Transhumanismus April 2015, Fabrikzeitung Nr. 307

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Transhumanismus
April 2015, Fabrikzeitung Nr. 307
wir
sind
Schritt für Schritt entsteigen sie der Welt des Fantastischen und der Science-Fiction: Cyborgs, Misch­
wesen aus Mensch und Maschine, sind Realität geworden. Body-Hacker basteln am eigenen Körper,
loten die Grenzen der Biologie aus und erkunden
neue Möglichkeiten der Wahrnehmung. Was denken
sie sich dabei?
Tim Cannon ist auf dem Weg zur Unsterblichkeit.
Bis es soweit ist, bastelt er – an sich selbst. Magneten,
Chips, und für kurze Zeit auch eine Platte, so gross
wie ein kleines Smartphone, hatte er bereits in seinem Körper. Doch das Ziel liegt noch weit entfernt.
Cannon bewegt sich zwischen Utopie und Dys­topie,
zwischen Body-Modification, Fleischästhetik und
einer philosophischen Strömung namens Transhumanismus. Der Do-It-Yourself-Bastler will nichts
anderes, als den Menschen hinter sich zu lassen; das
Fleisch, wie er selbst sagt, während er abwechselnd
elektronische und Filterzigaretten raucht. Zusammen
mit seiner in Pittsburgh ansässigen Hacker-Truppe
Grindhouse Wetware baut er Geräte mit Namen wie
Circadia, Bottlenose oder NorthStar: Computertechnik, die unter die Haut wandert. Circadia etwa soll
ein kleines Biolabor werden, das Herzfrequenz und
Körpertemperatur misst, das Blut analysiert, die Daten speichert, auswertet und an andere Computer
sendet. Der Körper soll an das Internet der Dinge
angeschlossen werden.
Das handygrosse Ding aber, das einige Zeit lang in
Cannons Unterarm steckte, war ein Prototyp; noch
nicht mehr als ein Fieberthermometer mit eingebautem Bluetooth, Akku und Ladespule. Nach drei Monaten, in denen Cannon selbst zum Prototypen der
Mensch-Maschine-Verschmelzung wurde, stellte sein
Team mögliche Verformungen in der Batteriehülle
fest. Das Ding musste raus. Ein geplatzter Akku oder
eine kaputte Hülse hätten tödlich enden können.
Unsterblichkeit ade. Ein Rückschlag? Keineswegs.
Cannon und seine Co-Tüftler basteln weiter, an
neuen Versionen von Circadia; kleiner, leistungsfähiger, vielseitiger. Der Weg der Maschinen in den
menschlichen Körper ist nicht aufzuhalten, und
Cannon und seine Mitstreiter wollen die Zukunft
mitgestalten. Sie sind «Cyborgs». Der Begriff kommt
ursprünglich aus der Raumfahrt: In den 1960er Jahren wollten der Wissenschaftler Manfred Clynes und
der Mediziner Nathan Kline den Menschen technisch anpassen, damit er im All überleben kann.
Was damals noch Zukunftsfantasterei war, ist heute
gelebte Realität, wenn auch nicht im Weltraum. Die
Technik wandert immer näher an den Menschen.
Das Smartphone zum Beispiel ist für viele ein unverzichtbarer Teil der Lebenswelt geworden. Steckt
es mal nicht in der Hosentasche, stellt sich ein Phantomgefühl ein. Es fehlt etwas. Sogenannte Wearables
rücken Rechnertechnologie noch näher an uns heran; fieberhaft wird an Datenbrillen wie Google
Glass oder Microsofts HoloLens gearbeitet, Videobrillen wie Oculus Rift lassen uns die virtuelle Welt
lebensnah erfahren und smarte Armbänder wie
auch Uhren vermessen unseren Alltag. Militär und
Medizintechnik gehen noch einen Schritt weiter: Exo­
skelette machen den modernen Soldaten zum Iron
Man, Prothesen verwachsen mit neuronalen Netzen
und Implantate lassen sinnesbehinderte Menschen
wieder sehen oder hören. Und in Schweden lassen
sich Büroangestellte sogar einen Chip ein­pflanzen,
der eine elektronische Zugangskarte ersetzt.
Doch was technisch machbar ist, muss nicht unbedingt wünschenswert sein. Zumindest nicht so, wie
es im Moment läuft. Hier treten Cyborgs wie Tim
Cannon auf den Plan. So abstrus es auf den ersten
Blick erscheinen mag: Cannon und Konsorten sind
eine mahnende Stimme im technologischen Wettrüsten um den menschlichen Körper. Klar, einerseits bilden sie die Speerspitze der computerisierten
Menschheit. Niemand sonst betreibt die Ver­
schmelz­ung von Mensch und Maschine mit einer
solchen Radikalität. Doch auf der anderen Seite bilden sie eine Avantgarde, die sich mit dem Thema
auseinandersetzt.
Cannon und seine Kollegen von Grindhouse Wetware arbeiten nach den Maximen der Open-SourceBewegung. Wenn die Technik schon in den Körper
wandert, dann soll sie auch frei sein. Patente auf
implantierte Geräte oder gar künstliche Organe sind
für sie tabu. Cannon ist ein Hacker. Ursprünglich
bezeichnete dieses Wort jemanden, der mit einer
Axt Möbel baut. Ein Hack wurde in der US-amerikanischen Subkultur, die sich seit den 1960er Jahren
um Computer und Technik bildete, zu einer besonders eleganten, intelligenten oder auch witzigen Lösung eines Problems. Hacker sind begeisterte Bastler und Tüftler, das Einhacken in Computernetze ist
nur ein Aspekt davon. Gleichzeitig entwickelte sich
um diese Subkultur eine eigene Ethik: Grundsätze,
denen jeder Hacker, der etwas auf sich hält, zu folgen
hat. Der Zugang zu Computern soll frei sein, genauso
wie alle Informationen. Eine ordentliche Portion
Misstrauen gegenüber Autoritäten gehört für Hacker
ebenso zum Wertekanon wie eine grundlegende Offenheit und Vorurteilsfreiheit. Schliesslich sollen
Computer benutzt werden, um Kunst und Schönheit
zu schaffen sowie das eigene Leben zu verbessern.
Die Body-Hacker greifen diese Ideale auf. Cannon,
der praktische Transhumanist, wie er sich selbst
nennt, vertritt vor allem die ersten beiden Grundsätze. Die Technik soll offen, die Informationen sollen frei sein. Letzteres zumindest insofern, dass Cannon selbst bestimmen kann, was mit seinen Daten
geschieht, die Geräte wie Circadia sammeln. Er will
die Kontrolle über die Geräte behalten, die er sich
einpflanzt. Damit steht er nicht allein da. Vielerorts
treten die Cyborgs von heute in die Fußstapfen der
Hacker und ihrer Maximen aus den 1960er Jahren.
Allen voran Neil Harbisson, der so etwas wie der
Wortführer der noch jungen Bewegung geworden
ist. Seine Geschichte beginnt im Jahr 2003 in einem
Hörsaal in England. Der damalige Musikstudent
hörte einen Vortrag über Kybernetik. Gesprochen
hat Adam Montandon, ein Experte, der sich mit der
digitalen Zukunft beschäftigt. Es war die größte
Veränderung in seinem Leben, sagt Harbisson rückblickend: Technologie nicht als Werkzeug, sondern
als Teil von sich zu sehen. Der Halbbrite sieht die
Welt von Geburt an in schwarz-weiß. Achromatopsie
nennt sich sein Leiden. Nach seinem Treffen mit
Montandon aber schickte er sich an, die Welt der
Farben zu erkunden – über das Gehör. Ein Gerät
namens Eyeborg macht es möglich. Dieses übersetzt
Licht- in Tonfrequenzen. Die erste Farbe, die Neil
Harbisson hörte, war rot – sie wurde zu seiner ersten
Lieblingsfarbe. Anfangs war alles noch chaotisch für
den Mann, der in Barcelona aufgewachsen ist. Doch
nach und nach gewöhnte er sich an die neue Sinneswahrnehmung. Irgendwann begann er, in den Tönen,
die für ihn Farben sind, zu träumen. Die elektronischen Klänge kamen nicht mehr aus dem Soundchip,
sondern aus seinem Gehirn. Seitdem nimmt sich
Harbisson als Cyborg wahr. Der Eyeborg und er wurden eins. Selbst beim Schlafen nimmt er das Gerät
nicht ab. Wenn es sich verschiebt, fehlt ihm etwas,
er spricht von einem Phantomgefühl. Mittlerweile
kann Harbisson Farben besser unterscheiden, als es
einem nicht Farbenblinden mit dem blossen Auge
möglich ist. Und er kann sogar Bereiche des infraroten und ultravioletten Lichts wahrnehmen. Harbisson hat nicht nur ein Manko ausgeglichen, er hat
seine Sinne im Vergleich zum Rest der Menschheit
erweitert. Das zu wollen, ist für ihn etwas Natürliches, sogar Grundmenschliches. Harbisson ist so
etwas wie ein Naturalist. Er will die Evolution in die
eigene Hand nehmen und mit Technologie näher an
die Natur rücken, ihr gerecht werden. In seiner Technikeuphorie schwingt fast schon ein Stück Spiritualität mit. 2004 durfte er den Eyeborg auf seinem
neuen Passfoto tragen, nach einem langwierigen
Marsch durch die Institutionen. Seitdem gilt er als
der erste staatlich anerkannte Cyborg. Doch staatliche heißt nicht unbedingt gesellschaftliche Anerkennung. Oft schauen ihn Menschen auf der Strasse
misstrauisch an. Die Antenne, an welcher der optische Sensor befestigt ist, die aus seinem Hinterkopf
ragt und sich über seine Pilzfrisur biegt, wirkt fremdartig. Und so mancher Kinobesuch scheiterte schon
am Einlass. Der Sensor wird vielerorts als Kamera
missverstanden.
