WS 2016/17 - Vorlesungsreihe Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Entwicklungspsychopathologie Frühe Kindheitstraumata, sex. Missbrauch, Vernachlässigung, Misshandlung und ihre Folgen 12.1.2017 Prof. Jörg M. Fegert Überblick • Formen der Kindesmisshandlung • Was ist ein Trauma? • Posttraumatische Belastungsstörung & Traumafolgestörungen • Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch und Recht • Intervention & Traumatherapie 90 % aller Misshandlungsfälle werden nicht innerhalb von Institutionen wahrgenommen 18 Millionen Kinder von sexuellem Missbrauch in Europa derzeit betroffen Prävalenz sexueller Missbrauch in der europäischen Region: 9,6% Mädchen 13,4 %, Jungen 5,7% WHO Vergleich Häufigkeiten und Konfidenzintervalle Erziehungseinstellungen • Bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe mittels random route Verfahren: vom 20.01.2016 bis zum 16.03.2016 • Erfassung in ganz Deutschland (>14 Jahre) • 2524 vollständige Datensätze erhoben Plener, Rodens, Fegert, 2016 Das hat noch keinem Kind geschadet…. "Das hat noch keinem Kind geschadet..." Tracht Prügel gesamt 1,8 4,1 w 1,3 3 m 2,5 Ohrfeige gesamt 82 9,5 86,2 5,4 15,3 8,3 w 5,9 m Klaps auf Hintern 12,1 76,8 14,9 19,7 12,8 11 19,5 17,4 gesamt 10 14,2 27,3 26,2 20 stimme voll zu 30 32,2 13,6 30,4 0 51,6 26,8 23,8 m 61,8 20 26,8 w 57,2 40 stimme etwas zu 35,3 14,9 50 60 bin etwas dagegen 28,4 70 80 90 100 bin stark dagegen Plener, Rodens, Fegert, 2016 Welche körperlichen Strafen sind in der Erziehung von Kindern angebracht? Körperliche Strafe M (%) W (%) Gesamt (%) X2; p Klaps auf Hintern 558 (48,7) 569 (41,3) 1127 (44,7) X2: 14,13; p<,001 Leichte Ohrfeige 258 (22,35) 172 (12,5) 430 (17,0) X2: 44,79; p<,001 Schallende Ohrfeige 38 (3,3) 13 (0,9) 51 (2,0) X2: 17,4; p<,001 Tracht Prügel mit Bluterguss 1 (0,1) 1 (0,1) 2 (0,1) X2: 0,02; p=0,70 Mit Stock kräftig auf Po 7 (0,6) 4 (0,3) 11 (0,4) X2: 1,49; p=0,18 Treten 0 0 0 Würgen 0 0 0 0 (0) 5 (0,2) X2: 6,03; p=0,02 9 (0,7) 24 (1,0) X2: 2,87; p=0,07 815 (59,1) 1393 (55,2) X2: 18,80; p<,001 Schläge mit Gegenständen 5 (0,4) (wie Gürtel, Bambusrohr) Andere körperliche Bestrafung Ablehnung 15 (1,3) körperlicher 578 (50,5) Bestrafung Plener, Rodens, Fegert, 2016 Wann sind körperliche Stafen gerechtfertigt? 70 60 50 40 30 * * 20 gesamt eigene Kinder 10 0 * keine eigenen Kinder *= p<0,05 Plener, Rodens, Fegert, 2016 Selbst erlebte Erziehungsmethoden 19,1 20,2 23,1 Nichts davon 11,9 13,2 13,5 Niederbrüllen 15,3 17,4 16,7 Nicht mehr mit Ihnen reden 16,2 Taschengeldkürzung 30,5 30,6 40,6 Ausgehverbot 17,2 Fernsehverbot 47,8 47,1 44,7 3,5 3,4 1,5 Andere körperliche Bestrafung Schläge mit Gegenständen (wie Gürtel, Bambusrohr) 2,9 ab 61 Jahre 8,1 6,8 31-60 Jahre 0 0,3 0,2 Würgen 14-30 Jahre 0,8 1,4 2,5 Treten Mit Stock kräftig auf Po 2,7 6,5 14,6 4,2 3,8 1,9 Tracht Prügel mit Bluterguss Schallende Ohrfeige 10,4 24,5 19,6 Leichte Ohrfeige 43,2 30,8 Klaps auf Hintern Plener, Rodens, Fegert, 2016 57,3 52,9 52,1 0 10 20 30 40 50 60 70,4 60,9 70 80 Überblick • Formen der Kindesmisshandlung • Was ist ein Trauma? • Posttraumatische Belastungsstörung & Traumafolgestörungen • Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch • Intervention & Traumatherapie Was ist ein Trauma? Traumatisches Lebensereignis Extreme physiologische Erregung Flucht Freeze Fight Traumasymptome | 14 Reaktionen auf traumatischen Stress LeDoux, Scientific American, 1994 Bei einer Traumatisierung laufen parallel zwei unterschiedliche physiologische Prozesse ab Übererregungs-Kontinuum Fight oder Flight • Alarmzustand Wachsamkeit • Angst/Schrecken • Adrenalin System wird aktiviert – Erregung • Serotonerge System verändert sich – Impulsivität, Affektivität, Aggressivität Dissoziatives-Kontinuum