studie bestätigt werden.15 Die organisatorische Geschichte der beiden Wehrkreise und der
Luftwaffe auf dem österreichischen Territorium wurde in zwei Publikationen
von Othmar Tuider abgehandelt.16 Johann Christoph Allmayer-Beck schließlich
verdanken wir die grundlegende Beschreibung des Kampfeinsatzes der in der
Ostmark aufgestellten und von dort ergänzten Wehrmachtdivisionen.17
Seit der Waldheim-Affäre von 1986 ist die österreichische Literatur zur
Wehrmacht von Angriffen auf die Opferthese als »Lebenslüge« der Zweiten
Republik anstelle von dringend benötigter Grundlagenforschung, wie etwa über
den österreichischen Wehrmachtsdienst, geprägt.18 Freilich bietet sie wertvolle
14 Evan B. Bukey : Hitler’s Austria. Popular Sentiment in the Nazi Era, 1938 – 1945, Chapel Hill
2000. Für das Gesamtreich siehe: Marlis G. Steinert: Hitlers Krieg und die Deutschen.
Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf/Wien
[1970].
15 Peter Gschaider : Das österreichische Bundesheer 1938 und seine Überführung in die
deutsche Wehrmacht, Dissertation (Universität Wien), 1967.
16 Othmar Tuider : Die Wehrkreise XVII und XVIII 1938 – 1945, Wien 1975; ders.: Die Luftwaffe
in Österreich 1938 – 1945, Wien 1985.
17 Johann Christoph Allmayer-Beck: Die Österreicher im Zweiten Weltkrieg, in: Ludwig Jedlicka (Hg.): Unser Heer. 300 Jahre österreichisches Soldatentum in Krieg und Frieden, Wien
1963, 343 – 375, 365. Allmayer-Beck diente selbst als Wehrmacht-Offizier bei der 21. (ostpreuß.) ID und der 10. Pz.-Gren.-Div. Für eine kurze Zusammenfassung des österreichischen
Wehrmachteinsatzes siehe: Lothar Höbelt: Österreicher in der Deutschen Wehrmacht,
1938 – 1945, in: Truppendienst 28 (1989), 417 – 432.
18 Gerhard Botz/Gerald Sprengnagel (Hg.): Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte.
Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker,
26
Einleitung
Erkenntnisse darüber, wie die österreichische Nachkriegsgesellschaft die Geschichte und das Vermächtnis von Nationalsozialismus und Krieg durch bestimmte Erinnerungsmechanismen und Tabuisierungen derart rekonstruierte,
dass sich jeder, einschließlich der Soldaten, als Opfer sehen konnte. Aber methodisch sind diese Studien, obwohl sie bisweilen auf Interviews mit Veteranen
zurückgreifen, mehr an Diskursanalysen entschuldigender, verzerrender oder
unterdrückender Repräsentationstechniken interessiert, als an dem Versuch,
den Kriegsdienst der Veteranen als solchen so authentisch wie möglich zu rekonstruieren.19 Es blieb daher dem Politikwissenschaftler Walter Manoschek,
teilweise gemeinsam mit Hans Safrian, vorbehalten, in einer Reihe von Studien
zumindest die österreichische Beteiligung an der verbrecherischen Seite des
Krieges aus Akten und persönlichen Dokumenten darzustellen.20
Auch in den jüngsten Forschungen zu Spezialthemen wie Militärjustiz und
Desertion erfährt man wenig über die große Masse der Soldaten, die nicht von
diesen speziellen Themen betroffen waren.21 Gleiches gilt für Marcel Steins auf
den Generalsrang beschränkte Studie der Karrieren und Haltungen österreichischer Wehrmachtoffiziere.22 Das Werk »Österreicher in der Deutschen
Wehrmacht« von Bertrand Michael Buchmann ist eine großteils auf Sekundärquellen basierende Alltagsgeschichte über Wehrmachtsoldaten im Allgemeinen
19
20
21
22
Frankfurt a. M. / New York 1994; Wolfgang Kos/Georg Rigele (Hg.): Inventur 45/55. Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik, Wien 1996; Bischof/Pelinka, Austrian
Historical Memory and National Identity. Für eine kurze Zusammenfassung siehe: Heidemarie Uhl: Das »erste Opfer«. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen
in der Zweiten Republik, in: ÖZP 30/1 (2001), 19 – 34. Kritik am Vorwurf der »Lebenslüge«
üben: Gerald Stourzh: Erschütterung und Konsolidierung des Österreichbewusstseins –
vom Zusammenbruch der Monarchie zur Zweiten Republik, in: Richard G. Plaschka/Gerald
Stourzh/Jan Paul Niederkorn (Hg.): Was heißt Österreich? Inhalt und Umfang des Österreichbegriffs vom 10. Jahrhundert bis heute, Wien 1995, 289 – 311, 307 – 309; Felix Butschek:
Österreichs Lebenslügen – oder wie wissenschaftlich ist die Geschichtsschreibung?, in:
Europäische Rundschau 24/1 (1996), 17 – 28; Hubert Feichtlbauer: Der Fall Österreich.