Diese grundlegende Skepsis schlug im Fall des kanadischen Informatikers und Cyborg-Vorreiters Steve
Mann sogar schon in Gewalt um. Mann trägt seit
gut eineinhalb Jahrzehnten eine Datenbrille namens
Eye Tap mit eingebauter Kamera, ähnlich dem später von Google entwickelten Glass. Im Sommer 2012
soll er wegen dieser Brille tätlich angegriffen und
aus einer McDonalds-Filiale in Paris geschmissen
worden sein. Das Argument sei laut seiner Aussage
gewesen: Er hätte keine Foto- und Filmaufnahmen
machen dürfen. Der Vorfall wurde in der Bloggerund Tech-Szene schnell als erstes «first cybernetic
hate-crime» tituliert, als erstes aus Hass begangenes
Verbrechen gegen Cyborgs. Unabhängig davon, dass
die Geschichte juristisch nie aufgearbeitet wurde,
sei dahingestellt, ob es sich hierbei wirklich um eine
neue Qualität von Intoleranz und Gewalt handelt.
Fakt ist: Auch Cyborgs wie Mann und Harbisson
kämpfen mit Stigmatisierung und Ablehnung, weil
sie offensichtlich Technik am oder im Körper tragen.
Und beide haben das zum Anlass genommen, für die
Rechte von Cyborgs einzustehen und aufzutreten;
Mann zusammen mit einer Allianz aus Ingenieuren,
Bürgerrechtlern und Industriellen, Harbisson mit
der Cyborg Foundation, die er 2010 in Barcelona mit
Gleichgesinnten gründete.
Anders als der Do-It-Yourself-Cyborg Cannon, der
experimentieren und an Open-Source-Implantaten
basteln will, tragen Mann und Harbisson die Hacker-Ideale der Cyborgs in die Öffentlichkeit. Diese
Verquickung aus Hacker-Ethik und Politik hat
auch in Europa eine längere Tradition. Viele selbst
titulierte «Komputerfrieks» der 1970er Jahre in
Deutschland etwa waren eng verwoben mit dem
Alternativen Milieu. Als sie über die ersten Personal Computer mit der lebhaften Gründerszene in
der San Francisco Bay Area in Kontakt kamen,
vermengten sie ihre alternativen Wertevorstellungen mit denen der Hacker. Das ist die Vorgeschichte
des Chaos Computer Clubs. Der Hacker-Club erweiterte dann auch die Hacker-Ethik um die zwei
Leitsätze «mülle nicht in den Daten anderer Leute»
und «öffentliche Daten nützen, private Daten schützen». Dieser gesellschaftspolitische Ansatz lebt
auch in der deutschen Cyborg-Szene weiter, vor
allem in Berlin, wo Enno Park und Gleichgesinnte
einen Verein ins Leben riefen.
2011 war das Jahr, in dem Park, der fast vollständig
taub war, wieder hören konnte, mit Hilfe von elektronischen Ohren. Sie nennen sich Cochleaimplantate. Hinter seinen Ohren sitzen gut sichtbar die
äußeren Komponenten der medizintechnischen Geräte. Es ist eine geschlossene, patentierte Technologie, an der Park gerne schrauben und basteln würde;
zum Beispiel, um das Ultraschall-Piepsen von Fledermäusen zu hören. Aber er darf nicht. Politisch
liegt Park unweit der Hacker-Szene und des Chaos
Computer Clubs. Regelmäßig treffen sich die Berliner Cyborgs in der c-base, einem Hacker-Space an
der Spree. Sie diskutieren über Technologie und Gesellschaft. Mal hautnah, wenn sie sich über kleine
Magnetimplantate unterhalten, mit denen BodyHacker elektromagnetische Felder spüren können
– die Einstiegsdroge für viele in der Szene. Mal aber
auch philosophisch-theoretisch, wenn es etwa um die
post­feministischen Zukunftsutopien von Donna Haraway geht, die in Cyborgs die Überwindung der
Geschlechtergrenzen sieht.
Auch, wenn Park, Harbisson, Mann oder Cannon
unterschiedlich auftreten, die einen mehr als Techniker und Tüftler, die anderen mehr als Künstler
oder Politiker, so haben die Cyborgs vieles gemeinsam. Sie teilen die Werte der Hacker-Kultur. Und
sie wollen den Begriff des Cyborgs positiv besetzt
wissen, einen Begriff, der bei vielen ein unwohles
Gefühl hinterlässt und der in der Literatur oder im
Film nur allzu oft mit Killer-Maschinen assoziiert
wird. Sie wollen dem Terminator ein menschliches
Antlitz geben – ihr eigenes.
von Florian Falzeder
roboter
die
über
Übermensch, Superman, Cyborg, das sind ideologische Manifestationen der Zurichtung des Menschen,
komplementäre Images zu seiner Unterwerfung unter die allgemeinen Direktive von Ef­f izienz- und
Leistungsoptimierung; es sind aber auch, ebenso
ideologisch, Versuche, den Menschen genau dieser
Zurichtung zu entziehen. Nietzsches Übermensch
ist in dieser Ambivalenz rezipiert worden; auch die
in den 1930er Jahren von Jerry Siegel und Joe Shuster kreierte Superman-Figur trägt Züge eines sowohl
konformistischen wie nonkonformistischen Charakters. Cyborgs – zunächst biomechanische Visionen
der Raumfahrt der 1960er – hatte dann Anfang der
1980er die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway im Sinne eines postfeministischen Technofuturismus prominent verteidigt. Auch die Möglichkeiten der biomedizinischen Prothesentechnologie
deuten einige als Befreiung des Menschen vom Menschen, und das durchaus positiv, bisweilen sogar euphorisch als nächsten Schritt der Evolution vom
«biologischen Menschen zum posthumanen Wesen»,
wie es Max More postuliert – übrigens mit direktem
Zitatbezug zu Friedrich Nietzsche:
«Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist
Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr
getan, ihn zu überwinden?»
Übermensch – Die moderne Figur des Übermenschen taucht erstmals Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf. Er ist gleichermaßen Resümee und
Überbietung des Menschenbildes, das sich zu dieser
Zeit etablierte: «Alle Menschen sind gleich» versus
«alle Menschen sind verschieden» – und zwar ungeachtet ihrer realen Lage, ihres Elends, der Gewalt,
der sie ausgesetzt sind. Bekanntlich spricht Friedrich
Nietzsche das erste Mal vom Übermenschen in ‹Also
sprach Zarathustra›; der erste Teil dieses Buches ‹Für
Alle und Keinen› erscheint 1883 – im Todesjahr von
Karl Marx, Nietzsche ist neununddreißig Jahre alt.
Der Übermensch ist ein Resultat fundamentaler Religionskritik: Gott ist tot, die Menschen haben ihn
umgebracht, das ist der Ausgangspunkt: «Gott starb:
nun wollen wir – dass der Übermensch lebe.» Nietzsches Entwurf kann als idiosynkratisch verbrämter
Pseudomaterialismus gedeutet werden. Dass der
Übermensch den Menschen als Menschen überwinden soll, ist alles andere als inhuman gemeint. Wenn
Nietzsche schreibt...
«Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein
Erstes und Einziges, – und nicht der Mensch: nicht
der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste,
nicht der Beste. –»
...dann heißt das eben nicht: der Leidende soll aufhören zu leiden, sondern der Leidende soll aufhören;
nicht: der Ärmste soll reicher werden, sondern der
Mensch soll verschwinden, der nur als Ärmster existiert. Der Übermensch verwirklicht die Menschheit,
indem er den Menschen jede unmenschliche Beschränkung nimmt, jede moralische Reduktion, die
den Menschen nicht Mensch sein lässt, sondern ihn
auf eine Rolle festschreibt (der Nächste, der Ärmste,
der Leidendste, der Beste...). Es ist die Mickrigkeit,
die Unfertigkeit und Ohnmacht, die den Menschen
zum Schwachen macht und nur schwach sein lässt
(das ist im Wesentlichen christliche Moral), mithin
auch der sich selbst zurücknehmende, demütige,
gehorsame und fromme Mensch, den Nietzsche zu
überwinden fordert: «Überwindet mir, ihr höheren
Menschen, die kleinen Tugenden, die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten, den AmeisenKribbelkram, das erbärmliche Behagen, das «Glück
der Meisten» –!» Doch sein Übermensch bleibt im
Korsett bürgerlicher Werte gefangen, die er umzuwerten antreten soll: Der Wille zur Macht gibt der
Ethik nur eine andere Wendung, hebt sie aber nicht
auf; dafür fehlt Nietzsches Kritik die Dialektik.
Hinter Marx’ realen Humanismus fällt Nietzsche
damit zurück. Die Überwindung des Menschen
durch den Übermenschen reißt ihn förmlich aus der
prinzip hier über das Realitätsprinzip. Doch die
bombastische Filmmusik von John Williams macht
klar: eine Liebe, die so gewaltig ist, muss von gesellschaftlicher Größe sein.
