Schwebend monumental

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ARc h i t e k t u r Ak t u e l l
Schwebend monumental
Christian Kerez: Schulhaus Leutschen-
zweistufiges Wettbewerbsverfahren für den Neubau
aus den Nachkriegsjahrzehnten in Schwamendingen
und fungiert als Zeichen des urbanistischen Auf-
bach, Zürich-Schwamendingen
eines Primar- und Oberschulhauses durchgeführt,
Die Schulanlage Leutschenbach ist das Resul-
das vom Architekturbüro Christian Kerez gewon-
bruchs im Zürcher Norden. Explizite Kontextualität
tat eines Entwurfsprozesses, der von einem
nen wurde. Mit insgesamt 22 Klassenzimmern, einer
wurde in dieser Umgebung nicht gesucht – als So-
additiven Gebäudekonzept zu einer Synthese
Doppelsporthalle, Mediathek, Bibliothek, Multifunk-
litär steht das Bauwerk in einer heterogenen Stadt-
geführt hat, die als Paradigma einer grund-
tionssaal, Mensa, Kindergarten und einer Reihe von
landschaft, wie dies für die Grenze zwischen Stadt
sätzlich neuen Architektur verstanden werden
Werkstätten und Spezialräumen handelt es sich um
und Agglomeration typisch ist. Die starke Resonanz,
kann. Konzeptionelle Zuspitzung generierte
das (nach der Schule Im Birch) zweitgrösste Schul-
die das neue Schulhaus schon während der Pla-
ein Bauwerk, das hochgradige Komplexität mit
haus der Stadt.
formaler Stringenz in Einklang bringt.
Schwamendingen und die umliegenden Stadtge­
nungsphase in der internationalen Fachöffentlichkeit
Christian Kerez hatte die Jury unter dem Vorsitz
gefunden hat, belegt die emblematische Bedeutung
von Peter Ess mit einem ungewöhnlichen Konzept
der Schulanlage Leutschenbach für die städtebauli-
überzeugen können: Während das umfangreiche
che Entwicklung der Stadt Zürich.
biete zählen zu den wachsenden Quartieren von
Raumprogramm üblicherweise in einzelne Volumina
Doch das Gebäude ist nicht nur ein des Nachts
Zürich und sind besonders bei Familien beliebt.
gegliedert und nebeneinander angeordnet wird, ver-
wie eine grosse Laterne erstrahlendes zeichenhaftes
Neue Wohnsiedlungen prägen insbesondere das
dichtete er es hier zu einem kompakten Baukörper,
Volumen, nicht nur ein revolutionär neu gedachtes
Entwicklungsgebiet Leutschenbach, das – früher
sodass die Freifläche des neu entstehenden, sich
Schulhaus, sondern das hinsichtlich seiner Konzep-
industriell genutzt – im Rahmen einer kooperativen
zwischen Andreasstrasse und Hagenholzstrasse
tion radikalste Gebäude der Schweizer Gegenwarts-
Entwicklungsplanung an der Schnittstelle zwischen
aufspannenden Andreasparks nur in geringem Mas-
architektur.
Schwamendingen und Oerlikon neu entsteht. Mit
se tangiert wird. Die Grünfläche, als Rasenterrain zu-
Ungewöhnlich ist ausser der Stapelung sämtli-
den jüngst hinzugezogenen und künftigen Bewoh-
rückhaltend gestaltet, bildet den Erholungsraum für
cher Räume in einem einzigen Bauwerk schon auf
nern wächst der Bedarf an städtischer Infrastruktur.
das Entwicklungsgebiet Leutschenbach, das nach
den ersten Blick die Anordnung der Funktionsberei-
Das betrifft nicht zuletzt den Schulsektor, zumal auch
Süden hin, jenseits der S-Bahn-Trasse, an das Saat-
che. Die Doppelturnhalle, zumeist ebenerdig oder
die bestehenden, in den vergangenen Jahren zum
lenquartier von Schwamendingen angrenzt.
in den Boden vertieft angelegt, bildet den oberen
Teil erweiterten Schulen im benachbarten Stadtteil
Als dreissig Meter hoch aufragendes Gebäude
Abschluss des Gebäudes. Den stützenfreien, in sei-
Schwamendingen an die Grenzen ihrer Kapazität
korreliert das neue Schulhaus mit den benachbarten
nen Abmessungen vorgegebenen Raum der Sport-
Wohngebäuden ebenso wie mit der markanten Kehr-
halle mit den übrigen Geschossen zu überbauen,
Unter Federführung des Amtes für Hochbau-
richtverbrennungsanlage, setzt einen Gegenakzent
hätte Probleme bei der Lastabtragung erzeugt; daher
ten der Stadt Zürich wurde deshalb 2002 / 2003 ein
zu den kleinteilig strukturierten Wohnbebauungen
entschieden sich Architekt und Tragwerksplaner –
gestossen sind.