Nationalsozialismus, Rassismus: Eine notwendige Bilanz, Wien 2000.
Alexander Pollak: Die Wehrmachtslegende in Österreich. Das Bild der Wehrmacht im
Spiegel der österreichischen Presse nach 1945, Wien 2002; Meinrad Ziegler/Waltraud Kannonier-Finster: Österreichs Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit, Wien/Köln/Weimar 1993; Ela Hornung: Trümmermänner. Zum Schweigen österreichischer Soldaten in der Deutschen Wehrmacht, in: Kos/Rigele, Inventur, 232 – 250; Ruth
Beckermann: Jenseits des Krieges. Ehemalige Wehrmachtssoldaten erinnern sich, Wien
1998; Hannes Heer u. a. (Hg.): Wie Geschichte gemacht wird. Zur Konstruktion von Erinnerung an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg, Wien 2003.
Walter Manoschek: »Serbien ist judenfrei.« Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 1993; ders./Safrian, Österreicher.
Walter Manoschek (Hg.): Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003; Maria Fritsche: Entziehungen. Österreichische
Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht, Wien 2004.
Marcel Stein: Österreichs Generale im deutschen Heer, 1938 – 1945. Schwarz/Gelb, Rot/
Weiss/Rot, Hakenkreuz, Bissendorf 2002.
Historiografie
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und bietet neben einigen bekannten und dringend revisionsbedürftigen Beobachtungen keine neuen Einsichten über die spezifisch österreichische Wehrmachtserfahrung.23 Hingegen gewährt die auf Primärquellen beruhende Dissertation von Richard Germann auch wertvolle Einblicke in die Gefühls- und
Erfahrungswelt der Mannschaften und Unteroffiziere.24 Eine groß angelegte
Umfrage unter ehemaligen österreichischen Wehrmachtsoldaten bietet zwar
Aufschluss über Meinungen zu einer Vielzahl von Themen in der Form vorgefertigter Antwortmöglichkeiten, kann aber, da die Veteranen nicht selber zu
Wort kommen, keine Aussagen über tiefere Beweggründe machen.25 Schließlich
wertet derzeit ein von Gerhard Botz geleitetes Projekt am Ludwig BoltzmannInstitut für Historische Sozialwissenschaft in Wien unter tausenden geheimen
Abhörprotokollen deutscher Kriegsgefangener in alliierten Lagern die Aussagen
österreichischer Soldaten aus, welche die Erkenntnisse der vorliegenden Studie
bestätigen.26
Die deutsche Militärgeschichtsschreibung hat eine praktisch unüberschaubare Vielzahl von Studien über die Wehrmacht hervorgebracht.27 Der Fokus der
älteren Werke war auf Strukturen und Eliten, wie etwa das deutsche Offizierskorps, gerichtet.28 Mit der zunehmenden Bedeutung von Sozial- und Alltags23 Bertrand Michael Buchmann: Österreicher in der Deutschen Wehrmacht. Soldatenalltag im
Zweiten Weltkrieg, Wien/Köln/Weimar 2009.
24 Richard Germann: Österreichische Soldaten in Ost- und Südosteuropa 1941 – 1945. Deutsche Krieger – nationalsozialistische Verbrecher – österreichische Opfer?, Dissertation
(Universität Wien), 2006. Germanns Arbeit geht ebenfalls von einer erfolgeichen Integration
der österreichischen Wehrmachtsoldaten aus.