Gesellschaft raus, statt die Gesellschaft menschlich
und den Menschen gesellschaftlich zu machen. Das
gibt der Deutung Raum, in Nietzsches Entwurf des
Übermenschen bloß den – faschistischen – Herrenmenschen zu erkennen, die Inkorporation des Inhumanen.
Derart hat der Übermensch jedoch schon von Anfang an jede radikale Kritik eingebüßt: er setzt sich
selbst zum Mittel und Zweck, zum Ziel, als Einsiedler, gleichsam als Idiot. Gott ist tot – das ist der Anfang der Kritik der Religion. Es fehlt: Sie «endet mit
der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für
den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der
Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.»
Superman – Nietzsches Übermensch wiederholt die
literarische Figur des tragischen Helden. Er ist ein
narzisstischer Charakter, entfremdet von der Gesellschaft, einsam: «Sein Gefühl der Einsamkeit ist nicht
bloß eine seinen Untergang begleitende Stimmung,
sein Untergang ist vielmehr in seiner Einsamkeit
beschlossen, durch seine Einsamkeit bedingt... Niemand ist aber da, der seine Worte verstehen würde,
… niemand, der sich in seine Lage versetzen könnte.»
In der Epoche um neunzehnhundert, in der die bürgerliche Gesellschaft selbst ihrem tragischen Untergang entgegensieht, kann dieser tragische Held nicht
anders als Skandal erscheinen. Ein Weltkrieg später
und kurz vor dem zweiten – Europa ist vom Faschismus überschattet – kommt der Übermensch in Amerika zurück: präsentiert im ersten Heft von ‹Action
Comics› 1938, war Siegels und Shusters Superman
freilich kein Skandal, sondern eine Sensation.
Anders als Nietzsches Übermensch ist Superman
wiederum kein tragischer Charakter, sondern ein
tragisches Schicksal: Seine Einsamkeit ist ihm in
die Wiege gelegt – die Eltern haben ihn, um ihn vom
verseuchten und verwüsteten Planeten Krypton zu
retten, im Weltraum ausgesetzt. Als Findelkind
stürzt der Außerirdische auf die Erde, wächst auf als
Clark Kent auf dem Lande. Zögerlich lernt er, seine
übermenschlichen Fähigkeiten zu beherrschen; gesellschaftlich bleibt er ein Außenseiter. Superman
will den Menschen gewiss nicht überwinden, sondern, ganz im Gegenteil, sich selbst als Übermenschen, um endlich in der Normalität anzukommen,
die im Amerika des New Deal als «world highest
standard of living» versprochen wird. Seine Superkräfte – außerirdischen Ursprungs immerhin – lassen sich mitnichten gesellschaftlich verallgemeinern; überleben kann der Held nur als Star. Und
gerade um als Einer wie Alle zu funktionieren, konvertiert Superman zum Superstar. Dass er die Welt
vor dem Untergang rettet, der in den dreißiger Jahren mit Hitlers Deutschland, Zweiter Weltkrieg und
Auschwitz noch bevorsteht, ist als Comic nicht tragisch, sondern Show, Spektakel.
Als Clark Kent kommt Superman in die große Stadt,
die Siegel und Shuster nach Fritz Langs Film «Metropolis» nennen. Kent versteckt sich hier als gewöhnlicher Angestellter im Büroalltag des «american
way of life». Für sein Privatleben wählt Superman
paradox die Öffentlichkeit, vertritt als Journalist
beim «Daily Planet», der großen Tageszeitung von
Metropolis, die vierte Gewalt. Tatsächlich ist er aber
von einer ganz anderen Gewalt angetrieben, nämlich
der Macht der Liebe. Das ist seine Tragik: als Clark
Kent ist er zu unauffällig, um von seiner heimlichen
Liebe Lois Lane beachtet zu werden – die himmelt
nämlich ganz unverhohlen den Medienstar Superman an... Mensch und Übermensch versöhnen sich
im Happy End. Regisseur Richard Donner lässt in
seinem Superman-Film von 1978 Superman und
Lois Lane verliebt durch die Luft fliegen; die übermenschliche Fähigkeit, fliegen zu können, setzt Superman indes nicht für die Gesellschaft ein, sondern
zum individuellen Nutzen; scheinbar siegt das Lust-
man
Cyborgs – Seinen ersten Live-Auftritt hat Superman
1939 auf der Weltausstellung, die in New York unter
dem Motto stattfindet: «Building the World of Tomorrow. For Peace and Freedom – all Eyes to the
Future.» Ebenfalls wird auf der Weltausstellung ein
Roboter präsentiert; er wird bemerkenswerterweise
nicht als Arbeitsmaschine vorgeführt, sondern als
witzige Haushaltshilfe, ein Typ, mit dem man reden
kann und der Zigaretten raucht. Die Schwerindustrie wirbt zu dieser Zeit mit Plakaten, die eine Art
ideellen Gesamtarbeiter darstellen: Ein proletarischer Riese, der über den Fabriken steht und große,
blitzende Kabel hält.
Mechanisierung und Standardisierung sind an der
Zeit, menschliche Arbeitsmaschinen und Menschen
mit Maschinenkräften werden benötigt: Mit dem
Fordismus gibt erstmals das Fließband den Rhythmus vor, nach dem sich die Arbeiter richten müssen.
Der durch Maschinen erweiterte Körper ist auch der
profitökonomisch effizientere Körper. Büroorganisation und Verwaltungstechnik kommen hinzu. In
der elektrifizierten Produktion, in den riesigen Fertigungshallen und Großkontoren, arbeiten die Menschen schon wie Cyborgs – kybernetisch und vom
mechanischen Takt dirigierte Menschen, die mit
diesen je individuell potenzierten Arbeitsvermögen
gleichsam als Übermenschen erscheinen. «Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will»,
heißt es bei der Gewerkschaft.
Eine erste Cyborg-Euphorie gab es nach dem Ersten
Weltkrieg: Versehrte Soldaten, die oft mit schwersten
Verstümmelungen zurückkamen, wurden mit Prothesen repariert; und alsbald galten mit Prothesen
bestückte Arbeiter als die besseren Arbeiter. – Gerade dem beschädigten Menschen scheinen die Prothesen übermenschliche Kräfte zu verleihen. Sie
kaschieren aber zugleich auch die zunehmende Fragmentierung des Körpers. Faktisch dient die Prothese
ja nicht dem «ganzen Menschen», sondern spezialisiert ihn in Bezug auf besondere Fähigkeiten. Auch
der Roboter funktioniert so. Und auch Superman – er
ist ja keineswegs der allseitig gebildete und ausgebildete Mensch; er ist Übermensch kraft einiger weniger funktionalen Vermögen (viel Kraft, Supersinne, kann Fliegen...).
Sciencefiction. Aber schon Kubrick präsentierte mit
Ironie: Das Hotel auf dem Mond ist das Hilton, und
telefoniert wird hier via AT&T. Noch Nietzsches
Übermensch bewegt sich in einer antiquierten Wunschwelt, in der nonchalant der Mensch selbst zur
Wurzel allen Übels erklärt werden kann. Mit dem
Imperialismus ist jedoch klar: «Diese Welt ist nicht
die unsere, sondern die des Kapitals», wie Max
Horkheimer zur selben Zeit notiert, als Superman
die Weltbühne betritt. (Im modernen SF-Kino sind
es schon selbstverständlich Firmen, die ihre Hände
im Spiel haben, wenn Cyborgs und Androiden, Menschmaschinen und Maschinenmenschen bei ‹Blade
Runner›, ‹X-Man›, ‹I Robot› oder ‹Terminator› die
Welt, nämlich – und das ist mittlerweile explizit –
die kapitalistische Welt retten.) Vom Hörgerät bist
zum mikroelektronisch-neuronal gesteuerten Arm,
von der künstlichen Niere bis zur Silikon-Brust,
vom implantierten Chip bis zum Computer mit
Body-Interface – jede Erweiterung des Menschen
durch Technologie wird allein aus Profitinteresse
möglich gemacht, kann nur durch finanzstarke Industrien produziert und über den kapitalistischen
Markt distribuiert werden. Dietmar Dath schreibt
in ‹Maschinenwinter›: «Selbstverständlich ist eine
Gesellschaft schweinisch, die einerseits für ihre
Spitzensportler Laufschuhe mit eingebauten Dämpfungscomputern bereitstellt, andererseits aber alten
Frauen mit Glasknochen die Zuzahlung zum sicheren Rollstuhl verweigert und einen Pflegenotstand
erträgt, für den sich tollwütige Affenhorden schämen müssten.»
Ein Rollstuhl würde die alten Frau wieder zum gesellschaftlichen Subjekt machen, sozial agieren lassen, wenn auch im bescheidenen Rahmen und Radius: der Rollstuhl macht sie als Person, als Mensch
handlungsfähig. Die Laufschuhe allerdings sind
asoziale Technik, im Prinzip wie Supermans Kräfte
allgemein gesellschaftlich nicht verwendbar. Solche
Prothesen optimieren lediglich sehr spezielle Leistungsfunktion. Allerdings sind sie für die Öffentlichkeit interessanter; ein Rollstuhl wird erst dann
als Cyborgtechnologie gefeiert, wenn er Einzelnen,
Spitzensportlern bei den Paralympics etwa, zum
Sieg verhilft.
