2002, Heft 2: Psychische Erkrankungen

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2002/2
Mitteilungen der
Lebensversicherer an die
Schweizer Ärzteschaft
Psychische Erkrankungen
Beilage der Schweizerischen Ärztezeitung
Nr. 51/52, 18. Dezember 2002
Schweizerischer Versicherungsverband
Association Suisse d’Assurances
Associazione Svizzera d’Assicurazioni
2
Inhalt
Herausgeber SVV Schweizerischer
Versicherungsverband
Dr. med. Roland von Känel
Moderne Einteilung
psychischer Erkrankungen
4
1941 – 1998 herausgegeben von den
Lebensversicherern
Die für die Herausgabe der «Mitteilungen»
Dr. med. Francesca C. Steinmann
Die Psychiatrie als medizinischer
Fachbereich
20
Karl Groner
Psychische Krankheiten
aus Sicht des Privatversicherers
36
verantwortliche Kommission setzt sich
wie folgt zusammen:
• Josef Kreienbühl, PAX, Präsident
• Karl Ehrenbaum, Zürich
• Dr. med. Thomas Mall, Basler
• Dr. med. Jan von Overbeck, Swiss Re
• Dr. med. Walter Sollberger, Berner
• Peter Suter, Winterthur
• Dr. med. André Weissen, PAX
Redaktion Dr. Jörg Kistler
C.-F.-Meyer-Strasse 14
8022 Zürich, Telefon 01-208 28 28
E-mail [email protected]
Druck Dürrenmatt Druck AG
3074 Muri-Bern
Auflage 11 000 Exemplare
Dr. Jakob Bösch, Petra Wildemann
Die Reintegration der psychisch
Kranken in die Arbeitswelt
46
3
Editorial
Liebe Leserinnen, liebe Leser
Rund ein Drittel aller IV-Bezüger leiden unter den Folgen psychischer
Krankheiten.
In seinem Artikel schildert Karl Groner, wie die privaten Versicherungsgesellschaften der Problematik begegnen und gibt Erläuterungen zur Antragsprüfung und zur Einschätzung des Todesfalls- und Erwerbsrisikos.
Aber was sind psychiatrische Erkrankungen überhaupt und wie erkennt
man sie. Frau Dr. Steinmann legt in ihrem Artikel eindrücklich dar, mit
welch zwiespältigen Assoziationen die Psychiatrie verknüpft wird. Sie
beschreibt Behandlungsmethoden und legt die Forschungsansätze dar.
So werden heute in der psychiatrischen Forschung grosse Anstrengungen
unternommen, um die biologischen Mechanismen zu analysieren, welche
psychischen Erkrankungen zu Grunde liegen und die Wirkungsweise der
verschiedenen Therapieansätze zu untersuchen.
Dr. von Känel legt die moderne Einteilung psychischer Erkrankungen dar.
In seinem Artikel legt er ein Schwergewicht auf die Tatsache, dass rund die
Hälfte der psychischen Störungen in der medizinischen Grundversorgung
nicht erkannt wird. Dies ist deshalb gravierend, weil ohne richtige Diagnose
eine adäquate Therapie nicht möglich ist.
Was kann getan werden, um die erwähnten Stigmatisierungen psychisch
Kranker zu verhindern und die ständig wachsenden Belastungen aus der
Erwerbsunfähigkeitsversicherung in den Griff zu bekommen? Petra Wildemann und Dr. Jakob Bösch zeigen auf, dass es bei frühzeitiger Erkennung
des Problems Erfolg versprechende Möglichkeiten gibt, Betroffene davor zu
bewahren, durch Chronifizierung der Leiden aus dem sozialen Kreislauf
heraus zu fallen.
Liebe Leserin, lieber Leser, Verständnis für die Kranken und rechtzeitige auf
das Problem zugeschnittene medizinische Behandlung ist das Eine. Aber die
Gesellschaft muss auch ein Vermehrtes tun, um Kranke wieder in die Arbeitswelt einzugliedern. Im Interesse der Kranken, aber auch im Interesse
der Allgemeinheit, welche dem ständigen Wachstum der durch psychische
Erkrankungen verursachten Kosten nicht einfach tatenlos zusehen kann.
Dr. Jörg Kistler
4
Moderne Einteilung
psychischer Erkrankungen
Dr. med. Roland von Känel,
FMH Innere Medizin,
Psychosomatische und
Psychosoziale Medizin
(APPM),
Abteilung für Psychosomatische Medizin,
Zürcher Höhenklink Davos
Zusammenfassung
Psychische Störungen werden in der
ärztlichen Grundversorgung häufig
angetroffen und in bis zur Hälfte der
Fälle nicht erkannt. Erst die korrekte
Diagnose ermöglicht aber eine spezifische Therapie, welche das beträchtliche Leiden der betroffenen Patienten
zu lindern vermag. Dieser Artikel stellt
eine vereinfachte Einteilung der in der
Grundversorgung häufig angetroffenen psychischen Störungen nach der
ICD-10 vor.
Depressionen werden hinsichtlich des
zeitlichen Auftretens (einzelne Episode, rezidivierend, anhaltend) sowie nach ihrem Schweregrad (leicht,
mittelgradig, schwer) eingeteilt. Die
Angststörungen lassen sich in die Phobien, unter ihnen die Agoraphobie, die
soziale Phobie und die isolierten Phobien, sowie in die sonstigen Angststörungen, zu denen die Panikstörung
und die generalisierte Angststörung
gehören, unterteilen. Bei den somatoformen Störungen lassen sich die
mehr vegetativ bezogenen somatoformen autonomen Funktionsstörungen
von der mehr auf den Schmerz bezogenen anhaltend somatoformen
Schmerzstörung unterscheiden. Das
Vollbild einer Somatisierungsstörung
ist vergleichsweise selten. Für die Diagnose der somatoformen Schmerzstö-
rung und der Belastungs- und Anpassungsstörungen werden ursächlich
psychosoziale Problembereiche gefordert, die sich mit der ICD-10 kodieren lassen. Je nach zeitlichem Beginn
und Dauer werden bei den Belastungs- und Anpassungsstörungen die
akute Belastungsstörung, die posttraumatische Belastungsstörung und
die Anpassungsstörung unterschieden. Ebenfalls häufig in der Grundversorgung angetroffen werden die Neurasthenie, Störungen durch übermässigen Alkoholkonsum und Persönlichkeitsstörungen.
Einleitung
Dieser Artikel soll eine Übersicht
geben über die Einteilung psychischer
Erkrankungen nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die ICD-10 ist in
deutscher Sprache beim Verlag Hans
Huber erhältlich. Obwohl immer wieder diskutiert wird, inwiefern eine deskriptive Diagnosestellung psychischer
Erkrankungen nach einem Klassifikationsmanual wie der ICD-10 sinnvoll
und für den klinischen Alltag dienlich
sei, muss doch entgegengehalten
werden, dass, in Analogie zu den
5
somatischen Erkrankungen, eine psychische Störung nur dann professionell behandelt werden kann, wenn sie
als solche erkannt und diagnostiziert
wird («vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gestellt»). Psychische
Störungen sind syndromale Diagnosen, d. h. eine bestimmte Anzahl von
Auswahlsymptomen muss jeweils
gegeben sein, damit eine bestimmte
Störung diagnostiziert werden kann.
Da die definitive Diagnosestellung
einer psychischen Störung nie aufgrund eines Labortests oder eines
Röntgenbilds gestellt werden kann,
erlangen die Arzt-Patienten-Beziehung und die Anamneseerhebung
eine besondere Bedeutung.
Wie unten ausgeführt, werden psychische Störungen im nicht-fachärztlichen Bereich leider immer noch viel zu
wenig erkannt und behandelt, mit für
die betroffenen Patienten erwiesenermassen weit reichenden psychischen,
sozialen und somatischen Konsequenzen hinsichtlich einer verminderten Lebensqualität und einer erhöhten
Morbidität und Mortalität. Es ist zu
betonen, dass die vielfältigen gesundheitlichen Auswirkungen einer psychischen Störung vergleichbar sind mit
den durch eine somatische Erkrankung verursachten. Die Diagnosekriterien der ICD-10 ermöglichen im hek-
tischen Praxisalltag eine rasche Einteilung psychischer Störungen, was die
Einleitung spezifischer Therapiemassnahmen erst erlaubt. Ein spezifisches
Störungswissen, bspw., dass die
Depression mit steigendem Alter
zunimmt und bei Frauen doppelt so
häufig vorkommt wie bei Männern, ist
diagnostisch zusätzlich hilfreich, kann
in diesem Artikel aber nicht vermittelt
werden.
Überdies wird es angesichts der
Kostenentwicklung im Gesundheitswesen zunehmend wichtiger, dass
sich die unterschiedlichen Partner
einer gemeinsamen Sprache bedienen, wenn sie sich über bestimmte
Krankheiten und über dafür erbrachte
und geforderte Leistungen unterhalten. So kann es für einen Versicherungsmitarbeiter verständlicherweise
um einiges schwieriger sein, sich
unter einer eher undifferenzierten
«Erschöpfungsdepression bei psychosozialer Belastungssituation» einen
konkreten Krankheitszustand vorzustellen, als bei einer definierten
«Anpassungsstörung mit längerer
depressiver Reaktion (ICD-10 F43.21)
nach Tod des Ehepartners (ICD-10
Z63.4)». Dies kann unter Umständen
dazu führen, dass die Kostengewährung für eine ambulante Psychotherapie oder einen stationären Rehabilita-
6
tionsaufenthalt unnötig restriktiver
gestellt wird, obwohl natürlich unabhängig von der Diagnose sowohl die
subjektive als auch die objektive
Beeinträchtigung des an einer verzögerten Trauerreaktion mit Somatisierung Leidenden dieselbe ist.
Psychische Störungen
in der ärztlichen Grundversorgung
Die epidemiologischen Untersuchungen über die Prävalenz von psychischen Störungen in der ärztlichen
Grundversorgung («primary care») der
Gruppe um Wittchen am Max Planck
Institut in München unterstreichen die
Wichtigkeit eines gewissenhaften und
sorgfältigen Vorgehens in der Diagnostik psychischer Störungen. Diese
Untersuchungen an über 20 000 Patienten haben gezeigt, dass von den in
der ärztlichen Grundversorgung präsentierten und nach der ICD-10 diagnostizierten psychischen Störungen
einerseits nur unmerklich mehr als die
Hälfte als solche erkannt werden, und
andererseits mehr als jeder zehnte
Patient mit einer depressiven Störung
diagnostiziert wird, obwohl er keine
Depression hat. In drei von vier Fällen
ist die soziale Beeinträchtigung (Familie, Beruf ) unter Patienten mit einer
definierten psychischen Störung klinisch relevant und kann natürlich nur
dann positiv beeinflusst werden, wenn
die Störung erkannt wird.
Durch die Therapie einer Fehldiagnose
müssen unter Umständen subjektiv
einschränkende Nebenwirkungen eines Medikaments in Kauf genommen
werden und kann potenziell gesundheitlicher Schaden entstehen (Herzrhythmusstörungen beim Einsatz von
trizyklischen Antidepressiva, Dyskinesien bei Neuroleptikagebrauch). Viel
häufiger als eine falsche Behandlung
wird in der Grundversorgung aber gar
keine Indikation zur spezifischen Therapie einer psychischen Störung gestellt, sei es mit Psychopharmaka oder
mit anderen psychotherapeutischen
Interventionen.
Verhältnismässig noch weniger häufig
werden die so genannt subklinischen
Formen einer psychischen Störung
erkannt, bei denen die Anzahl Symptome nicht für die Diagnose einer voll
ausgebildeten Störung qualifiziert.
Auch subsyndromale psychische
Störungen sind klinisch relevant.
Mehrfach wurde bspw. eine DosisWirkungs-Beziehung zwischen dem
Schweregrad einer depressiven Verstimmung und dem prospektiven Risiko im mehrjährigen follow-up einen
Myokardinfarkt zu erleiden, gefunden.
Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass rechtzeitiges Erkennen und
7
Therapieren einer sowohl klinischen
als auch subklinischen Depression
nicht nur auf die Verbesserung der
psychischen und sozialen Funktionen,
sondern auch auf die somatische Morbidität und Mortalität einen positiven
Einfluss haben kann.
Jeder vierte Patient zeigt im Anschluss
an einen Herzinfarkt eine «major
depression», womit die Prävalenz
einer «major depression» in dieser
Population etwa dreimal grösser ist,
als diejenige in der Durchschnittsbevölkerung. Eine Depression wird aber
nur bei jedem vierten depressiven
Herzpatienten diagnostiziert und nur
jeder zweite Diagnostizierte wird mit
einem Antidepressivum und/oder
Psychotherapie behandelt. Es folgt,
dass ein depressiv verstimmter Patient mit stattgehabtem Myokardinfarkt eine Chance von nur 1:10 hat, eine
antidepressive Therapie mit potenziell
günstigem Einfluss auf sein Überleben
zu erhalten.
Einteilung psychischer Störungen
Im Rahmen dieses Artikels kann nicht
das ganze Spektrum der psychischen
Störungen nach der ICD-10 abgehandelt werden. Didaktisch soll die Unterteilung der verschiedener Krankheitsgruppen nicht zu komplex ausfallen,
um dem Hauptanliegen des Artikels,
der Anwendbarkeit einer Einteilung
psychischer Störungen im Praxisalltag, nachzukommen.
Je nach Population weisen etwa 10 bis
20% der Patienten, die beim Grundversorger in der Praxis vorstellig werden, eine psychische Störung nach
der ICD-10 auf, und eine ebenso hohe
Anzahl Patienten hat eine subsyndromale psychische Störung. Von hoher
Wichtigkeit ist die Erkenntnis, dass
Patienten mit einer psychischen Störung den Grundversorger in den allerwenigsten Fällen wegen einem psychischen Symptom aufsuchen, sondern
überwiegend wegen somatischer
Beschwerden, Schmerzen, Müdigkeit
und Schlafproblemen.
Unter den klinischen Störungen finden
sich am häufigsten depressive Episoden, eine generalisierte Angststörung,
eine somatoforme Störung, eine Neurasthenie und eine Alkoholabhängigkeit. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die so genannte
Komorbidität psychischer Störungen
ausgesprochen gross ist. Allgemein
wurde gefunden, dass bei drei von fünf
Patienten mit einer klinischen Depression mindestens eine weitere psychische Störung diagnostiziert werden
kann. Bspw. stellt das gleichzeitige
Auftreten einer depressiven Störung
mit einer Angststörung eher die Regel
8
als die Ausnahme dar. Die hohe
Komorbidität psychischer Störungen
führt auch unter Experten immer wieder zu Diskussionen ob bspw. eine
gleichzeitig vorhandene depressive
und Angststörung als je eine eigenständige Diagnose aus den beiden
Krankheitsgruppen «depressive Episode (ICD-10 F32)» und «sonstige
Angststörungen (ICD-10 F41)» oder
aber als «Angst und depressive Störung, gemischt (ICD-10 F41.2)» codiert
werden soll. Für den Praxisalltag sei
das erstere Vorgehen empfohlen, d. h.
möglichst eigenständige Störungen
abzugrenzen und diese gemäss der
ICD-10 als Hauptdiagnose bzw. Nebendiagnose(n) miteinander (sog. komorbid) zu diagnostizieren. Bei Unklarheiten wird empfohlen, einen Fachkollegen beizuziehen. In jedem Fall soll man
mit Hilfe der Anamnese versuchen herauszufinden, welche psychische Störung zuerst auftrat. So findet man bei
Patienten, die sich mit der Komorbidität einer Depression und einer
somatoformen Schmerzstörung präsentieren, nicht so selten eine langjährig vorbestehende posttraumatische Belastungsstörung durch traumatiserende Kindheitserlebnisse, die
möglicherweise den Schlüssel zum
therapeutischen Erfolg liefert.
