Die Islamische Republik Iran auf dem Weg zum Gottesstaat?

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
HANS ROBERT ROEMER
Die Islamische Republik Iran auf dem Weg zum
Gottesstaat?
Originalbeitrag erschienen in:
Orient 21 (1980), S. 465 - 478
Hans Robert Roemer
Die Islamische Republik Iran auf dem Weg zum Gottesstaat?
Kaum ein Ereignis der letzten Jahrzehnte ist in Berichten und Kommentaren
so intensiv und nachhaltig erörtert worden wie die jüngste Revolution in Persien. Trotzdem, kein Ereignis ist für die westliche Welt so dunkel und unverständlich, ja rätselhaft geblieben wie dieses. Wir wollen versuchen, seine historischen Hintergründe einmal mit den Mitteln der Orientalistik auszuleuchten.
Doch zuvor ein Blick auf die Fakten! Schah Muhammad Riiä Pahlawi, der
zweite Vertreter seiner Dynastie, ein europäisch erzogener Herrscher, der seine
diktatorisch geführte Herrschaft mit kaum verkennbar friderizianischer Attitüde gern als Dienst an seinem Land stilisiert& , der sich fast vierzig Jahre lang
nicht ohne Erfolg um die von seinem Vater begonnene Modernisierung Persiens
bemühte, um die Einführung westlicher Lebens- und Wirtschaftsformen, der
die Erdölmilliarden Irans zur Entwicklung und Industrialisierung seines Landes
einsetzte und zum Aufbau der modernsten Armee Vorderasiens, ein unverbrüchlicher Freund der Vereinigten Staaten und ein wichtiger Handelspartner
der Bundesrepublik Deutschland, resignierte gegenüber lang anhaltenden inneren Unruhen mit blutigen Straßenschlachten, mit Attentaten und Gewaltakten
aller Art, begab sich am 16. Januar 1979, wie offiziell mitgeteilt wurde, auf Reisen und überließ damit Iran seinem Erzfeind, dem Ayatollah Chomeini, einem
greisen Theologen, der seit 1963 im Exil gelebt hatte, zunächst in der Türkei und
im Irak, später in Frankreich, von dort aus den Aufruhr in der Heimat gesteuert
und sich zum unumstrittenen Führer der Revolution aufgeworfen hatte.
Als er wenige Wochen nach der Abreise des Schahs in Teheran eintraf, wurde
er von der Bevölkerung jubelnd begrüßt und als Befreier von monarchischer Tyrannei, als Erlöser vom Joch des westlichen Imperialismus gefeiert. Im März
1979 proklamierte er die Islamische Republik Iran. Zwar kam es, wenn auch
schleppend, zur Einrichtung von Regierungsinstanzen, auch zur Wahl eines
Staatspräsidenten. Doch hatten die Minister es schwer, sich gegenüber der klerikalen Staatsspitze durchzusetzen. Obwohl die Inhaber hoher Ämter samt und
sonders enge Vertraute oder Anhänger Chomeinis waren, sahen sie sich bei der
Wahrnehmung ihrer Amtsobliegenheiten immer wieder desavouiert, so daß ihr
Ermessensspielraum gering blieb. Daran hat auch die neue Verfassung nichts geändert.
1 Muhammad Rezä Pahlawi, Ma'müriyat barä-yi watanam. Chäpkhäna-yi Säzumän-i sarril wa-basari-yi hunarhä-yi zibä-yi
kishwar, o.J. ld., Im Dienst meines Landes. Deutsch von Helmut Hilzheimer und Karl Hans Reuss. Stuttgart: DVA o.J.
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Ein Strafgericht an den Stützen der kaiserlichen Regierung, die in mehr oder
weniger summarischen Prozessen vor religionsgesetzlichen Revolutionstribunalen abgeurteilt und in zahlreichen Fällen mit dem Tode bestraft wurden, verhinderte die Entstehung einer wirksamen Opposition. Diese Justiz, die nach iranischen Beteuerungen dem Religionsgesetz entspricht, nach unserem Empfmden
unverkennbar die Züge einer Sondergerichtsbarkeit aufweist, ist trotz einer gewissen Stabilisierung der politischen Verhältnisse noch nicht aufgehoben worden.
Die Neuerungen, die unter dem mu//ä-Regime eingeführt wurden, tragen
meist das Gepräge eines so extremen islamischen Klerikalismus, wie er sonst im
20. Jahrhundert nur selten zu beobachten war. Charakteristisch ist die Abkehr
von westlichen Lebensformen und das Vorherrschen der geistlichen Klasse, der
mu//ä, in allen Bereichen des öffentlichen Lebens. Die religiöse Welle macht
auch nicht vor den Toren der Universität halt. Wie allenthalben im gesellschaftlichen Leben dominieren in der akademischen Lehre religiöse Tendenzen, nur
hie und da durch marxistische Einschübe unterbrochen.
Besonders empfindlich waren die Eingriffe der Revolution in die Wirtschaft
Irans. Kennzeichnend waren eine drastische Drosselung der Erdölförderung,
Eindämmung der Einfuhren, Einstellung von Prestigebauten, z.B. Kernenergiewerken, Verzicht auf weitergehende Modernisierung der Streitkräfte. Alles in allem ist das Leben in Persien seit der Revolution schwieriger geworden, auch
schon vor dem Ausbruch des irakisch-iranischen Krieges. Die Arbeitslosenzahlen sind enorm gestiegen. Doch der oft prophezeite wirtschaftliche Zusammenbruch ist einstweilen noch nicht erfolgt. Mögen auch manche Maßnahmen der
Revolutionäre unpopulär gewesen sein, als hart und drückend empfunden werden, sie haben der Stellung der Geistlichkeit und den weitreichenden Sympathien, deren ihr Führer sich erfreut, keinen nennenswerten Abbruch getan. Wie
anders soll man es sich erklären, daß die Islamisch-republikanische Partei, eine
mullei-Partei, bei den vor einiger Zeit durchgeführten Wahlen den größten Stimmenanteil erhielt?
1. Rückbesinnung auf die vor-islamische Ära
Auf der Suche nach einer Erklärung für diese seltsame Entwicklung erinnern
wir uns an den Oktober 1971. Damals veranstaltete die persische Regierung eine
prunkvolle Jubiläumsfeier aus Anlaß der zweitausendfünfhundertsten Wiederkehr des Jahres der Errichtung des achämenidischen Reiches und damit der monarchischen Herrschaftsform in Iran durch Kyros II., der als Kyros der Große
in die Geschichte eingegangen ist. Dieses auf das Jahr 559 v. Chr. zurückgehende Ereignis war damals schon dreißig Jahre älter, die Jubiläumsfeier wäre also
eigentlich schon 1941 fällig gewesen, in dem Jahr übrigens, in dem ihr Veranstalter, Schah Mutiammad Riiä, seinem von den Alliierten zur Abdankung gezwungenen Vater auf dem Thron gefolgt war 2 .
Die zweifache Bedeutung des Festes lag auf der Hand. In erster Linie sollte es
die Legitimität des Herrschers bekräftigen, die ja auf ziemlich schwachen Füßen
2 In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg liefen in Persien immer wieder Gerüchte über bevorstehende Termine einer solchen
Jubiläumsfeier um. Möglicherweise waren sie ausgestreut worden, um die Reaktion der Bevölkerung zu erkunden.