25 Josef Schwarz u. a.: Österreicher im Zweiten Weltkrieg. Bewusstseinsstand von österreichischen Soldaten in der deutschen Wehrmacht 1938 – 1945. Endbericht, Wien 1993 [=
Endbericht]. Die Umfrage wurde von Josef Schwarz privat durchgeführt und in Zusammenarbeit mit den Wiener Instituten für Zeitgeschichte bzw. Konfliktforschung analysiert.
Von 9.000 angeschriebenen Personen beantworteten etwa 1.400 (15 Prozent) den Fragebogen. Etwa 1.200 Antworten waren verwertbar, wovon schließlich 1.119 Eingang in die Studie
fanden, was der sehr hohen Ausschöpfung von 12,43 Prozent (üblich sind Werte um fünf
Prozent) entspricht. Die Datenbank erzielt relativ hohe Repräsentativität hinsichtlich des
beruflichen Hintergrundes, der Altersstruktur (über 60 Prozent wurden 1920 – 25, also in der
Altersgruppe mit den höchsten Verlusten, geboren), der Einziehungsjahre (der Schwerpunkt
liegt auf 1939 – 43) sowie der Verteilung auf Waffengattungen und Dienstgrade (8,1 Prozent
Offiziere, 31,2 Prozent Unteroffiziere, 61 Prozent Mannschaften). Lediglich der regionale
Hintergrund bleibt unbekannt, aber nachdem jedes Bundesland trotz unterschiedlicher
Einwohnerzahlen je 1.000 Fragebögen erhielt, sind Bundesländer mit niedrigeren Einwohnerzahlen wahrscheinlich überrepräsentiert.
26 Mitteilung von Projektmitarbeiter Richard Germann an den Verfasser.
27 Anstelle einer langen Liste von Einzeltiteln siehe die Literaturangaben in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg [=
DRZW], 10 Bde., Stuttgart/München 1979 – 2008.
28 Grundlegend für die Wehrmacht als Institution sind: Rudolf Absolon: Wehrgesetz und
Wehrdienst 1935 – 1945. Das Personalwesen in der Wehrmacht, Boppard a. Rh. 1960; ders.:
Die Wehrmacht im Dritten Reich, 6 Bde., Boppard a. Rh., 1969 – 1995. Zu den Einheiten der
28
Einleitung
geschichte wurde seit den 1970er-Jahren vermehrt Militärgeschichte »von
unten« geschrieben, um herauszufinden, wie die durchschnittlichen Landser
mit dem Kriegserlebnis umgingen.29 Dadurch rückten auch bisher vernachlässigte Themen wie Desertion oder die Beteiligung an Kriegsverbrechen zusehends in den Mittelpunkt.30
Wichtige Beiträge zu der Brutalisierung der deutschen Kriegsführung lieferte
in den 1980er-Jahren Omer Bartov, der diese mit dem Zerfall der kleinsten
Wehrmachteinheiten, der sogenannten Primärgruppen, als Folge der hohen
Verluste in Russland, in Kombination mit harschen Disziplinarmaßnahmen,
politischer Indoktrination und materieller Unterlegenheit zu erklären versuchte.31 Bis dahin hatte die Studie von Edward A. Shils und Morris Janowitz aus
dem Jahre 1948, wonach die allerseits geachtete Kampfmoral der Wehrmacht
gerade auf die landsmannschaftliche Kohäsion der Primärgruppen, welche sich
aus Soldaten aus der gleichen Region zusammensetzten, zurückführen sei, nahezu als Dogma gegolten.32 Vor zehn Jahren gelang es jedoch dem Politikwissenschaftler Christoph Rass anhand einer groß angelegten Studie über eine
Infanterie-Division zu zeigen, dass die Wehrmacht durchaus in der Lage war, die
regionale Homogenität ihrer Einheiten im Großen und Ganzen so lange aufrechtzuerhalten, bis das gesamte Rekrutierungssystem Ende 1944 kollabierte.33
29
30
31
32
33
Wehrmacht siehe: Georg Tessin: Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und
Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939 – 1945, 16 Bde., Osnabrück 1965. Zum deutschen
Offizierskorps siehe: Hans Hubert Hofmann (Hg.): Das deutsche Offizierskorps 1860 – 1960,
Boppard a. Rh. 1980; Hansgeorg Model: Der deutsche Generalstabsoffizier. Seine Auswahl
und Ausbildung in Reichswehr, Wehrmacht und Bundeswehr, Frankfurt a. M. 1968.