Depressive Störungen
Depressive Störungen gehören zu den
affektiven Störungen (ICD-10 F30F39). Manische bzw. hypomanische
Zustände entweder alleine (manische
Episoden F30) oder in Kombination mit
einer depressiven Störung (bipolare
affektive Störung F31) werden in der
Grundversorgung eher selten angetroffen, so dass wir uns auf die so
genannt depressiven Episoden (F32),
rezidivierenden depressiven Störungen (F33) und anhaltend affektiven
Störungen (F34) beschränken wollen.
Anamnestisch lohnt es sich aber
immer, bei einem depressiv verstimmten Patienten nach Phasen in seinem
Leben zu fragen, während deren er
sich selbst oder sein Umfeld ihn als bei
überdurchschnittlich guter Stimmung,
überdreht oder gar euphorisch erlebte, um eine insbesondere Bipolar II
Störung (depressive Episoden gemischt mit hypomanischen Zuständen) zu erkennen, die medikamentös
grundsätzlich anders therapiert werden muss als eine «reine», d. h. unipolare depressive Störung. Auf psychotische Symptome wie Wahnideen und
Halluzinationen, die im Rahmen einer
schweren Depression (F32.3) vorkommen können, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass bei psychoti-
9
schen Phänomenen grundsätzlich ein
Facharzt für Psychiatrie konsultiert
werden sollte.
Depressive Episoden
nach ICD-10 F32
Es handelt sich um einen über mindestens zwei Wochen anhaltenden Zustand depressiver Stimmung in einem
für den Betroffenen deutlich abnormen Ausmass während der meisten
Zeit des Tages, an fast jedem Tag, weitgehend unbeeinflusst von äusseren
Umständen. Der Begriff «depressive
Episode» soll konsequent nur für eine
einzelne depressive Episode verwendet werden; d. h., es soll beim Auftreten wiederholter depressiver Episo-
den eine rezidivierende depressive
Störung mit dem Typus der gegenwärtigen depressiven Episode (s. unten)
diagnostiziert werden. Die folgenden
zehn Symptome in Tabelle 1 sollen für
die Einteilung des Schweregrads einer
depressiven Episode (Tabelle 2) systematisch erfragt werden. Das Akronym
«Die Miss USA» mag das Abfragen der
depressiven Symptome während der
Anamnese erleichtern.
Für die Diagnose einer depressiven
Episode müssen mindestens zwei der
ersten 3 Symptome vorhanden sein.
Ist nur ein Symptom der ersten drei
vorhanden, so kann die Diagnose
einer depressiven Episode streng
genommen nicht diagnostiziert wer-
Tabelle 1
Die 10 depressiven Symptome nach der ICD-10 («DIE MISS USA»)
1. D epressive Stimmung
2. I nteressenverlust oder Freudlosigkeit an normalerweise
angenehmen Aktivitäten
3. E nergielosigkeit oder verminderter Antrieb
4. Minderwertigkeitsgefühle und vermindertes Selbstvertrauen
5. I nappetenz und Gewichtsverlust
6. S chuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit
7. S chlafstörungen
8. U nrealistisch negative Zukunftsperspektiven
9. S uizidgedanken und erfolgte Selbstverletzungen
oder Suizidhandlungen
10. A ufmerksamkeits- und Konzentrationsdefizit
10
Tabelle 2
Einteilungen der depressiven Episoden
Schweregrad der Depression
Diagnostisches Kriterium
Leichte depressive Episode
(F32.0)
Mindestens 4 der Symptome 1 – 10,
darunter
mindestens 2 der Symptome 1 – 3
Mindestens 5 der Symptome 1 – 10,
darunter
mindestens 2 der Symptome 1 – 3
Mindestens 7 der Symptome 1 – 10,
darunter
mindestens 3 der Symptome 1 – 3
Mittelgradige depressive Episode
(F32.1)
Schwere depressive Episode
(F32.2)
den. Es kann aber von einer subsyndromalen Depression gesprochen
werden, die am besten als sonstige
depressive Episode (F32.8) oder,
wenn sie über eine genügend lange
Zeit anhält, unter der Dysthymia
(F34.1, s. unten) codiert werden kann.
Können Patienten aufgrund einer
besonderen (psychomotorischen)
Agitiertheit oder Hemmung die Symptome nicht in allen Einzelheiten
beschreiben, ist die zusammenfassende Einschätzung im Falle einer
schweren depressiven Episode gerechtfertigt.
Das Auftreten von bestimmten Symptomen mit klinischer Bedeutung im
Verlauf einer depressiven Episode
oder einer rezidivierenden depressiven Störung kann als so genanntes
somatisches Syndrom abgegrenzt
werden, sofern mindestens vier Symptome aus der Tabelle 3 gegeben sind.
Das Vorkommen aber auch das Nichtvorhandensein des somatischen Syndroms wird mit einer fünften Stelle
gekennzeichnet, also bspw. mittelgradige depressive Episode mit somatischem Syndrom F32.01 bzw. mittelgradige depressive Episode ohne somatisches Syndrom F32.00. Das somatische Syndrom weist darauf hin, dass
eine Depression unter anderem mit
Veränderungen der Motorik, der vegetativen Funktionen und zirkadianer
Vorgänge einhergeht und damit den
Erkrankten immer in seinem gesamten körperlichen und seelischen Verhalten und Erleben erfasst.
11
Tabelle 3
Merkmale des somatischen Syndroms
1. Interessenverlust oder Freudlosigkeit an normalerweise
angenehmen Aktivitäten
2. Unvermögen emotional zu reagieren
3. Frühmorgendliches Erwachen
4. Morgentief
5. Objektivierte psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit
6. Appetitverlust
7. Gewichtsverlust von >5% des Körpergewichts im vorhergehenden Monat
8. Libidoverlust
Rezidivierende depressive Störung
nach ICD-10 F33
Die rezidivierende depressive Störung
ist getreu ihrem Namen durch das wiederholte Auftreten mindestens zweier
depressiver Episoden mit einer dazwischen liegenden mehrmonatigen Periode ohne affektive Symptomatik definiert. Haben die Episoden nicht zwei
Wochen gedauert, bzw. war das Intervall ohne eine affektive Störung zwischen den Episoden deutlich kürzer
als ein paar Monate, so ist eine sonstige rezidivierende affektive Störung
(F38.1) zu diagnostizieren. Vereinfacht
erfolgt die Einteilung einer rezidivierenden depressiven Störung durch
den Typus der gegenwärtigen Episode
bzw. das aktuelle klinische Bild, wobei
zusätzlich das somatische Syndrom
abgegrenzt werden kann (s. oben).
rezidivierende depressive Störung,
gegenwärtig leichte Episode
(F33.0)
rezidivierende depressive Störung,
gegenwärtig mittelgradige Episode
(F33.1)
rezidivierende depressive Störung,
gegenwärtig schwere Episode
(F33.2)
Dabei ist besonders zu erwähnen,
dass eine rezidivierende depressive
Störung auch remittieren kann; d. h.,
dass der Patient mit einer rezidivierenden depressiven Störung in der Anamnese zum Zeitpunkt der Untersuchung
in einer vollständigen Remission sein
kann.
rezidivierende depressive Störung,
gegenwärtig remittiert (F33.4)
12
Anhaltend affektive Störungen
nach ICD-10 F34
Als einzige Störung in dieser Kategorie
soll die Dysthymia F34.1 erwähnt werden. Hierbei handelt es sich um eine
chronische (mehrere Monate bis
Jahre, manchmal lebenslange) und
gewöhnlich fluktuierende depressive
Verstimmung, die nach Schweregrad
und Dauer der einzelnen Episoden
nicht ausreichend schwer ist, um auch
nur für eine leichte depressive Episode
zu qualifizieren.
Angststörungen
Die ICD-10 unterscheidet bei den
Angststörungen die phobischen Störungen von den sonstigen Angststörungen. Phobische Störungen zeichnen sich dadurch aus, dass die Angst
durch ungefährliche, eindeutig definierte Situationen ausserhalb des
Patienten hervorgerufen wird. Zu den
phobischen Störungen werden die
Agoraphobie («Platzangst»), die soziale Phobie und die isolierten, auf ein
spezifisches Objekt gerichteten Phobien (z. B. Tierphobien, Höhenangst),
gezählt. Auf letztere wird nicht weiter
eingegangen, da die Patienten einem
einzelnen phobischen Stimulus im Alltag meist ohne nennenswerte Beeinträchtigung ausweichen können. Für
Phobien typisch sind eine Erwartungs-
angst und ein Vermeidungsverhalten
gegenüber der angstauslösenden
Situation. Eine Phobie wird auch als
solche diagnostiziert, wenn sie von
Panikattacken begleitet wird.
Im Gegensatz zu den Phobien zeichnen sich die sonstigen Angststörungen dadurch aus, dass sie sich nicht
auf eine bestimmte Umgebungssituation beziehen. Zu den sonstigen
Angststörungen werden die Panikstörung und die generalisierte Angststörung gezählt. Es wird vorgeschlagen,
jegliche subsyndromale Angsterkrankungen, die klinisch relevant sind, als
nicht näher bezeichnete Angststörung
(F41.9) zu benennen.
Phobische Störungen
nach ICD-10 F40
Agoraphobie F40.0
Die Diagnose einer Agoraphobie fordert, dass in mindestens zwei von vier
definierten Situationen (Menschenmenge, öffentliche Plätze, Reisen mit
weiter Entfernung von zu Hause, alleine Reisen) Angst auftritt und eine starke Beeinträchtigung durch das Vermeidungsverhalten besteht. Je nach
Vorliegen oder Fehlen einer Panikstörung (s. unten) kann eine Agoraphobie
ohne Panikstörung (F40.00) bzw.
eine Agoraphobie mit Panikstörung
(F40.01) abgegrenzt werden. Typisch
13
ist die Angst, in der Öffentlichkeit zu
kollabieren, sich dabei zu blamieren
und keinen «Fluchtweg» offen zu
haben, um sich möglichst rasch an
einen sicheren Platz, meist nach
Hause, zurückziehen zu können.
Soziale Phobien F40.1
Die Diagnose einer sozialen Phobie
erfordert, dass die Angst auf bestimmte soziale Situationen begrenzt ist und
ein erhebliches Vermeidungsverhalten besteht, das mitunter zu einer sozialen Isolation führt. Typische Situationen, die Angst bereiten, sind das
Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit oder ein Treffen mit dem anderen
Geschlecht bei fehlender Symptomatik im engen Vertrautenkreis.Vegetative Zeichen wie Schwitzen, Erröten
und Zittern kommen vor. Die Abgrenzung von einer Agoraphobie ist mitunter schwierig. Im Gegensatz zum
Patienten mit einer Agoraphobie, fühlt
sich der Patient mit einer sozialen Phobie in einer Menschenmenge nicht
zwingend unwohl, fürchtet aber unter
Umständen, jemanden in der Menschenmenge anzusprechen.
Sonstige Angststörungen
nach ICD-10 F41
Panikstörung F41.0
Es handelt sich um unvorhersehbare,
anfallsweise Zustände von heftiger
Angst («wie aus heiterem Himmel»),
die der Betroffene nicht mit externen
Stimuli in Verbindung bringen kann.
Eine Panikstörung soll nur beim Fehlen
einer Phobie diagnostiziert werden.
Die Begriffe Panikattacken, Panikanfälle oder Angstanfälle werden synonym mit dem Begriff Panikstörung
verwendet.
Die Anfälle dauern wenige Minuten bis
eine halbe Stunde und sind von heftigen körperlichen, durch die Aktivierung des vegetativen Nervensystems
verursachten Symptomen begleitet,
wobei Herzklopfen, Atemnot und
Schwindel am häufigsten berichtet
werden. Eine Zusammenstellung der
somatischen Beschwerden bei einer
Panikattacke findet sich in Tabelle 4.
Mitunter stehen bei einer Panikattacke die körperlichen Beschwerden
gegenüber dem Affekt «Angst» sowohl für den Patienten als auch für den
Arzt im Vordergrund. Dadurch vergehen nicht selten Jahre, bis eine Panikstörung nach zahlreichen unauffälligen somatischen Untersuchungen
diagnostiziert und behandelt wird.
Zusätzliche kognitive Symptome be-
14
Tabelle 4
Körperliche Symptomatik bei einer Panikattacke
Organsystem
Symptome und Befunde
Kardial
Druck und Stechen auf Thorax, Herzklopfen,
-rasen, -stolpern
Atemnot, Erstickungsgefühl, Engegefühl,
Hyperventilation
Aufstossen, Kloss im Hals, Magenschmerzen,
Übelkeit, Erbrechen, Durchfall
Muskuläre Schwäche und Verspannung,
Zittern
Blasse oder gerötete Haut, kühle Akren,
Schwitzen
Schwindel, Kopfschmerzen
Respiratorisch
Gastrointestinal
Muskulär
Dermatologisch
Zentrales Nervensystem
ziehen sich auf die mögliche Bedeutung der somatischen Empfindungen,
wie eine «Angst zu sterben» oder
«Angst verrückt zu werden».
Generalisierte Angststörung F41.1
Es besteht ein über mindestens mehrere Wochen bestehender Zustand von
allgemeinen Befürchtungen und Sorgen über die Zukunft verbunden mit
motorischer Anspannung und vegetativer Übererregbarkeit, was sich, wenn
auch in weniger heftigem Ausmass als
bei einer Panikattacke, durch die in
Tabelle 4 aufgeführten körperlichen
Beschwerden und eine allgemeine
Nervosität manifestiert.
Somatoforme Störungen
Somatoforme Störungen sind durch
die wiederholte Darbietung körperlicher Symptome ohne die Beschwerden erklärende organische Befunde,
in Verbindung mit der hartnäckigen
Forderung nach medizinischer Untersuchung, definiert.
Bei der somatoformen autonomen
Funktionsstörung (F45.3) werden die
Symptome derart geschildert, als beruhten sie auf einer körperlichen
Krankheit eines Systems oder Organs,
das unter Kontrolle des vegetativen
(autonomen, daher der Name) Nervensystems steht. Typische dazugehörende Begriffe sind die «Herzneurose» als somatoforme autonome
Funktionsstörung des kardiovasku-
15
lären Systems (F45.30) oder die
«psychogene Hyperventilation» als
somatoforme autonome Funktionsstörung des respiratorischen Systems
(F45.33).