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stand, allein begründet durch die Erbfolge nach Riiä Schah, der seinerzeit durch
einen Staatsstreich an die Macht gekommen war, die bis dahin herrschende
Qajaren-Dynastie beseitigt und sich am 12. Dezember 1925 von einer ihm willfährigen Nationalversammlung zum Schah hatte wählen lassen. Neben diesem
legitimistischen Aspekt der Veranstaltung steht noch die Anknüpfung an die
vorislamische Vergangenheit des Landes, ein unverhohlenes Bekenntnis zu der
Größe einer mehr als tausendjährigen vorislamischen Geschichte.
Die Jubiläumsfeierlichkeiten vollzogen sich in Anwesenheit zahlreicher ausländischer Staatsoberhäupter und Regierungsvertreter 3 . Sie gipfelten in spektakulären Veranstaltungen an besonders markanten Schauplätzen der achämenidischen Geschichte, in Pasargadai und Persepolis. Hinter dem historischen Gepräge, das sie trugen, mag sie mancher auswärtige Gast eher als eine späte Auswirkung des Historismus empfunden haben, als ein Glied in der Kette der zahllosen Dichter- und sonstigen Jubiläen, wie sie nicht nur in Persien, sondern auch
in den meisten Ländern der islamischen Welt seit Jahrzehnten abgehalten
werden4 .
Gewiß, derartige Tendenzen mögen auch im Spiel gewesen sein. Aber ein
ganz anderes Motiv, das den Ausschlag gab, sollte sich bald danach herausstellen, nämlich mit der Einführung einer neuen Zeitrechnung, der achämenidischen, wie man sie nennen könntes. Während die bis dahin gültige Zeitrechnung
mit dem auf das Jahr 622 n. Chr. fallenden Jahr 1 der Hijra begann, in dem der
Prophet Mutiammad von Mekka nach Medina auswanderte 6 , wonach etwa dem
Jahr 1976 das persische Jahr 1355 entsprach, ergab sich nach der neuen mit der
Reichsgründung durch Kyros beginnenden Ära die Gleichung 1976 = 2535. Der
Schock, den bei uns die Abschaffung der christlichen Zeitrechnung zugunsten
einer anderen hervorriefe, wäre vermutlich nicht so heftig, wie die Bestürzung
des persischen Volkes bei dieser Neuerung, muß man doch in Persien von viel
stärkeren religiösen Bindungen ausgehen als hierzulande.
Tatsächlich gehörte denn auch die Abschaffung der achämenischen Zeitrechnung und die Wiedereinführung der zuvor üblichen islamischen zu den ersten
Zugeständnissen, zu denen sich der Schah unter dem Eindruck der zunehmenden Empörung der Bevölkerung herbeilassen mußte.
2. Die Ausbreitung des Islam
Wie aber verhielt es sich mit der Legitimation der Monarchie durch Berufung
auf die achämenidischen Großkönige?
Es ist richtig, die Idee des iranischen Königtums hat sich später nie mehr so
ganz verloren. Nicht nur, daß auf die achämenidischen Großkönige seleukidi3 Auch die Sowjetunion war vertreten und ließ eine Festschrift mit Beiträgen sowjetischer Orientalisten überreichen: Istorija
iranskogo gosudarstva i katury, k 2500-letiju iranskogo gosudarstva. Redakcionnaja kollegija: B.G. Gafurov, E.A. Grantovsky, M.S. Ivanov. Moskau: Glavnaja Redakcija VostAioj Literatury 1971.
4 Als ein Beispiel für viele sei die Firdausi-Jahrtausendfeier von 1934 erwähnt, zu der die deutsche Reichsregierung das
Schahname-Glossar von Fritz Wolff als Festgabe vorlegte.
5 Offiziell heißt sie die »großkönigliche (shähinshalii)«. Wie Dr. Fragner mitteilt, der sich im Spatsommer und Herbst 1976 in
Teheran aufgehalten hat, ist 1976 am 21. März, dem in Iran üblichen Neujahrstag (naurüz), die neue Zeitrechnung engeführt worden, so daß auf das Jahr 1354 das Jahr 2535 folgte. Diese Ära wurde im Spatsonuner 1978 wieder abgeschafft. Ablesen lassen sich diese Veranderungen an den in Frage kommenden Ausgaben der Teheraner Zweimonatszeitschrift
—ilchi: Auf Nr. 61 von Bahrnan/Isfand 1354 folgt Nr. 62 von Farwarcrin/Urdibihisht 2535. Die auf Nr. 75 von
Barragihä-yi tär
Farwardiii/Urdibihisht 2537 folgende Nr. 76 liegt mir nicht vor. Doch trägt Nr. 77 das Datum Amurd'äd/Shahriwar 1357.
6 Eine persische Eigenturnlichkeit ist freilich die Verwendung eines am 21. März beginnenden Sonnenjahres statt des sonst in
der islamischen Welt üblichen Mondjahres. So kommt es, daß das perische Hijrajahr 1355 dem sonst ublichen islamischen
Mondjahr 1395 entspricht.
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sche, parthische und sassanidische Monarchen folgten, Könige gab es auch im
islamischen Iran wieder. Allerdings nicht gleich nach der Islamisierung, sondern
erst Jahrhunderte später. Wohl sind sogar gewisse Elemente der altiranischen
Königsvorstellung in den Islam eingedrungen, sei es daß sie sich mit der Auffassung vom Chalifen, sei es mit dem Anspruch späterer iranischer Fürsten mittelbar oder unmittelbar verbanden, etwa der Gedanke vom göttlichen Recht des
Königtums, der khwarna, den man mit der Bezeichnung des Chalifen als #11 Alläh fi 1-ard »Schatten Gottes auf Erden« in Verbindung gebracht hat, doch läßt
sich damit eine wirkliche Kontinuität des monarchischen Gedankens nicht beweisen.
Die Unterwerfung Persiens durch die Araber im Jahr 651 n. Chr. bedeutete
nicht nur das Ende der bis dahin von den Sassaniden ausgeübten Königsherrschaft, sie brachte auch den Beginn der Islamisierung des Landes, die im Laufe
von hundertfünfzig Jahren zu der fast vollständigen Ausschaltung des zarathustrischen Glaubens führte, dem die Perser bis dahin gehuldigt hatten. Der Chalife, der Iran von da an als eine seiner Provinzen betrachtete, übernahm keineswegs die Idee des iranischen Königtums. Als Nachfolger des Propheten war er ja
auch nicht der König der islamischen Gemeinde, sondern deren religiöses und
politisches Oberhaupt, also Inhaber zweier Funktionen, die nach der Lehre Muhamrnads nicht voneinander zu trennen sind.
Strittig wurde bald gerade die Frage der Sukzession: Wer ist zur Nachfolge
berechtigt? Hier behielt das Wahlprinzip der sunnitischen Mehrheit der Musfirne eine Vorrangstellung gegenüber dem legitimistischen Prinzip der shrat `Ali,
der Partei des vierten Chalifen 'All. Dessen Anhänger vertraten die Auffassung,
Nachfolger des Propheten könne nur sein, wer aus dessen Geschlecht stamme.
