Transhumanismus April 2015, Fabrikzeitung Nr. 307 wir sind Schritt für Schritt entsteigen sie der Welt des Fantastischen und der Science-Fiction: Cyborgs, Misch­ wesen aus Mensch und Maschine, sind Realität geworden. Body-Hacker basteln am eigenen Körper, loten die Grenzen der Biologie aus und erkunden neue Möglichkeiten der Wahrnehmung. Was denken sie sich dabei? Tim Cannon ist auf dem Weg zur Unsterblichkeit. Bis es soweit ist, bastelt er – an sich selbst. Magneten, Chips, und für kurze Zeit auch eine Platte, so gross wie ein kleines Smartphone, hatte er bereits in seinem Körper. Doch das Ziel liegt noch weit entfernt. Cannon bewegt sich zwischen Utopie und Dys­topie, zwischen Body-Modification, Fleischästhetik und einer philosophischen Strömung namens Transhumanismus. Der Do-It-Yourself-Bastler will nichts anderes, als den Menschen hinter sich zu lassen; das Fleisch, wie er selbst sagt, während er abwechselnd elektronische und Filterzigaretten raucht. Zusammen mit seiner in Pittsburgh ansässigen Hacker-Truppe Grindhouse Wetware baut er Geräte mit Namen wie Circadia, Bottlenose oder NorthStar: Computertechnik, die unter die Haut wandert. Circadia etwa soll ein kleines Biolabor werden, das Herzfrequenz und Körpertemperatur misst, das Blut analysiert, die Daten speichert, auswertet und an andere Computer sendet. Der Körper soll an das Internet der Dinge angeschlossen werden. Das handygrosse Ding aber, das einige Zeit lang in Cannons Unterarm steckte, war ein Prototyp; noch nicht mehr als ein Fieberthermometer mit eingebautem Bluetooth, Akku und Ladespule. Nach drei Monaten, in denen Cannon selbst zum Prototypen der Mensch-Maschine-Verschmelzung wurde, stellte sein Team mögliche Verformungen in der Batteriehülle fest. Das Ding musste raus. Ein geplatzter Akku oder eine kaputte Hülse hätten tödlich enden können. Unsterblichkeit ade. Ein Rückschlag? Keineswegs. Cannon und seine Co-Tüftler basteln weiter, an neuen Versionen von Circadia; kleiner, leistungsfähiger, vielseitiger. Der Weg der Maschinen in den menschlichen Körper ist nicht aufzuhalten, und Cannon und seine Mitstreiter wollen die Zukunft mitgestalten. Sie sind «Cyborgs». Der Begriff kommt ursprünglich aus der Raumfahrt: In den 1960er Jahren wollten der Wissenschaftler Manfred Clynes und der Mediziner Nathan Kline den Menschen technisch anpassen, damit er im All überleben kann. Was damals noch Zukunftsfantasterei war, ist heute gelebte Realität, wenn auch nicht im Weltraum. Die Technik wandert immer näher an den Menschen. Das Smartphone zum Beispiel ist für viele ein unverzichtbarer Teil der Lebenswelt geworden. Steckt es mal nicht in der Hosentasche, stellt sich ein Phantomgefühl ein. Es fehlt etwas. Sogenannte Wearables rücken Rechnertechnologie noch näher an uns heran; fieberhaft wird an Datenbrillen wie Google Glass oder Microsofts HoloLens gearbeitet, Videobrillen wie Oculus Rift lassen uns die virtuelle Welt lebensnah erfahren und smarte Armbänder wie auch Uhren vermessen unseren Alltag. Militär und Medizintechnik gehen noch einen Schritt weiter: Exo­ skelette machen den modernen Soldaten zum Iron Man, Prothesen verwachsen mit neuronalen Netzen und Implantate lassen sinnesbehinderte Menschen wieder sehen oder hören. Und in Schweden lassen sich Büroangestellte sogar einen Chip ein­pflanzen, der eine elektronische Zugangskarte ersetzt. Doch was technisch machbar ist, muss nicht unbedingt wünschenswert sein. Zumindest nicht so, wie es im Moment läuft. Hier treten Cyborgs wie Tim Cannon auf den Plan. So abstrus es auf den ersten Blick erscheinen mag: Cannon und Konsorten sind eine mahnende Stimme im technologischen Wettrüsten um den menschlichen Körper. Klar, einerseits bilden sie die Speerspitze der computerisierten Menschheit. Niemand sonst betreibt die Ver­ schmelz­ung von Mensch und Maschine mit einer solchen Radikalität. Doch auf der anderen Seite bilden sie eine Avantgarde, die sich mit dem Thema auseinandersetzt. Cannon und seine Kollegen von Grindhouse Wetware arbeiten nach den Maximen der Open-SourceBewegung. Wenn die Technik schon in den Körper wandert, dann soll sie auch frei sein. Patente auf implantierte Geräte oder gar künstliche Organe sind für sie tabu. Cannon ist ein Hacker. Ursprünglich bezeichnete dieses Wort jemanden, der mit einer Axt Möbel baut. Ein Hack wurde in der US-amerikanischen Subkultur, die sich seit den 1960er Jahren um Computer und Technik bildete, zu einer besonders eleganten, intelligenten oder auch witzigen Lösung eines Problems. Hacker sind begeisterte Bastler und Tüftler, das Einhacken in Computernetze ist nur ein Aspekt davon. Gleichzeitig entwickelte sich um diese Subkultur eine eigene Ethik: Grundsätze, denen jeder Hacker, der etwas auf sich hält, zu folgen hat. Der Zugang zu Computern soll frei sein, genauso wie alle Informationen. Eine ordentliche Portion Misstrauen gegenüber Autoritäten gehört für Hacker ebenso zum Wertekanon wie eine grundlegende Offenheit und Vorurteilsfreiheit. Schliesslich sollen Computer benutzt werden, um Kunst und Schönheit zu schaffen sowie das eigene Leben zu verbessern. Die Body-Hacker greifen diese Ideale auf. Cannon, der praktische Transhumanist, wie er sich selbst nennt, vertritt vor allem die ersten beiden Grundsätze. Die Technik soll offen, die Informationen sollen frei sein. Letzteres zumindest insofern, dass Cannon selbst bestimmen kann, was mit seinen Daten geschieht, die Geräte wie Circadia sammeln. Er will die Kontrolle über die Geräte behalten, die er sich einpflanzt. Damit steht er nicht allein da. Vielerorts treten die Cyborgs von heute in die Fußstapfen der Hacker und ihrer Maximen aus den 1960er Jahren. Allen voran Neil Harbisson, der so etwas wie der Wortführer der noch jungen Bewegung geworden ist. Seine Geschichte beginnt im Jahr 2003 in einem Hörsaal in England. Der damalige Musikstudent hörte einen Vortrag über Kybernetik. Gesprochen hat Adam Montandon, ein Experte, der sich mit der digitalen Zukunft beschäftigt. Es war die größte Veränderung in seinem Leben, sagt Harbisson rückblickend: Technologie nicht als Werkzeug, sondern als Teil von sich zu sehen. Der Halbbrite sieht die Welt von Geburt an in