Die Diagnose einer anhaltend somatoformen Schmerzstörung (F45.4) bedingt einen durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche
Störung nicht erklärbaren quälenden
und andauernden Schmerz (in der
Regel >6 Monate), wobei so genannte
Zufalls- oder Normalbefunde die Diagnose nicht ausschliessen. Obwohl im
Einzelfall mitunter schwierig auszumachen, müssen psychosoziale Probleme oder emotionale Konflikte gegeben sein, die schwer genug sind, um
die Störung ursächlich erklären zu
können. Tabelle 5 zeigt einige typische
psychosoziale Faktoren und kritische
Lebensereignisse («life-events») die
bei somatoformen Schmerzstörungen, aber auch bei anderen psychischen Störungen ursächlich (Belastungs- und Anpassungsstörungen
F43) oder die Störung zumindest aufrechterhaltend gefunden werden und
mit Hilfe der ICD-10 (Z00-Z99) codiert
werden können. Chronische Schmerzen aufgrund psychophysiologischer
Mechanismen sollten als psychische
Faktoren oder Verhaltenseinflüsse bei
andernorts klassifizierten Krankheiten (F54) sowie einer zusätzlichen
Kodierung aus einem anderen Teil der
ICD-10 diagnostiziert werden (z. B.
chronische Rückenschmerzen bei
M. Scheuerman mit inadäquater Krankheitsbewältigung ICD-10 M42.0 F54).
Organisch nicht erklärbare Schmerzen
können auch im Rahmen der «gros-
Tabelle 5
Psychosoziale Problembereiche, die den Gesundheitszustand
beeinflussen
Ausbildung und Bildung (Z55)
Berufstätigkeit und Arbeitslosigkeit (Z56)
Wohnbedingungen und ökonomische Verhältnisse (Z59)
Kulturelle Integration (Z60.3)
Negative Kindheitserlebnisse (Z61)
Paarkonflikt (Z63.0)
Tod eines Familienmitglieds (Z63.3)
Zerrüttung durch Trennung oder Scheidung (Z63.5)
16
Tabelle 6
Einteilung der Belastungs- und Anpassungsstörungen nach ICD-10 F43
Störung
Beginn
Dauer
Akute Belastungsreaktion
F43.0
Posttraumatische
Belastungsstörung
F43.1
Anpassungsstörung
F43.2
Perakut innert Minuten
3 Tage
Verzögert innerhalb
von 6 Monaten
nach dem Trauma
Innerhalb von 1 (bis 3)
Monaten nach
nach dem Ereignis
Mehrere Monate
bis Jahre
sen» Somatisierungsstörung (F45.0)
auftreten bei der die Patienten über
mindestens 2 Jahre andauernde multiple Symptome klagen, die meist vor
dem 30 Lebensjahr beginnen und zu
mehrfachen, unergiebigen Abklärungen führen («dicke Krankengeschichte»). In der Hausarztpraxis wird dieses
Vollbild der Somatisierungsstörung
im Gegensatz zu den zwei anderen
erwähnten somatoformen Störungen
selten gesehen.
Belastungs- und Anpassungsstörungen
Es handelt sich um Störungen, die
ursächlich auf ein aussergewöhnlich
belastendenes Lebensereignis («lifeevent», siehe Tabelle 5) oder auf eine
besondere Veränderung der Lebensumstände zurückgeführt werden.
Tabelle 6 zeigt, dass je nach zeitlichem
6 Monate
Verlauf der Symptomatik drei Formen
unterschieden werden.
Diese Störungen sind regelmässig von
teils heftigen emotionalen Reaktionen
(z. B. Depressionen, Ängste, Ärger; mit
einer fünften Stelle codiert) und vegetativen Symptomen begleitet. Immer
besteht ein Missverhältnis zwischen
den Anforderungen, die durch den
psychosozialen Stressor an das Individuum gestellt werden und dessen
Möglichkeiten, diese Anforderungen
zu bewältigen.
Erwähnung verdient, dass die Grenzen
zwischen der Symptomatik einer abnormen, d. h. überdurchschnittlich
intensiv oder lang anhaltenden
Trauerreaktion im Sinne einer Anpassungsstörung und einer Depression
fliessend sind. Es wird deshalb empfohlen, eine Trauerreaktion, die länger
als sechs Monate anhält, als eine
17
depressive Störung zu kennzeichnen,
sofern die diagnostischen Kriterien
hierfür erfüllt sind.
Übrige psychische Störungen
Neurasthenie F48.0
Die Diagnosekriterien der Neurasthenie bzw. des «Erschöpfungssyndroms» haben vieles gemeinsam mit
denjenigen des so genannten «Chronic Fatigue Syndroms», welches in der
ICD-10 nicht aufgeführt wird. Die Diagnose erfordert eine vermehrte geistige Ermüdbarkeit nach mentaler
Anstrengung mit Denk- und Konzentrationsschwierigkeiten oder eine körperliche Erschöpfung nach geringsten
Anstrengungen. Mindestens zwei der
folgenden sieben Symptome müssen
zusätzlich vorliegen: Muskelschmerzen, Schwindel, Spannungskopfschmerzen, Schlafstörungen, Reizbarkeit, Unmöglichkeit zu entspannen, Dyspepsie. Eine depressive oder
Angststörung darf nicht gleichzeitig
vorliegen.
Persönlichkeitsstörungen
nach ICD-10 F60
Die Persönlichkeitsstörungen werden
anhand von Merkmalsgruppen unterteilt, die den häufigsten oder auffälligsten Verhaltensmustern entsprechen. Es finden sich stabile Verhal-
tensmuster und starre Reaktionsweisen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen
und in Beziehungen, welche mit Problemen im zwischenmenschlichen
Bereich und beeinträchtigtem sozialen Funktionieren einhergehen. Davon
abzugrenzen sind andauernde Persönlichkeitsänderungen (F62), die in
Folge schwerer oder anhaltender Belastungen erworben wurden. Beim
gleichzeitigen Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung und einer anderen
psychischen Störung sind beide Diagnosen zu stellen. Grundsätzlich soll
die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung nur durch den Geschulten und
zurückhaltend gestellt werden. Nicht
selten werden Diagnosen wie «Borderline-Persönlichkeit» mit stigmatisierender Auswirkung für die Betroffenen über Jahre in Krankengeschichten
weitergegeben, ohne dass die diagnostischen Kriterien tatsächlich je
erfüllt waren.
Störungen durch Alkohol
nach ICD-10 F10
Ein schädlicher Gebrauch von Alkohol
(F10.1) liegt dann vor, wenn der Alkoholkonsum tatsächlich zu einer körperlichen oder psychischen Störung
der Gesundheit führt. Die Beurteilung
des Umfelds, ob ein gewisses Mass an
Alkohol nun gesundheitsschädigend
18
sei bzw. allfällige negative soziale Folgen durch den Alkoholkonsum, sind
für die Diagnose nicht von Bedeutung.
Beim Alkohol-Abhängigkeitssyndrom
(F10.2) hat der Alkoholkonsum Vorrang gegenüber Verhaltensweisen, die
früher für den Abhängigen wichtiger
waren. Für die Diagnosestellung müssen während mindestens eines Jahres
mindestens drei der folgenden sechs
Kriterien gleichzeitig vorhanden gewesen sein: Übermässiges Verlangen
nach Alkohol, Kontrollverlust, Entzugssymptome, Toleranzentwicklung,
Vernachlässigung anderer Lebensbereiche, anhaltender Konsum trotz
schädlichen Folgen.
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20
Die Psychiatrie als medizinischer
Fachbereich
Dr. med.
Francesca C. Steinmann,
Historische Entwicklung, Gegenwart
und Zukunft
FMH für Psychiatrie
und Psychotherapie,
Medizinisches Zentrum
Römerhof, Zürich
Zusammenfassung
Die Psychiatrie, als nicht unwesentlicher Teil moderner Medizin, ist
mit zwiespältigen Assoziationen verknüpft. Die Vorstellungen sind meist
vage, Verzerrungen ergeben sich zusätzlich durch Interaktionen mit persönlichen Projektionen oder Stigmatisierung durch historisch begangenes
Unrecht. Imagepflege ist angebracht.
Der vorliegende Artikel möchte das
weite Feld der Psychiatrie, als medizinisch wissenschaftlicher Facharztbereich, in einer Übersicht darstellen,
unter Einbezug der historischen Entwicklung wie auch der Ziele aktueller
psychiatrischer Forschung für die
nahe Zukunft.
1. Historische Entwicklung
Ein Rückblick auf die letzten
zweieinhalb Jahrtausende
In den Schriften des Hippokrates
finden sich im Corpus Hippocraticum
unter «Von der heiligen Krankheit»
(Morbus Sazer) moderne und aufgeschlossene Lehrmeinungen über psychische Störungen:
«Es müssen aber die Menschen wissen, dass für uns die Lüste und Freuden und Lachen und Scherzen aus keiner anderen Ursache als vom Gehirn
ihren Ursprung nehmen und ebenso
Betrübnis und Ärger und Missstimmungen und Jammer. Und mit diesem
vor allem denken, sehen und hören wir
und erkennen das Hässliche und das
Schöne, das Böse, und das Gute, das
Angenehme und das Unangenehme,
indem wir das eine nach dem Herkommen unterscheiden, anderes teils nach
dem Nutzen bewerten, teils auch die
Lüste und die Widerwärtigkeiten je
nach den Umständen beurteilen, denn
das Selbe gefällt uns nicht immer.
Durch eben dieses Gehirn verfallen wir
Menschen auch in Raserei und werden
irre und Ängste und Schreckbilder
treten uns vor die Seele, die einen in
der Nacht, die anderen am Tage, und
Träume und unzeitige Irrungen und
grundlose Sorgen, Mangel an Erkenntnis der gegenwärtigen Verhältnisse, Ungewohntheit und Unerfahrenheit. All dieses erleiden wir durch
das Gehirn, wenn dieses nicht gesund
ist, sondern entweder unnatürlich
warm oder kalt oder feucht oder
trocken wird oder etwas Anderes
wider seine Natur erleidet, was es
nicht gewohnt ist und wir geraten in
Raserei in Folge seiner übermässigen
21
Feuchtigkeit. Wenn aber das der Fall
ist, kann weder das Sehvermögen,
noch das Gehör zuverlässige Aussagen machen, sondern sieht und hört
bald dieses, bald jenes und die Zunge
spricht dann solche Dinge aus, wie sie
der Kranke jedes Mal sieht und hört.
Solange aber das Gehirn unversehrt
ist, solange ist auch der Mensch bei
Verstand. Wenn ihnen aber Schreckbilder vor die Seele treten, so kommt
das von einer Veränderung des Gehirns. Aus diesen Gründen bin ich der
Ansicht, dass das Gehirn die grösste
Macht im Menschen hat. Denn dieses
ist für uns der Deuter der Dinge, die die
Luft ihm zuträgt, vorausgesetzt, dass
es gesund ist.
Es hat aber eine jede Krankheit die
ihre eigentümliche Natur und Kraft
und nichts ist unerklärbar und unmöglich. – Heilbar sind die meisten Krankheiten durch ganz dieselben Faktoren
wie die, aus denen sie entspringen.
Das also muss der Arzt wissen, damit
er den rechten Zeitpunkt für jede
Massnahme erfasst.»
(Hippokrates 460 – 370 v. Chr.)
Wesentlich in der hippokratischen
Lehre ist der Grundsatz: «Auf die Ursache muss man zurückgehen und auf
den Anfang der Ursachen.» So ist die
Aetiologie der hippokratischen Ärzte
eine durchaus rationale und frei von
jeglichem Volksaberglauben (dessen
Anhänger geneigt sind, überall merkwürdige Erscheinungen an Kranken
auf unheimliche Dämonen zurückzuführen). Im Gegenteil werden
solch atavistische Vorstellungen aufs
Schärfste bekämpft. Der hippokratischen wissenschaftlichen Heilkunst
liegt ein ganzheitliches Denken zu
Grunde. Der hippokratische Arzt sieht
stets den ganzen Organismus des
Kranken, da der ganze leiblich-seelische Mensch als ein Organismus
betrachtet wird.
Nachdem also psychische Erkrankungen bereits in der griechischen und
römischen Antike beschrieben wurden und als körperliche Erkrankung
des Gehirns erkannt wurden, ging die
Tradition der antiken medizinischen
Heilkunst in der Folgezeit verloren.
Im Mittelalter wurden psychiatrische
Erkrankungen nicht mehr als solche
erkannt und die psychisch Kranken
wurden unter inhumanen Bedingungen in Gefängnissen verwahrt oder
durch die Inquisition als Hexen oder
Hexenmeister verfolgt.
22
Im 17. und 18. Jahrhundert wurden
psychisch Kranke zusammen mit Behinderten, Armen, Landstreichern und
Prostituierten als Asoziale in verschiedenartigen Zuchthäusern untergebracht. Dort waren sie oft angekettet
und erfuhren keine Behandlung durch
Ärzte.
Im Zuge der Aufklärung in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es
dann allmählich zu einer Humanisierung in der Behandlung der psychisch
Kranken. Aus den alten zuchthausartigen Tollhäusern wurden «Irrenanstalten». In diesem Zusammenhang wird
immer wieder die legendäre «Befreiung der Irren von ihren Ketten» durch
den französischen Arzt Philippe Pinel
erwähnt, der um 1794 in Paris die Geisteskranken im «Hospice de Bisétre»
von ihren Ketten befreite. Pinel vertrat
die Lehrmeinung, dass die Irren keine
Schuldigen sind, die man bestrafen
muss, sondern Kranke, die alle Rücksicht verdienen, die wir einer leidenden Menschheit schuldig sind. (Möller, Laux, Deister, 1995).
Dies bedeutet den Beginn eines neuen
Verständnisses von Geisteskrankheiten.
In der Tendenz gleichgerichtete, stark
sozialpsychiatrisch orientierte Impulse, gingen auch von England, in Form
der so genannten «Non-Restraint-Be-
wegung» aus. Insbesondere John
Conolly (1794 bis 1866), der vollständig auf mechanische Zwangsmittel
verzichtete und eine nachsichtige,
gütige Haltung gegenüber den Patienten forderte, bestimmte eine neue
Behandlungsära mit täglichen Visiten
durch Ärzte, zahlreichen sozialen Veranstaltungen und regelmässiger Betätigung der Kranken in Handwerk und
Landwirtschaft. (Möller, Laux, Deister,
1995).
In der Schweiz führte Auguste Forel
(1848 bis 1931), als Chefarzt an der
Psychiatrischen Klinik Burghölzli, in
diesem Sinne die bis heute bestehende Arbeits- und Beschäftigungstherapie ein, für die damals noch inaktiv und untätig gehaltenen Patienten.
Auch setzte er durch, dass in der Klinik
kein Alkohol mehr getrunken wurde.
Zum Ersatz bot er eine klinikeigene
Limonade an.
Die deutsche Psychiatrie wurde im
19. Jahrhundert insbesondere durch
den Streit über die Ursachen von psychischen Störungen in zwei Lager
gespalten. Die «Psychiker» sahen
Geisteskrankheiten als Erkrankungen
der körperlosen Seele, als Folge der
Sünde an. Die «Somatiker» formulierten demgegenüber naturwissenschaftliche bzw. anthropologische
Erklärungsansätze. Gegen Ende des
23
19. Jahrhunderts kam es zu einer
zunehmenden Integration der Psychiatrie in die Gesamtmedizin, insbesondere in die sich entwickelnde
Neurologie.
Emil Kraepelin (1856 bis 1926), Ordinarius für Psychiatrie in München, begründete eine Systematik psychischer
Erkrankungen auf der Basis der Beobachtung des Gesamtverlaufs. Der
Zürcher Professor für Psychiatrie und
Chefarzt an der Psychiatrischen Klinik
«Burghölzli», Eugen Bleuler (1857 bis
1939) führte, für die von Kraepelin
beschriebene «Dementia praecox»,
den Begriff «Schizophrenie» ein.
Karl Jaspers definiert 1913 den Kern der
Depression als eine «tiefe Traurigkeit»
und eine «Hemmung allen seelischen
Geschehens».
Die Krankheitssystematik, wie sie u.a.
von Kraepelin und Bleuler entwickelt
wurde, hatte massgeblichen Einfluss
auf die weitere Entwicklung der psychiatrischen Krankheitslehre, die seit
den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem psychiatrischen Teil der
«International Classification of Diseases – ICD», vereinheitlicht wurde. In
den USA wurde parallel das DSMSystem entwickelt, welches in Europa
mehr in Forschungsbereichen seine
Anwendung findet.