Da es überlebende Söhne Mutiammads nicht gegeben hat, kommen für die Sukzession nur 'All selbst, der Schwiegersohn und Vetter des Propheten, und seine
Nachkommen in Betracht. Das ist der Hintergrund der bis auf den heutigen Tag
geltenden Unterscheidung zwischen Sunniten und Schi`iten. Mit allen Gruppen,
in die sie zerfallen, machen letztere insgesamt nur ein knappes Zehntel der Muslime aus. Die Unterschiede zwischen Sunna und Schi`a, die, abgesehen von der
Sukzessionsfrage, nach unserer abendländischen Auffassung eher geringfügig
zu sein scheinen, haben in der islamischen Welt, in der sie ganz anders beurteilt
werden, zu den schwersten Auseinandersetzungen und zu blutigen Verfolgungen geführt.
Für unsere Betrachtung ergibt sich, daß mit der Islamisierung die monarchische Tradition Persiens abgerissen ist. Zwar hat es später im Lande islamische
Fürsten und Könige gegeben, von denen manche bestimmte vorislamische Elemente wiederaufnahmen. Doch konnten sie sich natürlich nicht auf eine ungebrochene iranische Tradition berufen.
3. Die Schra in Iran
Iran ist heute schi`itisch, sogar das einzige islamische Land, in dem Schi`iten
den überwiegenden Teil der Bevölkerung ausmachen, ungefähr 90 Prozent.
Wie ist aus einer surmitischen Provinz des Chalifats ein schi`itischer Staat geworden? Haben sich also Ausbreitung und frühe Entwicklung der Schi`a in Iran
vollzogen, wenn sie schon nicht dort entstanden ist? Auch das ist nicht der Fan.
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Zwar gab es in Iran die eine oder andere Gegend mit vorwiegend schi'itischer
Bevölkerung, gelegentlich auch einmal ein schi'itisches Duodezfürstentum 7 .
Doch ging das alles nicht über sehr begrenzte lokale Erscheinungen hinaus,
kaum stärker als in anderen Provinzen des Chalifats auch.
Mit der einen Ausnahme der Büyiden (945-1055), eines iranischen Adelsgeschlechtes, dessen Sprößling den Chalifen in Bagdad als Hausmeier dienten 8 . Sie
hatten zwar ausgesprochen schi'itische Neigungen und Überzeugungen, hüteten
sich aber, diese unter ihren sunnitischen Oberherren zu religiöser Propaganda
auszunutzen. Immerhin konnten unter ihren Fittichen die schi'itischen Glaubensvorstellungen feste Gestalt annehmen 9 .
Die soeben erwähnte Entstehung der Schi'a geht auf den 661 n. Chr. ermordeten Chalifen 'All zurück. Ihn allein lassen die Schi'iten unter den auf Mubarnmad folgenden vier »rechtgeleiteten Chalifen« der Sunniten als legitimen Nachfolger des Propheten gelten, während die Verfluchung der drei anderen beinahe
schon zum schi'itischen Glaubensbekenntnis gehört. Sie vertreten die Auffassung, nach dem Tod 'Alis, den sie Imam, d.h. Vorbeter und Oberhaupt der
Gläubigengemeinde nennen, seien zunächst dessen Söhne Hasan und klusain
und dann mehrere weitere Nachkommen seines Geschlechtes die einzig legitimen Nachfolger des Propheten gewesen, nicht die omaijadischen und abbasidischen Chalifen, die vielmehr die staatliche Macht samt und sonders zu Unrecht
ausgeübt hätten. Je nach der Zahl der Imame, die in verschiedene Gruppen zerfallene Schi' iten gelten lassen, spricht man von Fünfer-, Siebener- und ZwölferSchi'iten. Der zwölfte und letzte Imam, Muhammad al-Mandi mit Namen, ist
nicht gestorben, sondern im Jahr 873 lebendig entrückt worden. Er lebt auch
heute noch in der Entrückung oder Abwesenheit, aus der er — so die Auffassung der in Iran verbreiteten Zwölfer-Schi' a — zu einem nicht bestimmbaren
Zeitpunkt auf die Erde zurückkehren wird.
Während die sunnitischen Chalifen in Damaskus und dann von 750 an in
Bagdad regierten und Hof hielten, hat es eine entsprechende schi'itische Hauptstadt ebensowenig gegeben wie einen lokalisierbaren Herrschaftsbereich der
Imame.
Da die Schi'iten gewöhnlich in der Minderheit waren und als Häretiker mit
Verfolgungen zu rechnen hatten, konnten die Imame an eine territoriale Etablierung nicht denken. Die Schi'a trug daher von Anfang an konspirative Züge. Sie
war, wie man es heute ausdrücken würde, eine politisch-religiöse Untergrundbewegung.
Mit dem Verschwinden des zwölften Imams stellt sich für die Schi'iten die
Frage, wer denn von jetzt an das Oberhaupt der islamischen Gemeinschaft sein
solle. Die sich zunächst anbietende Lösung war ein noch von dem Imam selbst
eingesetzter Vertreter oder Sachwalter (wakil, safir), und auf diese Weise ließ
sich das Problem viermal lösen, jedesmal kraft Einsetzung durch einen dazu berechtigten Vorgänger, die mit dem arabischen Wort nag »Designation« bezeichnet wird '°. Die Regelung versagte, als 940/41 der letzte safir Abü 1-Hasan
7 In der sudlich des Kaspischen Meeres gelegenen Landschaft Mäzandarän gab es z.B. von 864 bis 928 einen funfer-schi`iti-
schen (zaiditischen) Staat. Einzelheiten daruber bei Bertold Spuler, Iran in fruh-islamischer Zeit, Wiesbaden 1952, p. 170 sq.
8 Henbert Busse, Chalif und Großkonig, Die Buyiden im lraq, Beirut 1969.
9 Abdoljavad Falaturi, »Die Zwolfer-Schia aus der Sicht eines Schüten: Probleme ihrer Untersuchung«, Festschrift Werner
Caskel ed. Erwin Graf, Leiden 1968, p. 62-95. Rudolf Strothmann, Die Zwolfer-schi`a — zwei religionsgeschichtliche Charakterbilder aus der Mongolenzeit, Leipzig 1926. M. Dwight Donaldson, The Shrite Religion, a History of Islam in Persia
and Irak, London 1933.
10 D.B. Macdonald and M.G. Hodgson, »Ghayba«, Enc. de l' Islam, Bd II, p. 1049 sq.
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as-Samarri das Zeitliche segnete, ohne von dem Recht der Designation eines
Nachfolgers Gebrauch gemacht zu haben.
Der Ausweg, auf den die schi`itischen Theologen im Laufe der Zeit verfielen,
bestand in der Betrauung des angesehensten schi`itischen Geistlichen mit der
Leitung der Gemeinde, also der staatlichen ebenso wie der religiösen Geschäfte.
Das ist jener eigenartige schi`itische Würdenträger, der ohne Einsetzung, ohne
Amt und ohne festgelegte Obliegenheiten, allein durch seine persönliche Autorität, gegründet auf sein theologisches Wissen und einen vorbildlichen Lebenswandel, durch sein Ansehen in der schi`itischen Gemeinde in Fragen des religiösen Rechts und der Religionsausübung tonangebend ist".
An dieser Regelung, deren endgültige Formulierung allerdings erst in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgt sein dürfte, hat die schi`itische Lehre bis auf den heutigen Tag festgehalten, mögen auch im Laufe des seither verstrichenen Jahrtausends mit oder ohne Zustimmung der schi`itischen Theologen
die unterschiedlichsten davon abweichenden staatsrechtlichen oder religiösen
Theorien und Sukzessionsstatuten praktiziert worden sein.