Freeze – ohnmächtige / passive Reaktion • Gefühlslosigkeit / Nachgiebigkeit • Dissoziation • Opioid System wird Aktiviert Euphorie, Betäubung • Veränderung der Sinnes,,Körperwahrnehmung (Ort, Zeit, etc.) Physiologisch • Blutdruck (Pulsrate ) • Atmung • Muskeltonus • Schmerzwahrnehmung Physiologisch • Pulsrate Blutdruck • Atmung • Muskeltonus • Schmerzwahrnehmung Traumatischer Stress & Gedächtnisbildung Definition Traumatisches Ereignis (A-Kriterium) – Person erlebte oder war Zeuge einer lebensbedrohlichen traumatischen Situation – Subjektiv: intensive Angst, Hilflosigkeit, Entsetzen – Alarmreaktion (bei Kindern desorganisiertes oder agitiertes Verhalten) Traumatische Ereignisse: – Unfall, Krieg, Folter, (sexueller) Missbrauch, körperliche Angriffe, Naturkatastrophen, aber auch emotionale Traumata (ständige Entwertung) Traumatischer Stress & Gedächtnisbildung Pathologische Repräsentation der Traumaerinnerung Keine chronologische Reihenfolge Fragmentierte Erinnerung Schwierigkeiten, das Erlebte in Worte zu fassen Erinnerung ist losgelöst von Raum und Zeit Intrusionen Wiederkehrende belastende Erinnerungen in Bildern, Gedanken und Träumen mit allen sensorischen Details Gefühl der akuten Bedrohung im Hier und Jetzt Überblick • Formen der Kindesmisshandlung • Was ist ein Trauma? • Posttraumatische Belastungsstörung & Traumafolgestörungen • Neurobiologische Prozesse • Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch • Intervention & Traumatherapie Traumafolgestörungen Psychotrauma Akute Belastungsreaktion Anpassungsstörungen Posttraumatische Belastungsstörung Komplexe Störungen Akute Belastungsreaktion (F43.0) Folge einer extremen psychischen Belastung, keine geeignete Bewältigungsstrategie Vorübergehend, Stunden bis max. Tage, in seltenen Fällen Wochen. Symptome in der Akutphase unterscheiden sich von denen der anschließenden Verarbeitungsphase. – Akutphase: wie betäubt mit Bewusstseinseinengung, Wahrnehmungsstörung, Desorientiertheit , außerdem kommen dissoziative Symptome vor, Ebenso starke emotionale Schwankungen. Zusätzlich gibt es vegetativen Reaktion, wie Schwitzen, Herzrasen oder Übelkeit. – Verarbeitungsphase eher Wiedererleben Intrusionen, der Ereignisse, in Form von Albträumen oder auch als sich aufdrängende Erinnerungen, Flashbacks. Hat zunächst keinen Krankheitswert, sondern ist eine normale Reaktion der menschlichen Psyche auf eine außergewöhnliche Erfahrung. Anpassungsstörung (F43.2) Diagnosekriterien für Anpassungsstörungen A. Identifizierbare psychosoziale Belastung, von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalem Ausmaß; Beginn der Symptome innerhalb eines Monats. B. Symptome und Verhaltensstörungen, wie sie bei affektiven Störungen (F3) (außer Wahngedanken und Halluzinationen), bei der neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F4) oder Störungen des Sozialverhaltens (F91) vorkommen können. Die Kriterien einer einzelnen Störung werden aber nicht erfüllt. Die Symptome können in Art und Schwere variieren. C. Die Symptome dauern nicht länger als sechs Monate nach Ende der Belastung oder ihrer Folgen an, außer bei der längeren depressiven Reaktion (F43.21). Diagnosekriterien PTSD (ICD-10: F43.1) A. Die Betroffenen sind einem kurz oder lang dauernden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde. B. Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen. C. Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis. ICD 10 Kriterien PTSD D. Entweder 1. oder 2. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern. 2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht 1. vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale: a. b. c. d. e. Ein- und Durchschlafstörungen Reizbarkeit oder Wutausbrüche Konzentrationsschwierigkeiten Hypervigilanz erhöhte Schreckhaftigkeit E. Die Kriterien B, C und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf. (In einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden). Traumatypologie nach L. Terr (1991) Typ – I - Trauma › Einzelnes, unerwartetes, traumatisches Erlebnis von kurzer Dauer. › z.B. Verkehrsunfälle, Opfer/Zeuge von Gewalttaten, Naturkatastrophen. › Öffentlich, besprechbar Symptome: Meist klare sehr lebendige Wiedererinnerungen Vollbild der PTSD Hauptemotion = Angst Eher gute Behandlungsprognose Typ – II - Trauma › Serie miteinander verknüpfter Ereignisse oder lang andauernde, sich wiederholende traumatische Erlebnisse. › Körperliche sexuelle Misshandlungen in der Kindheit, überdauernde zwischen-menschliche Gewalterfahrungen. Nicht öffentlich Symptome: › Nur diffuse Wiedererinnerungen, starke Dissoziationstendenz, Bindungsstörungen Hohe Komorbidität, komplexe PTSD Sekundäremotionen (z.B. Scham, Ekel) Schwerer zu behandeln Traumafolgestörungen KindheitsTraumata akute Belastungsstörung PTBS Bindungsstörungen Normale Entwicklung (Resilienz) Depression Suizidalität + Risikoverhalten Substanzmissbrauch Körperl. Erkrankungen Fergusson et al. 1996, J Am Acad Child Adolesc Psychiatry.35:1365-74 Felitti et al. 1998, Am J Prev Med. 14:245-258 Houck et al. 2010, J Ped. Psychol, 35:473-483 Irish, Kobayashi & Delahanty 2010, J Ped Psychol 35:450-461 Oswald, Heil, & Goldbeck, J Ped Psychol. 2010, 35:462-72 Pears & Capaldi 2001, Child Abuse and Neglect 25:1439-61 u.v.m. (Adipositas, Herz-Kreislauf,…) Transgenerationale Weitergabe (Opfer => Täter) Misshandlung und psychische Gesundheit Teicher, Am J Psychiatr, 2006 Konsequenzen: Psychische Erkrankungen • Systematischer Review: 124 Studien Emotionale Misshandlung OR Vernachlässigung OR Depression 3,06 Depression 2,11 Angststörungen 3,21 Angststörungen 1,82 Essstörungen 2,56 Essstörungen 2,99 Drogenkonsum 1,41 Drogenkonsum 1,36 Suizidversuche 3,37 Suizidversuche 1,95 STD und riskantes sex. Verhalten 1,75 STD und riskantes sex. Verhalten 1,57 Norman et al., 2012 Konsequenzen: körperliche Erkrankung Gesundheitsprobleme AORs 95 % Raucher 2,2 1,7 – 2,9 Adipositas (BMI ≥ 35) 1,6 1,2 – 2,1 Sexuelle, übertragbare Krankheiten in der 2,5 1,9 – 3,2 Vergangenheit Ischämische Herzerkrankungen 2,2 1,3 -3,7 Irgendeine onkologische Erkrankung 1,9 1,3 – 2,7 Schlaganfall 2,4 1,3 – 4,3 Chronische Bronchitis oder Emphysem 3,9 2,6 – 5,8 Diabetes 1,6 1,0 – 2,5 Je eine Skelettfraktur 1,6 1,3 – 2,0 Hepatitis oder Ikterus 2,4 1,8 – 3,3 Fellitti et al., 1998 Volkswirtschaflicher Schaden Deutschlandweite jährliche Folgekosten von Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung im Kindesalter: 11-30 Milliarden Euro Habetha et al., 2012 Eine Kommune kann ihr Geld im Kinderschutz „gut anlegen“ Jährliche gesamtwirtschaftliche Traumafolgekosten • • Tangible Kosten der Traumatisierung: Gesundheitskosten, Kosten der Kinder- und Jugendhilfe, Ausbildungsförderung, Wertschöpfungsverlust etc.: 335.421€ Bei 1,6 Mio. Betroffenen: 6.708€ Traumafolgekosten pro Fall und Jahr Jährliche Kosten für die deutsche Gesellschaft durch Folgen von Kindesmisshandlung/-missbrauch und Vernachlässigung 11 Mrd. € Oder 134,54€ trägt jeder Bundesbürger jährlich. Habetha S., Bleich S., Weidenhammer J., Fegert J.M.: A prevalence-based approach to societal costs occurring in consequence of child abuse and neglect. Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health 2012, 6:35 doi:10.1186/1753-2000-6-35 CANMANAGE: Missbrauchstypen 0 10 20 körperliche Misshandlung N = 145 häusliche Gewalt N = 136 Vernachlässigung N = 120 emotionale Misshandlung N = 101 sexueller Missbrauch Prozent 30 40 50 60 N = 69 mehrere Formen von Missbrauch bei N = 175 (87%) 70 80 CANMANAGE: Missbrauchsfolgen II 0 5 Prozent 15 20 25 10 30 35 Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) N=45 N=35 Hyperkinetsche Störungen (F90 inkl. F90.1) N=33 Ausscheidungsstörungen (F98) Störung des Sozialverhaltens (F91) N=30 N=17 Angst (F40, F93) Affektive Störungen (F32, F34) N=12 sonstige emotionale Störungen (F93.8) N=10 Anpassungsstörungen (F43.2) N=7 Tic (F95) N=7 Zwang (F42) Bindungsstörungen (F94) 40 N=2 N=1 komorbide Störung bei N = 50 (37,9%) CANMANAGE: Missbrauchsfolgen I 34% Resilient mit psychischen Auffälligkeiten 66% etwa 1 Drittel bleibt resilient (N=69) Überblick • Formen der Kindesmisshandlung • Was ist ein Trauma? • Posttraumatische Belastungsstörung & Traumafolgestörungen • Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch und ärztliches Handeln • Intervention & Traumatherapie VERBUNDPROJEKT MEINE KINDHEIT – DEINE KINDHEIT (TRANS-GEN) Studie zur transgenerationalen Weitergabe von Missbrauchs-, Vernachlässigungs- und Misshandlungserfahrungen Förderzeitraum: Juni 2013 – März 2017 Gefördert durch: Teilnehmende Mütter zum ersten Messzeitpunkt N = 533 Alter der Mütter: Range von 18 bis 44 Jahre, MD=32 Herkunftsland: 84% der Mütter und 85% der Väter aus Deutschland Familienstand: 98% verheiratet oder in Partnerschaft lebend Bildungsstand: 68,8 % Gymnasiumabschluss 22,9% Realschulabschluss 8,1% Hauptschulabschluss 0,2% kein Abschluss Schwangerschaft: 54% erste Schwangerschaft 30,4% gesundheitliche Probleme Prävalenz von Missbrauchserfahrungen in der eigenen Kindheit Emotionale Vernachlässigung Körperliche Vernachlässigung Emotionaler Misshandlung Körperlicher Misshandlung Sexueller Missbrauch 0,0% 6,4% 4,5% 5,3% 3,0% 1,1% 28,3% 49,0% 9,4% 15,0% 9,4% 3,2% 3,6% 16,1% 4,5% 1,9% 3,8% 1,7% 2,8% 5,8% 50,0% 17,4% 13,0% Gesamt - repräsentative Erhebung in Deutschland (Häuser et al., 2001) wenig moderat schwer 10,1% Gesamt Belastet 12,0% 10,3% 10,0% 20,0% 30,0% 40,0% 50,0% 60,0% Warum sind Akteure des Gesundheitssystems wichtige Zugangswege? • Leistungen von fast allen Frauen rund um Geburt angenommen • Bei jungen Eltern sind Hebammen und niedergelassene Ärzte hoch akzeptiert • Ärztliche Leistungen und Hebammenhilfe frühzeitig in Anspruch genommen Renner et al., 2010 Handlungsfelder Liebhardt et al., 2013 • Ca. 53% unsicher im professionellen Umgang mit sex. Missbrauch „In welchen Bereichen fühlen Sie sich unsicher?“ Anzahl und %-Anteil der Gesamtstichprobe Anzahl und %-Anteil aller med.-therap. Berufe Anzahl und %-Anteil aller päd. Berufe in der Gesprächsführung mit Erziehungsberechtigten 689 (64%) 275 (53%) 414 (75%) im Umgang mit rechtlichen Vorschriften 670 (62%) 369 (71%) 301 (55%) bei der Informationsweitergabe an weitere Institutionen (z. B. Jugendamt, Polizei, Staatsanwaltschaft) 654 (61%) 353 (68%) 301 (55%) in der Gesprächsführung mit dem betroffenem Kind/Jugendlichen 623 (58%) 249 (48%) 374 (68%) im Erkennen von Auffälligkeiten und Hinweiszeichen 532 (50%) 209 (40%) 323 (59%) bei der Dokumentation des Sachverhalts 389 (36%) 207 (40%) 182 (33%) bei der Informationsweitergabe an die Einrichtungsleitung 278 (26%) 165 (32%) 113 (21%) Bereiche Liebhardt et al., 2013 Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen Ziele: - Frühe Hilfen und verlässliche Netzwerke schon für werdende Eltern - Nachhaltige Stärkung des Einsatzes von Familienhebammen und der Netzwerke "Frühe Hilfen" - Ausschluss einschlägig Vorbestrafter von Tätigkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe - Verhinderung des "Jugendamts-Hopping" - Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger zur Informationsweitergabe an das Jugendamt - Regelung zum Hausbesuch zahlreiche Änderungen im SGB VIII Das