Ohnehin dient die übermenschliche Technik bloß
der Verbesserung des Vorhandenen. Zwar wird mit
Furore behauptet, die Grenzen der Welt zu überschreiten, doch kommt man über die Weltordnung
nicht hinaus; kein Übermensch, kein Superman,
super
«Cyborg» bedeutet übrigens: cybernetic organism.
Im Allgemeinen sind Cyborgs technologisch veränderte Lebensformen, der Mensch wird zum organisch-technologischen Leib, halb Mensch, halb Maschine. Dazu definiert Donna Haroway in ihrem
‹Cyborg Manifesto› bündig: «Cyborgs sind kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und
Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion.»
Praktisch bleiben die Cyborg-Debatten im akademischen Diskursen hängen. Erst im Verlauf der
1980er, schließlich 1990er Jahre konnte ein solcher
Ansatz der Kritik in soziale Praxis übersetzt werden,
behielt allerdings auch hier seine metaphorische
Kraft: Im Sinne eines symbolischen Widerstands
wurden Konzepte wie «Cyborg» in Popdiskurse um
Techno und «Afrofuturismus» (Kodwo Eshun) eingespeist. Die klassischen Helden – Vorbilder des
modernen Übermenschen – bereisten die Welt noch
als terra incognita, als unbekanntes Gebiet und unheimlichen Raum. Ihr Handeln ist zugleich Aneignung des buchstäblich bisher noch Unerfahrenen,
wie bei Odysseus. Das gibt es heute nur noch in der
kein Cyborg kritisiert soziale Verhältnisse als Herrschaftsverhältnisse. Damit bleiben Cyborg-Visionen
eindimensional: Es geht um die Perfektionierung
besonderer Fähigkeiten zum Nutzen des Kapitals,
nicht um allgemeine Vermögen als Fortschritt der
Menschheit. Überhaupt fehlt vom Übermenschen
bis zu den Cyborgs das revolutionäre Kollektive, die
Solidarität echter Gemeinschaft, die Utopie befreiter
Gesellschaft, mit der aus den Menschen Menschheit
wird. Schon Nietzsche löste den Handlungsraum des
Übermenschen im Nihilismus auf, destruierte Geschichte als Wiederkunft des ewig Gleichen. Insofern
sind Superhelden und Cyborgs auch keine historischen, revolutionären Subjekte. Sie haben keinen
Telos, kennen kein kommunistisch erkennbares
Land am Horizont. Der Übermensch unterbietet die
konkrete Utopie.
von Roger Behrens
cyborg
trans
Transhumanist Party Global: Eine technophile Bewegung aus den USA beginnt sich weltweit politisch zu organisieren
Im Rahmen der rasch voranschreitenden Verschmelzung von Technik und menschlichem Körper hat der Kampf um das Menschenbild begonnen. Im Spannungsfeld zwischen Humanismus
und Transhumanismus erreicht er nun erstmals
die konkrete Gestaltungssphäre internationaler
Politik. Neue «Transhumanistische Parteien», die
ausgehend von den USA mittels körper-inversiver
Techniken den bisherigen Menschen zu einem cyborgisierten «neuen Menschen» umbauen wollen,
streben nach einer ersten Weltpartei jenseits gewohnter Muster von links und rechts – mit derzeit
noch unabsehbaren Folgen. Wird sich der gescheiterte Traum der ideologisch-linken (kommunistischen) und grünen «Internationalen» des 19. und
20. Jahrhunderts im Hinblick auf eine transnational geeinte, erste weltpolitische Partei der Menschheit in den kommenden Jahren ironischerweise als
radikal-pragmatische Technikpartei der «Transhumanisten» realisieren? Das wäre im Zeitalter
von Brain-Computer-Interfaces (BCI’s), Internet
und global ausgreifenden «Neuen Sozialen Medien» zwar kaum überraschend – könnte aber Auswirkungen auf praktisch alle Parameter bisheriger
nationaler und internationaler Politiken haben.
Eine globale politische Bewegung zur
biotechnologischen «Aufrüstung»
des Menschen
In vielen Ländern Europas gründen sich derzeit
Parteien, die jenseits traditioneller Parteilogiken
von links und rechts das Verhältnis von Mensch und
Technologie in den politischen Fokus rücken. Der
Name «Transhumanismus» ist dabei Programm:
Vertreter der neuen globalen «Transhumanist Parties» wollen über den bisherigen Menschen hinausgehen, seine physischen, kognitiven und vielleicht
auch «geistigen» Grenzen überschreiten und das
Altern – im Maximalanspruch sogar den Tod – abschaffen.
Die in Europa zuerst gegründete und bisher am
weitesten institutionalisierte «Transhumanistische
Partei» ist die britische UKTP (UK Transhumanist
Party), die seit Januar 2015 auf Hochtouren an ihrem
transhumanistischen Manifest arbeitet und sich auf
die Parlamentswahlen am 7. Mai 2015 vorbereitet.
Auch in Deutschland werden aktuell Maßnahmen
zur Registrierung der «Transhumanistischen Partei
Deutschland» getroffen. Die Organisation will bis
April 2015 als Partei offiziell auftreten.
Die politische Agenda der Transhumanistischen
Parteien sieht vor, eine Akzeptanz für radikale
Technologien zur Optimierung des Menschen in
der Bevölkerung zu schaffen und Technologie als
Motor für positiven gesellschaftlichen Wandel zu
propagieren. Technologie ist für diese Parteien der
Hebel für praktisch alle Probleme: Gesundheit,
Ungleichheit, Klimawandel, internationale Verständigung, Friedenssicherung, Individualisierung.
Das weite Spektrum «transhumanistischer» Technologien umfasst die breite Anwendung von Gehirn-Computer-Schnittstellen (Brain-ComputerInterfaces, BCI’s) nun nicht nur in medizinischen,
sondern auch in alltäglichen Lebensbereichen, Implantate zur Steigerung der kognitiven Fähigkeiten,
Neural Engineering zur Erweiterung menschlichen
Bewusstseins und Cyborgisierung auch gesunden
Körpergewebes, um Widerstandsfähigkeit und Lebensdauer zu steigern. Ziel ist die biotechnologische «Aufrüstung» des Menschen.
Eine Partei mit Weltanspruch
Die Transhumanist Party Global (TPG) hat ihren
Ursprung in Kalifornien, der Heimat führender
Forschungseinrichtungen und Riesenkonzerne der
Technologiebranche. Der amerikanische Philosoph
und Futurist Zoltan Istvan hat dort im Oktober
2014 die weltweit erste (nationale) Transhumanistische Partei, die «Transhumanist Party» der USA
gegründet und will 2016 für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten kandidieren.
Doch Istvans Ambitionen reichen weit über eine
politische Karriere in den USA hinaus. Zusammen
mit dem Philosophen Dr. Amon Twyman, Mitbegründer der Organisation «UK Humanity+» und
Gründer des «Institute for Social Futurism: Positive Social Change Through Technology» (ISF) ,
hat er Ende 2014 die «Transhumanist Party Global»
(TPG) ins Leben gerufen – eine Initiative, die technikprogressive Graswurzelbewegungen weltweit in
einer einzigen Bewegung einen will und die systematische Gründung Transhumanistischer Parteien
unterstützt.
Die ersten Schritte zur Internationalisierung und
Institutionalisierung sind bereits genommen. Auf
allen Kontinenten entstehen derzeit Dachorganisationen, die zunächst die Gründung von Transhumanistischen Parteien auf nationaler Ebene unterstützen sowie den Austausch und die Kooperation
zwischen diesen fördern sollen. Die kontinentalen
Dachorganisationen sollen sich dabei zu regionalen
Diskussionsforen der formell registrierten nationalen Parteien entwickeln. Die europäische Trägerorganisation TP-EU hat bereits Arbeitsgruppen
in Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, den Niederlanden,
Österreich, Polen, Rumänien, Russland, Serbien,
Spanien, Schweden und der Türkei initiiert. Das
langfristige Ziel ist, auf Basis der TP-EU Strukturen eine europäische Partei zu gründen, die die
Interessen der Transhumanisten im Europäischen
Parlament vertritt.
Jenseits der Logiken von «links» und «rechts»:
Eine neue «Dritter-Weg»-Politik?
Die politische Mobilmachung der Transhumanisten könnte der Beginn eines tiefgreifenden kulturtechnologischen Paradigmenwandels sein. Durch
Anbindung an die Ideen eines «Dritten Weges»,
der seit den 1970er Jahren das Beste von «links»
und «rechts» zu vereinen vorgab und in den 1990er
Jahren etwa durch Bill Clinton und Tony Blair auf
der weltpolitischen Bühne Furore machte, heute
unter anderem von Italiens jungem Ministerpräsidenten Matteo Renzi vertreten wird, versucht die
«Transhumanistische Partei» zur Sicherung von
Wählerstimmen eine gewisse Kontinuität zu signalisieren. Diese Kontinuität ist aber, sofern sie
überhaupt besteht, nicht politisch, sondern höchstens ideologisch. Wohin die Entwicklung genau
geht, lässt sich im gegenwärtigen Moment schwer
sagen, denn die sogenannten «Transhumanisten»
konstituieren in Wirklichkeit eine höchst heterogene Gruppe mit unterschiedlichen politischen
Idealen. Bereits die beiden Gründer von TPG,
Amon Twyman und Zoltan Istvan, haben zuweilen
recht unterschiedliche Vorstellungen über eine ideale künftige Gesellschaft.