Damit ist aber unsere Frage, wie Persien zu einem schi`itischen Land geworden sei, immer noch nicht beantwortet.
Um das herauszufinden, müssen wir auf die völlig veränderte religiöse und
politische Lage Persiens eingehen, die mit der Beseitigung des Bagdader Chalifats durch die Mongolen im Jahre 1258 eintrat. Sie machte nicht nur der Herrschaft der Chalifen ein Ende, sondern auch der bis dahin allmächtigen Stellung
der sunnitischen Theologen. Die mongolischen Herrscher Persiens bekannten
sich während der ersten fünfzig Jahre nicht zum Islam und waren daher auch
nicht dafür zu haben, Vertretern der islamischen Theologie mit den Mitteln der
staatlichen Macht zur Verfügung zu stehen. Hinzu kommt, daß Persien in den
zwei auf den Mongoleneinfall folgenden Jahrhunderten — abgesehen von einer
bemerkenswerten Wirtschaftsblüte in der letzten Phase der Ilkhän-Herrschaft
— eine Katastrophe nach der anderen erlebte. Etwa die Jahrzehnte währenden
Diadochenkämpfe beim Untergang der Ilkh'äne und zu Ende des 14. Jahrhunderts wieder einen noch grausameren Sturm aus dem Osten, dieses Mal unter Timur, in Europa als Tamerlan bekannt, der ganz Vorderasien ins Verderben
stürzte.
Das nationale Unglück dieser Zeit hatte unerwartete Begleiterscheinungen.
Mit der endgültigen Aufhebung des politischen Zusammenhangs mit den arabischen Teilen des Chalifen-Reiches bahnte sich eine Sonderentwicklung der iranischen Lande an. Sie bekundet sich in einem kulturellen Aufschwung, spürbar
vor allem in der Baukunst, in der Malerei und in der Dichtkunst. Diesen vornehmlich elitären Leistungen steht in breiten Schichten der Bevölkerung eine
Verinnerlichung des religiösen Lebens gegenüber, aber nicht mehr auf der Basis
des durch die Theologen bestimmten Islams, sondern in Gestalt einer Volksfrömmigkeit. Sie ist gekennzeichnet durch das Aufleben mystischer Ordensgemeinschaften, durch Wunderglauben, Heiligenverehrung, Pilgerwesen und Märtyrerkult, alles Erscheinungen, die den Theologen stets ein Dorn im Auge gewe11 C. Frank, »Über den schiitischen Mudschtahid«, Islamica 2 (1926/7), p. 171-92. Ferner Hamid Algar, Religion and State in
Iran 1985-1909, the Role of the Ulama in the Qajar period, Berkeley and Los Angeles 1969, passim, sowie die Besprechung
dieses Buches von E. Glassen, ZDMG 122 (1972), p. 400 sqq. — Heute ist mujtalüd nicht mehr die Bezeichnung für den unter allen anderen herausragenden Gottesgelehrten, sondern nur noch ein theologischer Grad, cf. J. Calmard, »Ayatullah«,
El 2 Suppl., p. 103.
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sen waren, die sie aber jetzt nicht mehr wie früher hintanhalten konnten. So entstand der Volksislam, der für die weitere Entwicklung Persiens große Bedeutung
haben sollte 12 .
Eine der Ordensgemeinschaften, die damals in den Vordergrund trat, war die
Safawiya in Ardabil, benannt nach dem 1334 verstorbenen Scheich Safi ad-din
Istiäq. Er wird als eine ungewöhnliche Persönlichkeit geschildert 13 , die großen
Einfluß auf die Bevölkerung hatte, aber ebenso in den höchsten mongolischen
Kreisen Achtung genoß. Der Ordensgründer verfügte auch über ökonomische
Fähigkeiten und brachte es daher zu materiellem Wohlstand 14 , den seine Nachfolger, die alle von ihm abstammten, noch zu mehren wußten.
Generationen hindurch waren sie wie ihr Ahnherr Sunniten. Doch machen
sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bei ihnen, vielleicht unter dem
Einfluß schi`itischer Affinitäten des Volksislams, häretische Tendenzen bemerkbar, wie denn die Schi`a um diese Zeit auf dem Hochland von Iran und in Ostanatolien Fortschritte gemacht haben dürfte 15 . Die Ordensmeister, die auch früher wohl nie unpolitisch waren, entfalteten nun entschiedenes und deutlich erkennbares politisches Engagement.
Der Orden, der durch rege Werbetätigkeit» zahlreichen Zulauf hatte, namentlich aus Anatolien und aus Syrien, war inzwischen in ein militärisches
Machtinstrument verwandelt worden. Er nutzte schließlich die Krise einer damals in Tabriz herrschenden Turkmenen-Dynastie, mit der seine Ordensmeister übrigens seit Jahrzehnten verschwägert waren, zu einem entscheidenden
Schlag aus, zum Griff nach der Königsherrschaft.
Das geschah unter der Führung eines charismatisch veranlagten blutjungen Ordensmeisters aus Scheich Safis Geschlecht, Ismäll mit Namen, der 1501 zugleich
mit seiner Thronbesteigung in Tabriz die Schi`a zum offiziellen Bekenntnis des
Reiches erklärte, mit dessen Gründung er in wenigen Jahren in ganz Persien Erfolg hatte. Natürlich war mit dieser Verkündung Persien noch nicht zu einem
schi`itischen Land geworden. Da sich Ismäll aber durchsetzte und auch seine
Nachkommen, die ihm bis zur Beseitigung der Dynastie im Jahre 1722 folgten,
an der Schi`a festhielten 17 , entwickelte sich diese zum allgemein anerkannten Bekenntnis des Landes 18 . Wir lassen es bei dieser Feststellung bewenden, ohne auf
die Modalitäten der Schi`itisierung, mitunter sehr rigorose Maßnahmen, näher
einzugehen.
12 Michel M M5772oui, The Ongins of the Safawids — Shi`ism, Süfism, and the Ghulät ( = Freiburger Islamstudien, Bd III),
Wiesbaden 1972, passim (Index, s.v. Folk Islam).
13 Hans R. Roemer, »Scheich Safi von Ardabil, die Abstammung eines Süfi-Meisters der Zeit zwischen Sa`cll und träfe , Festgabe deutscher harüsten zu; 2500 Jahrfeier Irans, Stuttgart 1971, p. 106-16.
14 Erika Glassen, Die fruhen Safawiden nach QM' Atimad Qumi, Freiburg 1970, p. 40 sqq.
15 Abdoldjavad Falaturi, »Die Vorbereitung des iranischen Volkes für die Annahme der Schia zu Beginn der Safawiden-Zen«,
Die islamische Welt zwischen Mittelalter und Neuzeit ( = Beiruter Texte und Studien, Etd 22), Beirut 1979, p. 132-45.
16 Roger M. Savory, »The Office of Khailfat al-Khulafä under the 5afawids«, JAOS 85 (1965), p. 497.
17 Eine Ausnahme bildet nur Schah Ismäll Il. (1576-1577) mit einem erfolglosen Versuch zur Wiedereinfuhrung der Sunna.
Die Episode ist beschrieben bei Walther Hinz, »Schah Esmall II. — Ein Beitrag zur Geschichte der Safawiden«, MSOS
XXXVI/II (1933), p. 76-82.