14 archithese 5.2009
das Projekt wurde seit der Wettbewerbsphase von
Eingangsebene mit Mensa und Schülerclub wird von
dem Ingenieur Joseph Schwartz begleitet – zu der
dem Block der drei Klassenebenen, das vierte Ober-
umgekehrten Lösung.
1 Innenasicht der
Sporthalle
(Fotos: Walter Mair)
geschoss mit Multifunktionshalle, Bibliothek und Mediathek von der annähernd gleich proportionierten
Evolution der Struktur
Box der Sporthalle überfangen. Die Stahltragwer-
Der Wettbewerbsentwurf sah eine Kombination von
ke mit ihren charakteristischen, diagonalen Verstre-
Stahlfachwerken in den Unterrichtsgeschossen und
bungen traten aus funktionalen Gründen in der
der Turnhalle sowie Betonwänden in den Zwischen-
Sporthalle vor die Glashaut, und dieses Prinzip wur-
ebenen (Erdgeschoss, viertes Obergeschoss) vor.
de auch für die Klassengeschosse adaptiert.
Dabei arbeiteten Architekt und Ingenieur mit der
Addition präfabrizierter Elemente.
Die hybride Stuktur, wie sie der Wettbewerbsentwurf zeigte, wurde somit zugunsten einer reinen
Während der Planung wurde das Konzept – an
Stahlkonstruktion suspendiert, in welche die Boden-
unzähligen Modellen in einem evolutionären Prozess
und Deckenplatten als horizontale und aussteifende
weiterentwickelt – grundlegend geändert. Der Struk-
Flächen einbetoniert sind. So gelang eine Verein-
tur die Beliebigkeit auszutreiben, war Ziel und Resul-
heitlichung: Synthese anstelle von Addition. Tragen
tat dieser Operation. Eine radikale Zuspitzung, wie
und Lasten sind in physische Abhängigkeit gebracht.
sie das realisierte Schulhaus Leutschenbach zeigt,
Gleichzeitig werden räumliche Unterschiede bis zum
ist in der Schweizer Architektur bisher ohne Vergleich.
Äussersten zugespitzt. Einfachheit und Komplexität
Den statischen Kern des Gebäudes bildet das als
fallen in eins.
hinter die Fassaden zurücktretende Fachwerkkonstruktion ausgebildete vierte Obergeschoss, dessen
Neue Organik
Last über sechs Stützen in die Betonbox des Un-
Das Verhältnis von Kern und Hülle, von Tragwerk und
tergeschosses eingeleitet wird. Wie auf einem Tisch
Fassade ist eines der zentralen Themen der jüngeren
steht die Sporthalle auf dem vierten Obergeschoss.
Architekturgeschichte. Die Dialektik von Haut und
Zugleich aber sind die drei Schulgeschosse als Stahl-
Knochen, wie sie in den Stahlskelettbauten eines
gerüstkonstruktion von dieser Ebene abgehängt. So
Mies van der Rohe ihre klassische Formulierung
ergibt sich eine Rhythmisierung und funktionale Dif-
gefunden hat, ist in der Architektur der vergangenen
ferenzierung des Volumens: Die Erdgeschoss- und
Jahrzehnte einem Primat der Fassade gewichen,
15
2 Querschnitt 1:400
5 Zentrale Zone im
4. Obergeschoss
6 + 7 Blicke durch das
Treppenhaus in den
Klassengeschossen
3 Längsschnitt 1:400
4 Deckenplan 1:400
16 archithese 5.2009
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8
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12
15
8 Auditorium im 4. Obergeschoss
9 Zentraler Bereich im
1. Obergeschoss
11 – 17 Grundrisse
Untergeschoss,
Erdgeschoss sowie
1. – 5. Obergeschoss
1:400
10 Erdgeschoss
11
19
das vornehmlich den Sehsinn befriedigt und damit ei-
sich nicht auf die äussere Form beschränkt, sondern
ner durch die Dominanz des Visuellen geprägten Ge-
von innen, vom strukturellen Aufbau her entwickelt
ist nicht im landläufigen Sinne schön, und doch be-
genwartskultur entspricht. Gebäude beeindrucken
ist und auf dem untrennbaren Zusammenspiel von
sitzen seine Räume eine Aufenthaltsqualität, wie man
wahlweise durch die Extravaganz ihrer Form oder
Knochen, Muskeln, Sehnen und Haut beruht: Kein
sie in zeitgenösssischen Schulhäusern selten findet.