Sigmund Freud (1856 bis 1936), Arzt
für Neurologie und Psychiatrie, ausserordentlicher Professor in Wien, entwickelte um die Jahrhundertwende
des 19./20. Jahrhunderts seine Lehre
von unbewussten und neurotischen
Verarbeitungsprozessen, die Grundzüge der Psychoanalyse als Erklärungsansatz für neurotische Störungen, sowie als Therapieform.
Im Gefolge der Lehren von Pawlow und
Skinner, über die Konditionierbarkeit
bzw. das Erlernen von Verhaltensmustern, entwickelte sich eine lerntheoretische Psychologie, die psychische Störungen als Folge von Lernprozessen erklärte und mit der Verhaltenstherapie eine entsprechende
Psychotherapieform bereitstellte, die
heute noch zu den wichtigsten
Psychotherapiemethoden gehört.
Im 20. Jahrhundert gab es ganz
wesentliche Fortschritte in den somatischen Behandlungsmethoden,
welche die therapeutischen Möglichkeiten der Psychiatrie erheblich verbesserten und zunehmend zu einer
positiven Veränderung der Versorgung psychisch Kranker beitrugen:
Behandlung der progressiven Paralyse mit Fieberschüben durch Infektion
mit Malariaerregern, erstmals eingeführt durch Julius Wagner. Später Ablösung dieser Therapieform durch
24
Penicilinbehandlungen. (Die Fieberkurven mit welchen die damaligen
Malaria-Behandlungen dokumentiert
wurden, sind zum Beispiel im Museum
der Psychiatrischen Universitätsklinik
Zürich noch heute zu besichtigen.)
1933: Publikation der Insulin-KomaBehandlung durch Manfred Sakel;
diese Behandlungsmethode wurde
bis in die Ära der Psychopharmakotherapie fortgeführt, ist seither obsolet.
1937: Einführung der Elektrokrampftherapie durch Kerletti und Bini. Diese
noch heute erfolgreich eingesetzte
Behandlungsform bei therapieresistenten Depressionen hat zu unrecht
einen schlechten Ruf. Die Behandlungsform ist schonend, wird unter
anästhetischer Überwachung in Narkose und peripherer Muskelrelaxation
durchgeführt. Obwohl sie eine der
wirksamsten und sichersten psychiatrischen Behandlungsformen darstellt
und viele Patienten mit schweren – mit
Psychopharmaka nicht befriedigend
behandelbaren Depressionen – geholfen hat, ist sie eine der umstrittensten
Therapiemethoden und ruft ausserhalb der Psychiatrischen Fachkreise
grösstes Misstrauen und Angst hervor.
Das Stigma der EKT, das international
übrigens unterschiedlich ausgeprägt
ist, tut sein Übriges dazu, dass EKT für
viele Patienten und deren Angehörige
inakzeptabel ist.
Ab zirka 1950 Entwicklung der Psychopharmaka:
1949: Entdeckung des antimanischen Effekts von Lithium
durch Cade (lithiumreiche Quellen
wurden bereits bei den Römern
als stimmungsstabilisierende
Badekuren verordnet).
1952: Entwicklung von Chlorpromazine als erstes Neuroleptikum
durch Delay und Deniker.
1954: Entdeckung des Meprobamats als Anxiolytikum durch
Berger.
1957: Entdeckung des Imipramins
als Antidepressivum durch Kuhn.
Zunehmend gewann der biologische
Forschungsansatz in der Psychiatrie
an Bedeutung, eine Forschungsrichtung, die insbesondere in den letzten
40 Jahren weitgehend bestimmend
war. Es geht dabei um die Klärung
genetischer, neuropathologischer,
neurophysiologischer und neurochemischer Fragen. Derzeit werden insbesondere Hoffnungen in die Transmitter- und Rezeptorforschung, sowie
in die moderne molekulargenetische
Forschung gesetzt, mit der Zielvorstellung, die biologischen Grundlagen der
psychischen Erkrankungen weiter auf-
25
zudecken und darauf basierend, bessere Therapieansätze zu entwickeln.
Zur Zeit des Nationalsozialismus kam
es zu ungeheuren Gräueltaten in der
Psychiatrie, unter anderem durch
Zwangssterilisation und Ermordung
unzähliger psychisch Kranker. Auch in
der Schweiz gab es Zwangssterilisationen. Eine Übersichtsarbeit wurde in
jüngster Zeit durch Florance Droz,
unter der Leitung von Professor Daniel
Hell, an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, im Rahmen einer
Dissertation gemacht. Die Publikation
steht kurz bevor, und soll an dieser
Stelle nicht vorweggenommen werden.
Sich über Jahrhunderte aufrecht erhaltende Vorstellungen von psychischen
Erkrankungen als Strafe für sündhaftes Verhalten, die Verbrechen, welche
in psychiatrischen Kliniken während
des 2. Weltkrieges stattgefunden
haben, der Umstand, dass psychische
Störungen zu Verlusten oder Störungen von Kernkompetenzen (in Fühlen,
Erleben, Bewusstsein, Ich-Funktionen, soziale Interaktionsfähigkeit,
Kognition, Affekt) führen und gerade
Krankheitseinsicht manchmal fehlen
kann, was bei Selbst- oder Fremdgefährdung fürsorgerischen Freiheitsentzug und Zwangshospitalisationen/-behandlungen nötig werden las-
sen, erschüttert das Ansehen der Psychiatrie. Nur langsam gelingt es,
diesen Reputationsverlust auszugleichen. Imagepflege, Kommunikation
und Informationsvermittlung sind
heute zentrale Anliegen.
So werden denn heute auch die meisten Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen von Ärzten für Allgemeinmedizin behandelt und nicht vom
Facharzt (Brown; Schulberg. 1995;
Hirschfeld et al., 1997).
Für die psychische Gesundheit der
Bevölkerung ist es deshalb wichtig,
dass die in der Allgemeinpraxis angebotene psychiatrische Versorgung
einen hohen Standard hat. Denn durch
unzureichend behandelte und unerkannte psychiatrische Erkrankungen
steigen Morbidität, Mortalität und
Kosten. (Hirschfeld, 1997).
In diesem Bereich ist sicherlich Handlungsbedarf vorhanden, durch verstärktes Einbringen der Psychiatrie ins
Medizinstudium, in die Facharztausbildungen und die Weiterbildungen.
Ein wesentlicher Grund für die Unterbehandlung psychiatrischer Erkrankungen liegt wahrscheinlich auch in
der Stigmatisierung der Psychiatrie
und deren Erkrankungen (Lauber et al.
2000, 2001). Diese Stigmatisierung
mit Ängsten und vorgefassten fixen
Meinungen (auch bei den Angehöri-
26
gen medizinischer Berufe, nicht zuletzt unter der Ärzteschaft selber, ja
sogar unter Fachärzten der Psychiatrie
zu finden) führt zu mangelndem Wissen des aktuellen Stands der Wissenschaft hinsichtlich der Erkennung und
Behandlung psychischer Störungen.
Auf emotionaler Ebene scheinen wir
heute hinsichtlich psychiatrischer Erkrankungen immer noch stark durch
überholte und inadäquate Vorstellungen geprägt zu sein:
So ergab eine repräsentative Umfrage
in der Schweizer Bevölkerung, dass
depressive Erkrankungen immer noch
hauptsächlich als Folge von nicht bewältigten Lebensereignissen verstanden werden und erfolgreiche, wirksame Therapieformen der Psychiatrie
gar nicht in Betracht gezogen werden
(Lauber et al. 2002).
Die Studie legt erschreckenderweise
nahe, dass die wesentlichen, und
evidence-based auch erfolgreichen
Behandlungsformen der Psychiatrie,
von weiten Teilen der Bevölkerung
abgelehnt werden, ihr nicht bekannt
sind oder deren Indikationen in Bezug
auf Krankheitsbilder nur vage vertraut
sind, wenn solche überhaupt in Betracht gezogen werden.
Imagepflege der Psychiatrie und
durch die psychiatrischen Fachärzte,
Kommunikation auf vielschichtigen
Ebenen und Informationsvermittlung
der erfolgreichen und schonenden
Behandlungsformen sind heute ein
zentrales Public-Health-Anliegen und
im Rahmen von zunehmendem Kostendruck wichtiger denn je!
2. Gegenwart
Was beinhaltet die Psychiatrie?
Psychiatrie ist die medizinische Wissenschaft und fachärztliche Tätigkeit,
welche die Erforschung, Diagnostik
und Therapie psychischer Krankheiten
des Menschen umfasst. Dabei werden
in einem multidimensionalen Ansatz
und einem so genannten «biopsychosozialen» Verständnis biologische
und psychosoziale Faktoren und deren
Auswirkungen auf das psychopathologische Erscheinungsbild betrachtet.
Die Psychiatrie gliedert sich in vielfältige Untergebiete auf, so wird zum Beispiel unterschieden zwischen Erwachsenenpsychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gerontopsychiatrie, forensischer Psychiatrie, Psychopharmakologie, biologischer Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik.
27
Diagnostik
Neben der somatischen Untersuchung des Patienten, sowie den
klassischen bildgebenden Verfahren,
steht vor allem die Psychodiagnostik
im Vordergrund.
Im Gegensatz zur somatischen Medizin, wo der Arzt objektive körperliche
Befunde erheben kann, muss heute in
der Psychiatrie weitgehend noch indirekt vorangegangen werden. Die Veränderungen, die es zu erfassen gilt,
werden hauptsächlich durch Gespräche und genaue Verhaltensbeobachtung erfasst.
Krankheitssymptome, welche sich in
Form von Verhaltensauffälligkeiten
zeigen, sind der Beobachtung leichter
zugänglich. Viel schwieriger ist es,
Symptome zu erkennen, die sich vorwiegend auf der inneren Erlebensebene abspielen. Gestik, Mimik und
Bewegungsabläufe können dabei helfen, etwas über das innere Erleben
sagen zu können. Wiederum über das
Gespräch versucht man, Informationen über das Erleben eines Anderen
und seiner motivationalen Hintergründe zu bekommen. Zur Validierung der
so erhaltenen Information erfolgt die
Orientierung an der Indikatorfunktion
der Sprache und des Verhaltens. (Indikatoren sind vom Sprechenden unbeabsichtigte Mitteilungen, verbaler
oder nonverbaler Art, die der geübte
Untersucher erschliessen kann.)
Damit einhergehend ergibt sich in der
Psychiatrie eine wichtige Besonderheit: Gespräch und Verhalten werden
durch die Persönlichkeit des Untersuchers und durch die emotionale
Interaktion zwischen Patient und Arzt
mitgeprägt, sodass der auf Verhaltensbeobachtung und Gespräch basierende Untersuchungsprozess in
weit stärkerem Masse subjektiven
Beobachtungsinterpretationen ausgesetzt ist, als die meisten diagnostischen Prozesse in der somatischen
Medizin. Emotionale Ausgangsbasis
der Gesprächspartner, sowie die Interaktion zwischen Arzt und Patient nehmen auf den Gesprächsablauf und die
damit verbundenen Wahrnehmungsprozesse prägenden Einfluss.
Trotz dieser Besonderheiten ist die
Psychiatrie ein Teil der Medizin. Das
Besondere der Psychiatrie liegt gerade darin, dass Körperliches und
Psychisches als mögliche Ursachen für
psychopathologische Veränderungen
in gleichem Masse Berücksichtigung
finden.
28
Therapie
Die psychiatrischen Therapieverfahren sind vielfältig in ihrer Methodik.
Neben der Psychopharmakotherapie
werden Lichtbehandlungen, EKT
(Elektrokrampftherapie), Schlafentzug partiell oder ganz erfolgreich eingesetzt, je nach Indikation.
Die Psychotherapie beinhaltet die
Behandlung von Kranken mit psychischen Mitteln, insbesondere durch
Gespräche und übende Verfahren. Die
Methoden sind auch hier vielfältig. Die
wichtigsten Grundlagen der Psychotherapieformen bilden Tiefenpsychologie (Psychodynamik) einerseits und
Lern-/Verhaltenspsychologie andererseits.
Als besonders wichtig haben sich
im Rahmen des biopsychosozialen
Krankheitsverständnisses die Soziotherapien herauskristallisiert. Das
heisst, die Behandlung von Kranken
durch Milieufaktoren, Strukturierung
des Tagesablaufs, Interaktion im Rahmen von Gruppenprozessen, Beschäftigungs- und Arbeitstherapie.
Nicht verschwiegen werden soll aber,
dass trotz dieser positiven Entwicklungen, nach wie vor Handlungsbedarf
zur Optimierung der Versorgung
psychisch Kranker besteht. Sowohl
im ambulanten wie auch stationären
Bereich nehmen die Behandlungsbe-
dürfnisse konstant zu, was insbesondere, und gerade weil die Psychiatrie
ein psychisch interaktives Gebiet –
und deshalb enorm aufwendig in
Bezug auf Manpower – ist, bedeutet,
dass wir dringend fachlich geschulte
und von ihrer Persönlichkeitsstruktur
her reife, belastbare, interessierte und
innovative Ärzte benötigen.
Im Bereich zwischen stationärer und
ambulanter Behandlung gibt es noch
viel zu wenig qualifizierte Übergangseinrichtungen, (z. B. betreutes Wohnen, Tagesklinik) und auch adäquate
Versorgungsangebote für die wachsende Zahl psychisch kranker Alterspatienten müssen geschaffen werden.
Exkurs
Wie stehen wir zur Psychiatrie?
Neben steigendem Interesse für lange
vernachlässigte psychische Faktoren
hat die Psychiatrie unter ärztlichen
Kollegen ein zwiespältiges Image. Das
Besondere in der Psychiatrie liegt aber
auch in der Rolle des psychisch Kranken. Der psychisch Kranke wird in
unserer Gesellschaft noch immer ganz
anders gesehen als der körperlich
Kranke. Symptome einer psychischen
Erkrankung sind für viele schwer
verständlich, werden abgelehnt, als
29
schuldhaft interpretiert, oder gar als
gefährlich angesehen. Hilfe zu suchen
wegen psychischer Probleme ist für
einen Patienten meist viel problematischer, als die Inanspruchnahme ärztlicher Beratung wegen körperlicher
Beschwerden. Es fällt einem Patienten
oft sehr schwer, sich einzugestehen,
dass er psychische Probleme hat und
dass er sie nicht selbst lösen kann. Viele Patienten denken nicht daran, dass
hinter diesen «psychischen» Problemen nicht immer eine mangelnde
Bewältigung der Lebensschwierigkeiten, sondern häufig eine echte körperliche Erkrankung stecken kann. Es
braucht von ärztlicher Seite meist viel
Geduld und grossen zeitlichen Aufwand, dem Patienten – der in misstrauischer, ängstlicher Abwehrhaltung
steht – die auf mikrobiologischer und
zellulärer Ebene stattfindenden pathophysiologischen Mechanismen seiner
Krankheitssymptome anschaulich zu
erklären und ein Krankheitsverständnis zu erarbeiten und so eine Motivation zur Therapie zu entwickeln, die
auf Information und Wissen beruht.
Insbesondere völlig vom normalen
Denken und Erleben abweichende
Symptome, wie zum Beispiel Wahnideen oder Sinnestäuschungen, aber
auch Symptome depressiver Störungen versucht der Patient oft lange für
sich geheim zu halten, um die «Verrücktheit» seines Erlebens nicht nach
Aussen dringen zu lassen. Psychisch
Kranke müssen die Sorge haben,
durch Tabuisierungs- und Diskriminierungsprozesse aus den normalen gesellschaftlichen Beziehungen ausgeschlossen zu werden.