18 Gewiß ist der Libergang zur Schi`a ein langwieriger Prozeß gewesen. Aus Schi`iten-Verfolgungen bei einem Ozbeken-Einfall
des Jahres 1588/9, woruber Eskandar Beg Monshi, History of Shah `Abbas the Great, Transl. R.M. Savory (Boulder Col.
1973), vol. II, p. 559, berichtet, laßt sich schließen, daß damals keineswegs die ganze Bevolkerung von Khuräsän aus
Schi`iten bestand. Werner Ende, »Die Mullahs und die Macht, zur Rolle der Schia in der Geschichte Irans, Journal fur Geschichte 1/4 (1979), p. 4: »Erst im 18. Jahrhundert ... hat sich die Zwolferschia in der Masse der Bevolkerung eindeutig
durchgesetzt« cf. J.T.P. de Bruijn, »Iran — Religions«, EI, vol. 'IV, p. 50 (engl. Ausg.), 53 (franz. Ausg.).
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4. »Monarchie in einem islamischen Land ist Unsinn«
»Monarchie in einem islamischen Land ist Unsinn«, so lautete der Text eines
Transparentes, das Ende 1978 nach einer kaum beachteten Pressenotiz durch die
Straßen von Teheran getragen wurde. Nach der soeben behandelten Sukzessionstheorie ist das eine durchaus zutreffende Aussage. Danach obliegt ja, seit
es eine Designation (nass) nicht mehr geben kann, also seit dem Jahre 940/41 die
Leitung der weltlichen ebenso wie der religiösen Angelegenheiten dem angesehensten schi`itischen Geistlichen.
Zwar hatte der Reichsgründer Ismäll eine religiöse Ausbildung, wenn auch
nur eine bescheidene, erhalten. Doch ein mujtahid war er nicht, hätte er mit den
dreizehn Jahren, die er bei der Thronbesteigung zählte, auch gar nicht sein können. Wie aber legitimierte er sein Königtum? Natürlich kann bei ihm von einer
Anknüpfung an die altpersische monarchische Idee keine Rede sein. Wohl dagegen von dem Erbe seines turkmenischen Großvaters Uzun Hasan, der sich aber
nicht zur Schi`a bekannt hatte. Von ihm übernahm er nicht nur seine Hauptstadt Tabriz, sondern auch den Herrschertitel pädsh'äh-i Ir'än »König von
Iran« 19 .
Darüber hinaus gründete er seinen Herrschaftsanspruch auf die Abstammung
vom Propheten Mutiammad, und zwar durch eine auf den siebten Imam, Müsä
Käzim (745-99), zurückgehende Ahnenreihe. Daß er damit Erfolg hatte, beweist
nicht nur seine persönliche Theologieferne, sondern auch das Fehlen einflußreicher Gottesgelehrter in seiner Umgebune, was noch deutlicher wird, wenn wir
erfahren, daß diese Ahnenreihe — mag er selbst immerhin guten Glaubens gewesen sein — wahrscheinlich nicht einmal echt, sondern eine späte Fälschung
war. Ein echter Stammbaum dieser Art hätte ihm gewiß großes Ansehen eingetragen, dennoch nicht das Anrecht auf die Königsherrschaft, die gegenüber der
soeben besprochenen schi`itischen Sukzessionstheorie nichts anderes sein kann
als Usurpation.
Nun wissen wir freilich, daß bei Ismälls Thronbesteigung und auch noch einige Zeit danach schi`itische Theologen tatsächlich nicht zur Stelle waren, ja daß
es sogar an qualifizierten Anwärtern für die höchsten geistlichen Würden fehlte,
die in dem neuen Staat zu vergeben waren. Es handelte sich eben nicht um ein
Milieu erlesener Bildung. In einem solchen hätte der junge Fürst ja auch schwerlich die charismatische, ja messianische Rolle spielen können, mit der er seine
wehrhaften Ordensmänner an sich fesselte und von Sieg zu Sieg führte. Nur so
auch ist verständlich, daß der jugendliche Ordensmeister in Gedichten, die uns
erhalten sind21 , für sich in Anspruch nehmen konnte, eine Wiedergeburt 'Alls,
ja eine Inkarnation Gottes zu sein. Derartige Auffassungen sind an und für sich
mit der von Ismäll verkündeten Zwölfer-Schi' a überhaupt nicht zu vereinbaren, sondern ruchlose Ketzerei. Doch wer hätte ihn davon abbringen sollen?
Als sich die Kunde von Ismrils politischen Erfolgen, von der Entstehung eines
großen Reiches mit der Schi`a als Staatsreligion verbreitete, da ließen die schi`itischen Theolo&en nicht mehr lange auf sich warten. Sie kamen von Bahrain und
vom Jabal 'Ami' im südlichen Libanon: Die Herausbildung einer zwölfer19 Hans R. Roemer, »Historische Grundlagen der persischen Neuzeit«, Archäologische Mitteilungen aus Iran 10 (1977), p. 313.
20 Erika Glassen, »Schah Ismäll I. und die Theologen seiner Zeit«, Der Islam 48 (1972), p. 254-68.
21 V.F. Minorsky, »The Poetry of Shäh Ismäll I«, BSOAS 10 (1940-3), p. 1006a-53a.
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schi`itischen Theologie war dann nur mehr eine Frage der Zeit. Natürlich wußten die Gottesgelehrten, was von Ismälls häretischen Extravaganzen zu halten
war, was es mit seinem und seiner Nachfolger Herrschaftsanspruch auf sich hatte. Sie konnten aber nicht verkennen, daß ein zum Verzicht auf seine wichtigste
Funktion gezwungener mujtahid unter den Safawiden immer noch unendlich
viel besser gestellt war als unter irgendeiner sunnitischen Regierung. Trotzdem,
mit der Zeit wirkte sich die Tätigkeit der Theologen auf den Glauben und die religiöse Praxis der Bevölkerung aus, häretische Bräuche traten in den Hintergrund, und der Schah verlor die alles überragende Stellung, die er zuvor in der
Religion gehabt hatte22 . Den Versuchen, den mujtahid durch Einbeziehung in
den Kreis der Reichsgroßen, durch Beteiligung an der Investition des Schahs bei
der Thronbesteigung, zu neutralisieren, blieb auf die Dauer der Erfolg versagt.
In der Schlußphase des safawidischen Reiches brachte schließlich das Volk dem
mujtahid viel größere Ergebenheit entgegen als dem Herrscher, dem am Ende
nur noch die Exekutive blieb.
Auch die Qajaren (1779-1924), die sich nach Jahrzehnten der Unentschieden-.
heit dazu durchrangen, den schi`itischen Theologen ihre frühere Vorzugsstellung weitgehend wieder einzuräumen, sahen sich — mehr als ein Jahrhundert
danach — in ihrer Hoffnung getäuscht, auf diese Weise ihrer Regierung den
Schein der Legitimität verschaffen zu können. Diese Theologen konnten und
wollten nicht über ihren Schatten springen: Monarchische Herrscher, einerlei ob
Safawiden oder Qajaren, waren und blieben in ihren Augen Usurpatoren. Statt
die Dynastie, der sie eigentlich zu Dank verpflichtet waren, zu unterstützen, trugen sie in dem einen wie in dem anderen Fall zu ihrem Untergang bei 23 .