Bundeskinderschutzgesetz Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG): • • § 1 Kinderschutz und staatliche Mitverantwortung § 2 Information der Eltern über Unterstützungsangebote in Fragen der Kindesentwicklung (durch Jugendhilfe) • § 3 Rahmenbedingungen für verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz • § 4 Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung Abgestuftes Vorgehen bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung Sind Akteure des Gesundheitswesen gute Kooperationspartner? • Befragung der NZFH Projektleiter • Akteure des Gesundheitswesens haben besten Zugang zu Hochrisikofamilien: • Gynäkologen, Pädiater, Geburtskliniken Renner, 2010 § 4 KKG: Befugnisnorm • § 4 Abs. 2 KKG: • Anspruch auf Beratung durch „insoweit erfahrene Fachkraft“ bzgl. Gefährdungseinschätzung für Berufsgeheimnisträger unter Angabe pseudonymisierter Daten! • Aber was geschieht um 02.00h Samstag nachts in der pädiatrischen Notaufnahme? OPS 1-945: Diagnostik bei Verdacht auf Gefährdung von Kindeswohl und Kindergesundheit • standardisierte und multiprofessionelle (somatische, psychologische und psychosoziale) Diagnostik bei Verdacht auf Kindesmisshandlung, -missbrauch und vernachlässigung sowie bei MünchhausenStellvertreter-Syndrom • Mindestmerkmale: Multiprofessionelles Team (Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen, Fachkräfte für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege) unter Leitung eines Facharztes […] OPS 1-945: Diagnostik bei Verdacht auf Gefährdung von Kindeswohl und Kindergesundheit • • Mindestmerkmale: Mehrdimensionale Diagnostik von jeweils mindestens 30 Minuten in mindestens 3 Disziplinen […] bzw. solchen mit Expertise für Kinderschutz und/oder für Patienten des Kindes- und Jugendalters […] durch die oben genannten Berufsgruppen alle folgenden Leistungen erbracht: – – – Ausführliche ärztliche oder psychologische diagnostische Gespräche Verhaltens- und Interaktionsbeobachtung Strukturierte Befunderhebung und Befunddokumentation unter Verwendung spezifischer Anamnese- und Befundbögen • Durchführung von mindestens einer Fallbesprechung mit mindestens 3 Fachdisziplinen zusammen mit einer Fachkraft für Gesundheits- und Kinderkrankenpflege mit Dokumentation • Ggf. Kontaktaufnahme mit der Jugendhilfe Was macht Kooperation so schwierig? • Unterschiedliche Professionen und Zugänge erschweren gemeinsame Haltung • Mangelnde Ressourcen auf beiden Seiten • Familiensysteme halten Kontakte oft nicht aufrecht • Kommunikation verläuft oft in Triaden (Familie, JA, Medizin, Institutionen). • Komplexe Symptomatik (Betroffene und Familiensysteme) • Häufig vergleichsweise geringer Behandlungswunsch, Wunsch nach Hilfen Überblick • Formen der Kindesmisshandlung • Was ist ein Trauma? • Posttraumatische Belastungsstörung & Traumafolgestörungen • Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch und Recht • Intervention & Traumatherapie KINDESWOHLGEFÄHRDUNG Definition BGH in Zivilsachen: Prognosefrage Kindeswohlgefährdung wird definiert als … „eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussagen lässt“ Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 14. Juli 1956 (BGH FamRZ 1956, S. 350). Problem: Statistische Prognose (Riskochecklisten) vs. Individualprognose im Einzelfall Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG): § 4 Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung (1)Werden 1. Ärztinnen oder Ärzten, Hebammen oder Entbindungspflegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, 2. Berufspsychologinnen oder -psychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlussprüfung, 3. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberaterinnen oder -beratern sowie 4. Beraterinnen oder Beratern für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist, 5. Mitgliedern oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes, 6. staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen oder -arbeitern oder staatlich anerkannten Sozialpädagoginnen oder -pädagogen oder 7. Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG): § 4 Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung … in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG): § 4 Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung (2) Die Personen nach Absatz 1 haben zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren. Überblick • Formen der Kindesmisshandlung • Was ist ein Trauma? • Posttraumatische Belastungsstörung & Traumafolgestörungen • Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch und Recht • Intervention & Traumatherapie Grundsätze der Psychotherapie traumatisierter Patienten (nach Butollo 1998) INTEGRATION Annahme des Traumas, der Veränderung KONFRONTATION Erlebnisaktivierung: kognitive Verarbeitung und emotionale Bewältigung SICHERHEIT, STABILISIERUNG Symptomerkennung, Ressourcenaktivierung, Stressbewältigung, Vermeidungsverhalten reduzieren Primat des Kinderschutzes Eine Retraumatisierung muss ausgeschlossen werden! • anhaltende Misshandlung, Vernachlässigung oder sex. Missbrauch • vermeidbare Exposition mit Schlüsselreizen (z.B. Bedrohungen durch den Täter) Problembereiche: Loyalitätskonflikt & Umgangsrecht ⇒ Sicherheit vor Psychotherapie! Alternative Behandlungsansätze 59 – Kognitiv-behaviorale Therapie TF-KVT – EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) – Narrative Expositionstherapie Color your body Narrative Expostionstherapie (NET) Schauer, Neuner, Elbert, 2005 Lifeline als Traumalandkarte Seil als Symbol für das Leben Blumen als Symbole für gute Ereignisse Steine als Symbole für schlechte Ereignisse EMDR Eye Movement Desensitization and Reprocessing (nach Francine Shapiro) „Eine EMDR-Sitzung ist vergleichbar mit einer Zugreise: Die Patientinnen und Patienten fahren noch einmal an dem Geschehen vorbei – aber aus sicherer Distanz und in Begleitung ihrer Therapeutinnen bzw. Therapeuten. Im weiteren Verlauf der Sitzung verblasst die belastende Erinnerung Stück für Stück und die Symptome des Traumas werden aufgelöst.“ (www.emdria.de) Fazit alle hormonellen Systeme sind aktiv: • Dysregulation in der HPA Achse, mit Hypocortisolismus und => lebenslang anfällig für Stress • Erhöhung von Noradrenalin im Synaptischen Spalt => Hyperarousal, Flashbacks, hohe Herzfrequenz • Verringerte Rezeptorbindung von Serotonin=> Flashbacks • Veränderte Gehirnstrukturen Komplexität der Belastung bei geflohenen Kindern und Jugendlichen Ursprungsland: Flucht: Traumatisierung, Trennungen, Verlusterlebnisse Beziehungsabbrüche, Verlust des biographischen Kontinuums, Traumatisierung während der Flucht Gastland: Irritation durch fremde Kultur, Wechsel des Aufenthaltsortes, Beziehungsabbrüche, Spracherwerb, Schule/ Ausbildung, Diskriminierung, unklarer Aufenthaltsstatus, Sorge um Familie, materielle Sorgen Zukunft? Häufig multiple Traumata in der Vergangenheit, hohe Belastung in der Gegenwart und eine ungewisse Zukunft Fegert et al., 2015; Recht Jugend Bildungswesen Hebebrand et al., 2016; European Child Adolescent Psychiatry Versorgungsmodell: Traumapädagogik + Traumatherapie Resiliente Kinder und Jugendliche Trauma S C R E E N I N G Traumapädagogik Frgl. Therapiebedarf Outcome Evaluation Klinische Diagnostik Traumatherapie Workbook Text UNICEF-Tag am 25. März 2017 DGKJP-Kongress Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm Ärztlicher Direktor Prof. Dr. Jörg M. Fegert Steinhövelstr. 5 89075 Ulm www.uniklinik-ulm.de/kjpp www.deutsche-traumastiftung.de www.comcan.de