schwarz-weiß. Achromatopsie nennt sich sein Leiden. Nach seinem Treffen mit Montandon aber schickte er sich an, die Welt der Farben zu erkunden – über das Gehör. Ein Gerät namens Eyeborg macht es möglich. Dieses übersetzt Licht- in Tonfrequenzen. Die erste Farbe, die Neil Harbisson hörte, war rot – sie wurde zu seiner ersten Lieblingsfarbe. Anfangs war alles noch chaotisch für den Mann, der in Barcelona aufgewachsen ist. Doch nach und nach gewöhnte er sich an die neue Sinneswahrnehmung. Irgendwann begann er, in den Tönen, die für ihn Farben sind, zu träumen. Die elektronischen Klänge kamen nicht mehr aus dem Soundchip, sondern aus seinem Gehirn. Seitdem nimmt sich Harbisson als Cyborg wahr. Der Eyeborg und er wurden eins. Selbst beim Schlafen nimmt er das Gerät nicht ab. Wenn es sich verschiebt, fehlt ihm etwas, er spricht von einem Phantomgefühl. Mittlerweile kann Harbisson Farben besser unterscheiden, als es einem nicht Farbenblinden mit dem blossen Auge möglich ist. Und er kann sogar Bereiche des infraroten und ultravioletten Lichts wahrnehmen. Harbisson hat nicht nur ein Manko ausgeglichen, er hat seine Sinne im Vergleich zum Rest der Menschheit erweitert. Das zu wollen, ist für ihn etwas Natürliches, sogar Grundmenschliches. Harbisson ist so etwas wie ein Naturalist. Er will die Evolution in die eigene Hand nehmen und mit Technologie näher an die Natur rücken, ihr gerecht werden. In seiner Technikeuphorie schwingt fast schon ein Stück Spiritualität mit. 2004 durfte er den Eyeborg auf seinem neuen Passfoto tragen, nach einem langwierigen Marsch durch die Institutionen. Seitdem gilt er als der erste staatlich anerkannte Cyborg. Doch staatliche heißt nicht unbedingt gesellschaftliche Anerkennung. Oft schauen ihn Menschen auf der Strasse misstrauisch an. Die Antenne, an welcher der optische Sensor befestigt ist, die aus seinem Hinterkopf ragt und sich über seine Pilzfrisur biegt, wirkt fremdartig. Und so mancher Kinobesuch scheiterte schon am Einlass. Der Sensor wird vielerorts als Kamera missverstanden. Diese grundlegende Skepsis schlug im Fall des kanadischen Informatikers und Cyborg-Vorreiters Steve Mann sogar schon in Gewalt um. Mann trägt seit gut eineinhalb Jahrzehnten eine Datenbrille namens Eye Tap mit eingebauter Kamera, ähnlich dem später von Google entwickelten Glass. Im Sommer 2012 soll er wegen dieser Brille tätlich angegriffen und aus einer McDonalds-Filiale in Paris geschmissen worden sein. Das Argument sei laut seiner Aussage gewesen: Er hätte keine Foto- und Filmaufnahmen machen dürfen. Der Vorfall wurde in der Bloggerund Tech-Szene schnell als erstes «first cybernetic hate-crime» tituliert, als erstes aus Hass begangenes Verbrechen gegen Cyborgs. Unabhängig davon, dass die Geschichte juristisch nie aufgearbeitet wurde, sei dahingestellt, ob es sich hierbei wirklich um eine neue Qualität von Intoleranz und Gewalt handelt. Fakt ist: Auch Cyborgs wie Mann und Harbisson kämpfen mit Stigmatisierung und Ablehnung, weil sie offensichtlich Technik am oder im Körper tragen. Und beide haben das zum Anlass genommen, für die Rechte von Cyborgs einzustehen und aufzutreten; Mann zusammen mit einer Allianz aus Ingenieuren, Bürgerrechtlern und Industriellen, Harbisson mit der Cyborg Foundation, die er 2010 in Barcelona mit Gleichgesinnten gründete. Anders als der Do-It-Yourself-Cyborg Cannon, der experimentieren und an Open-Source-Implantaten basteln will, tragen Mann und Harbisson die Hacker-Ideale der Cyborgs in die Öffentlichkeit. Diese Verquickung aus Hacker-Ethik und Politik hat auch in Europa eine längere Tradition. Viele selbst titulierte «Komputerfrieks» der 1970er Jahre in Deutschland etwa waren eng verwoben mit dem Alternativen Milieu. Als sie über die ersten Personal Computer mit der lebhaften Gründerszene in der San Francisco Bay Area in Kontakt kamen, vermengten sie ihre alternativen Wertevorstellungen mit denen der Hacker. Das ist die Vorgeschichte des Chaos Computer Clubs. Der Hacker-Club erweiterte dann auch die Hacker-Ethik um die zwei Leitsätze «mülle nicht in den Daten anderer Leute» und «öffentliche Daten nützen, private Daten schützen». Dieser gesellschaftspolitische Ansatz lebt auch in der deutschen Cyborg-Szene weiter, vor allem in Berlin, wo Enno Park und Gleichgesinnte einen Verein ins Leben riefen. 2011 war das Jahr, in dem Park, der fast vollständig taub war, wieder hören konnte, mit Hilfe von elektronischen Ohren. Sie nennen sich Cochleaimplantate. Hinter seinen Ohren sitzen gut sichtbar die äußeren Komponenten der medizintechnischen Geräte. Es ist eine geschlossene, patentierte Technologie, an der Park gerne schrauben und basteln würde; zum Beispiel, um das Ultraschall-Piepsen von Fledermäusen zu hören. Aber er darf nicht. Politisch liegt Park unweit der Hacker-Szene und des Chaos Computer Clubs. Regelmäßig treffen sich die Berliner Cyborgs in der c-base, einem Hacker-Space an der Spree. Sie diskutieren über Technologie und Gesellschaft. Mal hautnah, wenn sie sich über kleine Magnetimplantate unterhalten, mit denen BodyHacker elektromagnetische Felder spüren können – die Einstiegsdroge für viele in der Szene. Mal aber auch philosophisch-theoretisch, wenn es etwa um die post­feministischen Zukunftsutopien von Donna Haraway geht, die in Cyborgs die Überwindung der Geschlechtergrenzen sieht. Auch, wenn Park, Harbisson, Mann oder Cannon unterschiedlich auftreten, die einen mehr als Techniker und Tüftler, die anderen mehr als Künstler oder Politiker, so haben die Cyborgs vieles gemeinsam. Sie teilen die Werte der Hacker-Kultur. Und sie wollen den Begriff des Cyborgs positiv besetzt wissen, einen Begriff, der bei vielen ein unwohles Gefühl hinterlässt und der in der Literatur oder im Film nur allzu oft mit Killer-Maschinen assoziiert wird. Sie wollen dem Terminator ein menschliches Antlitz geben – ihr eigenes. von Florian Falzeder roboter die über Übermensch, Superman, Cyborg, das sind ideologische Manifestationen der Zurichtung des Menschen, komplementäre Images zu seiner Unterwerfung unter die allgemeinen Direktive von Ef­f izienz- und Leistungsoptimierung; es sind aber auch, ebenso ideologisch, Versuche, den Menschen genau dieser