Amon Twyman publiziert zahlreiche Artikel zu
sozialem Wandel, politischen Umbrüchen sowie
Weltfrieden und ist Begründer der Initiative «Social Futurism», die die ideologische Basis der globalen Transhumanistischen Parteien maßgeblich
beeinflussen soll:
«Der «soziale» Aspekt des Sozialen Futurismus bezieht sich auf den breiten Bereich generell linksliberaler Positionen. Mit anderen Worten: Sozialismus mit einer Betonung persönlicher und gesellschaftlicher Freiheiten. Futurismus meint keine
passive Zukunftsforschung, sondern vielmehr aktives Engagement für neue Technologien, um uns
Menschen und unsere Welt zu verbessern. Demzufolge ist Futurismus eine breite Aktionskategorie,
die spezifischere, aber kompatible Strömungen wie
den Transhumanismus oder Singularismus einschließen.» Singularismus ist das Streben nach
menschenähnlicher oder gar dem Menschen über-
legener künstlicher Intelligenz, die auch dazu dienen
soll, menschliches Bewußtsein zu reproduzieren.
Nach Twyman sind die wichtigsten Eckpfeiler des
Social Futurism
1. Die breitestmögliche Förderung von
Wissenschaft, Technologie und freiwilliger
«Optimierung» des menschlichen Körpers
durch dessen technologischen Aus- und Umbau (Human Enhancement), wohinein die
meisten Mittel des Staates fliessen sollen;
2. Anwendungsorientierte Gesellschaftsund Parteipolitik, die von den Kräften des
globalisierten Finanzwesens getrennt ist;
3. Sicherung der Grundbedürfnisse aller Bürger unter dem (an sich linkstypischen) Motto:
«Keiner bleibt zurück». Dies zum Beispiel
durch die Einführung eines bedingungslosen
Grundeinkommens, das die meisten radikalen Technophilen aktiv befürworten. Es soll
von Maschinen erwirtschaftet werden, die
künftig statt Menschen Arbeit auf Natur
und Organisation auf Arbeit anwenden und
dabei «freie Überschüsse» erzielen;
4. Intelligenter (das heisst nicht auf internationale Abkommen, sondern auf die Entwicklung und Verbesserung sauberer Technologien konzentrierter) und nachhaltiger
Umweltschutz;
5. Anti-autoritäre und sozial-liberale Ausrichtung des Gemeinwesens;
6. Vollständige politische Dezentralisierung
und freiwilliges Militär, das ausschliesslich
der Verteidigung dienen soll.
Dazu kommt die Verkleinerung der Verwaltungsund Staatsapparate durch die Nutzung neuer technologischer Möglichkeiten sowie der Verringerung
der Zahl herkömmlicher «Arbeitskräfte», die – wie
bereits heute von Firmen wie etwa VW angekündigt
– auf breiter Ebene durch intelligente Maschinen
ersetzt werden sollen. Davon versprechen sich die
«Sozialen Futuristen» in der Transhumanistischen
Politikbewegung nicht nur die schrittweise Lösung
der Probleme des Arbeitsmarktes, sondern des Problems des Arbeitsmarkts an sich, der – wie viele
andere Mechanismen und Einrichtungen der Moderne – künftig in ihrer Vision aufgrund der technologischen Entwicklung obsolet wird.
Im Interview mit The Telegraph sagte Zoltan Istvan, dass wir in Zeiten politischer Radikalisierung
lebten und seine Partei versuchte, die Frustration
vieler Wähler mit den traditionellen Links/RechtsParteien zu kapitalisieren:
«In Europa und den USA sinken seit Jahren die
Wählerstimmen für die großen Mainstream-Parteien. Die Anderswähler werden dann von der Tea
Party (USA), den antieuropäischen Ukippers (UK),
der Fünf-Sterne-Bewegung (Italien) und so weiter
aufgelesen.» Laut Istvan sind die heutigen AntiEstablishment-Parteien großteils irrationale Protestbewegungen, während die technophile Transhumanistische Partei ihrer Natur nach rational,
progressiv und partizipatorisch wie die neuen Technologien selbst sei und sich jenseits der Kleinkämpfe zwischen Links und Rechts bewege. Transhumanismus überwinde in Form der Technologie
Grenzen und stelle menschheitliche Einheit her,
sei also eine Kraft gegen die Renationalisierungstendenzen der Gegenwart.
Drei Maximen
Die Ziele der US-Präsidentschaftskandidatur Istvans sind dementsprechend, in «drei Gesetze» gefasst, die er in seinem Nr. 1 Bestseller ‹The Transhumanist Wager› als Grundlagen des transhumanistischen Weltbildes formulierte:
«1. Ein Transhumanist muss die Sorge um
seine eigene Existenz über alles andere stellen.
2. Ein Transhumanist muss danach streben,
Allmacht (omnipotence) so zweckdienlich
wie möglich zu erlangen – und zwar so weit,
wie die eigenen Aktionen nicht in Konflikt
mit dem ersten Gesetz eintreten.
3. Ein Transhumanist muss Sorge tragen für
universalen Wert – und zwar so weit, wie die
eigenen Aktionen nicht in Konflikt mit dem
ersten und zweiten Gesetz geraten.
Wenn diese nur scheinbar einfachen Maximen
energisch verwirklicht werden, führen sie das Individuum dazu, ein technologisch verbessertes und
verlängertes Leben anzustreben. Istvan und andere
humanist
Unterstützer des Transhumanismus sehen inzwischen die Wahl, diese Prinzipien entweder anzunehmen oder abzulehnen als etwas an, das weit
fundamentaler ist als die Wahl zwischen liberalen
oder konservativen Prinzipien. Mit anderen Worten,
es handelt sich um einen kompakteren Einflusswert,
eine einfachere Erklärung von Weltsicht, Motivationen und Handlungen, als sie irgendeine der heutigen Parteien liefert.»
Freilich: Als Grundlagen eines prinzipiellen Menschenbildes sind diese Maximen eines – als Ausgangspunkt für ein politisches Programm etwas
anderes. Während sie philosophisch die Strömung
eines «Teleologischen egozentrischen Funktionalismus» grundlegen, der sich zumindest in den USA
in eine lange Geschichte ähnlich «produktiv selbstbezogener» Ansätze einreiht, wie etwa den «Objektivismus» einer Ayn Rand mit seinem Ideal der «Selfishness» – eine Philosophie, die führende US-Führungsfiguren wie Rands Schüler, den ehemaligen
Federal Reserve Chef Alan Greenspan (1987-2006)
oder die Reagan-Ära (1967-1989) massgeblich beeinflusst hat –, muten sie in der politischen Gegenwartskonstellation wie die Legitimation einer imperialen,
expansiven Politik an. Allmachtsansprüche, die von
den USA ausgehen, sind derzeit ausserhalb von
«god’s own country» nicht besonders populär.
Technologie für den Weltfrieden – oder für den
nächsten grossen «Krieg»?
Während auch Amon Twyman stets die Potentiale
von Technologie zur Abmilderung von Leid, Konflikt und struktureller Gewalt durch technologiebasierter Dezentralisierung und direkt-demokratischen Elementen betont, hagelte es heftige Kritik
auf Istvan, der in ‹The Transhumanist Wager› den
Beginn des 3. Weltkrieges zwischen Transhumanisten und Nicht-Transhumanisten beschreibt. Damit
meinte er, dass der Kampf um das Menschenbild,
ob humanistisch oder transhumanistisch, pro oder
gegen Cyborgisierung, technikkritisch oder technophil, in den kommenden Jahren weltweit nicht eine
Frage unter vielen, sondern «die» Frage werde, die
erstens unvermeidlich sei und zweitens die Geister
scheiden wird. Wie Istvan ausführt, «werden die
Politiker die transhumanistische Agenda zweifellos
bedenken müssen. Transhumanismus ist nicht gemacht, um zu verschwinden, sondern um zu bleiben.
In den nächsten zehn Jahren wird jeder von uns
gezwungen sein, damit umzugehen, wie wir mit
Künstlicher Intelligenz verfahren wollen, jeder von
uns wird gezwungen sein, mit der Verlängerung der
Lebensspanne umzugehen, weil die Menschen immer länger leben werden, und jeder von uns wird
gezwungen sein, mit einigen Aspekten der Biotik
umzugehen, etwa Chip-Implantaten und Mind-Uploading. Das sind sehr schwierige bioethische Fragen... und jede Regierung wird ihre konkreten Politiken dazu entwickeln müssen.»
Mit dieser Erwartung könnte Istvan durchaus Recht
haben, obwohl das Potential der Entwicklung noch
längst nicht in der Breite erkannt und von vielen
Humanisten verdrängt oder sogar aktiv geleugnet
wird – nicht selten aus unterschwelliger Angst. Trotz
seiner allzu ehrlichen Darstellung des Kommenden
wurde Istvan deshalb angegriffen, weil er damit, so
seine Kritiker, das herauf beschwöre, was er beschreibe – und Unfrieden säe. Das sahen auch einige
in der «Transhumanistischen Bewegung» so. Laut
Istvan kamen scharfe Anmerkungen besonders aus
den «eigenen» Reihen.