Wette, Krieg; Hans Joachim Schröder : Die gestohlenen Jahre. Erzählgeschichten und Geschichtserzählung im Interview. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht ehemaliger Mannschaftssoldaten, Tübingen 1992; Detlef Vogel/Wolfram Wette (Hg.): Andere Helme – andere
Menschen? Heimaterfahrung und Frontalltag im Zweiten Weltkrieg. Ein internationaler
Vergleich, Essen 1995; Stephen G. Fritz: Frontsoldaten. The German Soldier in World War II,
Lexington, Ky., 1995; Klaus Latzel: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg?
Kriegserlebnis, Kriegserfahrung 1939 – 1945, Paderborn 1998; Sönke Neitzel/Harald Welzer :
Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011.
Norbert Haase/Gerhard Paul (Hg.): Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1995. Christopher R. Browning: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in
Poland, New York 1992. In der Öffentlichkeit erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt
1995 mit der sogenannten »Wehrmacht-Ausstellung«. Siehe: Hannes Heer/Klaus Naumann
(Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 – 1944, Hamburg 1995.
Omer Bartov : Hitler’s Army. Soldiers, Nazis, and War in the Third Reich, New York 1991.
Edward A. Shils/Morris Janowitz, Cohesion and Disintegration in the Wehrmacht in World
War II, in: POQ 12 (1948), 280 – 315. Vgl.: Martin L. van Creveld: Fighting Power : German
and US Army Performance 1939 – 1945, Westport, Conn., 1982.
Christoph Rass: »Menschenmaterial«. Deutsche Soldaten an der Ostfront. Innenansichten
einer Infanteriedivision 1939 – 1945, Paderborn 2003; ders.: Das Sozialprofil von Kampfverbänden des deutschen Heeres 1939 bis 1945, in: DRZW, Bd. 9/1: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben (2004), 641 – 741, 724, 740.
Historiografie
29
Generell muss in diesem Zusammenhang festgestellt werden, dass die Literatur über die Streitkräfte des Dritten Reichs dazu tendiert, die Wehrmacht
allein im Kontext des deutschen Nationalstaates und mit Fokus auf das preußische Element als dominierenden Faktor zu behandeln. Dabei ignoriert sie mit
ganz wenigen Ausnahmen die durch die permanente Vergrößerung des deutschen Machtbereichs hervorgerufenen landsmannschaftlichen Veränderungen
in der Zusammensetzung der Wehrmacht sowie das Verhältnis der verschiedenen Gruppen zueinander.34
Die ethnische Zusammensetzung der deutschen Streitkräfte wird fast ausschließlich in Studien zur Waffen-SS thematisiert, welche das österreichische
Element jedoch ebenfalls nicht beachten.35 Auch Studien über das Verhältnis
zwischen Wehrmacht und nationalsozialistischer Volksgemeinschaft beschränken sich im Wesentlichen auf die Frage nach der Mobilisierung der Bevölkerung. Der Umstand, dass die nationale Basis jener Volksgemeinschaft und
damit auch das für die Einziehung zur Wehrmacht zur Verfügung stehende
menschliche Reservoir während des Krieges beständig erweitert wurde, und die
Konsequenzen, die sich daraus ergeben, werden dabei nicht berücksichtigt.36
Anders ausgedrückt: Das Verhältnis zwischen altreichsdeutschen und anderen
Soldaten ist in der deutschen Militärgeschichtsschreibung kein Thema.
Die große Ausnahme ist Rüdiger Overmans, der die deutschen Kriegsverluste
mittels einer auf der Grundlage von Gefallenenmeldungen erstellten Datenbasis
analysierte und die Kriegstoten dabei auch nach regionaler Herkunft kategorisierte. Dabei fällt auf, dass die Todesquote der aus dem österreichischen
Staatsgebiet stammenden Soldaten etwas unterhalb des Reichsdurchschnitts
liegt.37 Dies ist der einzige Bereich, in dem sich die Österreicher messbar von den
34 Dazu gehört Bernhard R. Kroeners kurze Behandlung diskriminierenden Verhaltens gegenüber Österreichern und anderen Neulingen in: Ders.: »Menschenbewirtschaftung«,
Bevölkerungsverteilung und personelle Rüstung in der zweiten Kriegshälfte (1942 – 1944),
in: DRZW, Bd. 5/2: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942 bis 1944/45 (1999), 777 – 1001, 871,
983 – 984; sowie Nikolaus von Preradovich: Die militärische und soziale Herkunft der Generalität des deutschen Heeres: 1. Mai 1944, Osnabrück 1978.