Zurichtung zu entziehen. Nietzsches Übermensch ist in dieser Ambivalenz rezipiert worden; auch die in den 1930er Jahren von Jerry Siegel und Joe Shuster kreierte Superman-Figur trägt Züge eines sowohl konformistischen wie nonkonformistischen Charakters. Cyborgs – zunächst biomechanische Visionen der Raumfahrt der 1960er – hatte dann Anfang der 1980er die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway im Sinne eines postfeministischen Technofuturismus prominent verteidigt. Auch die Möglichkeiten der biomedizinischen Prothesentechnologie deuten einige als Befreiung des Menschen vom Menschen, und das durchaus positiv, bisweilen sogar euphorisch als nächsten Schritt der Evolution vom «biologischen Menschen zum posthumanen Wesen», wie es Max More postuliert – übrigens mit direktem Zitatbezug zu Friedrich Nietzsche: «Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden?» Übermensch – Die moderne Figur des Übermenschen taucht erstmals Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf. Er ist gleichermaßen Resümee und Überbietung des Menschenbildes, das sich zu dieser Zeit etablierte: «Alle Menschen sind gleich» versus «alle Menschen sind verschieden» – und zwar ungeachtet ihrer realen Lage, ihres Elends, der Gewalt, der sie ausgesetzt sind. Bekanntlich spricht Friedrich Nietzsche das erste Mal vom Übermenschen in ‹Also sprach Zarathustra›; der erste Teil dieses Buches ‹Für Alle und Keinen› erscheint 1883 – im Todesjahr von Karl Marx, Nietzsche ist neununddreißig Jahre alt. Der Übermensch ist ein Resultat fundamentaler Religionskritik: Gott ist tot, die Menschen haben ihn umgebracht, das ist der Ausgangspunkt: «Gott starb: nun wollen wir – dass der Übermensch lebe.» Nietzsches Entwurf kann als idiosynkratisch verbrämter Pseudomaterialismus gedeutet werden. Dass der Übermensch den Menschen als Menschen überwinden soll, ist alles andere als inhuman gemeint. Wenn Nietzsche schreibt... «Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes und Einziges, – und nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der Beste. –» ...dann heißt das eben nicht: der Leidende soll aufhören zu leiden, sondern der Leidende soll aufhören; nicht: der Ärmste soll reicher werden, sondern der Mensch soll verschwinden, der nur als Ärmster existiert. Der Übermensch verwirklicht die Menschheit, indem er den Menschen jede unmenschliche Beschränkung nimmt, jede moralische Reduktion, die den Menschen nicht Mensch sein lässt, sondern ihn auf eine Rolle festschreibt (der Nächste, der Ärmste, der Leidendste, der Beste...). Es ist die Mickrigkeit, die Unfertigkeit und Ohnmacht, die den Menschen zum Schwachen macht und nur schwach sein lässt (das ist im Wesentlichen christliche Moral), mithin auch der sich selbst zurücknehmende, demütige, gehorsame und fromme Mensch, den Nietzsche zu überwinden fordert: «Überwindet mir, ihr höheren Menschen, die kleinen Tugenden, die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten, den AmeisenKribbelkram, das erbärmliche Behagen, das «Glück der Meisten» –!» Doch sein Übermensch bleibt im Korsett bürgerlicher Werte gefangen, die er umzuwerten antreten soll: Der Wille zur Macht gibt der Ethik nur eine andere Wendung, hebt sie aber nicht auf; dafür fehlt Nietzsches Kritik die Dialektik. Hinter Marx’ realen Humanismus fällt Nietzsche damit zurück. Die Überwindung des Menschen durch den Übermenschen reißt ihn förmlich aus der prinzip hier über das Realitätsprinzip. Doch die bombastische Filmmusik von John Williams macht klar: eine Liebe, die so gewaltig ist, muss von gesellschaftlicher Größe sein. Gesellschaft raus, statt die Gesellschaft menschlich und den Menschen gesellschaftlich zu machen. Das gibt der Deutung Raum, in Nietzsches Entwurf des Übermenschen bloß den – faschistischen – Herrenmenschen zu erkennen, die Inkorporation des Inhumanen. Derart hat der Übermensch jedoch schon von Anfang an jede radikale Kritik eingebüßt: er setzt sich selbst zum Mittel und Zweck, zum Ziel, als Einsiedler, gleichsam als Idiot. Gott ist tot – das ist der Anfang der Kritik der Religion. Es fehlt: Sie «endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.» Superman – Nietzsches Übermensch wiederholt die literarische Figur des tragischen Helden. Er ist ein narzisstischer Charakter, entfremdet von der Gesellschaft, einsam: «Sein Gefühl der Einsamkeit ist nicht bloß eine seinen Untergang begleitende Stimmung, sein Untergang ist vielmehr in seiner Einsamkeit beschlossen, durch seine Einsamkeit bedingt... Niemand ist aber da, der seine Worte verstehen würde, … niemand, der sich in seine Lage versetzen könnte.» In der Epoche um neunzehnhundert, in der die bürgerliche Gesellschaft selbst ihrem tragischen Untergang entgegensieht, kann dieser tragische Held nicht anders als Skandal erscheinen. Ein Weltkrieg später und kurz vor dem zweiten – Europa ist vom Faschismus überschattet – kommt der Übermensch in Amerika zurück: präsentiert im ersten Heft von ‹Action Comics› 1938, war Siegels und Shusters Superman freilich kein Skandal, sondern eine Sensation. Anders als Nietzsches Übermensch ist Superman wiederum kein tragischer Charakter, sondern ein tragisches Schicksal: Seine Einsamkeit ist ihm in die Wiege gelegt – die Eltern haben ihn, um ihn vom verseuchten und verwüsteten Planeten Krypton zu retten, im Weltraum ausgesetzt. Als Findelkind stürzt der Außerirdische auf die Erde, wächst auf als Clark Kent auf dem Lande. Zögerlich lernt er, seine übermenschlichen Fähigkeiten zu beherrschen; gesellschaftlich bleibt er ein Außenseiter. Superman will den Menschen gewiss nicht überwinden, sondern, ganz im Gegenteil, sich selbst als Übermenschen, um endlich in der Normalität anzukommen, die im Amerika des New Deal als «world highest standard of living» versprochen wird. Seine Superkräfte – außerirdischen Ursprungs immerhin – lassen sich mitnichten gesellschaftlich verallgemeinern; überleben kann der Held nur als Star. Und gerade um als Einer wie Alle zu funktionieren, konvertiert Superman zum Superstar. Dass er die Welt vor dem Untergang rettet, der in den dreißiger Jahren mit Hitlers Deutschland, Zweiter Weltkrieg und Auschwitz noch bevorsteht, ist als Comic nicht