Jamie Bartlett meinte im Interview mit Zoltan Istvan, dass es häufig ein ganzes Leben dauere, bis sich
eine radikale politische Bewegung vom Rand in den
politischen Mainstream bewegt. Istvan antwortete
darauf, das sei völlig in Ordnung, er habe ohnehin
vor, 10.000 Jahre zu leben, da er das Ziel, den Alterungsprozess zunächst hinauszuzögern bis auf eine
Lebenszeit von 250 Jahren, um schliesslich den Tod
selbst zu besiegen, für durchaus realistisch halte.
«Altern ist eine Krankheit,
die besiegt werden kann»
Das ist konsistent mit der transhumanistischen
Lehre selbst. Denn die Transhumanisten sind von
einem Faktum mehr als von allem anderen überzeugt, das sich in einem ihrer wichtigsten Slogans
formuliert: «Altern ist eine Krankheit, die besiegt
werden kann.» Diese Überzeugung vertreten mittlerweile Wissenschaftler an führenden Universitäten und Forschungseinrichtungen, so etwa Aubrey
de Grey von der Universität Cambridge und William
H. Andrews, Präsident der der Telomerase-Technologie gewidmeten Biotechfirma Sierra Sciences in
Nevada (Wahlspruch: «Curing Aging») und früherer
Protagonist des Pionierunternehmens Geron, der
das vermeintliche «Unsterblichkeitsenzym» Telomerase 1997 erstmals nachweisen konnte. Beide
spielen sich selbst im US-amerikanischen Film «The
Immortalists» und schicken so die Botschaft der
«Unsterblichkeit» ganz persönlich ins MainstreamPublikum.
Mediale Aufmerksamkeit in der «transhumanistischen Szene» erfährt letzthin auch der deutsche Sozialpsychologie Bertolt Meyer von der Universität
Zürich. Er wurde ohne linken Unterarm geboren
und verfügt heute über eines der innovativsten Modelle bionischer Hände. Mithilfe intelligenter Sen-
Global
soren kann seine künstliche Hand Objekte greifen
und halten und kommt somit der Funktionalität
einer «natürlichen» Hand recht nahe. Seine Prothese
führt pragmatisch die positiven Potentiale der Technologie vor Augen, vor allem für behinderte und
kranke Menschen. Meyer diente außerdem als Modell für eine ihm nachgebildete Vollsimulation eines
ersten vollständig «bionischen» Körpers («The Bionic Man»), in der manche die Zukunft des menschlichen Körpers im Zeitalter des Transhumanismus
erkennen. Als Gesicht des 1 Millionen Dollar teuren
Roboters wurde er zu einer Ikone transhumanistischer Parteigründungen, etwa der englischen. Interessanterweise ist es aber gerade Meyer selbst, der
in öffentlichen Auftritten häufig vor den ethischen
Problemen transhumanistischer Entwicklungen
warnt. Seine bionische Hand kostet so viel wie ein
Kleinwagen, und ein künstliches Herz kann man
gegenwärtig für circa 100.000 Dollar erwerben.
Das lässt natürlich Fragen bezüglich des gleichen
und gerechten Zugangs zu neuen Technologien aufkommen, die ähnlich im übrigen auch der Direktor
des Instituts für die Zukunft der Menschheit, Nick
Bostrom, bei einer Anhörung vor der BRAIN-Initiative des US-Präsidenten in Washington im Sommer 2014 zu einer der Hauptfragen für eine gesellschaftlich ausgewogene und friedliche Entwicklung
der bereits in vollem Gang befindlichen biotechnologischen Revolution erklärte. Aktuell handelt es
sich bei biotechnologischen Prothesen noch um Nischenprodukte für Kranke und Behinderte, für die
in Europa größtenteils Krankenversicherungen aufkommen. Wenn transhumanistische Technologien
jedoch im Mainstream ankommen, das heisst kommerziell zur Erweiterung und Optimierung des gesunden Menschen angeboten werden, womit innerhalb des kommenden Jahrzehnts zu rechnen ist,
wird auch hier die Marktlogik greifen und neue Ungleichheiten produzieren – nicht mehr nur sozioökonomische, sondern dann vor allem auch biotechnologische – und, wenn man Nick Bostrom glauben
mag, in erster Linie über die Gehirnmodifikation
auch eine der Intelligenz, die dann alle anderen Bereiche ebenfalls betreffen und die Universität als Ort
der Bildung und entscheidender Qualifikation ablösen würde.
von Neurotechnologie – auch mit dem menschlichen
Bewußtsein und seinem Alltag immer direkter verbindet. Eben die entsprechende Zweischneidigkeit
der Entwicklung am Schnittpunkt zwischen Mensch,
Bewußtsein und «inversiver» Technologie wird zu
einer der wichtigsten – wenn nicht gar zur wichtigsten politischen Frage der kommenden Jahre werden.
Und zwar unabhängig davon, ob traditionelle LinksRechts-Parteien, Humanisten oder Transhumanisten die Oberhand in ihrer politischen Steuerung
gewinnen werden. Sicher ist dabei auch, dass die
traditionellen politischen Parteien von diesen drei
Akteuren am vergleichsweise schlechtesten auf die
bevorstehende Entwicklung vorbereitet sind – und
dass eine «rationale Öffentlichkeit» dazu in Europa
noch kaum existiert, aber dringend notwendig wird.
Fazit? Die Problematik der politischen Selbstorganisation des «Transhumanismus» und seiner Seitenzweige als «Dritter Weg» und als Alternative zu
traditionellen Parteien auf die Problematiken jener
«Internationalen» des 19. und 20. Jahrhunderts zu
reduzieren, hiesse, das Neue der Entwicklung jenseits von links und rechts zu verkennen. Ebenso
verhält es sich mit der Befürchtung, dass die Internationalisierung der Politiken des Transhumanismus eine Entnationalisierung samt Unterminierung
des souveränen Staates heraufbeschwöre. In einem
Augenblick, in dem Vergessen von der neuen Gehirnforschung, die bereits stark transhumanistische
Einflüsse zeigt, so intensiv wie nie zuvor erforscht
und als technologisch in den Griff zu kriegende
«Kunst» propagiert wird, um unerwünschte Erinnerungen zu eliminieren und dadurch angeblich die
mentale Gesundheit zu fördern; in einem Augenblick, in dem «mentale Gesundheit» an sich zu einem
Kernelement der modernen «Sorge für das Selbst»
und zugleich zum zentralen gesellschaftlichen Legitimationsargument des Transhumanismus wird;
und in einem Augenblick, in dem eine transhumanistische Ästhetik allmählich auch in der Breitenkultur um sich greift, wie etwa bei der Pop-Künstlerin Björk, ist die Politik Europas gut beraten, die
Politisierung des Transhumanismus weit ernster zu
nehmen als bisher.
Von Roland Benedikter und Katja Siepmann
Erwartet uns eine «Brave New
Transhumanist World»?
party
Fazit? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich diese
Überzeugungen breiter in die Gegenwartskultur einlagern und sich deutlicher politisch auswirken. Offen
bleibt aber, wie das geschehen wird, und welche Diskussion daraus zwischen Humanismus und Transhumanismus entstehen kann. Die Zeit bis zu einem
tiefgreifenden technologischen Paradigmenwandel,
der sich unwillkürlich auf alle anderen Gesellschaftsbereiche auswirkt und damit in jedem Fall politisch
sein wird, egal ob und wann sich die «Transhumanistische Partei» weltweit an den Urnen durchsetzt
oder nicht, könnte in der Tat viel kürzer sein, als die
meisten glauben. Die Geschwindigkeit, mit der sich
Technologie entwickelt und neue transnationale Initiativen zur Verbreitung transhumanistischer Visionen gestartet werden, hat bereits heute ungeahnte
– und vor allem in Europa noch zu wenig beachtete
– Ausmaße angenommen. Am 14. März 2015 startete
nun auch die Rekrutierung von Parteimitgliedern
der entstehenden «Transhumanistische Partei
Deutschland. Bildung. Innovation. Leben. Zukunft»
in sozialen Netzwerken. Im Aufruf heißt es: «Unsere
Unterstützer sind in der Regel zur Reflexion fähige,
intelligente und individualistische Menschen mit
einer ausgeprägten Meinung... Die Kraft zur Veränderung kommt immer aus einer Begeisterung – in
diesem Fall aus der Begeisterung von Tausenden
Menschen, welche Technik und Innovation, die bestmögliche Befähigung und Förderung des Individuums im Einklang mit der Natur und ein soziales,
gemeinschaftliches Miteinander in der Gesellschaft
wünschen, welches jedem Menschen Freiheit, Sicherheit und Wohlbefinden, verbunden mit einem
sehr langem, gesunden Leben ermöglicht.»
Roland Benedikter, Dr. Dr. Dr., ist Research Scholar für Politische Analyse am Orfalea Zentrum für
Globale und Internationale Studien der Universität
von Kalifornien in Santa Barbara, Trustee der Toynbee Prize Foundation Boston und Vollmitglied des
Club of Rome. 2009-13 war er Research Affiliate am
Europa-Zentrum des Freeman Spogli Institute for
International Studies der Stanford Universität. Er
ist Autor von zahlreichen Büchern zu globalen strategischen Fragen, darunter des 2015 erscheinenden
Buches ‹Neuroscience and Neuroethics: Impacting
Human Futures› (Springer Verlag New York, gemeinsam mit James Giordano, Georgetown Universität), Co-Autor von zwei Pentagon und U.S. Generalstab ‹White Papers› zur Zukunft von Neurotechnologie und Ethik (2013 und 2014) sowie von Ernst
Ulrich von Weizsäckers ‹Bericht an den Club of
Rome› 2003. Er schreibt unter anderem für Foreign
Affairs, Harvard International Review (in deren
Advisory Board er ist), European Foreign Affairs
Review und Challenge: The Magazine of Economic
Affairs. E-mail: [email protected].