35 Valdis O. Lumans: Himmler’s Auxiliaries. The Volksdeutsche Mittelstelle and the German
National Minorities of Europe 1933 – 1945, Chapel Hill 1993; Hans Werner Neulen: An
deutscher Seite. Internationale Freiwillige von Wehrmacht und Waffen-SS, München 1985;
Franz W. Seidler : Avantgarde für Europa. Ausländische Freiwillige in Wehrmacht und
Waffen-SS, Selent 2004; Rolf-Dieter Müller : An der Seite der Wehrmacht. Hitlers ausländische Helfer beim »Kreuzzug gegen den Bolschewismus« 1941 – 1945, Berlin 2007.
36 Manfred Messerschmidt: Der Reflex der Volksgemeinschaftsidee in der Wehrmacht, in:
Ders.: Militärgeschichtliche Aspekte der Entwicklung des deutschen Nationalstaates, Düsseldorf 1988, 197 – 220; Sven Oliver Müller: Nationalismus in der deutschen Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945, in: DRZW, Bd. 9/2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945.
Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung (2005), 9 – 92.
37 Rüdiger Overmans: Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 1999,
30
Einleitung
reichsdeutschen Soldaten unterscheiden lassen. Da sich die österreichische
Todesquote allerdings während des gesamten Krieges konstant leicht unterhalb
des Durchschnitts befindet, dürfte dies am ehesten auf eine statistische Ungenauigkeit zurückzuführen sein, die mit der Größe der Stichprobe zusammenhängt, als auf irgendwelche anderen Faktoren.38 Umgekehrt jedoch verstärkt die
Anzahl der tatsächlich gefallenen Österreicher eher den Eindruck einer »substanziellen Beteiligung« an der deutschen Kriegsanstrengung.39
Quellen
Das österreichische Kriegsarchiv in Wien besitzt die Nachlässe rund zweitausend österreichischer Militärs. Von diesen können gemäß Findbüchern etwa
zweihundert in irgendeiner Weise mit der Wehrmacht in Verbindung gebracht
werden. Davon wurde eine Anzahl nach oberflächlicher Ansicht als ungeeignet
ausgeschieden.40 Von den rund 170 verbleibenden und akribisch durchgesehenen Nachlässen enthielten ungefähr 100 brauchbare Informationen. Diese
stammen von prominenteren Offizieren bis hinunter zu einfachen Soldaten oder
Personen, die bloß in einem Naheverhältnis zur Wehrmacht standen, und sind
sehr unterschiedlich in Bezug auf Quantität und Qualität. Sie umfassen sowohl
detaillierte Tagebücher, Briefe und zeitgenössische Unterlagen wie auch Erin228, 230 – 231, 246 – 248. Der österreichische Anteil an Wehrmachtsoldaten betrug (übereinstimmend mit dem Anteil der Österreicher an der Reichsbevölkerung) acht Prozent, aber
nur fünf Prozent bei den Gefallenen. Die Todesquote für Soldaten aus dem gesamten Reich
betrug 12,7 Prozent, aber nur acht Prozent bei den österreichischen Soldaten. Die niedrigere
österreichische Gefallenenrate betonte bereits Peter J. Katzenstein: Disjoined Partners.
Austria and Germany since 1815, Berkeley 1976, 172 – 173.
38 Keinesfalls eine zunehmende Distanzierung aufgrund eines erwachenden Österreichbewusstseins, wie von Hanisch (Gau, 92) und Rathkolb (Republik, 382) in Betracht gezogen.