tragisch, sondern Show, Spektakel. Als Clark Kent kommt Superman in die große Stadt, die Siegel und Shuster nach Fritz Langs Film «Metropolis» nennen. Kent versteckt sich hier als gewöhnlicher Angestellter im Büroalltag des «american way of life». Für sein Privatleben wählt Superman paradox die Öffentlichkeit, vertritt als Journalist beim «Daily Planet», der großen Tageszeitung von Metropolis, die vierte Gewalt. Tatsächlich ist er aber von einer ganz anderen Gewalt angetrieben, nämlich der Macht der Liebe. Das ist seine Tragik: als Clark Kent ist er zu unauffällig, um von seiner heimlichen Liebe Lois Lane beachtet zu werden – die himmelt nämlich ganz unverhohlen den Medienstar Superman an... Mensch und Übermensch versöhnen sich im Happy End. Regisseur Richard Donner lässt in seinem Superman-Film von 1978 Superman und Lois Lane verliebt durch die Luft fliegen; die übermenschliche Fähigkeit, fliegen zu können, setzt Superman indes nicht für die Gesellschaft ein, sondern zum individuellen Nutzen; scheinbar siegt das Lust- man Cyborgs – Seinen ersten Live-Auftritt hat Superman 1939 auf der Weltausstellung, die in New York unter dem Motto stattfindet: «Building the World of Tomorrow. For Peace and Freedom – all Eyes to the Future.» Ebenfalls wird auf der Weltausstellung ein Roboter präsentiert; er wird bemerkenswerterweise nicht als Arbeitsmaschine vorgeführt, sondern als witzige Haushaltshilfe, ein Typ, mit dem man reden kann und der Zigaretten raucht. Die Schwerindustrie wirbt zu dieser Zeit mit Plakaten, die eine Art ideellen Gesamtarbeiter darstellen: Ein proletarischer Riese, der über den Fabriken steht und große, blitzende Kabel hält. Mechanisierung und Standardisierung sind an der Zeit, menschliche Arbeitsmaschinen und Menschen mit Maschinenkräften werden benötigt: Mit dem Fordismus gibt erstmals das Fließband den Rhythmus vor, nach dem sich die Arbeiter richten müssen. Der durch Maschinen erweiterte Körper ist auch der profitökonomisch effizientere Körper. Büroorganisation und Verwaltungstechnik kommen hinzu. In der elektrifizierten Produktion, in den riesigen Fertigungshallen und Großkontoren, arbeiten die Menschen schon wie Cyborgs – kybernetisch und vom mechanischen Takt dirigierte Menschen, die mit diesen je individuell potenzierten Arbeitsvermögen gleichsam als Übermenschen erscheinen. «Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will», heißt es bei der Gewerkschaft. Eine erste Cyborg-Euphorie gab es nach dem Ersten Weltkrieg: Versehrte Soldaten, die oft mit schwersten Verstümmelungen zurückkamen, wurden mit Prothesen repariert; und alsbald galten mit Prothesen bestückte Arbeiter als die besseren Arbeiter. – Gerade dem beschädigten Menschen scheinen die Prothesen übermenschliche Kräfte zu verleihen. Sie kaschieren aber zugleich auch die zunehmende Fragmentierung des Körpers. Faktisch dient die Prothese ja nicht dem «ganzen Menschen», sondern spezialisiert ihn in Bezug auf besondere Fähigkeiten. Auch der Roboter funktioniert so. Und auch Superman – er ist ja keineswegs der allseitig gebildete und ausgebildete Mensch; er ist Übermensch kraft einiger weniger funktionalen Vermögen (viel Kraft, Supersinne, kann Fliegen...). Sciencefiction. Aber schon Kubrick präsentierte mit Ironie: Das Hotel auf dem Mond ist das Hilton, und telefoniert wird hier via AT&T. Noch Nietzsches Übermensch bewegt sich in einer antiquierten Wunschwelt, in der nonchalant der Mensch selbst zur Wurzel allen Übels erklärt werden kann. Mit dem Imperialismus ist jedoch klar: «Diese Welt ist nicht die unsere, sondern die des Kapitals», wie Max Horkheimer zur selben Zeit notiert, als Superman die Weltbühne betritt. (Im modernen SF-Kino sind es schon selbstverständlich Firmen, die ihre Hände im Spiel haben, wenn Cyborgs und Androiden, Menschmaschinen und Maschinenmenschen bei ‹Blade Runner›, ‹X-Man›, ‹I Robot› oder ‹Terminator› die Welt, nämlich – und das ist mittlerweile explizit – die kapitalistische Welt retten.) Vom Hörgerät bist zum mikroelektronisch-neuronal gesteuerten Arm, von der künstlichen Niere bis zur Silikon-Brust, vom implantierten Chip bis zum Computer mit Body-Interface – jede Erweiterung des Menschen durch Technologie wird allein aus Profitinteresse möglich gemacht, kann nur durch finanzstarke Industrien produziert und über den kapitalistischen Markt distribuiert werden. Dietmar Dath schreibt in ‹Maschinenwinter›: «Selbstverständlich ist eine Gesellschaft schweinisch, die einerseits für ihre Spitzensportler Laufschuhe mit eingebauten Dämpfungscomputern bereitstellt, andererseits aber alten Frauen mit Glasknochen die Zuzahlung zum sicheren Rollstuhl verweigert und einen Pflegenotstand erträgt, für den sich tollwütige Affenhorden schämen müssten.» Ein Rollstuhl würde die alten Frau wieder zum gesellschaftlichen Subjekt machen, sozial agieren lassen, wenn auch im bescheidenen Rahmen und Radius: der Rollstuhl macht sie als Person, als Mensch handlungsfähig. Die Laufschuhe allerdings sind asoziale Technik, im Prinzip wie Supermans Kräfte allgemein gesellschaftlich nicht verwendbar. Solche Prothesen optimieren lediglich sehr spezielle Leistungsfunktion. Allerdings sind sie für die Öffentlichkeit interessanter; ein Rollstuhl wird erst dann als Cyborgtechnologie gefeiert, wenn er Einzelnen, Spitzensportlern bei den Paralympics etwa, zum Sieg verhilft. Ohnehin dient die übermenschliche Technik bloß der Verbesserung des Vorhandenen. Zwar wird mit Furore behauptet, die Grenzen der Welt zu überschreiten, doch kommt man über die Weltordnung nicht hinaus; kein Übermensch, kein Superman, super «Cyborg» bedeutet übrigens: cybernetic organism. Im Allgemeinen sind Cyborgs technologisch veränderte Lebensformen, der Mensch wird zum organisch-technologischen Leib, halb Mensch, halb Maschine. Dazu definiert Donna Haroway in ihrem ‹Cyborg Manifesto› bündig: «Cyborgs sind kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpfe der gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion.» Praktisch bleiben die Cyborg-Debatten im akademischen Diskursen hängen. Erst im Verlauf der 1980er, schließlich 1990er Jahre konnte ein solcher Ansatz der Kritik in soziale Praxis übersetzt werden, behielt