Auch hier sind wir mit emotionalen
Beurteilungsmechanismen konfrontiert, welche mit einer Stigmatisierung
einhergehen. Besonders tragisch wirkt
sich dies darin aus, dass der psychisch
Kranke nicht nur unter seinen Krankheitssymptomen leiden muss und er
aufgrund von Angst, Unwissenheit
und vorgefassten Meinungen, Therapiemöglichkeiten ablehnt, welche
grosse Vorteile in Bezug auf den Langzeitverlauf, das subjektive Wohlbefinden, die Leistungsfähigkeit usw.
bringen könnten, sondern er muss
zusätzlich, emotional hoch besetzte
Bewertungen seiner Krankheit erleben, welche mit Scham, Angst, Verzweiflung, Suizidalität, Einsamkeit,
Ausgrenzung und Ablehnung einhergehen.
Anschaulich zeigt sich dies z. B. im
Unterschied der persönlichen Betreuung von Seiten Angehöriger und
Bekannter, welche den verschiedenen Kranken entgegengebracht wird:
Während auf somatischen Stationen
30
Blumen, Geschenke und Karten geschickt werden, Familien, Kollegen
und Mitarbeiter anrufen und rege
Besuche stattfinden und der Kranke
einer breiten sozialen Akzeptanz und
Unterstützung begegnet, findet sich
auf einer psychiatrischen Station
kaum ein Gruss, ein Blumenstrauss
von Mitarbeitern, Freunden und es
fehlen die üblichen Pralinenschachteln, Karten und Glücksbringer von
Bekannten und Kollegen. Die Kranken
sind alleine und einsam. Oft schämen
sie sich, ihren Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik bekannt werden zu
lassen. Besuche finden kaum statt,
wenn, dann nur von Seiten engster
Angehöriger, wie Eltern oder Geschwister, die ebenfalls stark leiden.
Die Kranken, wie ihre Umgebung sind
irritiert durch die psychischen Krankheitssymptome und aufgrund der
Verunsicherung, die diese auslösen,
überlässt man die Patienten nicht selten sich selber und der Institution.
3. Zukunft
Forschung
In der psychiatrischen Forschung werden heute die grössten Anstrengungen unternommen, die biologischen
Mechanismen, welche den Funktionsstörungen des Gehirns bei psychiatrischen Erkrankungen zu Grunde liegen,
zu identifizieren und die Wirkungsweise therapeutischer Interventionen
zu analysieren. Ziel ist eine mehrdimensionale Erfassung und Charakterisierung psychischer Störungen auf
verschiedenen biologischen Ebenen:
genetisch, funktionell, strukturell,
elektrophysiologisch, biochemisch,
neurophysiologisch, usw.
Damit werden neben den indirekten
Untersuchungsmethoden direkte, objektivierbare, weniger vom Untersucher abhängige Methoden entwickelt.
Diese sollen und können die klinische
Exploration durch den erfahrenen Arzt
jedoch nicht ersetzen, sondern sollen
diesen vielmehr hilfreich unterstützen.
In der Folge seien nur zwei Gebiete im
Ansatz vorgestellt, aus dem weit umfassenden, lebendigen Forschungsbereich der Psychiatrie:
31
Neuro-Imaging
Strukturelle und funktionelle Bildgebungsverfahren haben das Wissen
über die Funktion des Gehirns im
Rahmen psychiatrischer Störungen
erweitert und bringen laufend neue
Erkenntnisse.
Brain-Imaging könnte dazu beitragen,
das Verständnis für psychiatrische
Erkrankungen zu revolutionieren. Mit
Beginn der 90er Jahre entwickelten
sich in der Magnetresonanztomographie, über die klassische Morphologie
hinausgehend, zunehmend neue
Möglichkeiten zum Studium der Physiologie, Biochemie und Funktion des
Zentralen Nervensystems (Braus;
Henn, 2002).
Bei seelischen Störungen liegen fundamentale Dysfunktionen auf unterschiedlichen Ebenen der neuronalen
Informationsverarbeitungsprozesse
mit konsekutiv verändertem Verhalten
vor. Die Psychopathologie kann dabei
als Veränderung in der Interaktion
neuronaler Netzwerke, bzw. unterschiedlicher neuronaler Subsysteme
verstanden werden (Spitzer M., 1997).
Mit Hilfe von MRI (MagnetresonanzImaging) und fMRI (funktionelles Magnetrestonanz-Imaging), SPECT(Single
Photon Emission Computerized Tomography) und PET (Positronen-Emissions-Tomographie) konnten Struk-
turänderungen, welche mit den klinischen Symptomen assoziiert werden,
dargestellt werden (Schnider, Treyer,
Buck, 2000). Vereinzelt gelang es auch
zerebrale Strukturänderungen darzustellen, welche einem klinischen
Krankheitsgeschehen vorausgehen.
Diese könnten somit als Frühindikatoren für gewisse Psychosen dienen
(Fannon et al. 2000a Nov.).
Unter Studienverhältnissen werden
funktionelle Techniken auch dazu
eingesetzt, Veränderung in den Stoffwechselaktivitäten verschiedener
Hirnareale unter Behandlungen zu
verfolgen. Dadurch konnten wichtige
Informationen aufgezeichnet werden,
auf welche Weise Psychopharmaka
die pathologischen Hirnfunktionen
verbessern können. Funktionelle Imaging-Techniken könnten in Zukunft
wertvolle Informationen liefern für die
Auswahl der geeigneten Therapieverfahren.
Gerade in der Erforschung der Krankheiten des schizophrenen Formenkreises konnten funktionelle MRI-Verfahren, die zentrale Rolle des Thalamus,
bei der Pathogenese zeigen (Ettinger
et al. 2001; Andreasen et al. 1997; Korn
et al. 2000).
Struktur-Imaging-Untersuchungen im
Frühstadium der Psychosen, konnten
die neuronale Entwicklungshypothe-
32
se der Schizophrenien unterstützen
(Fannon et al. 2000b Oct.) .
Die schizophrenen Störungen sind
wahrscheinlich die schwersten psychiatrischen Erkrankungen. Zirka 1%
der Bevölkerung erkrankt an schizophrenen Störungen Ende der Adoleszenz oder Anfangs des Erwachsenenalters. Die Erkrankungen persistieren für den Rest des Lebens und
gehen mit signifikanter Morbidität und
Behinderung einher. Die heute existierenden Therapien sind erst teilweise
effektiv, die Entwicklung spezifisch
greifender Therapiemöglichkeiten hat
hohe Priorität und wird intensiv vorangetrieben.
In der Schweiz findet u. a. unter der
Leitung von PD F. X. Vollenweider an
der Forschungsabteilung der PUK
Zürich, seit Jahren, eine international
mit Interesse verfolgte, psychiatrische
Forschung im Bereich von schizophrenen Psychosen statt (Vollenweider
1998; 1998; 2001).
Genetische Forschung
Die Möglichkeit, mittels Genanalysen
das Ansprechen auf Behandlungen
oder das Auftreten von möglichen
Nebenwirkungen spezifischer vorhersagen zu können, würde eine grosse
Erleichterung für den Patienten bringen und den Ärzten effektivere und
rationalere Behandlungsstrategien
ermöglichen.
Psychiatrische Erkrankungen haben
höchst wahrscheinlich multifaktorielle Ursachen und damit auch ihr
Ansprechen auf Behandlungen.
Wahrscheinlich basieren sie auf Interaktionen zwischen mehreren Genen
(polygenetisch) und dem sozialen
Umfeld und die Analyse der Zusammenhänge gestaltet sich dementsprechend komplex.
Die Pharmakogenetik untersucht diesen Einfluss des genetischen Polymorphismus auf die Pharmakodynamik
und -kinetik und versucht daraus das
Ansprechen auf medikamentöse Behandlung und das Nebenwirkungsprofil zu bestimmen.
Als Beispiel sei hier nur das Cytochrom
P450 erwähnt, welches in der Phase I
der Metabolisierung von Medikamenten involviert ist und daher von nicht
unwesentlichem Einfluss auf die Pharmakokinetik etlicher Substanzen ist.
Das Cytochrom P450 umfasst mehr als
30 Enzyme (Weber, 2001). Die Biotransformation der meisten Psychopharmaka ist von P450 Isoenzymen
abhängig (Chen et al., 1996). Unterschiedliche Enzym-Aktivität wirkt sich
wesentlich auf die Pharmakokinetik
der entsprechenden Medikamente
aus und muss oft in der klinischen
33
Therapie Berücksichtigung finden
(z. B. Dosisanpassung bei Slow- oder
Ultrarapid-Metabolisierern), um überhaupt eine Arzneimittelwirkung zu
erzielen oder um das Auftreten schwer
wiegender Nebenwirkungen zu verhindern. Gerade bei Medikamenten
mit einem schmalen therapeutischen
Fenster (z. B. Lithium) könnte die Pharmakogenetik wertvolle Informationen
liefern und prospektive, anstelle der
heutigen reaktiven Behandlungsstrategien ermöglichen.
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36
Psychische Krankheiten aus Sicht
des Privatversicherers
Karl Groner,
Chief Underwriting &
Compliance
«Zürich»
Versicherungs-Gesellschaft,
Zürich
Zusammenfassung
Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen hat in den letzten Jahren überproportional zugenommen. Der Trend
wird durch konjunkturelle Schwächephasen noch verstärkt. Diese Entwicklung verursacht Sozial- und Privatversicherern hohe Belastungen im Leistungsbereich. Der Artikel schildert,
wie private Versicherungsgesellschaften der Problematik begegnen. Er
schildert insbesondere die Aspekte
der Antragsprüfung und gibt Erläuterungen zur Einschätzung des Todesfall- und Erwerbsunfähigkeitsrisikos.
Einleitung
Gemäss IV-Statistik bezogen auf
Januar 2002 rund 73 000 Personen
eine Rente wegen psychischer Krankheiten. Dies sind 33% aller Rentenbezüger und im Vergleich zu 1986 fast
dreimal mehr. Im gleichen Zeitraum
nahm die Gesamtzahl der wegen
Krankheit (alle Ursachen) zugesprochenen Renten von rund 85 000 auf
157 000, also um «nur» zirka 85% zu.
Im Privatversicherungsbereich werden nach Ursachen aufgegliederte
Invaliditätsstatistiken sehr spärlich
publiziert. Nach übereinstimmenden
Aussagen von im Leistungsbereich
tätigen Spezialisten ist aber auch bei
den Privatversicherern eine ähnliche
Tendenz zu beobachten.
Es ist hinlänglich bekannt, dass die
Belastung des sozialen und privaten
Versicherungswesens in Zeiten konjunktureller Schwächephasen mit zunehmender Arbeitslosigkeit wächst.
Die Gründe dafür lassen sich nicht statistisch nachweisen. Unbestritten ist
aber, dass bei ungünstigen beruflichen Umständen und drohender
Arbeitslosigkeit die Renten von IV, BVG
und Privatversicherung attraktiver
Tabelle 1
Rentnerinnen und Rentner nach Invaliditätsursache und Geschlecht
in der Schweiz, Januar 2002
Invaliditätsursache
Männer
Geburtsgebrechen
15 000
Krankheit
93 000
– davon psychische Leiden 38 000
Unfälle
16 000
Total
123 000
Frauen
13 000
77 000
35 000
7 000
96 000
Total
27 000
170 000
73 000
23 000
220 000
Total in %
13
77
33
10
100
37
sind als die Taggelder der ALV, da
damit ein höheres und länger dauerndes Ersatzeinkommen garantiert ist.
Gewisse gesundheitliche Beeinträchtigungen, die lange keinen oder einen
nur unwesentlichen Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit hatten, werden plötzlich gravierend und beim Versicherer
als Grund für die Geltendmachung von
Versicherungsleistungen herangezogen. Auch in fraglichen Fällen bestehen oft gute Chancen für einen Rentenbezug, weil es für den Versicherer
oft schwierig ist, die ungenügende
Leistungsvoraussetzung nachzuweisen. Besondere Schwierigkeiten bestehen dabei im Zusammenhang mit
Leiden, die sich objektiv schlecht
nachweisen lassen. Als Paradebeispiele seien hier die Krankheiten des
Bewegungsapparates, insbesondere
Rückenbeschwerden, die psychischen
Störungen und generell psychosomatische Beschwerdebilder genannt.
Die folgenden Ausführungen beziehen
sich auf die Versicherungen gemäss
Versicherungsvertragsgesetz, also die
freiwilligen Versicherungen auf privater Basis, im Besonderen auf Lebensversicherungen, Renten bei Erwerbsunfähigkeit und Krankentaggelder.
Das Prinzip der Privatversicherung
besteht darin, dass sich verschiedene
Personen in einem Risikokollektiv zu-
sammenschliessen, um gemeinsam
mittels relativ bescheidener Beiträge den finanziellen Schaden zu
decken, den Einzelne durch Eintritt des
versicherten Ereignisses erleiden. Voraussetzung für das Funktionieren des
Systems ist, dass die Höhe des Risikos
statistisch berechenbar ist und dass
die Mitglieder des Kollektivs ein einigermassen identisches Risikoprofil
aufweisen. Wenn vor allem Personen
ins Kollektiv einträten, die ein überdurchschnittliches Risiko aufweisen
(Antiselektion genannt), würden die
Prämien zur Deckung der Schäden
nicht mehr ausreichen; sie müssten
erhöht werden. Dies würde auf gute
oder durchschnittliche Risiken abschreckend wirken. Ihr Austritt aus der
freiwilligen Versicherung wäre die
logische Folge, wie der über kurz oder
lang folgende Ruin der Versicherung.
Der Versicherungsgesellschaft kommt
die Aufgabe zu, das Kollektiv zusammenzuführen, die vereinbarten
Prämien zu kassieren, Schadensansprüche zu prüfen und zu befriedigen,
aber auch neue Mitglieder ins Kollektiv
aufzunehmen. Im Rahmen der Risikoprüfung wird dabei abgeklärt, ob der
Kandidat durchschnittliche Risikomerkmale aufweist, die eine Versicherung zu normalen Prämiensätzen
zulassen.
38
Bei erhöhten Risiken ist in den meisten
Fällen eine Versicherung gegen Mehrprämie möglich. Die Höhe der Mehrprämie basiert ebenfalls auf statistischen Grundlagen, vor allem auf jahrzehntelangen Beobachtungen grosser
Versichertenkollektive, ergänzt durch
Resultate anerkannter klinischer Studien, wobei auch die vorhersehbaren
Auswirkungen substanzieller medizinischer Fortschritte berücksichtigt
werden. Auf dieser Basis kann ziemlich präzise festgelegt werden, wie
stark die Sterblichkeit eines Kollektivs
mit Hypertonie, Diabetes oder anderen, statistisch ausreichend erfassten
Krankheiten, erhöht ist. Die in den später folgenden Ausführungen erwähnten Risikozuschläge sind jeweils in
Prozenten der reinen Risiko-Grundprämie zu verstehen.
Einiges schwieriger ist die Festlegung
von Risikozuschlägen in der Arbeitsresp. Erwerbsunfähigkeitsversicherung. Ursachenabhängige statistische
Unterlagen sind in diesem Versicherungszweig wesentlich spärlicher vorhanden. Mehrprämien können deshalb oft nur näherungsweise festgelegt werden. Die grösste Schwierigkeit
besteht aber darin, dass der Eintritt
des versicherten Ereignisses sehr
stark von der Persönlichkeit, der subjektiven Einstellung und dem privaten
und beruflichen Umfeld der versicherten Person abhängig ist. Identische
medizinische Zustände können bei
zwei verschiedenen Personen, je nach
deren Persönlichkeit, ihrer Einstellung
und dem sozioökonomischen Umfeld,
völlig unterschiedliche Auswirkungen
bezüglich Arbeits- und Erwerbsfähigkeit haben. Dies führt dazu, dass in
vielen Fällen eine Erwerbsunfähigkeitsdeckung zwar gewährt werden
kann, bestimmte vorbestehende Gesundheitsstörungen aber von der
Deckung ausgeschlossen werden
müssen. Hierbei stehen Erkrankungen
mit grosser subjektiver Komponente
im Vordergrund. Als Beispiele stehen
wiederum muskuloskelettale Erkrankungen sowie psychische und neurovegetative Störungen.