durch eine haptisch-sensualistische Aufladung ver-
Element ist zu viel, keines zu wenig. Ein Körper be-
Schliesslich kann ihm ein monumentaler Charakter
sich der Artikulation von Sinnlichkeit verweigert. Es
mittels Oberflächenstruktur und Ornament. Zu einer
steht nicht allein aus Skelett und Haut, und so lässt
schwerlich abgesprochen werden, trotzdem wirkt
derartigen Architektur bezieht Christian Kerez eine
sich das Schulhaus als Paradigma einer ganzheitli-
das Gefüge wie schwebend.
denkbar extreme Gegenposition. Auch wenn dem
chen Architekturauffassung verstehen, die vollstän-
Mit der Behandlung der Erdgeschosszone wird
Schulhaus bildhafte Präsenz nicht abzusprechen ist,
dig ohne die vordergründigen Elemente der Bildlich-
die Paradoxie, die letztlich nur Audruck eines radikal
die sich allerdings auch mit anderen Strategien erzie-
keit auskommt. Das führt zu Irritation: Architektur und
durchdachten Konzepts ist, gleichsam auf die Spitze
len liesse, so besteht seine eigentliche Bedeutung in
Struktur überlagern sich, Architektur und Ingenieur-
getrieben. Wo man die Geste des grosszügigen
der untrennbaren Verbindung bisheriger Gegensätze,
baukunst verschmelzen miteinander. Was Tragen
Empfangs vermutet, wird man mit der niedrigsten
in der Überwindung eines additiven Verständnisses
ist, was Lasten ist nicht mehr grundsätzlich sichtbar.
Geschosshöhe konfrontiert; wo üblicherweise ein
des Bauens. Das Tragwerk ist Mittel zum Zweck,
So verweigert sich das Bauwerk direkter Lesbarkeit
massives Sockelgeschoss zu erwarten wäre, zieht
räumliche Strukturen auszubilden, zu definieren und
und gewinnt einen enigmatischen Charakter, der das
sich die Struktur auf einen Kern von sechs Dreibein-
zu umfassen. Insofern fungiert es als generatives
«What you see is what you get» verhöhnt.
stützen zurück, die in einigem Abstand von einem
Prinzip – und vermag auch, sich sämtlichen haustechnischen Anforderungen anzupassen. Die gerippten
Geviert aus Glaswänden umgeben sind. Zehn Meter
Coincidentia oppositorum
kragt die Deckenplatte aus, sodass sich neben dem
Betondecken sind nicht nur ein zentraler Teil des
Das Schulhaus Leutschenbach fasziniert und irri-
ringförmigen Umgang im Inneren ein überdeckter
statischen Gefüges, sie integrieren auch Lichtsy-
tiert, weil es in seinem synthetischen Ansatz Wi-
Pausenbereich im Äusseren ergibt.