allerdings auch hier seine metaphorische Kraft: Im Sinne eines symbolischen Widerstands wurden Konzepte wie «Cyborg» in Popdiskurse um Techno und «Afrofuturismus» (Kodwo Eshun) eingespeist. Die klassischen Helden – Vorbilder des modernen Übermenschen – bereisten die Welt noch als terra incognita, als unbekanntes Gebiet und unheimlichen Raum. Ihr Handeln ist zugleich Aneignung des buchstäblich bisher noch Unerfahrenen, wie bei Odysseus. Das gibt es heute nur noch in der kein Cyborg kritisiert soziale Verhältnisse als Herrschaftsverhältnisse. Damit bleiben Cyborg-Visionen eindimensional: Es geht um die Perfektionierung besonderer Fähigkeiten zum Nutzen des Kapitals, nicht um allgemeine Vermögen als Fortschritt der Menschheit. Überhaupt fehlt vom Übermenschen bis zu den Cyborgs das revolutionäre Kollektive, die Solidarität echter Gemeinschaft, die Utopie befreiter Gesellschaft, mit der aus den Menschen Menschheit wird. Schon Nietzsche löste den Handlungsraum des Übermenschen im Nihilismus auf, destruierte Geschichte als Wiederkunft des ewig Gleichen. Insofern sind Superhelden und Cyborgs auch keine historischen, revolutionären Subjekte. Sie haben keinen Telos, kennen kein kommunistisch erkennbares Land am Horizont. Der Übermensch unterbietet die konkrete Utopie. von Roger Behrens cyborg trans Transhumanist Party Global: Eine technophile Bewegung aus den USA beginnt sich weltweit politisch zu organisieren Im Rahmen der rasch voranschreitenden Verschmelzung von Technik und menschlichem Körper hat der Kampf um das Menschenbild begonnen. Im Spannungsfeld zwischen Humanismus und Transhumanismus erreicht er nun erstmals die konkrete Gestaltungssphäre internationaler Politik. Neue «Transhumanistische Parteien», die ausgehend von den USA mittels körper-inversiver Techniken den bisherigen Menschen zu einem cyborgisierten «neuen Menschen» umbauen wollen, streben nach einer ersten Weltpartei jenseits gewohnter Muster von links und rechts – mit derzeit noch unabsehbaren Folgen. Wird sich der gescheiterte Traum der ideologisch-linken (kommunistischen) und grünen «Internationalen» des 19. und 20. Jahrhunderts im Hinblick auf eine transnational geeinte, erste weltpolitische Partei der Menschheit in den kommenden Jahren ironischerweise als radikal-pragmatische Technikpartei der «Transhumanisten» realisieren? Das wäre im Zeitalter von Brain-Computer-Interfaces (BCI’s), Internet und global ausgreifenden «Neuen Sozialen Medien» zwar kaum überraschend – könnte aber Auswirkungen auf praktisch alle Parameter bisheriger nationaler und internationaler Politiken haben. Eine globale politische Bewegung zur biotechnologischen «Aufrüstung» des Menschen In vielen Ländern Europas gründen sich derzeit Parteien, die jenseits traditioneller Parteilogiken von links und rechts das Verhältnis von Mensch und Technologie in den politischen Fokus rücken. Der Name «Transhumanismus» ist dabei Programm: Vertreter der neuen globalen «Transhumanist Parties» wollen über den bisherigen Menschen hinausgehen, seine physischen, kognitiven und vielleicht auch «geistigen» Grenzen überschreiten und das Altern – im Maximalanspruch sogar den Tod – abschaffen. Die in Europa zuerst gegründete und bisher am weitesten institutionalisierte «Transhumanistische Partei» ist die britische UKTP (UK Transhumanist Party), die seit Januar 2015 auf Hochtouren an ihrem transhumanistischen Manifest arbeitet und sich auf die Parlamentswahlen am 7. Mai 2015 vorbereitet. Auch in Deutschland werden aktuell Maßnahmen zur Registrierung der «Transhumanistischen Partei Deutschland» getroffen. Die Organisation will bis April 2015 als Partei offiziell auftreten. Die politische Agenda der Transhumanistischen Parteien sieht vor, eine Akzeptanz für radikale Technologien zur Optimierung des Menschen in der Bevölkerung zu schaffen und Technologie als Motor für positiven gesellschaftlichen Wandel zu propagieren. Technologie ist für diese Parteien der Hebel für praktisch alle Probleme: Gesundheit, Ungleichheit, Klimawandel, internationale Verständigung, Friedenssicherung, Individualisierung. Das weite Spektrum «transhumanistischer» Technologien umfasst die breite Anwendung von Gehirn-Computer-Schnittstellen (Brain-ComputerInterfaces, BCI’s) nun nicht nur in medizinischen, sondern auch in alltäglichen Lebensbereichen, Implantate zur Steigerung der kognitiven Fähigkeiten, Neural Engineering zur Erweiterung menschlichen Bewusstseins und Cyborgisierung auch gesunden Körpergewebes, um Widerstandsfähigkeit und Lebensdauer zu steigern. Ziel ist die biotechnologische «Aufrüstung» des Menschen. Eine Partei mit Weltanspruch Die Transhumanist Party Global (TPG) hat ihren Ursprung in Kalifornien, der Heimat führender Forschungseinrichtungen und Riesenkonzerne der Technologiebranche. Der amerikanische Philosoph und Futurist Zoltan Istvan hat dort im Oktober 2014 die weltweit erste (nationale) Transhumanistische Partei, die «Transhumanist Party» der USA gegründet und will 2016 für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten kandidieren. Doch Istvans Ambitionen reichen weit über eine politische Karriere in den USA hinaus. Zusammen mit dem Philosophen Dr. Amon Twyman, Mitbegründer der Organisation «UK Humanity+» und Gründer des «Institute for Social Futurism: Positive Social Change Through Technology» (ISF) , hat er Ende 2014 die «Transhumanist Party Global» (TPG) ins Leben gerufen – eine Initiative, die technikprogressive Graswurzelbewegungen weltweit in einer einzigen Bewegung einen will und die systematische Gründung Transhumanistischer Parteien unterstützt. Die ersten Schritte zur Internationalisierung und Institutionalisierung sind bereits genommen. Auf allen Kontinenten entstehen derzeit Dachorganisationen, die zunächst die Gründung von Transhumanistischen Parteien auf nationaler Ebene unterstützen sowie den Austausch und die Kooperation zwischen diesen fördern sollen. Die kontinentalen Dachorganisationen sollen sich dabei zu regionalen Diskussionsforen der formell registrierten nationalen Parteien entwickeln. Die europäische Trägerorganisation TP-EU hat bereits Arbeitsgruppen in Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, den