Versicherungsmedizinische
Ausgangslage
Psychische Erkrankungen sind heutzutage für eine erhebliche Morbidität
und Mortalität verantwortlich. Schätzungen zufolge sind z. B. in den USA
im Laufe eines Jahres 50 Millionen
Erwachsene von einer psychischen
Störung betroffen. In Deutschland
geht man davon aus, dass zirka 40%
der Patienten, die ihren Hausarzt aufsuchen, eine wesentliche psychische
Störung aufweisen. Wie auch Sozial-
39
versicherungsstatistiken zeigen, sind
diese für einen beträchtlichen Teil der
Erwerbsunfähigkeitsrenten und langfristigen Versorgungsansprüche verantwortlich.
Einige Betroffene, die eine schwere
psychische Störung durchgemacht
haben, genesen und können ihre früheren Aktivitäten wieder voll aufnehmen. Andere werden bereits unter
relativ geringen Belastungen für längere Zeit arbeitsunfähig. Die meisten
Erwachsenen sind von ihrer Persönlichkeit her ausreichend gefestigt, um
den Alltagsbelastungen standzuhalten. Allerdings reagiert der Einzelne
emotional ganz unterschiedlich auf
von aussen einwirkenden Stress. Es ist
daher schwer, genau festzulegen, was
noch als Spielart der «Norm» gilt und
ab wann von einer Störung zu sprechen ist. Bei einigen Menschen kommt
es jedoch zu einer klaren Persönlichkeitsstörung, die zu auffälligen Verhaltensmustern, abnormen emotionalen Reaktionen oder zu endogenen
emotionalen und mentalen Funktionsstörungen führt. Die starke subjektive
Komponente psychischer Störungen
stellt neben der hohen Inzidenz für
Rezidive eine erhebliche Herausforderung für die versicherungstechnische
Risikoprüfung dar.
Innerhalb von Litera F der ICD-10
Nomenklatur sind für den Privatversicherungsbereich mengenmässig vor
allem die affektiven Störungen (F30 –
F39) und die Belastungs-, somatoformen und neurotischen Störungen
(F40 – F49) relevant. Ich werde mich
deshalb in meinen Ausführungen auf
diese Krankheiten beschränken und
nicht auf organische psychische
Krankheiten, psychische Störungen
durch Drogenabusus, Persönlichkeitsund Verhaltensstörungen, Demenzerkrankungen usw. eingehen. Für letztere ist, wenn überhaupt, eine Todesfalldeckung oft nur zu stark erschwerten Bedingungen möglich. Die Versicherung der Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit muss meist abgelehnt werden. Ebenfalls nicht speziell eingehen
werde ich auf «moderne» Erkrankungen wie das Chronique Fatigue Syndrom, das Fibromyalgie Syndrom usw.,
deren Abgrenzung zur psychischen
Störung kontrovers diskutiert wird.
Informationsbeschaffung
Für die Aufnahme in eine Lebens-,
Erwerbsunfähigkeits- oder Taggeldversicherung muss der Antragsteller
in der Regel Auskunft über seinen
Gesundheitszustand geben. Bei kleineren Leistungen ist ein persönlich zu
beantwortender Fragebogen ausrei-
40
chend. Für höhere Summen ist eine
ärztliche Untersuchung notwendig,
die ebenfalls eine Befragung des Kandidaten beinhaltet.
Gemäss Versicherungsvertragsgesetz
ist der Antragsteller der Versicherungsgesellschaft gegenüber verpflichtet, alle «für die Beurteilung der
Gefahr erheblichen Tatsachen, so weit
sie ihm beim Vertragsabschluss bekannt sind oder bekannt sein müssen,
schriftlich mitzuteilen» (Art. 4 VVG).
Als erheblich gelten all diejenigen
Informationen, nach denen der Versicherer «in bestimmter, unzweideutiger» Weise fragt. Im Falle einer Falschdeklaration hat der Versicherer das
Recht, vom Vertrag zurückzutreten.
Da psychische Störungen und deren
Schweregrad naturgemäss oft sehr
subjektiv empfunden werden, ist eine
unmissverständliche Fragestellung,
die keinen Spielraum für Interpretation offen lässt, von grosser Wichtigkeit. Denkbar wäre z. B., dass die Frage
«Leiden Sie gegenwärtig an einer
Gesundheitsstörung?» verneint wird,
wenn eine Depression vom Hausarzt
gleichzeitig mit einer Hypertonie
medikamentös behandelt wird. Subjektiv könnte die Depression als Begleiterscheinung und die Therapie
als Zusatzmedikation zur Hypertonie
empfunden werden. Obwohl objektiv
eine Falschdeklaration vorliegt,
schützt die Rechtsprechung oft die
subjektiv als richtig empfundene
Deklaration des Versicherten. Die
meisten Versicherungsgesellschaften
stellen daher Fragen wie «Nehmen
oder nahmen Sie in den letzten 5 Jahren regelmässig Medikamente? Welche? Grund?» oder «Sind oder waren
Sie in den letzten 5 Jahren in psychiatrischer oder physiotherapeutischer
Behandlung?»
Psychische Störungen tauchen in den
Fragebogen und Attesten unter den
verschiedensten Bezeichnungen auf.
Neben Begriffen wie Überarbeitung,
Stress, Eheprobleme usw. sind auch
«ärztliche» Diagnosen wie vegetative
Dystonie, larvierte Depression o. ä.
anzutreffen. Der Risikoprüfer ist in solchen Fällen auf detailliertere Auskünfte angewiesen, die er – mit schriftlicher Einwilligung der zu versichernden Person – beim behandelnden Arzt
anfordert. Je nach Quelle sind solche
Auskünfte von unterschiedlicher Aussagekraft und gelegentlich für die Risikoeinschätzung kaum verwertbar.
Wenn keine Behandlung durch einen
Psychiater erfolgte, ist oft keine Diagnose gemäss ICD-10 oder DSM-IV
erhältlich. In solchen Fällen ist es
wichtig, eine möglichst umfassende
Beschreibung des Zustandsbildes,
41
des Verlaufs und des persönlichen
Umfeldes zu erhalten. Idealerweise
sollte eine ärztliche Auskunft folgende
Elemente umfassen:
Diagnose, wenn möglich mit ICD-10oder DSM-IV-Klassifikation.
Schweregrad und Dauer der Erkrankung und Angabe, ob die Episode
einmalig oder wiederholt aufgetreten ist.
Dauer seit letzter Episode.
Perioden von Arbeitsunfähigkeit.
Behandlung: Dauer der Hospitalisierung(en) und Dauer bzw. Typ der
ambulanten Behandlung. Timing
der medikamentösen Therapien,
Compliance. Wirkung der einzelnen
Therapien.
Aktueller psychischer Zustand;
ist/sind der/die auslösenden Faktoren noch vorhanden?
Positive Familienanamnese für psychische Erkrankungen oder Selbstmord.
Angaben zur beruflichen Tätigkeit,
zum Anstellungsverhältnis und zur
psychosozialen Funktionsfähigkeit.
Persönlichkeit und Bewältigungseigenschaften.
Familienstruktur und -beziehungen.
Jede/r Veränderung/Rückgang
der täglichen Aktivitäten in der
jüngsten Vergangenheit.
Verhaltensauffälligkeiten.
Assoziierte Erkrankungen.
Alkoholprobleme, Drogenkonsum.
Suizidversuche mit Datum.
Meist sind Informationen in diesem
Umfang und dieser Tiefe nicht erhältlich. Dies führt dazu, dass vorsichtige
Annahmen getroffen werden müssen,
die naturgemäss zu einer für den
Kandidaten ungünstigeren Risikoeinschätzung führen. Dies müsste nicht
sein! Als Folge der verstärkten Thematisierung und Enttabuisierung psychischer Krankheiten wird heute auch bei
kleineren Problemen viel schneller
ein Psychiater, Psychotherapeut oder
Psychologe aufgesucht als noch vor
10 oder 15 Jahren. In den Köpfen der
Risikoprüfer ist aber nach wie vor die
Meinung verankert, dass einer psychiatrischen Behandlung in der Regel
eine gravierende Störung zugrunde
liegt. Umfassende, detaillierte Informationen liegen also im Interesse des
Patienten, weil sie in einer Vielzahl von
Fällen einen eher günstigeren Annahmeentscheid erlauben.
Einschätzung des Todesfallrisikos
Das erhöhte Todesfallrisiko im Zusammenhang mit einer psychischen
Grunderkrankung ist im wesentlichen
auf die im Vergleich zu Gesunden
42
Tabelle 2
Suizid und psychiatrische Diagnosen
Psychiatrische Diagnosen bei Suiziden
Häufigkeit affektiver Störungen bei Suiziden*
Häufigkeit von Sucht (Alkohol, Drogen) bei Suiziden*
Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen bei Suiziden*
Lebenszeit-Risiko für Suizid bei Vorliegen einer Major Depression
Lebenszeit-Risiko für Suizid bei Vorliegen einer Schizophrenie
Lebenszeit-Risiko fürSuizid beiVorliegen einer Sucht
>90 %
40 – 70%
25 – 50%
30%
15%
10%
3%
* Komorbidität mit mehreren psychiatrischen Diagnosen ist häufig.
(Quelle: the International Handbook of Suicide and Attempted Suicide, K. Hawton, K. Van Heeringen (eds.)
chichester; Wiley & Sons: 2000)
erhöhte Suizid- und Unfallinzidenz
zurückzuführen. In über 90% aller
Suizide liegt eine psychiatrische Diagnose vor.
Nach einem Suizidversuch sollte gemäss GUM 1 während eines Jahres eine
Ablehnung ausgesprochen werden.
Unabhängig von der separat zu tarifierenden psychiatrischen Grunderkrankung, wird während der folgenden
5 Jahren ein Risikozuschlag von 5‰
der Todesfallsumme empfohlen, d. h.
man geht von der statistisch begründeten Annahme aus, dass von 1000
versicherten Personen mit identischer
Anamnese pro Jahr 5 an Suizid sterben. Nach 6 Jahren ist eine Normalannahme möglich. Voraussetzung ist,
dass es sich um einen einmaligen Versuch handelte und kein Kumul von
ungünstigen Faktoren vorliegt (siehe
Tabelle 2).
In der privaten Lebensversicherung
der III. Säule ist zwar der Suizid während der ersten 3 Jahre von der Versicherungsdeckung ausgeschlossen
(keine entsprechende Karenzfrist gibt
es in der beruflichen Vorsorge). Trotzdem werden die erwähnten Zuschläge
erhoben, da Suizide oft als Unfall getarnt werden und deshalb nicht oder
nur mit grossen Schwierigkeiten nachgewiesen werden können.
Bei psychiatrischen Diagnosen gemäss ICD10 F3 und F4 ohne bekannten
Suizidversuch empfiehlt das GUM in
der Regel
Normalannahme bei leichten
Störungen (bestehend oder anamnetisch.
43
Bei mittelschweren, rezidivierenden und schweren Störungen
gehen die Empfehlungen von der
Normalannahme (nach 1 bis 2
rezidivfreien Jahren) über Risikozuschläge von 25 bis 100 % bis zur
Ablehnung resp. Rückstellung.
Entscheidend ist die individuelle
Einschätzung, unter Berücksichtigung der prognostischen Faktoren
(siehe Tabelle 3).
Einschätzung des Arbeitsund Erwerbsunfähigkeitsrisikos
Die Rückversicherungsgesellschaften
sind bemüht, den Erstversicherern
auch auf dem schwierigen Gebiet der
psychischen Erkrankungen Richtlinien
für die Deckung des Erwerbsunfähigkeitsrisikos zu geben. Nachstehend
einige Beispiele aus dem GUM:
Tabelle 3
Prognostische Faktoren
Günstige Merkmale
Ungünstige Merkmale
Stabile private und berufliche
Verhältnisse
Keine offensichtlichen Ehe- oder
Familienprobleme
Keine bekannte Sucht
Einsichtigkeit in die Erkrankung
Keine körperliche Grunderkrankung
Instabile berufliche Verhältnisse
Blande Familienanamnese
für psychische Erkrankungen
Diagnosestellung liegt lange zurück
Unauffällige und stabile Persönlichkeitsmerkmale
Gute soziale Einbindung
Auslösende Ursache bekannt
und behoben
Ehe- und Familienprobleme,
finanzielle Probleme
Alkohol-/Drogenmissbrauch
Uneinsichtigkeit
Körperliche Erkrankungen,
insbesondere wenn sie chronische
Schmerzen verursachen oder
die Aktivitäten stark einschränken
Positive Familienanamnese
für psychische Störungen
Diagnosestellung liegt erst kurz zurück
Verhaltensauffälligkeiten einschliesslich Gewaltbereitschaft
Beruflich bedingter Druck
Frühere Suizidversuche, Aufsuchen
vieler Ärzte («Doktor-Shopping»)
1 GUM: Global Underwriting
Manual der Schweizer Rück.
Grosse Rückversicherungsgesellschaften stellen im Rahmen ihrer Dienstleistungen
den Erstversicherern Richtlinien für die Risikobeurteilung der meisten in einer
gewissen Häufigkeit auftretenden Krankheiten zur Verfügung. Da für die Erstellung
solcher Richtlinien grosse
Datenbestände ausgewertet
werden müssen, wären Erstversicherer meist nicht in der
Lage, selber entsprechende
Einschätzungshilfen zu erstellen. Führende Rückversicherer
verfügen meist über spezialisierte Teams, bestehend aus
Ärzten und Statistikern, deren
primäre Aufgabe es ist, Tarifierungsgrundlagen zu erarbeiten und die Erstversicherer bei
ihrer Einschätzungsaufgabe
zu unterstützen.
44
Belastungs- und Anpassungsstörungen (ICD F43)
Einmalige, leichte Episoden:
Rückstellung oder Ausschlussklausel im 1. Jahr nach Behandlungsabschluss. Normalannahme ab 4. Jahr
nach Behandlungsabschluss.
Dazwischen 25 – 100% Zuschlag.
Mittelschwere und schwere
Episode:
Rückstellung 1 – 3 Jahre nach
Behandlungsabschluss.
Anschliessend Ausschlussklausel
plus Risikozuschlag von zirka 100%.
Ab 6. Jahr 50% Zuschlag, in ausgewählten Fällen Normalannahme.
Bei chronischen und rezidivierenden
Erkrankungen wird die Ablehnung
empfohlen.
Somatoforme Störungen (ICD F45)
Voraussetzung für die Risikoeinschätzung somatoformer Störungen ist,
dass eine organische Ursache für
die vom Patienten geschilderten Beschwerden ausgeschlossen werden
kann.
Leichte und mittelschwere Formen:
Rückstellung in den ersten
2 – 5 Jahren nach Behandlungsabschluss.
Anschliessend Risikozuschlag
von 50 – 100%.