steme, Sprinkler und Lüftung und übernehmen zu-
dersprüchliches zur Einheit verschweisst und damit
dem akustische Funktionen. Hinter ihrer scheinba-
Wahrnehmungsgewohnheiten unterläuft. Es wirkt
Schule als Werkstatt und Labor
ren Homogenität verbirgt sich ein komplexes Innen-
wie ein Skelettbau, und hat doch mit serieller Ad-
Die gegenläufige Treppenerschliessung in der Mitte
leben, das nicht mehr dem Prinzip iterativer Modulari-
dition von Bauteilen nichts zu tun. Es ist ein orga-
ermöglicht kurze und voneinander getrennte Ver-
tät, sondern dem organischen Wachstums verpflich-
nisch zu verstehendes Gebäude – das gleichwohl
bindungen für die Primar- und Oberstufe. Die Klas-
tet ist. Kerez beschreitet den Weg zu einer neuen Kör-
aufgrund strikter Orthogonaliät und unspektakulärer
senzimmer selbst, vom Grundriss her annähernd
perlichkeit der Architektur – einer Körperlichkeit, die
Materialien auf expressive Gesten verzichtet und
quadratisch, sind parallel zur nördlichen und süd-
20 archithese 5.2009
lichen Längsfront angeordnet. Die von den Trep-
Fassaden ist Ausdruck des räumlichen Aufbaus und
pen erschlossenen Bereiche dazwischen lassen
findet auch im Inneren ihre Entsprechung. Die bei-
sich gemäss aktuellen pädagogischen Konzepten
den öffentlichen Ebenen – Erdgeschoss und vier-
für den Projekt- und Gruppenunterricht verwenden;
tes Obergeschoss – entsprechen einander, stehen
Korridore als reine Erschliessungszonen gibt es im
aber im Verhältnis der Inversion. Während unten ein
Schulhaus Leutschenbach nicht. Eine mehrfache
öffentlicher Raum einen von den Dreibeinstützen
Funktion übernehmen auch die den Schulgeschos-
eingefassten Kern umgibt, bildet die öffentliche
sen ringsum vorgelagerten Balkonzonen: Sie kön-
Zone oben den Kern innerhalb eines sie umgeben-
nen als Fluchtwege genutzt werden, fungieren als
den Rings von Räumen: Eine zentrifugale wechselt
Verschattungselemente, dienen aber auch als Auf-
zu einer zentripetalen Grundrisstypologie. Die Klas-
enthaltsbereiche und unterstützen somit die Fle-
sengeschosse hingegen sind nicht zentralisierend,
xibilität der Raumnutzung.
sondern linear dreischiffig aufgebaut: Der Erschlies-
Neue Wege beschritt Christian Kerez schliesslich
sungsbereich, der sich an den Stirnseiten visuell in
auch bei der Materialisierung. Von den Treppenker-
die Landschaft entgrenzt, wird hinter dem Gerüst
nen und der Box des Untergeschosses (mit Werk-
der Stahlstützen und den Profilitwänden zweiseitig
räumen und Technikbereichen) abgesehen, gibt es
von der Abfolge von Klassenzimmern eingefasst. Im
keine klassischen Wände mehr. Die Abgrenzung
Gegensatz zu den geführten Ausblicken öffnet sich
der Klassenzimmer untereinander und zu den Auf-
die Sporthalle zu allen Seiten: Als seien sämtliche
enthaltsbereichen in der Geschossmitte hin erfolgt
Kulissen beiseite geschoben, tut sich eine gewaltige
durch Konstruktionen aus transluzentem Profilitglas.
Bühne auf, ein Hohlraum, welcher sich über die ge-
Entstanden ist eine informelle, urban anmutende
samte Fläche des Geschosses erstreckt.
Lernlandschaft mit Ateliercharakter – jenseits der
Muffigkeit traditioneller Schulstuben. Kommt hinzu,
dass die Schulzimmer grösser, höher und lichter
sind, als man es sonst gewohnt ist. Schule wird
hier verstanden als Werkstatt, Atelier und Labor.
Die Rhythmisierung der Geschossebenen an den
Hubertus Adam
18 Nordseite bei Tag
19 Westseite bei Nacht
Architektur: Christian Kerez; Projektteam: Andrea Carisaghi,
Lucas Camponovo, Ueli Degen, Michael Eidenbenz, Steffen
Lemmerzahl, Andreas Skambas, Moritz Agné, Matthias Baer,
Ute Burdelski, David Gianninazi, Romina Grillo, Christian
Hahn, Eva Herren, Kaori Hirasawa, Louise Lemoine, Dirk
Massute, Fabien Schwartz, Eva Sommerin, Fumiko Takahawa,
Dominique Wehrli, Christoph Wiedemeyer, Tatsuo Yamaji;
Wettbewerbsteam: Andreas Büchi, Silvio Ammann, Steffen
Lemmerzahl, Florian Sauter, Selina Walder; Tragwerksplanung:
Dr. Schwartz Consulting AG, Zug – Joseph Schwartz mit
dsp, Zürich, Walter Kaufmann, Mario Monotti; Akustik: Martin
Lienhard; Bauüberwachung: BGS, Rapperswil; Landschaftsarchitektur: 4d AG, Bern; Kunstprojekt: Olivier Mosset, New
York; Auftraggeber: Stadt Zürich, Immobilienbewirtschaftung,
Schul- und Sportdepartement, vertreten durch das Amt für
Hochbauten der Stadt Zürich.
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