Andere mögliche, aber äußerst unwahrscheinliche Gründe wären besseres Kampfvermögen
(aufgrund der Einstellung oder besserer Ausbildung im Bundesheer), größere Zurückhaltung im Kampf (aus mangelnder Identifikation mit dem Krieg oder Feigheit), Verwendung in
weniger tödlichen Funktionen oder Kriegsschauplätzen. Overmans selbst (Verluste, 275,
295) schränkt die Aussagekraft seiner Zahlen (von möglichen statistischen Ungenauigkeiten
abgesehen) mit dem Hinweis ein, dass zusätzliche Forschung zum österreichischen Kontingent, v. a. die Einsätze von Österreichern betreffend, notwendig wäre.
39 Thaler, Ambivalence, 88.
40 Nicht berücksichtigt wurden die Nachlässe von Franz Böhme, Glaise-Horstenau, Löhr und
Rendulic, da deren Ansichten hinreichend bekannt sind. Siehe: Manoschek/Safrian,
Österreicher (über Böhme); Lothar Rendulic: Gekämpft, gesiegt, geschlagen, Wels/Heidelberg 1952; Edmund Glaise von Horstenau: Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen
Edmund Glaises von Horstenau, 3 Bde., hg. von Peter Broucek, Wien/Köln/Graz 1980 – 1988;
sowie die eher hagiografische Löhr-Biografie von Jaromir Diakow : Generaloberst Alexander
Löhr. Ein Lebensbild, Freiburg i. Br. 1964. Wissenschaftliche Biografien der vier Männer sind
nach wie vor Desiderata.
Quellen
31
nerungen und gleich nach Kriegsende verfasste Pamphlete bis hin zu eher
fragmentarischen Evidenzen wie Zeitungsausschnitte oder Kritzeleien.
Die Nachlässe, welche das Rückgrat dieser Studie bilden, wurden durch drei
Gruppen von Quellen komplementiert. Zunächst durch eine Reihe von Interviews mit Zeitzeugen, von denen beinahe alle selbst in der Wehrmacht gedient
haben. Dieser Quellentyp besitzt den Vorteil, dass gezielt Fragen aufgeworfen
werden können, die in den archivarischen Quellen nicht oder nicht genügend
thematisiert sind. Die Rekrutierung der Gesprächspartner erfolgte durch eine
Adressenliste von Absolventen der Theresianischen Militärakademie in Wiener
Neustadt, den Bundesverband des »Österreichischen Kameradschaftsbundes«
in Wien, den Besuch einzelner Kameradschaftstreffen in Wien, Umfragen im
Familien- und Freundeskreis sowie durch Zeitungsannoncen und Flugblätter.
Die zweite Kategorie umfasst die militärischen Akten des deutschen Bundesarchiv-Militärarchivs in Freiburg, vor allem jene Akten über die »ostmärkischen Divisionen« und die beiden Wehrkreise in der Ostmark, aber auch über
die Wehrkreise, in denen Österreicher ausgebildet wurden oder welche Ersatz
aus der Ostmark erhielten. Darüber hinaus gibt diese Quellengruppe Auskunft
über Angelegenheiten, welche über den engen österreichischen Kontext hinausgehen, wie z. B. die Behandlung anderer Neulinge, Fragen von Führung und
Ausbildung, Beurteilungen der Moral und der Kampfkraft von Truppen oder das
Selbstverständnis der Wehrmacht.
Die letzte Gruppe besteht aus diversen Quellen unterschiedlicher Provenienz.
Da wäre zunächst einmal das Archiv der Republik in Wien mit seinen Akten
betreffend das Büro des »Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich« (»Bürckel«/Materie und »Bürckel«/Nachträge), also der zentralen Autorität der Ostmark von 1938 bis 1940, sowie das Büro
des Reichsstatthalters in Wien (RStH), der Regierungsgewalt in Wien von 1940
bis 1945.41 Trotz ihrer zivilen Natur enthalten diese Quellen auch zahlreiche
Bezüge zur Wehrmacht. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in Wien enthält eine große Zahl von aufschlussreichen wehrmachtbezogenen Akten. Weitere wertvolle Informationen konnten im Industrieviertelmuseum in Wiener Neustadt, in der »Sammlung 1938« im Wiener Allgemeinen Verwaltungsarchiv und unter den Dokumenten in der Sammlung
»Manuskripte – Allgemeine Reihe« des Kriegsarchivs gesichtet werden.