Niederlanden, Österreich, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Spanien, Schweden und der Türkei initiiert. Das langfristige Ziel ist, auf Basis der TP-EU Strukturen eine europäische Partei zu gründen, die die Interessen der Transhumanisten im Europäischen Parlament vertritt. Jenseits der Logiken von «links» und «rechts»: Eine neue «Dritter-Weg»-Politik? Die politische Mobilmachung der Transhumanisten könnte der Beginn eines tiefgreifenden kulturtechnologischen Paradigmenwandels sein. Durch Anbindung an die Ideen eines «Dritten Weges», der seit den 1970er Jahren das Beste von «links» und «rechts» zu vereinen vorgab und in den 1990er Jahren etwa durch Bill Clinton und Tony Blair auf der weltpolitischen Bühne Furore machte, heute unter anderem von Italiens jungem Ministerpräsidenten Matteo Renzi vertreten wird, versucht die «Transhumanistische Partei» zur Sicherung von Wählerstimmen eine gewisse Kontinuität zu signalisieren. Diese Kontinuität ist aber, sofern sie überhaupt besteht, nicht politisch, sondern höchstens ideologisch. Wohin die Entwicklung genau geht, lässt sich im gegenwärtigen Moment schwer sagen, denn die sogenannten «Transhumanisten» konstituieren in Wirklichkeit eine höchst heterogene Gruppe mit unterschiedlichen politischen Idealen. Bereits die beiden Gründer von TPG, Amon Twyman und Zoltan Istvan, haben zuweilen recht unterschiedliche Vorstellungen über eine ideale künftige Gesellschaft. Amon Twyman publiziert zahlreiche Artikel zu sozialem Wandel, politischen Umbrüchen sowie Weltfrieden und ist Begründer der Initiative «Social Futurism», die die ideologische Basis der globalen Transhumanistischen Parteien maßgeblich beeinflussen soll: «Der «soziale» Aspekt des Sozialen Futurismus bezieht sich auf den breiten Bereich generell linksliberaler Positionen. Mit anderen Worten: Sozialismus mit einer Betonung persönlicher und gesellschaftlicher Freiheiten. Futurismus meint keine passive Zukunftsforschung, sondern vielmehr aktives Engagement für neue Technologien, um uns Menschen und unsere Welt zu verbessern. Demzufolge ist Futurismus eine breite Aktionskategorie, die spezifischere, aber kompatible Strömungen wie den Transhumanismus oder Singularismus einschließen.» Singularismus ist das Streben nach menschenähnlicher oder gar dem Menschen über- legener künstlicher Intelligenz, die auch dazu dienen soll, menschliches Bewußtsein zu reproduzieren. Nach Twyman sind die wichtigsten Eckpfeiler des Social Futurism 1. Die breitestmögliche Förderung von Wissenschaft, Technologie und freiwilliger «Optimierung» des menschlichen Körpers durch dessen technologischen Aus- und Umbau (Human Enhancement), wohinein die meisten Mittel des Staates fliessen sollen; 2. Anwendungsorientierte Gesellschaftsund Parteipolitik, die von den Kräften des globalisierten Finanzwesens getrennt ist; 3. Sicherung der Grundbedürfnisse aller Bürger unter dem (an sich linkstypischen) Motto: «Keiner bleibt zurück». Dies zum Beispiel durch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, das die meisten radikalen Technophilen aktiv befürworten. Es soll von Maschinen erwirtschaftet werden, die künftig statt Menschen Arbeit auf Natur und Organisation auf Arbeit anwenden und dabei «freie Überschüsse» erzielen; 4. Intelligenter (das heisst nicht auf internationale Abkommen, sondern auf die Entwicklung und Verbesserung sauberer Technologien konzentrierter) und nachhaltiger Umweltschutz; 5. Anti-autoritäre und sozial-liberale Ausrichtung des Gemeinwesens; 6. Vollständige politische Dezentralisierung und freiwilliges Militär, das ausschliesslich der Verteidigung dienen soll. Dazu kommt die Verkleinerung der Verwaltungsund Staatsapparate durch die Nutzung neuer technologischer Möglichkeiten sowie der Verringerung der Zahl herkömmlicher «Arbeitskräfte», die – wie bereits heute von Firmen wie etwa VW angekündigt – auf breiter Ebene durch intelligente Maschinen ersetzt werden sollen. Davon versprechen sich die «Sozialen Futuristen» in der Transhumanistischen Politikbewegung nicht nur die schrittweise Lösung der Probleme des Arbeitsmarktes, sondern des Problems des Arbeitsmarkts an sich, der – wie viele andere Mechanismen und Einrichtungen der Moderne – künftig in ihrer Vision aufgrund der technologischen Entwicklung obsolet wird. Im Interview mit The Telegraph sagte Zoltan Istvan, dass wir in Zeiten politischer Radikalisierung lebten und seine Partei versuchte, die Frustration vieler Wähler mit den traditionellen Links/RechtsParteien zu kapitalisieren: «In Europa und den USA sinken seit Jahren die Wählerstimmen für die großen Mainstream-Parteien. Die Anderswähler werden dann von der Tea Party (USA), den antieuropäischen Ukippers (UK), der Fünf-Sterne-Bewegung (Italien) und so weiter aufgelesen.» Laut Istvan sind die heutigen AntiEstablishment-Parteien großteils irrationale Protestbewegungen, während die technophile Transhumanistische Partei ihrer Natur nach rational, progressiv und partizipatorisch wie die neuen Technologien selbst sei und sich jenseits der Kleinkämpfe zwischen Links und Rechts bewege. Transhumanismus überwinde in Form der Technologie Grenzen und stelle menschheitliche Einheit her, sei also eine Kraft gegen die Renationalisierungstendenzen der Gegenwart. Drei Maximen Die Ziele der US-Präsidentschaftskandidatur Istvans sind dementsprechend, in «drei Gesetze» gefasst, die er in seinem Nr. 1 Bestseller ‹The Transhumanist Wager› als Grundlagen des transhumanistischen Weltbildes formulierte: «1. Ein Transhumanist muss die Sorge um seine eigene Existenz über alles andere stellen. 2. Ein Transhumanist muss danach streben, Allmacht (omnipotence) so zweckdienlich wie möglich zu erlangen – und zwar so weit, wie die eigenen Aktionen nicht in Konflikt mit dem ersten Gesetz eintreten. 