Tatsache ist, daß die schi`itischen Gottesgelehrten Persiens, die `ulamä, dank
der starken Volksverbundenheit, auf die sie sich stützen konnten, zu einem
Machtfaktor geworden waren, über den sich auch die mächtigsten unter den qajarischen Herrschern nicht ohne weiteres hinwegsetzen konnten. Im 19. Jahrhundert traten sie als Gegenspieler reformfreudiger Persönlichkeiten der Dynastie und des Hofes auf. Sie waren es, die sich ausländischen Einflüssen wirksam
widersetzten, und sie waren schließlich ausschlaggebend an der Revolution von
1906 beteiligt 24 . In einem Nachtragsgesetz zu der damals erlassenen Verfassung25
wird die Zwölfer-Schi`a zur Staatsreligion erklärt und ferner festgesetzt, daß alle
Gesetzesvorlagen von einem aus mindestens fünf Theologen bestehenden Ausschuß auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorschriften des Religionsgesetzes zu prüfen und gegebenenfalls ganz oder teilweise zurückzuweisen seien. Die Bestimmungen des diesbezüglichen Verfassungsartikels dürften bis zur Wiederkehr des
entrückten Imams Mubammad al-Mandi nicht geändert werden. Zwar ist letztere Vorschrift bisher strikt eingehalten worden, weniger gründlich und lange Zeit
überhaupt nicht diejenige über Einsetzung und Tätigkeit des Theologen-Ausschusses.
22 Helmut Braun, »Das satawidische Korugtum und der Niedergang des Reiches im 17. Jahrhundert«, ZDMG Suppl. 1(1969),
p. 941-7. Ferner Heribert Busse, »Der persische Staatsgedanke im Wandel der Geschichte«, Saeculum 28 (1977), p. 53-74.
23 Naheres bei Hamid Algar, Religion and State in Iran 1785-1906, the Role of the Ulama in the Qajar Period, Berkeley und
Los Angeles 1969, nebst Besprechung von E. Glassen, ZDMG 122 (1972), p. 400 sqq. Nikki Keddie, »'The Roots of the Ulama's Power in Modern Iran«, Studia Islamica 29 (1969), p. 31-53.
24 Ann K.S. Lambton, »The Persian `Ulamä and Constitutional Reform«, Le ShVisme Imamite, Paris 1970, p. 245-69.
25 Die Verfassung stammt vom 5. August 1906, das Nachtragsgesetz vom 7. Oktober 1907. Die hier zitierten Bestimmungen stehen in dessen Artikel 2. Cf. Ende, »Die Mullahs und die Macht«, p. 6.
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Eine schwere und gefährliche Zeit brach über die Theologen mit der Herrschaft Riiä Schahs in den zwanziger und dreißiger Jahren herein. Mit der Bru talität des orientalischen Despoten ging er gegen sie und ihre nach seiner Meinung fortschrittsfeindlichen Einflüsse vor, züchtigte beispielsweise eigenhändig
einen der angesehensten von ihnen, als er seiner Frau, weil sie unverschleiert
war, den Zutritt zum Heiligtum von Qum verwehren wollte. Seine radikalen
Maßnahmen zur Ausschaltung der Geistlichkeit aus dem öffentlichen Leben
brachten manchen von ihnen um seine materielle Existenzgrundlage, so daß sie
seine Abdankung im Jahre 1941 als eine Erlösung empfanden 26 .
Mit der Regierung und dem Reformwillen seines Vaters übernahm Muhammad Riiä auch die oppositionelle Einstellung großer Teile der schi`itischen
Geistlichkeit gegenüber der Pahlawi-Dynastie. Sie wirkte sich aus, als er mit der
Durchführung von Reformen begann. Seine Herrschaft bewirkte, daß sich die
mu//ä in den letzten zwanzig Jahren immer mehr von der Monarchie abwandten, die viele von ihnen zuvor wenigstens als Interimslösung hatten gelten lassen.
Ihre Sympathien gaben allmählich der republikanischen Staatsform den Vorzug
— für die Zeit bis zur Rückkehr des Mandi, versteht sich.
5. Islamische Erneuerung
Unsere Vorstellungen von dem Kampf gegen den Schah verbinden sich seit
der Mitte der sechziger Jahre unwillkürlich mit den Aktivitäten linker iranischer
Studenten an den Universitäten der Bundesrepublik und anderer westlicher
Länder. Man denkt etwa an Bahman Nirumand und sein viel gelesenes
Büchlein 27 . Nichts wäre aber verkehrter, als die Revolution von 1978/79 sowie
die aus ihr hervorgegangene islamische Republik vorrangig mit linken Triebkräften in Verbindung zu bringen. Die treibenden Impulse, mögen sie auch auf
unterschiedliche Motive zurückgehen, kamen und kommen bisher überwiegend
aus Kreisen der schi`itischen Geistlichkeit. Über clie hier behandelten Hintergründe hinaus haben wir es auch noch mit dem Phänomen der Wiederbelebung
des Islams zu tun, das man in ganz unterschiedlichen Formen auch in anderen
islamischen Staaten beobachten kann.
Nicht weniger falsch wäre es freilich, diese religiösen Kräfte, was Persien angeht, einfach mit der safawidischen Schi`a gleichzusetzen. Wenn auch das
schi`itische Bekenntnis Persiens auf die Safawiden-Zeit zurückgeht, so sind
doch die religiösen Kräfte unserer Tage das Ergebnis einer langen Entwicklung,
die sie erheblich beeinflußt hat, so daß sie sich in mancher Hinsicht von denjenigen damaliger Zeiten unterscheiden.
Auf der Suche nach ihren Eigentümlichkeiten wird man zunächst nach den
Schriften Chomeinis greifen 28 . Was man darin findet, gibt die geistige Welt der
Schi`a des heutigen Persiens vornehmlich unter dem Gesichtspunkt des Reh26 Shahrough Aldiavi, Religion and Politics in Contemporary Iran: Clergy-State Relations in the Pahlavi Period, Albany: State
University of New York Press 1980.
27 Persien, Modell eines Entwicklungslandes oder Die Diktatur der Freien Welt. Nacherinnerung von Hans Magnus Enzensberger, Reinbek: Rowohlt 1967. Von März bis August 1967 wurden 48 000 Exemplare gedruckt.
28 Die wichtigsten davon sind al-I-Juk'üma al-islämiya (auch unter dem Titel Wiläyat al-faqih), Risälat Tauclih al-masäll und
Kashf al-asrär. Diese Schriften sind in zahlreichen Drucken und Ausgaben sowohl in arabischer als auch in persischer Sprache in verschiedenen Städten der islamischen Welt gedruckt worden. Auszüge daraus enthält Ayatollah Khomeiny, Principes
politiques, philosophiques, sociaux et religieux, Textes choisis et traduits du persan per Jean-Marie Xaviere avec introduction
et notes explicatives, Paris: Editions Libres-Hallier 1979. Eine deutsche Wiedergabe dieser Auswahl enthält Ayatollah Khomeiny, Meine Worte, aus dem Französischen von Rolph Gäil, München: Moewig 1980.
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gionsgesetzes wieder. Es sind Publikationen, zum Teil Kollegskripten, eines
Professors für schi`itische Jurisprudenz unter Einschluß des Staatsrechts und
gewisser Komplexe der Moraltheologie. Interessante Ergänzungen findet man
bei schi`itischen Religionsphilosophen. Ihre Gedankengänge sind für das Studium der geistigen Grundlagen der heutigen Schi' a in manchen Punkten aufschlußreich.