Gewiss, Europa braucht dringend Innovationen – vor
allem im Bildungsbereich –, um im globalen Wettbewerb mithalten zu können. Freiheit, Sicherheit
und Wohlbefinden sind ebenfalls positive Werte,
und ein langes und gesundes Leben in Harmonie
mit der Natur wünschen sich auch die meisten. Leider blendet diese sozialutopische Rhetorik aber die
möglichen Gefahren radikaler Technologie aus, die
sich mit dem menschlichen Körper und – in Gestalt
etwa der sich rasch verbreiternden Anwendungen
Katja Siepmann, MA, ist Lehrbeauftragte zum
Thema Transhumanismus und neue Technologien
an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder, Forscherin am Marktforschungsinstitut Opina in Santiago
de Chile und Senior Scholar des Council on Hemispheric Affairs (COHA) in Washington DC. Sie hat
für Fachzeitschriften wie Foreign Affairs, Harvard
International Review und Challenge geschrieben.
E-mail: [email protected].
Selbst
Heute schon gedopt? Wahrscheinlich ja – wenn Sie
zu den Kaffeetrinkern gehören. Koffein ist für viele
noch immer der liebste Wachmacher und das populärste Fördermittel der Konzentration. Aber seit
einiger Zeit rücken neue Medikamente ins Licht
der Öffentlichkeit – Mittel, die in dem Ruf stehen,
Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit zu erhöhen.
Die Rede ist vom «Neuro-» oder «Cognitive Enhancement», der Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit über das Normalmaß hinaus. Arzneimittel
wie Modafinil oder Ritalin wird nachgesagt, sie
könnten den Geist auf Trab bringen. Äußerst wenig
davon wurde bislang im wissenschaftlichen Versuch
oder der Praxis bestätigt. Warum werden die pharmakologischen Helfer gleichwohl fraglos aus den
Regalen gereicht? Die kurze Antwort: Sie sind Zeichen einer veränderten Kultur, die statt auf Ekstase
und Entspannung auf Leistung und Durchhalten
setzt. Nachdem mit LSD, Psilocybin und Cannabis
die Halluzinogene der 60er in den 90er Jahren ein
Revival erfuhren, sind diese Drogen auf der Beliebtheitsskala gesunken. Im Gegenzug trat die einstige
Schicki-Droge Kokain einen Siegeszug an, der bis
heute anhält. Und weltweit nehmen mittlerweile
mehr Menschen synthetische Stimulanzien wie Amphetamin («Speed») zu sich, als die lange präferierten Opiate zu konsumieren. Das legale Spiegelbild
dieser Entwicklung hin zu leistungsfördernden
Drogen sind Neuro-Enhancer wie Ritalin und Modafinil. Ritalin (chem. Methylphenidat) ist ein Derivat von Amphetamin und wie Modafinil ebenfalls
ein Stimulans. Dass nun ausgerechnet solche primär
leistungssteigernden Medikamente dazu beitragen
sollen, einen kreativen Umgang mit sich selbst und
seinen Mitmenschen zu fördern, verwundert. Funktion und Wille stehen im Vordergrund, so wurde
beispielsweise Modafinil bei den britischen Truppen
in Afghanistan und Irak sowie bei Space Shuttle
Missionen eingesetzt.
Wie soll aber eine Gesellschaft mit Neuro-Enhancement und den pharmakologischen Substraten umgehen? Experten sehen die Verantwortung meist bei
der Einzelperson. Grenzziehungen der individuellen
Redlichkeit zu überlassen ist eine hehre Methode;
sie funktioniert jedoch nur bedingt in einer Gesellschaft, die im Schneller, Höher, Weiter ihr Seelenheil
sieht. An den Neuro-Enhancern lässt sich zeigen,
wie zweischneidig das Prinzip Eigenverantwortung
ist. Denn Eigenverantwortung setzt zum einen den
mündigen Konsumenten voraus und vernachlässigt
zum anderen dessen Einbettung in das moderne
Leistungssystem. Marx nannte das den «stummen
Zwang der ökonomischen Verhältnisse». Heute, so
scheint es manchmal, wird mit erhöhter Subtilität
eine Wahlfreiheit vorgegaukelt, die letztlich doch
nur wieder nur das Funktionieren in der Arbeitswelt
garantieren soll. Und geht es nicht um Arbeit, so
geht es um die Eliminierung unerwünschter Persönlichkeitseigenschaften. Selbst Schüchternheit kann
heute schon als behandlungswürdige Sozialphobie
gelten. Die Kernfrage des Neuro-Enhancement geht
also weit über die pharmakologische Beeinflussung
des Geistes hinaus: Wie kann künftig die Grenze
zwischen Selbstgestaltung und Selbstausbeutung
gezogen werden?
Zahlen und Fakten
Bei aller Kritik der Verhältnisse darf vor Alarmismus gewarnt werden, ist doch die Verbreitung von
Hirndoping noch gering. Der HISBUS Online-Panel befragt regelmäßig und repräsentativ deutsche
Studenten. Zwischen Dezember 2010 bis Januar 2011
nahmen knapp 8.000 Studenten an einer Befragung
teil, die den Dopingleidenschaften der kommenden
wirtschaftlichen und kulturellen Intelligencia auf
dem Grund gehen wollte. Glaubt man den Antworten, dann haben nur 5% der Befragten jemals eine
psychoaktive Substanz eingenommen, um gezielt
leistungsfähiger oder entspannter zu werden. Angesichts der verschiedenen Mittel, die angegeben
wurden, ist das wohl erstaunlich wenig. Denn nicht
nur die klassischen Cognitive Enhancer wie Ritalin
und Modafinil fallen unter die Autoren-Definition
des Hirndoping, sondern auch Drogen wie Cannabis, MDMA, Speed und Kokain sowie Arzneimittel
wie Betablocker, Schmerzmittel, Schlafmittel und
Antidepressiva. Der Großteil erhält das Mentaldoping vom Arzt verschrieben. Wohlgemerkt geht es
den Hirndopern laut eigenen Angaben überwiegend
nicht um geistige Leistungssteigerung, sondern um
die Linderung von Nervosität und Lampenfieber.
Fast 50% der Doper wollen sich beruhigen, ein Drittel bekämpft Schmerzen. Hier wird nicht nur gedopt, sondern sediert, gefeiert und optimiert. Die
Übergänge zwischen studentischer Vergnügungslust, Stressabbau, Gesundheitserhaltung über Ernährung und Nahrungsergänzung sowie lernorientierenden Konsumverhalten sind fließend.
Die Eltern von auf ADHS diagnostizierten Kindern
hören es nicht gern, dass das verabreichte Medikament in der Tradition der Stimulanzien steht. Ritalin ist ein Amphetaminderivat und soll Kindern und
Erwachsenen helfen zu fokussieren. In den Studien
mit gesunden ProbandInnen sind die Ergebnisse
allerdings widersprüchlich. Leistungssteigerungen
stehen Leistungsabfällen gegenüber. Der Ruf, den
Ritalin als Neuro-Enhancer hat, gründet weniger
darauf, kreative Schübe auszulösen oder intelligenter zu handeln, als darauf wach zu halten. Der Wirkstoff Modafinil galt lange als der verheissungsvollste
Neuro-Enhancer. Die Aufregung um die Substanz
liegt auch darin begründet, dass sie strukturchemisch nicht richtig zuzuordnen ist: Sie ist kein geartetes Derivat der Amphetamine, Alkaloide oder
gar Halluzinogene. Dieser Umstand hält sie bislang
aus dem Fokus der Drogenkontroll-Institutionen.
Die Substanz hält wach, kann aber die kognitiven
Leistungen nicht zuverlässig über ihre Bandbreite
steigern – im Gegenteil. Oftmals nehmen die Leistungen in bestimmten Bereichen sogar ab. Die neusten Studien weisen darauf hin, dass Modafinil umso
weniger hilft, desto intelligenter die einnehmende
Person ist. Dies deutet auf ein bekanntes Phänomen
hin. Der menschliche Körper und sein Gehirn versuchen die Effekte von Fremdsubstanzen zu adaptieren und wirken ihnen entgegen. Toleranzbildung
ist oft die Folge. Sollten nun tatsächlich weithin nebenwirkungsarme Neuro-Enhancer existieren, die
sich in die Klasse von Kaffee und Tee einfügen, so
besteht das Risiko, dass auch sie regelmässig eingenommen werden müssen, um uns überhaupt in Fahrt
zu bringen.
Quantified Self
Durch den rasanten technischen Fortschritt beschränken sich die Optimierungsversuche längst
nicht mehr auf pharmakologische Interventionen.