Quellenkritisch sind mit Bezug auf die verwendeten Quellen drei wichtige
Bemerkungen zu machen. Erstens, Feldpostbriefe und sämtliche Texte, die zur
Veröffentlichung gedacht waren (wie Erlebnisberichte oder Zeitungsartikel),
unterlagen der Zensur. Briefe wurden allerdings nur stichprobenartig zensu41 Die Funktion des Reichsstatthalters wurde 1940 in Personalunion mit dem (seit 1938 existierenden) Amt des Gauleiters von Wien vereinigt.
32
Einleitung
riert, und auch wenn sie nur selten offene Kritik enthalten, so war umgekehrt
kein Soldat gezwungen, sich enthusiastisch über den Kriegsverlauf oder seine
Kameraden bzw. negativ über den Feind oder Defätisten zu äußern.42 Eine
größere Einschränkung ist daher die »innere Zensur«, nämlich ob ein Soldat
etwas a priori, ob positiv oder negativ, für mitteilenswert hält, oder es bevorzugt,
sich über bestimmte Dinge auszuschweigen. Es galt daher, Soldatenbriefe auch
zwischen den Zeilen zu lesen und zu versuchen, den Gesamteindruck von
Briefen zu erfassen. In jedem Fall kann Kritik (die man durchaus finden kann)
ebenso aussagekräftig sein wie ein Brief voller Belanglosigkeiten oder einer,
dessen Autor über ein bestimmtes Thema ins Schwärmen gerät. Auch Zeugnisse
von Personen mit eindeutig nationalsozialistischem Hintergrund dürfen nicht
von vornherein als wertlos abgetan werden, da der Großteil der integrativen
Mechanismen unabhängig von nationalsozialistischer Ideologie wirkte, und es
häufig gerade überzeugte Nationalsozialisten waren, die mit Aspekten des Anschlusses unzufrieden waren.
Zweitens, bei allen nach 1945 entstandenen Zeugnissen, etwa Interviews,
Memoiren oder andere Rückblicke, besteht die Möglichkeit, dass die Vergangenheit verzerrend dargestellt wird.43 Da die typischen Verzerrungen jedoch
bekannt sind, können die Aussagen entsprechend bereinigt werden, und auch
hier gilt, dass niemand zu bestimmten Aussagen gezwungen war. Die Berücksichtigung von Quellen nichtösterreichischer Provenienz sowie die Situation
andere Neulinge betreffend fungierte ebenfalls als Korrektiv zu allfälligen Verzerrungen in den österreichischen Quellen.
Die weitaus größere Herausforderung bestand drittens jedoch darin, durch
die Quellen einen möglichst hohen Grad an Repräsentativität mit Bezug auf die
soziale, politische und regionale Zusammensetzung des österreichischen Kontingents zu erzielen. Allerdings stammt rund die Hälfte der Nachlässe von Offizieren (die nur drei Prozent des Wehrmachtpersonals ausmachten) – und
damit aus dem konservativen, bürgerlichen bis aristokratischen Spektrum; der
typische »Arbeiter« wurde weder Offizier, noch hinterließ er dem Kriegsarchiv
irgendwelche Aufzeichnungen.44 Andererseits können auch Offiziersnachlässe
42 Thilo Stenzel: Russlandbild des »kleinen Mannes«. Gesellschaftliche Prägung und Fremdwahrnehmung in Feldpostbriefen aus dem Ostfeldzug (1941 – 1944/1945), in: Mitteilungen
des Osteuropa-Instituts München 27 (1998), online: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/publikationen/mitteilungen/mitt_27.pdf (25. 8. 2014), 14 – 15.
43 Schröder, Gestohlene Jahre, 97 – 126; Koselleck, Einfluss, 331. Zum generellen Problem der
Darstellung vergangener Ereignisse unter besonderer Berücksichtigung individueller Erfahrungen siehe: Reinhart Koselleck: Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, 144 – 157.
44 Insgesamt dienten ca. 18 Millionen Männer in der Wehrmacht. Wolfram Wette: Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden, Frankfurt a. M. 2002, 176.
Aufbau
33
die Stimmen von Personen, die keine Offiziere waren oder nicht der konservativen Schichte entstammten, enthalten.