Unter ihnen ragt `All Sharr ati (1933-77) als eine besonders ausgeprägte Persönlichkeit hervor. Nicht nur durch die große Zahl seiner Schriften 29 , sondern
auch durch die Originalität und die Zugkraft seiner Ideen hat er hohes Ansehen
erworben. Er stammt aus einer alten ostpersischen mullä-Familie, erhielt zu
Hause eine theologische Ausbildung und schloß ein Pariser Studium mit der
Promotion in Religionssoziologie ab. Zu seinen französischen Lehrern gehörten
Jean Paul Sartre, Louis Massignon und Jacques Berque. Während seiner Pariser Jahre kam er in Berührung mit den Theorien des durch sein Engagement im
algerischen Unabhängigkeitskampf bekannt gewordenen afro-amerikanischen
Politikers Frantz Fanon (1925-61). In unserem Zusammenhang sind von nicht
zu unterschätzender Bedeutung seine Kontakte zu Chomeinis nachmaligen Vertrauten, darunter Abü 1-1{asan Bani Sadr, dem heutigen Präsidenten der Islamischen Republik Iran, zu dem ehemaligen stellvertretenden Premier Ibrähim
Yazdi und zu dem ehemaligen republikanischen Außenminister sädiq Qutbzäda. Den Sieg der schi`itischen Bewegung über die Monarchie, für die er Gefangenschaft und Folter erlitten hatte, sollte er nicht mehr erleben: Er ist 1977
vierundvierzigjährig in London verstorben.
'All Sharrati bringt eine bis dahin unbekannte Interpretation des Islams, der
für ihn nicht nur Religion, Glaube und Dogma, sondern zugleich eine philosophische Schulrichtung und eine moderne Ideologie ist. Im Mittelpunkt seiner
Ideen steht eine islamische Einheitslehre (taullid), nicht etwa nur im Sinne des islamischen monotheistischen Bekenntnisses, sondern auch einer Einheit bestehend aus Gott, aus der Natur und aus dem Menschen. Diese Lehre umfaßt den
ganzen Bereich seiner Ethik und Moral, seiner Soziallehre, Philosophie und Geschichtstheorie. Bezeichnend ist das in ihr enthaltene Verbot der Differenzierung zwischen Religion und Politik. 'All Shari`atis Lehrgebäude, in dem man so
etwas wie eine prästabilierte Harmonie findet, steht in deutlicher Antithese und
Konkurrenz zu abendländischen Ideologien wie etwa dem Marxismus, aber
auch zu philosophischen Systemen wie Phänomenologie und Existentialismus.
Mit der Anknüpfung an Abü Dharr al-Ghifäri (st. nach 650), einen Prophetengenossen, der von islamischen Modernisten gern als Urvater eines islamischen
Sozialismus in Anspruch genommen wird, werden auch bei ihm Elemente einer
sozialistischen Lehre erkennbar 30 .
An 'All Sharrati und seiner Lehre zeigt sich, daß der erste Eindruck, den man
bei der Betrachtung der persischen Revolution vor ihrem historischen Hintergrund gewinnt, nämlich es müsse sich um eine traditionalistische Entwicklung
handeln, nicht zutrifft oder höchstens in einem eingeschränkten Sinn. Jedenfalls
haben wir es bei diesem Denker nicht mit einem Vertreter des Traditionalismus
zu tun, eher mit einem Fundamentalisten unter eigenartigen reformistischen
Aspekten. Das alles freilich in einem Sinne, der von den sonst in der islamischen
Welt mit diesen Begriffen verbundenen Vorstellungen in vielen Punkten abweicht. Er bemüht sich, die Überlegenheit des Islams gegenüber anderen Reh475
gionen zu beweisen und findet islamisch begründete Antworten auf brennende
Fragen seiner Zeit, vor allem für den Kampf gegen die Unterdrückung und ausländische Einflüsse.
Tatsächlich hat Sharrati bei der Intelligenz seines Landes lebhaften Widerhall
gefunden. Mögen auch noch viele linke Gruppen aktiv sein 32 , so ist von dem
früher bei persischen Studenten so beliebten marxistischen Gehabe nicht allzuviel übriggeblieben. Von Sharr atis Ideen erwarten gewiß manche Iraner die Erfüllung ihrer sozialistischen Hoffnungen. Inwieweit allerdings das Ziel, die Menschen Irans, der islamischen Ökumene, ja der Dritten Welt, vor allem junge
Menschen, Studenten und Intellektuelle, von Idolen wie Lenin, Che Guevara
und Fidel Castro, denen sie bislang gehuldigt hatten, abzubringen und zur
Schi`a hin- oder zurückzuführen, zu erreichen ist, muß die Zukunft lehren.
In Shari` atis Ideologie ist die alte Dichotomie zwischen Sunna und Schi`a
ohne Bedeutung. Er kennt nur einen Islam, der natürlich der schi`itische ist. Ein
Zusammenhang zwischen dieser Auffassung und Artikel 11 der Verfassung 33 ist
nicht von der Hand zu weisen. Danach bilden nämlich alle Muslime, nicht etwa
nur alle Schi`iten, eine einzige Gemeinschaft (ummat), und die Regierung der islamischen Republik ist gehalten, ihre Politik ganz auf die Verwirklichung der
politischen, wirtschafltichen und kulturellen Einheit der islamischen Welt auszurichten. Erst eine weitere Verfassungsbestimmung (Art. 12) besagt, der Islam,
und zwar die ja`faritische Rechtsschule, d.h. die Schi`a des Zwölfer-Ritus, sei
Staatsreligion.
6. Die »Islamische Republik«
Wie sieht nun die »Islamische Republik Iran« aus? Was ist daran eigentlich
islamisch? Die Antwort gibt die Verfassung (Art. 2). Sie ist ein System mit dem
29 Uns bekannt geworden sind von 'All Shafrati gesammelte Werke unter dem Titel Majmü`a-yi äthär, Bd 1-8, Teheran 135658. Einige Themen daraus sind enthalten in On the Sociology of Islam, Lectures by Ah Shari'ati, translated from the Persian
by Hamid Algar, Berkeley: Mizan Press 1979. Darin p. 11-38 »A Biobibliographical Sketch« von Gh. A.T., in dem man eine
Liste von 60 Einzelarbeiten fmdet. Weitere auszugsweise Übersetzungen (und zwar aus Sharratis Buch Insän wa-tnaktabhäyi maghrib-zamin) liefert R. Campbell, Marxism and Other Western Fallacies — An Islamic Critique ( = Contemporary Islamic Thought: Persian Series, ed. Hamid Algar), Berkeley: Mizan Press 1979. Die deutsche Wiedergabe eines Vortrags von
1973 enthält die von der Bonner Iranischen Botschaft herausgegebene Broschüre: All Schariati, Zivilisation und Modernismus ( = Islamische Renaissance 1/August 1980).
30 A.J. Cameron, Abü Dharr al-Chifäri. An Examination in Hagiography of Islam, London 1973. Dazu Ulrich Haarmann,
»Abü Dharr — Muharmnad's Revolutionary Companion«, The Muslim World LXVIII (1978), p. 285-89. Ferner Werner
Ende, Arabische Nation und islamische Geschichte, die Umayyaden im Urteil arabischer Historiker ( = B'TS 20), Beirut und
Wiesbaden: Steiner 1977, p. 210-14 ( = »Abü Dharr — ein früher Sozialist«).