Bei schweren Formen ist erst zirka
10 Jahre nach Behandlungsabschluss ein Angebot mit Risikozuschlag möglich.
Von der Verwendung von Ausschlussklauseln wird abgeraten, da bei einer
allfälligen Anspruchsbegründung die
somatischen Beschwerden in den
Vordergrund gerückt werden und es
dem Versicherer nicht immer möglich
sein wird, ihre psychische Ursache
nachzuweisen.
Affektive Störungen (ICD F3)
Die Minor Depression wird je nach
Ausprägung 1 – 5 Jahre nach
Behandlungsabschluss zurückgestellt. Anschliessend wird die
Annahme mit 50 – 100% Risikozuschlag empfohlen.
Bei Zyklothymien und Dysthymien
sind Rückstellungsfristen von
2 – 10 Jahren angezeigt.
Für Schwere Depressionen und
bipolare Störungen kann erst zirka
10 Jahre nach Behandlungsabschluss an ein Angebot mit Risikozuschlag gedacht werden.
Die Praxis der Versicherungsgesellschaften ist tendenziell zurückhaltender als von den Rückversicherungsgesellschaften empfohlen. Hauptgründe
45
sind die meist nicht in eindeutiger
Form vorhandenen Diagnosen, von
Arzt zu Arzt abweichende Diagnosen
und die oft mangelhaften Informationen über die prognostischen Faktoren
samt psychosozialem und sozioökonomischen Umfeld. Diese Unsicherheitsfaktoren veranlassen viele Versicherer, Antragsteller mit psychiatrischer Diagnose von der Arbeits- und
Erwerbsunfähigkeitsdeckung auszuschliessen. Ein Teil der Gesellschaften
verwendet Ausschlussklauseln die,
angesichts der geschilderten Informationsmängel, meist sehr umfassend
formuliert sind.
Beispiel: Arbeits-/Erwerbsunfähigkeit, verursacht durch psychische
Erkrankungen samt medizinisch
nachweisbaren Folgen, ergibt kein
Anrecht auf Taggelder und Renten.
Es ist offensichtlich, dass eine solche
Klausel in den meisten Fällen zu weit
gefasst ist. In der Regel wäre eine Einschränkung im Rahmen der Ziffern F3
und F4 (ICD 10) ausreichend.
Es ist fraglich, ob angesichts der steigenden Schadenzahlen und dem sich
verschlechternden wirtschaftlichen
Umfeld eine grössere Risikobereitschaft von den Gesellschaften gefordert werden kann. Detaillierte medi-
zinische Auskünfte, unter Verwendung eines der anerkannten Diagnoseschlüssel wären sicherlich ein
erster Schritt zu einer differenzierten,
risikogerechten Einschätzung des Einzelfalles.
46
Die Reintegration der psychisch
Kranken in die Arbeitswelt
Dr. Jakob Bösch,
Externe Psychiatrische
Dienste Baselland,
Bruderholz
Petra Wildemann,
Aktuar SAV/DAV,
Industry Service Leader
Insurance and Banking,
IBM Schweiz, Zürich
Zusammenfassung
Im Bereich der Berufs-/Arbeitsunfähigkeit sind die Langzeitkosten
enorm und steigen exponential je länger eine Berentung in Anspruch genommen wird. Modelle werden notwendig sein, um den einzelnen bei der
Reintegration nach aussergewöhnlichen Schicksalsschlägen, wie Unfällen, Mobbing oder Krankheit zu unterstützen, ziel- und kostengerecht Leistungen zu zahlen und zukünftige Schäden zu vermeiden. Dabei vergessen
wir, dass ein Grossteil der Betroffenen
durch chronische Leiden noch zusätzlich aus dem sozialen Kreislauf
herausfallen kann. Medizinische und
technische Möglichkeiten, verbunden
mit Modellen, die Lernprogramme
beinhalten, die auf Individualität unter
der Nutzung der heute technischen
Möglichkeiten beruhen, sind gefragt.
Gerade die heutigen Möglichkeiten,
Technik, Kommunikation und Individualität zu vereinen, bieten zu diesem
so schwierigen und komplexen Thema
eine Gesamtlösung, die Problematik
anzugehen und Lösungen aufzuzeigen.
1. Einleitung
Die Zahl der Menschen, die wegen
chronischer Leiden berentet werden
müssen, ist in der Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten um mehrere hundert Prozent gewachsen; besonders
drastisch ist der Anstieg bei den tieferen Altersgruppen. Die psychischen
Leiden und die chronischen Schmerzprobleme führen die Diagnosegruppen an. Das vorzeitige Ausscheiden
aus der Arbeitswelt wegen psychischer Störungen hat inzwischen einen
Anteil von fast einem Drittel aller Berentungen erreicht. Gleichzeitig nimmt
die Zahl derjenigen, die wieder ins
Arbeitsleben integriert werden können, kontinuierlich ab.
Die Medizin und insbesondere die Psychiatrie befindet sich in einer widersprüchlichen Situation. Die Ursachen
für diesen Notstand werden hauptsächlich in den Bedingungen der Wirtschaft, in den Strukturen der Versicherungssysteme und der Entwicklungen
der Gesellschaft gesehen. Trotzdem
ist die notwendige Partnerschaft mit
Arbeitgebern, Versicherern und dem
Umfeld der von Krankheit oder Behinderung Betroffenen zur Korrektur der
geschilderten Entwicklung ungenügend erfolgt. Anscheinend werden
die Möglichkeiten des medizinischen
Systems für die Aufgaben der Arbeits-
47
platzerhaltung und der Reintegration
in die Arbeitswelt überschätzt und es
wird zu ausschliesslich auf die Wirkung der hauptsächlich medizinischtherapeutischen Massnahmen vertraut. Oft werden die ungünstigen Entwicklungen sogar durch eine Reihe
iatrogener Faktoren unterstützt. Besonders betrüblich ist die Zunahme
psychisch behinderter und berenteter
Menschen trotz eines rasant ansteigenden Psychopharmakaaufwandes,
beispielsweise mit Verdoppelung der
Kosten für Antidepressiva innerhalb
von fünf Jahren und trotz einer ständigen Zunahme des psychiatrischen
und psychotherapeutischen Behandlungsangebotes. Neue Methoden der
Behandlung und neue Modelle des
Krankheits- und Behinderungsmanagements sind gefragt. Aber auch neue
Wege mit Einsatz der Technologie für
das Wohlbefinden der Betroffenen
sind Teil des Gesundungsprozesses.
Insbesondere muss erkannt werden,
dass die Kranken oder die Behinderten, die Therapierenden, die Versicherer und letztlich auch die Arbeitgeber
die gleichen Interessen haben, nämlich die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit
der Hauptpersonen in diesen Dramen.
Nicht arbeiten können ist bekanntlich
die am meisten belastende Arbeitssituation. Und auch wenn die Krank-
schreibung oder Berentung für Arbeitgeber kurzfristig finanziell entlastend
erscheint, so werden sie doch in Form
steigender Sozialabgaben unweigerlich wieder zur Kasse gebeten und die
zukünftigen Kosten sind heute noch
gar nicht abzuschätzen.
Im Folgenden werden Erkenntnisse
aus hoffnungsvollen und erfolgreichen Projekten zur Arbeitsplatzerhaltung und Reintegration bei chronischer Behinderung aus anderen Ländern diskutiert. Es handelt sich hauptsächlich um das St Loye’s Transformations Project aus England (1) sowie um
Disability Management Programme
aus Kanada (2, 3) und die schon eher
bekannten Arbeiten zu einem interdisziplinären Pain Management (4). Ein
eigenes Modell, das Care Network
Solutions Projekt, wird vorgestellt.
2. Eine Erfolgsstory
Das St Loye’s Transformation Project
(UK) startete im Herbst 1998 als Pilotversuch und wurde aufgrund des Erfolges nach einem Jahr verlängert und
ausgeweitet. Kernstück des Projektes
war ein unentgeltlicher Beratungsservice für Arbeitgeber, Arbeitnehmer
und Jobsuchende, wenn aufgrund von
Gesundheits- oder Behinderungsproblemen von Arbeitnehmenden der
Arbeitsplatz gefährdet oder schon ver-
48
loren war. Es war von Anfang an das
Ziel die Synergien zwischen den bestehenden Diensten und dem St Loye’s
Transformation Project voll zu nutzen.
Ein besonderes Augenmerk wurde auf
die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Leistungsträgern gelegt.
Bekanntlich sind dies die Schwachstellen im ganzen Servicenetz.
St Loye’s Transformation Project bot
einen zeitlich begrenzten, flexiblen
aber umfassenden Beratungsdienst
an mit dem Focus auf der Arbeitsfähigkeit. Die Auswertung der ersten
110 Beratungsfälle, 25% bei Beratungsbeginn ohne Arbeitsplatz, zeigte
59% in stabiler Arbeitssituation, 34%
in laufender Beratung und nur 7%
Dropouts. Eine endgültige Platzierung
von etwa 90% wurde als realistisch
eingeschätzt. Bei Investitionskosten
von £ 400 000 wurde eine Ersparnis
von mindestens 10 Mio Pfund errechnet. Dieser zunächst erstaunliche
Betrag wird verständlich, wenn man
bedenkt, dass auch in der Schweiz
jede vorzeitige, krankheitsbedingte
Berentung im Durchschnitt für Versicherer und Allgemeinheit mindestens
1 Mio Franken kostet.
Die Zeit vom ersten Kontakt bis zum
allseits akzeptierten Aktionsplan betrug im Schnitt einen Monat und
5,1 Monate vom Erstkontakt bis zur
stabilen Arbeitssituation. Die Klienten
kamen hauptsächlich durch Medienarbeit, Inserate und Mund-zu-MundPropaganda; das heisst,es waren 45%
Selbstanmelder, während 35% vom
Arbeitgeber gemeldet wurden. Es fanden kaum Überweisungen durch Ärzte
und Gesundheitsdienste statt. Der
Kontakt zu den Arbeitgebern wurde
entscheidend für den Erfolg der Platzierung. Die beratenden Klienten mit
erhaltenem Arbeitsplatz und kurzdauernder Behinderung waren – wie
allgemein bekannt – stärker arbeitsbereit als die schon länger von der
Arbeit ausgeschiedenen. Letztere benötigten grösseren beraterischen und
damit finanziellen Aufwand. Von allen
Klienten hatten 39% ihre Behinderung
weniger als ein Jahr, 55% weniger als
zwei Jahre und 77% weniger als fünf
Jahre.
Die Wiedereingliederung oder die
Arbeitsplatzerhaltung waren bei grossen Arbeitgebern erfolgreicher als bei
mittleren und kleinen. Dabei war es
wichtig, dass der Kontakt nicht hauptsächlich mit den Linienverantwortlichen sondern auf der Managementstufe gepflegt wurde. Die Linienverantwortlichen sind nach den Autoren
zu sehr auf Kostenersparnis und Effizienz ihres Verantwortungsbereiches
konzentriert und können die Kosten
49
des Arbeitsausfalls bei Ausscheiden
schlecht kalkulieren, noch weniger als
die Wiederbeschaffungs- und Einarbeitungskosten für eine erfahrene
Arbeitskraft und ebenso wenig die
Kosten steigender Versicherungsprämien bei unaufhaltsam wachsender
Berentungszahl. Aufgrund der unterschiedlichen Strukturen und Gesetzesgrundlagen im Versicherungswesen, können Modelle aus anderen Ländern nur in adaptierter Form auf die
Schweiz übertragen werden. Case
Management wird bereits für spezifische Krankheiten und Unfälle angewendet, insbesondere bei den Haftpflichtversicherungen, wo man nach
ausländischem Vorbild das «deny and
defend» durch «accept und assist»
ersetzt. Man hat erkannt, dass Verunfallte, die jahrelang um Schadensanerkennung kämpfen müssen, nicht
gesund und wiedereingliederungsfähig werden können, sondern meist in
Frustration und Wut oder Depressionen gefangen sind.
3. Vernetzen und Zeit gewinnen
im medizinischen Bereich
Gemäss mehreren Studien in verschiedenen Ländern der industrialisierten
Welt beträgt die Rate psychischer
Störungen während eines Jahres 20
bis 30%. Die Wahrscheinlichkeit, wäh-
rend des ganzen Lebens an einer psychischen Störung zu erkranken, wurde
auf 40 bis 50% errechnet. Aufgrund
der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte muss man annehmen, dass der
Ausbau der Versicherungen und der
Ausbau der medizinischen und psychiatrischen Versorgung an der überproportionalen Steigerung der Berentungen wegen Störungen der Psyche
und des Bewegungsapparates, die zusammen 70% der Renten ausmachen,
mitbeteiligt sind. Dies nicht wegen
schlechter Arbeit der Einzelnen, sondern wegen der fragmentierten Abläufe und der arbeitsteiligen und nicht
vernetzten Bemühungen der einzelnen Akteure, die die übergeordnete
Zielsetzung der Arbeitsintegration
nicht genügend ins Zentrum stellen
und oft aus den Augen verlieren.
Beispiel 1: Ein 55-jähriger Bauzeichner mit Nachdiplomstudium, über
20 Jahre in der gleichen Firma tätig,
wird mit einer Terminarbeit überfordert. Trotz grossem Mehreinsatz
schafft er die Arbeit nicht zum gewünschten Termin. Es kommt zu einer
gespannten Aussprache, der Patient
erleidet einen «Nervenzusammenbruch» und wird krank geschrieben. Er
befürchtet, die Kündigung zu bekommen, wenn er gesund an den Arbeits-
50
platz zurückkehrt. Die zugezogene
Physiotherapeutin listet eine A4-Seite
voll von Schmerz- und Spannungssymptomen auf. Eine depressiv gefärbte Angststörung kann unschwer
festgestellt werden. Nach fünfmonatiger Arbeitsunfähigkeit, in der kein
Kontakt mit dem Arbeitgeber stattgefunden hat, wird der Patient in die Psychiatrie überwiesen mit dem Wunsch
nach IV-Anmeldung und Begutachtung.
Die Angst vor Kündigung hindert diesen Patienten daran, gesund zu werden. Fünf Monate Entfernung von der
Arbeit sind für die Wiedereingliederung bei Patienten in der Regel prognostisch nicht mehr optimal aber
auch nicht schlecht. Den Arbeitgeber
bringt der nicht terminierte Ausfall
einer qualifizierten Kraft über Monate
in vielen Fällen bereits in Schwierigkeiten, so dass seine Bereitschaft für
Übergangslösungen und Eingliederungsmassnahmen vor allem bei der
oft fehlenden Kommunikation sinkt.
Übliche psychiatrische Behandlung
hilft in solchen Fällen eher den Krankheitsprozess zu festigen und die Fokussierung auf die Symptome zu verstärken als den Patienten wieder einzugliedern. Auch wenn bezüglich Berentung ein abschlägiges Gutachten
erstellt wird, bringt der Zeitbedarf für
Abklärungen und Entscheide eine
weitere Absenz vom Arbeitsplatz im
günstigsten Falle von sechs und in
weniger günstigen Fällen bis 24 Monaten, die die Wiedereingliederungsfähigkeit des Mannes derart verschlechtern, dass schliesslich tatsächlich nur
noch die Berentung in Frage kommt.
Der bei uns verbreitete, leider selbst in
der Sozialpsychiatrie vorherrschende
Grundsatz: «Erst Gesundung, dann
Arbeitsaufnahme oder erst Rehabilitation, dann Platzierung» muss ersetzt
werden durch die Lösung «Arbeit in
der richtigen Dosierung ist die beste
Therapie» oder anders gesagt, die
Arbeits-Rehabilitierung kann nur am
Arbeitsplatz erfolgen. Gerade psychiatrische Rehabilitationseinrichtungen
sind in besonderer Gefahr das Verschwinden von Symptomen mit und
ohne Behinderungswert zu sehr zu
fokussieren und die vorhandenen
Ressourcen zu übersehen.