Zudem konnte dieses Ungleichgewicht durch die anderen Quellengruppen
etwas berichtigt werden. So wurden insgesamt 21 Personen interviewt, wobei
eine Person über zwei ehemalige Wehrmachtsmitglieder Auskunft gab, und zwei
andere Personen nicht in der Wehrmacht gedient hatten. Unter den 20 direkt auf
die Wehrmacht bezogenen Stimmen dominiert eindeutig der Anteil der Nichtoffiziere (80 Prozent).45 Auch die Akten aus Freiburg enthalten eine große Zahl
an Erlebnisberichten von einfachen Soldaten. Die regionale Herkunft betreffend
sind die Stimmen, die in diese Studie Eingang gefunden haben, halbwegs
gleichmäßig verteilt, wobei jene, deren Herkunft nicht eindeutig feststellbar war,
die stärkste Gruppe ausmachen (rund 25 Prozent), gefolgt von Wienern (rund
20 Prozent), Steirern (rund 15 Prozent) und in Böhmen und Mähren Geborenen
als drittstärkste Gruppe (rund acht Prozent).
Aufbau
Um den anhaltenden Charakter des Integrationsprozesses zu unterstreichen, bot
sich ein chronologischer Aufbau der einzelnen Kapitel an. Das erste Kapitel
erzählt die Vorgeschichte (inklusive der formellen Eingliederung des Bundesheeres) zu den eigentlichen Ereignissen zwischen 1938 und 1945, wobei einige
relevante Aspekte, die in der Zeit vor 1938 begründet liegen, aufgeworfen und
diskutiert werden. In dem Kapitel wird auch der Einsatz der Österreicher im
Zweiten Weltkrieg skizziert sowie die Frage der Verteilung der österreichischen
Soldaten auf die Einheiten der Wehrmacht erörtert. Kapitel zwei beschäftigt sich
mit der Friedensperiode von März 1938 bis September 1939, die sowohl von
Spannungen als auch von den ersten integrativen Kräften, welche beide aus der
Inkorporation des Bundesheeres hervorgegangen waren, gekennzeichnet war.
Das dritte Kapitel schildert, wie sich die Integration während der ersten
Kriegsphase von 1939 bis Frühjahr 1941 aufgrund der sich aus dem erfolgreichen Kriegsverlauf ergebenden Mechanismen vertiefte. Kapitel vier hebt sich
exkursartig von der Chronologie ab, da es die Wehrmacht als bewaffnete Version
der Volksgemeinschaft interpretiert und jene diesem Konzept innewohnenden
integrativen Kräfte, die weitgehend im deutschen Nationalismus wurzelten,
analysiert. Der dramatisch veränderte Charakter des Krieges seit dem Angriff
auf die Sowjetunion im Juni 1941 bis Mitte 1944 bildet den Fokus von Kapitel
fünf und schildert, wie die bisher als positiv zu definierenden integrativen Kräfte
45 Sozial und politisch konnte ein relativ repräsentatives Spektrum erzielt werden. Siehe die
Kurzbiografien der Interviewpartner im Anhang.
34
Einleitung
großteils durch negative, aber keinesfalls weniger integrative Faktoren ersetzt
wurden. Das sechste und letzte Kapitel analysiert die Kampfmotivation während
der letzten Kriegsmonate sowie die wohlwollenden und ablehnenden Rezeptionen des Wehrmachtdienstes unmittelbar nach Kriegsende.
***
Abschließend noch zwei Bemerkungen zur Schreibweise. Der Text benutzt
deutsche Namen für sämtliche geografische Begriffe, da diese auch in den
Quellen verwendet werden. Und obwohl Österreicher seit März 1938 deutsche
Staatsangehörige oder »Ostmärker« waren, werden sie im Folgenden in der
Regel als »Österreicher« bezeichnet, während für die anderen Deutschen der
Begriff »Reichsdeutsche« verwendet wird, obgleich der Begriff »Altreichsdeutsche« akkurater wäre.46
46 Mit den Begriffen »Altreich« und »Altreichsdeutsche« wurden die Deutschen, die schon seit
1871 im Reich lebten, von jenen, die erst nach 1938 »heim ins Reich« gekehrt waren, unterschieden. In Österreich war es jedoch schon vor dem Anschluss (und fallweise noch nach
1945) üblich, von »Reichsdeutschen« oder von jemand »aus dem Reich« zu sprechen.
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