31 Ahmad Naini, Die Revolution in Iran, Hintergründe und Ereignisse. Hamburg: Deutsches Orient-Institut 1979, p. 112.
32 Auf linke Positionen stößt man im heutigen Persien verhältnismäßig selten. Damit ist nicht gesagt, daß sie nicht mehr existieren, nur daß sie weniger in Erscheinung treten oder, wie es von der Tudeh-Partei hieß, sich sogar hinter Chomeini stellen.
Zahlreiche Verhaftungen links eingestellter Persönlichkeiten (darunter für ein paar Tage auch Sädiq Qutbzäda), die im
Herbst 1980 vorgenommen wurden, deuten auf eine stärkere Abgrenzung hin, sprechen jedenfalls nicht für die Konnivenztheorie von Beobachtern wie Harald Vocke und Hans Graf Huyn (Fünf vor Zwölf — Die Welt nach Afghanistan, Wien:
Molden 1980, p. 92-101).
33 Eine offizielle Ausgabe der Verfassung vom 15. November 1979 stand mir bei der Ausarbeitung dieses Vortrages noch nicht
zur Verfügung. Ich besaß damals nur Photokopien aus Iran Times (Washington, D.C.) vom 30. November 1979, von einer
ebendort am 7. Dezember 1979 und 11. Januar 1980 erschienenen mehr oder weniger summarischen englischen Übersetzung,
von einem Abdruck der Artikel 1-61 aus Ittilä`ät vom 7. Februar 1980 sowie von einer maschinengeschriebenen Abschrift
von 38 Seiten, die vom iranischen Generalkonsulat in San Francisco stammt. Eine nichtamtliche englische Übersetzung nach
Publikationen in Tehran Times vom 18. November bis 3. Dezember 1979 jetzt auch in Orient, Zeitschrift des Deutschen
Orient-Instituts (Hamburg), vol. 21/1 (1980), p. 89-104. — Inzwischen hat die Bonner Iranische Botschaft einen Druck des
Verfassungstextes verteilt mit dem Titel Q'än 'ün-i asäsi-yi Jumhüri-yi Islämi-yi Irä'n und dem Herkunftsvermerk Dabirkhänayi Majlis — Barrasi-yi nihä'i-yi Q'änün-i As'äsi. Eine deutsche Übersetzung (mit einem Sachregister) fmdet man in dem ebenfalls von der genannten Botschaft versandten Heft 6 (Mai 1980) der Zeitschrift »Iran und die Islamische Republik«. — Die
deutsche Wiedergabe eines Verfassungsentwurfs vom 16. Juni 1979 findet man bei Luise Rinser, Khomeini und der islamische Gottesstaat — Eine große Idee, ein großer Irrtum? Percha: R.S. Schulz 1979, p. 189-223.
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Glauben (1) an den einen Gott und die Unterwerfung unter seinen Willen, (2) an
die göttliche Botschaft und ihre fundamentale Rolle in den Gesetzen, (3) an die
Konzeption der Auferstehung und ihre Rolle in der menschlichen Entwicklung,
(4) an die Gerechtigkeit Gottes, (5) an die immerwährende rechte Leitung und
ihre Rolle bei der Aufrechterhaltung der islamischen Revolution, (6) an die Vornehmheit und Kostbarkeit des menschlichen Lebens und der Freiheit geknüpft
an Verantwortung vor dem Antlitz Gottes.
Über den republikanischen Einrichtungen, also Nationalversammlung,
Staatspräsident, Premierminister und Kabinett, steht der geistliche Führer. Die
Leitung der Gemeinschaft der Muslime hat, so will es die Verfassung (Art. 5),
derjenige Kenner des Religionsgesetzes, der gerecht, fromm, erfahren, mutig,
sachkundig und wohlberaten ist und in seiner Führereigenschaft von der Mehrheit des Volkes anerkannt und respektiert wird. Hier verwendet die Verfassung
beinahe wörtlich die soeben von uns besprochene Qualifikation aus einer viel
früheren Zeit, als es darum ging, denjenigen Geistlichen zu bestimmen, dem die
Sachwaltung für den entrückten Imam zustehen solle. Als Ideallösung der Leitungsfrage nennt die Verfassung Chomeini namentlich (Art. 107). Ihm steht die
allgemeine Sachwaltung für die Gemeinschaft der Gläubigen zu, er trägt dafür
die volle Verantwortung.
Für den Fall daß eine so qualifizierte Persönlichkeit nicht allgemein anerkannt ist, soll eine eigens vom Volk gewählte Expertenkommission (Art. 108,
109) eine geeignete Persönlichkeit aussuchen und dem Volk vorstellen. Führt
auch das nicht zum Ziel, so ist ein aus drei oder fünf höchsten theologischen
Autoritäten bestehender Führungsrat zu bilden (Art. 107).
Der rechtskundige geistliche Führer oder dieser Führungsrat ernennt sechs
qualifizierte Kenner des islamischen Rechts zu Mitgliedern eines Überwachungsausschusses, dem außerdem sechs andere juristische Experten angehören, die
die Nationalversammlung aufgrund eines Vorschlages des Obersten Rechtsrats
einsetzt. Dieser Überwachungsausschuß hat die Aufgabe, alle Beschlüsse der
Nationalversammlung, Gesetze und Vorschriften zivilrechtlichen, strafrechtlichen, finanziellen, administrativen, kulturellen, politischen und militärischen
Inhalts auf ihre Vereinbarkeit mit den religionsgesetzlichen Vorschriften und
mit der Verfassung zu überprüfen (Art. 4, 91, 94-9, 108, 100 Ziff. 4, 118).
Die Islamische Republik Iran kennt die Gewaltenteilung. Doch stehen Legislative, Exekutive und richterliche Gewalt unter der Autorität des geistlichen
Führers (Art. 57). Zwar kann er von der Expertenkommission entlassen werden,
aber nur wenn er den Pflichten seines Amtes nicht mehr nachkommen kann
oder den Voraussetzungen für sein Amt nicht mehr entspricht (Art. 111).
Die Verfassung (Art. 110,118) definiert die Pflichten und Verantwortlichkeiten des geistlichen Führers. Neben den schon genannten gehört dazu die Einsetzung der höchsten richterlichen Autorität. Er ist der Oberste Befehlshaber der
Streitkräfte, ernennt und entläßt den Chef des Vereinigten Generalstabs sowie
den Oberkommandierenden des Islamischen Revolutionskorps. Er setzt den nationalen Verteidigungsrat ein und ernennt die höheren Kommandeute des Heeres, der Marine und der Luftwaffe auf Vorschlag des Nationalen Verteidigungsrats. Er vollzieht die Ernennungsurkunde des Staatspräsidenten nach dessen
Wahl durch das Volk. Er kann diesen Präsidenten unter gewissen Voraussetzungen entlassen. Ihm steht das Gnadenrecht zu.
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Die theokratischen Züge im Bild dieser islamischen Republik sind unverkennbar. Am Ende des 20. Jahrhunderts — ein Gottesstaat? Das ist sie noch nicht,
wohl aber eine Vorstufe dazu, eine Zwischenlösung bis zur Wiederkehr des entrückten zwölften Imams, von dem die Verfassung expressis verbis spricht (Art.
5). Er wird dann auf dieser Basis den Gottesstaat errichten.
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