3. Ein Transhumanist muss Sorge tragen für universalen Wert – und zwar so weit, wie die eigenen Aktionen nicht in Konflikt mit dem ersten und zweiten Gesetz geraten. Wenn diese nur scheinbar einfachen Maximen energisch verwirklicht werden, führen sie das Individuum dazu, ein technologisch verbessertes und verlängertes Leben anzustreben. Istvan und andere humanist Unterstützer des Transhumanismus sehen inzwischen die Wahl, diese Prinzipien entweder anzunehmen oder abzulehnen als etwas an, das weit fundamentaler ist als die Wahl zwischen liberalen oder konservativen Prinzipien. Mit anderen Worten, es handelt sich um einen kompakteren Einflusswert, eine einfachere Erklärung von Weltsicht, Motivationen und Handlungen, als sie irgendeine der heutigen Parteien liefert.» Freilich: Als Grundlagen eines prinzipiellen Menschenbildes sind diese Maximen eines – als Ausgangspunkt für ein politisches Programm etwas anderes. Während sie philosophisch die Strömung eines «Teleologischen egozentrischen Funktionalismus» grundlegen, der sich zumindest in den USA in eine lange Geschichte ähnlich «produktiv selbstbezogener» Ansätze einreiht, wie etwa den «Objektivismus» einer Ayn Rand mit seinem Ideal der «Selfishness» – eine Philosophie, die führende US-Führungsfiguren wie Rands Schüler, den ehemaligen Federal Reserve Chef Alan Greenspan (1987-2006) oder die Reagan-Ära (1967-1989) massgeblich beeinflusst hat –, muten sie in der politischen Gegenwartskonstellation wie die Legitimation einer imperialen, expansiven Politik an. Allmachtsansprüche, die von den USA ausgehen, sind derzeit ausserhalb von «god’s own country» nicht besonders populär. Technologie für den Weltfrieden – oder für den nächsten grossen «Krieg»? Während auch Amon Twyman stets die Potentiale von Technologie zur Abmilderung von Leid, Konflikt und struktureller Gewalt durch technologiebasierter Dezentralisierung und direkt-demokratischen Elementen betont, hagelte es heftige Kritik auf Istvan, der in ‹The Transhumanist Wager› den Beginn des 3. Weltkrieges zwischen Transhumanisten und Nicht-Transhumanisten beschreibt. Damit meinte er, dass der Kampf um das Menschenbild, ob humanistisch oder transhumanistisch, pro oder gegen Cyborgisierung, technikkritisch oder technophil, in den kommenden Jahren weltweit nicht eine Frage unter vielen, sondern «die» Frage werde, die erstens unvermeidlich sei und zweitens die Geister scheiden wird. Wie Istvan ausführt, «werden die Politiker die transhumanistische Agenda zweifellos bedenken müssen. Transhumanismus ist nicht gemacht, um zu verschwinden, sondern um zu bleiben. In den nächsten zehn Jahren wird jeder von uns gezwungen sein, damit umzugehen, wie wir mit Künstlicher Intelligenz verfahren wollen, jeder von uns wird gezwungen sein, mit der Verlängerung der Lebensspanne umzugehen, weil die Menschen immer länger leben werden, und jeder von uns wird gezwungen sein, mit einigen Aspekten der Biotik umzugehen, etwa Chip-Implantaten und Mind-Uploading. Das sind sehr schwierige bioethische Fragen... und jede Regierung wird ihre konkreten Politiken dazu entwickeln müssen.» Mit dieser Erwartung könnte Istvan durchaus Recht haben, obwohl das Potential der Entwicklung noch längst nicht in der Breite erkannt und von vielen Humanisten verdrängt oder sogar aktiv geleugnet wird – nicht selten aus unterschwelliger Angst. Trotz seiner allzu ehrlichen Darstellung des Kommenden wurde Istvan deshalb angegriffen, weil er damit, so seine Kritiker, das herauf beschwöre, was er beschreibe – und Unfrieden säe. Das sahen auch einige in der «Transhumanistischen Bewegung» so. Laut Istvan kamen scharfe Anmerkungen besonders aus den «eigenen» Reihen. Jamie Bartlett meinte im Interview mit Zoltan Istvan, dass es häufig ein ganzes Leben dauere, bis sich eine radikale politische Bewegung vom Rand in den politischen Mainstream bewegt. Istvan antwortete darauf, das sei völlig in Ordnung, er habe ohnehin vor, 10.000 Jahre zu leben, da er das Ziel, den Alterungsprozess zunächst hinauszuzögern bis auf eine Lebenszeit von 250 Jahren, um schliesslich den Tod selbst zu besiegen, für durchaus realistisch halte. «Altern ist eine Krankheit, die besiegt werden kann» Das ist konsistent mit der transhumanistischen Lehre selbst. Denn die Transhumanisten sind von einem Faktum mehr als von allem anderen überzeugt, das sich in einem ihrer wichtigsten Slogans formuliert: «Altern ist eine Krankheit, die besiegt werden kann.» Diese Überzeugung vertreten mittlerweile Wissenschaftler an führenden Universitäten und Forschungseinrichtungen, so etwa Aubrey de Grey von der Universität Cambridge und William H. Andrews, Präsident der der Telomerase-Technologie gewidmeten Biotechfirma Sierra Sciences in Nevada (Wahlspruch: «Curing Aging») und früherer Protagonist des Pionierunternehmens Geron, der das vermeintliche «Unsterblichkeitsenzym» Telomerase 1997 erstmals nachweisen konnte. Beide spielen sich selbst im US-amerikanischen Film «The Immortalists» und schicken so die Botschaft der «Unsterblichkeit» ganz persönlich ins MainstreamPublikum. Mediale Aufmerksamkeit in der «transhumanistischen Szene» erfährt letzthin auch der deutsche Sozialpsychologie Bertolt Meyer von der Universität Zürich. Er wurde ohne linken Unterarm geboren und verfügt heute über eines der innovativsten Modelle bionischer Hände. Mithilfe intelligenter Sen- Global soren kann seine künstliche Hand Objekte greifen und halten und kommt somit der Funktionalität einer «natürlichen» Hand recht nahe. Seine Prothese führt pragmatisch die positiven Potentiale der Technologie vor Augen, vor allem für behinderte und kranke Menschen. Meyer diente außerdem als Modell für eine ihm nachgebildete Vollsimulation eines ersten vollständig «bionischen» Körpers («The Bionic Man»), in der manche die Zukunft des menschlichen Körpers im Zeitalter des Transhumanismus erkennen. Als Gesicht des 1 Millionen Dollar teuren Roboters wurde er zu einer Ikone transhumanistischer Parteigründungen, etwa der englischen. Interessanterweise ist es aber gerade Meyer selbst, der in öffentlichen Auftritten häufig vor den ethischen Problemen transhumanistischer Entwicklungen warnt. Seine bionische Hand kostet so viel wie ein Kleinwagen, und ein künstliches Herz kann man gegenwärtig für circa 100.000 Dollar erwerben. Das lässt natürlich Fragen bezüglich des gleichen und gerechten Zugangs zu neuen Technologien aufkommen, die ähnlich im übrigen auch der Direktor des Instituts für die Zukunft der Menschheit, Nick Bostrom, bei einer Anhörung vor der BRAIN-Initiative des US-Präsidenten in Washington im