Beispiel 2: Ein knapp 20-jähriger
Mann erleidet eine Psychose, die mit
psychiatrischer Hospitalisation und
hochdosierter Neuroleptikamedikation behandelt wird. Es wird eine Rehabilitation in einer sozialpsychiatrischen Tagesklinik und an einem geschützten Arbeitsplatz eingeleitet.
51
Wegen der anscheinend fehlenden
Motivation werden so genannte schizophrene Negativsymptome diagnostiziert und die von Patient und Angehörigen gewünschte Medikamentenreduktion verweigert. Aufgrund der
ärztlichen Berichte verliert der Patient
seine Lehrstelle, ohne dass ein direkter Kontakt zwischen Arbeitgeber und
Rehabilitationsverantwortlichen
stattgefunden hätte. Die psychiatrische Institution drängt auf IV-Anmeldung, die schliesslich erfolgt, obwohl
der Patient weiter auf die normale
Absolvierung einer Lehre drängt.
Schliesslich gelingt es dem Vater des
Patienten, für diesen eine 14-tägige
Schnupperlehre zu organisieren. Die
dortige Leistungsbewertung fällt gegenüber der psychiatrischen weitaus
positiver aus und der Patient kann
bald mit einer neuen Lehre beginnen
und die Medikamentendosis wird
ohne irgendeinen Nachteil auf einen
Bruchteil verringert.
Beim jetzigen Stand der Ausbildung
müssen sich die in der Psychiatrie Tätigen bewusst werden, dass sie Fachleute für geschützte oder beschützende Arbeitsplätze sind, nicht aber für
die Wiedereingliederung und Arbeitsplatzerhaltung in der freien Wirtschaft.
Art und Ausprägung von Krankheits-
symptomen oder Behinderungen
haben nur bedingt mit den Wiedereingliederungsmöglichkeiten zu tun. Das
jahrelange intensive Training zum Erkennen und Klassifizieren von Krankheitssymptomen verschleiert oft den
Blick für die gesunden Anteile der
Kranken und die Distanz zu den Arbeitgebern ist üblicherweise zu gross für
eine erfolgreiche Arbeitsreintegration.
Dadurch entsteht ein unbewusster
Trend, die Menschen an die Institutionen zu binden. Neulinge in der Rehabilitation wollen oft wieder arbeiten, wie
Forschungen zeigen, aber die Betreuer
sind dagegen, aus Angst, die Betreuten würden sich überfordern.
4. Je länger die Rehabilitationsdauer, umso weniger trauen sich die
Betroffenen zu
Je länger die Rehabilitationsdauer –
fern von einem Arbeitsplatz – wird,
umso weniger trauen die Betroffenen
sich diesen Schritt in die Arbeit und
Autonomie zu, während sie dann von
Betreuern gedrängt werden. Auch
nimmt während der Rehabilitation der
Prozentsatz der in der freien Wirtschaft Tätigen drastisch ab und beträgt am Ende noch 5%. Für die
Wiedereingliederung braucht es zusätzliche Partner, beispielsweise Case
Manager, die die Erhaltung des Ar-
52
beitsplatzes zu ihrer Hauptaufgabe
machen. Nochmals sei betont, wie
wichtig es ist, die Symptombeseitigung und mögliche Rückfallverhütung
zurückzusetzen und die Erhaltung der
Arbeits- und Ausbildungsfähigkeit
ganz in den Vordergrund zu stellen,
was auch automatisch die Lebensqualität der Betroffenen erhöht. Dazu gehört ein vorsichtiger und sparsamer
Einsatz von Psychopharmaka. Bei der
heute üblichen Verschreibungspraxis
können oft schon mit einer Medikamentenreduktion entscheidende Besserungen erreicht werden.
Beispiel 3: Eine 58-jährige Frau war
wegen paranoider Ideen, für die unterschiedliche Diagnosen herangezogen
wurden, innerhalb von 17 Jahren drei
Mal psychiatrisch hospitalisiert worden. Die vierte Hospitalisation erfolgte bereits 1 1/ 2 Jahre nach der dritten.
Unter dem Eindruck sich häufender
Krisen wurde der Einsatz eines Depotneuroleptikums beschlossen. Kurz
nach der Wiederaufnahme ihrer Arbeit
wurde der Patientin gekündigt. Der
sozial eingestellte Arbeitgeber bemängelte bei der früher immer gepflegten Dame Verwahrlosungstendenzen, was bei dem notwendigen
Kundenkontakt nicht tragbar war. Die
Patientin regredierte massiv, verlor
jede eigene Initiative und konnte nur
noch mit intensiver Spitexhilfe zu
Hause gehalten werden. Erst das Absetzen des Depotmedikamentes nach
einem Jahr anlässlich eines psychiatrischen Konsiliums und der Einsatz
einer geringen Dosis eines anderen
Neuroleptikums veränderte die Patientin vollkommen. Sie wurde wieder
aktiv, gesprächig und unternehmenslustig. Die inzwischen ausgesprochene volle IV-Rente blieb allerdings
bestehen.
Bei diesem Beispiel muss von einem
iatrogenen Arbeitsplatzverlust ausgegangen werden. Die heutigen psychopharmakologischen Behandlungen
zeichnen sich oft durch zu hohe Dosierungen, zu seltene Reduktionsversuche und – bei trotz Medikamenten
erneuten Krisen – übermässige Dosissteigerungen und Mehrfachkombinationen aus und haben auf die Arbeitsund Ausbildungsfähigkeit einen ungünstigen Einfluss, wie das folgende
Beispiel besonders deutlich zeigt.
Beispiel 4: Ein 16-jähriger Schüler
leidet an Verstimmungen und Lernblockaden. Er erhält verschiedenste
Antidepressiva und schliesslich auch
Gesprächspsychotherapie. In einer
psychopharmakologischen Spezial-
53
sprechstunde wird ihm das zehnfache
der Normaldosis eines Antidepressivums verschrieben. Ein GrandmalAnfall führt zur zusätzlichen Applikation eines Antiepileptikums und
zum Verlust der Fahrtauglichkeit.
Zunehmender Rückzug und Inaktivität
machen schliesslich eine psychiatrische Hospitalisation notwendig. In der
Privatklinik senkt man das Antidepressivum auf das 3-fache der Normaldosis. Mit Verhaltenstherapie erlernt
der Patient, seinen Bewegungsspielraum wieder zu erweitern, wie alleine
zu reisen, sich mit Gleichaltrigen zu
treffen usw. Nach der Klinikentlassung
wird «zur Stabilisierung des Erfolges»
in der Spezialsprechstunde die Antidepressivadosis wieder auf das 16fache gesteigert mit geschütztem
Wohnen und Arbeiten, wobei der
Patient wegen Kopfdruck und ständiger Müdigkeit nur wenig einsatzfähig
ist. Der inzwischen 20-jährige Patient
erhält eine IV-Rente. Nach einem von
den Eltern eingeleiteten Arztwechsel
wird die Medikation gezielt abgebaut.
Der Patient nimmt seine sportlichen
Tätigkeiten inklusive Wettkampfsport
und seine Hobbies wieder auf, reist
alleine in die USA und kann schliesslich eine anspruchsvolle Ausbildung
beginnen.
Gerade die jungen Menschen haben
heute einen ganz anderen Zugang zu
den neuen Medien und den technischen Möglichkeiten, die uns gegeben
sind. Dies sollten wir bei der Gesundung effektiv einsetzen und nutzen.
Schon während der Therapie können
gezielte Kommunikation durch die Vernetzung mit Gleichaltrigen im Internet
oder über spezifisch ausgewählte
Kanäle die Gesundung erheblich verbessern. Hobbies, die unterstützt werden mit technischen Umsetzungen,
können gefördert werden. Reisen in
die USA können schon im Vorfeld in
einem dedizierten Kommunikationsumfeld bei der Vorbereitung helfen.
Ähnlich wie das Beispiel eines jungen
Mannes aus Indien, der seit seiner
Geburt an Erblindung leidet und mit
Hilfe der IBM eine Tätigkeit als Programmierer aufnehmen konnte, können auch viele andere Jugendliche
eine Chance erhalten, wenn das Umfeld diese ihnen schaffen kann (siehe
Artikel in der Schweizer Versicherung
vom Juni 2002, von Petra Wildemann).
5. Hauptziel ist die Erhaltung
des Arbeitsplatzes
Die Sozialpsychiatrie kann neue Kraft
gewinnen durch den engeren Zusammenschluss mit Versicherungen
und mit der Wirtschaft. Feindbilder
54
müssen dazu abgebaut werden. Nach
Sokoll (5) kann das Disability Management (DM) bei Depressionen stark an
das Sherbrooke Modell für die Rehabilitation bei Rückenschmerzen angelehnt werden. Bei gleichzeitiger
Arbeitsplatz-Intervention neben der
medizinischen Behandlung soll die
Rückkehr an den Arbeitsplatz im
Schnitt 2,4-mal schneller erfolgen als
bei der üblichen nur medizinischen
Behandlung. DM enthält Erste Hilfe
und Behandlung der akuten Erkrankung aber auch einen Vernetzungsservice in der medizinischen Rehabilitation. Das Hauptziel ist die Vermeidung der Langzeitbehinderung. Die
versicherte Person sollte in die Rolle
geleitet werden, ihr eigener Manager
zu werden, mit der entsprechenden
Verantwortung für Gesundheit und
Arbeitskraft. Dies kann durchaus auch
Zusammenarbeit mit Patienten-Organisationen bedeuten. Die Steuerung
der Rehabilitation von oben nach unten scheitert in der Regel. Die besten
Prädiktoren für eine rasche und nachhaltige Rückkehr an den Arbeitsplatz
sind:
Anhaltende Zustandsverbesserung.
Sicherheit des Arbeitsplatzes.
Wahrnehmung des Arbeitsplatzes
als unterstützend.
das Gefühl, man werde vom Vorgesetzten gerne wieder gesehen.
das Wissen, dass der Arbeitsplatz
angepasst wird für eine stufenweise Rückkehr zur vollen Arbeitsleistung.
Diese Adaptation des Arbeitsplatzes
und die stufenweise Rückkehr zur
Arbeitsleistung, die individuell angepasst ist, sobald erste Besserungen
eingetreten sind, wird als Standard
gefordert. Ebenso der frühe Kontakt
zum behandelnden medizinischen
System und die Förderung einer
Arbeitsplatzkultur des Respekts und
der flexiblen Anpassung der Arbeitsanforderungen sind ein Teil des Programms. Grosse Möglichkeiten werden dem Internet mit «self-screening»
und Krankheitsmanagement zugesprochen, mit den Vorteilen des Datenschutzes, des Patienten-Empowerments usw. Das Programm Care Point,
das in gemeinsamer Zusammenarbeit
mit Vertretern der Wirtschaft entwickelt wurde, bietet eine umfassende
Lösung an, auch den Betroffenen zu
helfen, die durch chronisches Leiden
in der heutigen Sozialstruktur nur eine
minimale Chance der Rückkehr erhalten (siehe Grafik: Care Point).
Uniklinik
Haftpflicht nach unverschuldeten
Unfällen
Eventuell falsche Behandlung bis
zu diesem Zeitpunkt (z. B. Psychiatrie)
Unverschuldete
Langzeit-Arbeitslosigkeit
Reintegration
WiedereingliederungsProgramm
Home
Care Point:
Iterativer Prozess
bis zur Reintegration
Start der
Umsetzung
Pflege
Consulting
Business
Management
Selektion
Rehabilitation Mobbing, Stress am Arbeitsplatz
Krankheit
Unfall
Kreisklinik
Care Point
Arbeit in der richtigen Dosierung ist die beste Therapie!
55
56
Ähnlich wie bei der erfolgreichen
Umsetzung mit dedizierten Ausbildungsmethoden kann auch bei Patienten mit chronischen Leiden geholfen werden. Zeitgleich zu den medizinischen und therapeutischen Programmen ermöglichen in Gruppen
oder individuell erstellte Weiterbildungsmassnahmen die Basis für eine
Rückführung in den Arbeitsprozess.
Das Ausbildungsprogramm, dass im
Rahmen der Initiative Care Point (siehe
Anmerkung) entwickelt wurde, umfasst Lerneinheiten, die in Gruppen,
einzeln oder in einem Mix unterrichtet
werden können. Je nach Ausbildungsgrad werden die Lernprogramme
durch einen qualifizierten Dozenten
vermittelt und/oder die Lernmodule
auch per «Distance Learning» als
eLearning vermittelt. Diese Lerneinheiten können mit ganz einfachen
Modulen beginnen, bis hin zu komplexen Inhalten und zur Zertifizierung, die
auf dem Arbeitsmarkt anerkannt sind.
Damit hat der Patient nicht nur gezeigt, dass er wieder ein vollwertiges
Mitglied der Sozialstruktur werden
möchte, sondern dies auch bewiesen.
Anmerkung zu Care Point
Das Projekt Care Point ist in
gemeinsamer Arbeit gegründet
worden, um den Individuen,
denen die heutigen Modelle
kaum eine optimale Möglichkeit
geben, unmittelbare und mittelbare Chancen aufzuzeigen. Ziel
ist es, gemeinsam mit dem Einzelnen an der Entwicklung einer
neuer Zukunftschance zu arbeiten. Nicht nur die Verrentung
von Leistungen ist gefragt, sondern die effektive Hilfe für einen
echten Zukunftsglauben.
Care Point ist ein integrierter
Ansatz, der sich aus der medizinischen und therapeutischen
Begleitung gemeinsam mit den
Arbeitgebern und den Versicherungen um echte Lösungen
kümmert. Dazu werden Gesamtlösungen eingesetzt, die auf
der heutigen technischen Entwicklung aufbauen und die
Möglichkeit der Vernetzung und
der Ausbildung verbinden. Im
Mittelpunkt der Umsetzung
Care Point steht eine Trägerschaft zur Koordination der
Abläufe. Dies sind in erster Linie
Versicherungen oder soziale
57
Einrichtungen, auf die der Einzelne im Laufe seiner Krankheitskarriere angewiesen ist.
Das Gesamt-Konzept beinhaltet
folgenden Service und Leistungen, die auch als einzelne Module
angeboten werden:
Consulting / Erarbeitung des
Business Case.
Projekt Management.
Erarbeitung der Triage.
Design und Durchführung
von Lernprogrammen zur beruflichen Wiedereingliederung.
Erstellung von Kommunikationsplattformen, Netzwerken,
usw.
Erarbeitung von Ausbildungsund Reintegrationsprogrammen.
Durchführung von Aus- und
Weiterbildung.
Zertifizierung.
Unterstützung bei der Reintegration.
Weitere Informationen zu
Care Point finden Sie im Internet
www.CH21.ch.
Literatur
1 Evaluation of the St Loye’s Transformations Project; St Loye’s Report,
(2000) (Newman P, Bidgood I. )
2 Code of Practice for Disability
Management; National Institute
of Disability Management and
Research, (2000), (King A, Zimmermann W)
3 The Close-Up on Disability Costs in
Canada’s Pulp and Paper Industry;
National Institute of Disability
Management and Research, (2000)
4 Main CJ, Spanswick CC. Pain
Management, An Interdisciplinary
Approach, Edinburgh 2000,
Churchill Livingstone
5 Sokoll G. (2002): Global Workers
Compensation Initiatives in
Prevention Rehabilitation and
Disability Management.
Kongressband des «First International Forum On Disability
Management»
Schweizerischer Versicherungsverband
Association Suisse d’Assurances
Associazione Svizzera d’Assicurazioni
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