Wo früher Waage und Fieberthermometer ausreichen mussten, um den eigenen Gesundheitszustand
zu messen, stehen heute eine Vielzahl von Gadgets
bereit. Bio-Sensoren und Apps können Körperfunktionen aufzeichnen, aus den gewonnenen Daten werden Handlungsanweisungen für optimalen Schlaf,
gesündere Ernährung, bessere Fitness und höhere
Intelligenz gezogen. Das Quantified Self ist geboren,
die lose gekoppelten Mitglieder dieser Bewegungen
nennen sich «Self-Tracker». Dieser technische Enthusiasmus ruft Kritiker auf den Plan. Diese reiben
sich nicht nur am gefährdeten Datenschutz, sondern befürchten einerseits einen Kampf gegen den
eigenen Körper, der sich der Illusion hingibt, über
eine gesteigerte Selbstkontrolle Herr über das eigene Schicksal werden zu können. Andererseits
beginnt man in den Trackern die Spitze der gesellschaftlichen Tendenz und die physische Vollkommenheit als das höchste Gut im Leben zu sehen.
Jüngst hat sich die Autorin Juli Zeh mit einem grimmigen Artikel zu Wort gemeldet. Zeh hatte schon in
ihrem Roman «Corpus Delicti» eine Gesundheitsdiktatur beschrieben, in der hyperhygienische Kontrollen und Regulationen herrschen. In der SelbstQuantifzierung sieht sie nun eine Art Magersucht
für Männer, in den Trackern die Versuchskaninchen
für das aufkeimende «Konzept des Gesundheitsuntertanen». Ihr Argument: «Wenn es einen optimalen
Lebensstil gibt, der zum optimalen Körper führt,
dann gibt es auch messbare Abweichungen, an die
sich Belohnung und Strafe knüpfen lassen.»
Man kann das für übertrieben halten. Florian Schumacher vom Quantified Self Netzwerk Deutschland
gibt zu bedenken, dass es einen allgemein gültigen,
optimalen Lebensstil ohnehin nicht gäbe, da sich
jeder Mensch in seinem Stoffwechsel, seinen gesundheitlichen Voraussetzungen und seinen persönlichen
Bedürfnissen unterscheide. «Lösungen nach dem
Prinzip von Quantified Self zielen darauf ab, besser
auf den Einzelnen mit seinen individuellen Besonderheiten einzugehen. Die Auseinandersetzung mit
sich selbst führt zu Wissen, welches man für einen
selbstverantwortlichen Lebensstil einsetzen kann.»
Darin sieht er primär eine Chance zum mündigen
Umgang mit der eigenen Gesundheit.
Allerdings fallen die Optimierungsbemühungen der
Self-Tracker in eine Zeit, in der das Individuum ohnehin als durch und durch messbare und jederzeit
zu verbessernde Gestalt interpretiert wird. Die Industrie steht zur Seite, wenn es darum geht, an be-
liebigen Stellschrauben zu drehen: Nahrungsergänzungsmittel für die tägliche Ernährung, Koffein für
das Büro, Stimulanzien für den Abend und vor dem
Halbmarathon ein paar Schmerzmittel.
So sehr man den Optimierungswahn auch kritisieren
mag: Quantified Self könnte durchaus zur zivilen
Selbstermächtigung und der damit möglichen Autonomisierung von den Institutionen des Gesundheitssystems und Fitnessbranche beitragen. Folgt
man allerdings AutorInnen wie Juli Zeh, ist körperlich-geistige Kultivierung ohne Unterordnung unter
das kapitalistische Leistungsdiktat überhaupt nicht
möglich. Auch die junge Bewegung der Self -Tracker
kommt nicht um die Frage herum, ob sie einer weiteren Form leistungsgesellschaftlicher Anpassungsvorgänge unterliegen und so zur Erosion gesellschaftlicher Solidarität beitragen. In den modernen
Informations- und Dienstleistungsgesellschaften
hat die zentrale Bedeutung der entlohnten Erwerbstätigkeit ein Heer von Tätigen erschaffen, die aus
ihrer Arbeit einen Grossteil ihrer Bestätigung, ihres
Selbstbildes und Lebenssinns schöpfen. Wer hier
versagt, dem bricht oft das innere Korsett weg. Wer
dann nicht die Bremse tritt, dessen ständiger Stress
greift die Körperfunktionen an. Die Übergänge
zwischen Burn-Out und Depression sind fließend.
Und um auch noch das beliebte Schlagwort des NeoLiberalismus ins Spiel zu bringen: Dieser hat die
Verantwortung noch einmal mehr auf das Individuum verschoben, das deutlich stärker als früher für
sein Schicksal und sein gelingendes Leben verantwortlich ist. Dem Arbeitsstress wird mit knallharter
Meditation entgegen gewirkt: Am Samstag Rave, am
Sonntag Yoga, am Montag Bank. Die menschliche
Taktung, die schon durch die Industrialisierung einen gewaltigen Schub bekam, scheint den stampfenden Rhythmus der Maschinen verlassen und sich den
Oszillationen der Prozessoren anpassen zu wollen.
Das stößt uns natürlich an die Grenzen der Belastbarkeit. Mithin wird das eigene Nervenkostüm als
Feind aufgefasst, dass den Geboten des Multitasking
angepasst werden muss. Dem in die Karten spielt ein
ungebrochener Wissenschaftsglaube, der suggeriert,
dass zu jedem Zustand, mehr noch, zu jeder Befindlichkeit, ein Mittel existiert, das den Zustand noch
steigert, eliminiert oder zumindest dämpft. Die letzten drei Jahrzehnte der Medizin stehen nicht zufällig
unter dem Primat der Hirnforschung. Sie bestimmt
den Diskurs um menschliches Erleben.
Wo ist die Rettung? Auf subjektiver Ebene sicherlich
in dem wachen Blick auf die eigene Geschichte, Sinnhaftigkeit von Tätigkeit und Leben – und im Bedarfsfall in der Wahl des richtigen Arztes, der in der
Lage ist und sich die Zeit nimmt, die Gesamtperson,
die vor ihm sitzt, zu würdigen. Intersubjektiv sicherlich in einer neuen Bestärkung des sozialen Miteinanders. Auf Systemebene ist eine stärkere Autonomie
der medizinisch-pharmazeutischen Wissenschaft
von der herstellenden Industrie anzustreben. Und
nicht zuletzt kulturell gilt es, die verinnerlichten
Konsummentalitäten aufzubrechen, die, gestützt
vom Funktionsdenken, vorgeben, für jeden geistigen
Zustand ein technologisches Mittel zu dessen Potenzierung oder Dämpfung zu besitzen.
von Jörg Auf dem Hövel
ausbeutung
Die 1948 verabschiedete Erklärung der Menschenrechte garantiert uns, dass Alle Menschen frei und
gleich an Würde und Rechten geboren sind. Und
doch wissen wir alle, Menschen waren noch nie
gleich. Und viele wollen es auch nicht sein. Die
evolutionäre Entwicklung der Menschheit gegenüber anderen Arten war nicht zuletzt darum so erfolgreich, weil sie immer auch auf einem gegenseitigen Wettbewerb innerhalb der Menschheit basierte. Der britische Naturforscher Sir David
Attenborough behauptete zwar kürzlich, dass wir
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die Evolution des menschlichen Körpers gestoppt
haben, weil wir die natürliche Auslese überwunden
haben. Er meinte damit aber keineswegs, dass die
Evolution an sich nicht mehr stattfindet; vielmehr
findet der evolutionäre Prozess auf kultureller, kognitiver und technologischer Ebene statt. Die für
die Evolution des Menschen so wichtige Anpassungsfähigkeit ist auch hier gleichermassen Fluch
und Segen. Denn wo immer man versucht, Gleichheit zu vermessen, entsteht Ungleichheit. Standardisierte Tests, begonnen mit dem IQ-Test bis zu den
Pisa-Studien zielen darauf ab, eine Eigenschaft oder
einen Zustand objektiv vergleichen zu können.
Während die Tests damit oft unberührtes Neuland
beschreiten, folgen ihnen hinterher fast zwingend
die Bemühungen, von ihren Erkentnissen zu profitieren. Pharmakologische Neuroenhancer, angepasste Lehrpläne, regelmässige Schönheitsbehandlungen oder Fitnessarmbänder sind dabei die Mittel zum quantifizierten Selbst; und während sie den
einen dabei helfen, etwas gleicher zu werden, dienen
sie den anderen dabei, aus der Gleicheit auszubre-
chen. Nachdem Oscar Pistorius mit seinen KarbonProthesen bereits an der sogenannt «normalen»
Olympiade gelaufen ist, ist es lediglich noch eine
Frage der Zeit, bis ein Paralympics-Athlet einem
gewöhnlichen Athleten überlegen sein wird. Folgt
man dieser Konsequenz aus Leistungssport und
Selbstoptimierung, dann verwundert es auch nicht,
wenn sich die britische Paralympics Sportlerin Danielle Bradshaw ihr zweites Bein amputieren lassen
möchte, damit sie an den Paralympics 2016 als Doppel-Amputierte eine bessere Leistung erreichen
kann. Die Grenzen zwischen Selbstoptimierung
und –ausbeutung lassen sich selten klar ziehen. Die
Autoren der vorliegenden Ausgabe beleuchten den
Transhumanismus und Quantified Self und aus
unterschiedlichen Blickwinkeln und zeigen dabei
auf, welche gesellschaftlichen und politischen Fragen durch die zunehmende Verschmelzung von
Mensch und Technologie entstehen.
von Ivan Sterzinger
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