Sommer 2014 zu einer der Hauptfragen für eine gesellschaftlich ausgewogene und friedliche Entwicklung der bereits in vollem Gang befindlichen biotechnologischen Revolution erklärte. Aktuell handelt es sich bei biotechnologischen Prothesen noch um Nischenprodukte für Kranke und Behinderte, für die in Europa größtenteils Krankenversicherungen aufkommen. Wenn transhumanistische Technologien jedoch im Mainstream ankommen, das heisst kommerziell zur Erweiterung und Optimierung des gesunden Menschen angeboten werden, womit innerhalb des kommenden Jahrzehnts zu rechnen ist, wird auch hier die Marktlogik greifen und neue Ungleichheiten produzieren – nicht mehr nur sozioökonomische, sondern dann vor allem auch biotechnologische – und, wenn man Nick Bostrom glauben mag, in erster Linie über die Gehirnmodifikation auch eine der Intelligenz, die dann alle anderen Bereiche ebenfalls betreffen und die Universität als Ort der Bildung und entscheidender Qualifikation ablösen würde. von Neurotechnologie – auch mit dem menschlichen Bewußtsein und seinem Alltag immer direkter verbindet. Eben die entsprechende Zweischneidigkeit der Entwicklung am Schnittpunkt zwischen Mensch, Bewußtsein und «inversiver» Technologie wird zu einer der wichtigsten – wenn nicht gar zur wichtigsten politischen Frage der kommenden Jahre werden. Und zwar unabhängig davon, ob traditionelle LinksRechts-Parteien, Humanisten oder Transhumanisten die Oberhand in ihrer politischen Steuerung gewinnen werden. Sicher ist dabei auch, dass die traditionellen politischen Parteien von diesen drei Akteuren am vergleichsweise schlechtesten auf die bevorstehende Entwicklung vorbereitet sind – und dass eine «rationale Öffentlichkeit» dazu in Europa noch kaum existiert, aber dringend notwendig wird. Fazit? Die Problematik der politischen Selbstorganisation des «Transhumanismus» und seiner Seitenzweige als «Dritter Weg» und als Alternative zu traditionellen Parteien auf die Problematiken jener «Internationalen» des 19. und 20. Jahrhunderts zu reduzieren, hiesse, das Neue der Entwicklung jenseits von links und rechts zu verkennen. Ebenso verhält es sich mit der Befürchtung, dass die Internationalisierung der Politiken des Transhumanismus eine Entnationalisierung samt Unterminierung des souveränen Staates heraufbeschwöre. In einem Augenblick, in dem Vergessen von der neuen Gehirnforschung, die bereits stark transhumanistische Einflüsse zeigt, so intensiv wie nie zuvor erforscht und als technologisch in den Griff zu kriegende «Kunst» propagiert wird, um unerwünschte Erinnerungen zu eliminieren und dadurch angeblich die mentale Gesundheit zu fördern; in einem Augenblick, in dem «mentale Gesundheit» an sich zu einem Kernelement der modernen «Sorge für das Selbst» und zugleich zum zentralen gesellschaftlichen Legitimationsargument des Transhumanismus wird; und in einem Augenblick, in dem eine transhumanistische Ästhetik allmählich auch in der Breitenkultur um sich greift, wie etwa bei der Pop-Künstlerin Björk, ist die Politik Europas gut beraten, die Politisierung des Transhumanismus weit ernster zu nehmen als bisher. Von Roland Benedikter und Katja Siepmann Erwartet uns eine «Brave New Transhumanist World»? party Fazit? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Überzeugungen breiter in die Gegenwartskultur einlagern und sich deutlicher politisch auswirken. Offen bleibt aber, wie das geschehen wird, und welche Diskussion daraus zwischen Humanismus und Transhumanismus entstehen kann. Die Zeit bis zu einem tiefgreifenden technologischen Paradigmenwandel, der sich unwillkürlich auf alle anderen Gesellschaftsbereiche auswirkt und damit in jedem Fall politisch sein wird, egal ob und wann sich die «Transhumanistische Partei» weltweit an den Urnen durchsetzt oder nicht, könnte in der Tat viel kürzer sein, als die meisten glauben. Die Geschwindigkeit, mit der sich Technologie entwickelt und neue transnationale Initiativen zur Verbreitung transhumanistischer Visionen gestartet werden, hat bereits heute ungeahnte – und vor allem in Europa noch zu wenig beachtete – Ausmaße angenommen. Am 14. März 2015 startete nun auch die Rekrutierung von Parteimitgliedern der entstehenden «Transhumanistische Partei Deutschland. Bildung. Innovation. Leben. Zukunft» in sozialen Netzwerken. Im Aufruf heißt es: «Unsere Unterstützer sind in der Regel zur Reflexion fähige, intelligente und individualistische Menschen mit einer ausgeprägten Meinung... Die Kraft zur Veränderung kommt immer aus einer Begeisterung – in diesem Fall aus der Begeisterung von Tausenden Menschen, welche Technik und Innovation, die bestmögliche Befähigung und Förderung des Individuums im Einklang mit der Natur und ein soziales, gemeinschaftliches Miteinander in der Gesellschaft wünschen, welches jedem Menschen Freiheit, Sicherheit und Wohlbefinden, verbunden mit einem sehr langem, gesunden Leben ermöglicht.» Roland Benedikter, Dr. Dr. Dr., ist Research Scholar für Politische Analyse am Orfalea Zentrum für Globale und Internationale Studien der Universität von Kalifornien in Santa Barbara, Trustee der Toynbee Prize Foundation Boston und Vollmitglied des Club of Rome. 2009-13 war er Research Affiliate am Europa-Zentrum des Freeman Spogli Institute for International Studies der Stanford Universität. Er ist Autor von zahlreichen Büchern zu globalen strategischen Fragen, darunter des 2015 erscheinenden Buches ‹Neuroscience and Neuroethics: Impacting Human Futures› (Springer Verlag New York, gemeinsam mit James Giordano, Georgetown Universität), Co-Autor von zwei Pentagon und U.S. Generalstab ‹White Papers› zur Zukunft von Neurotechnologie und Ethik (2013 und 2014) sowie von Ernst Ulrich von Weizsäckers ‹Bericht an den Club of Rome› 2003. Er schreibt unter anderem für Foreign Affairs, Harvard International Review (in deren Advisory Board er ist), European Foreign Affairs Review und Challenge: The Magazine of Economic Affairs. E-mail: [email protected]. Gewiss, Europa braucht dringend Innovationen – vor allem im Bildungsbereich –, um im globalen Wettbewerb mithalten zu können. Freiheit, Sicherheit und Wohlbefinden sind ebenfalls positive Werte, und ein langes und gesundes Leben in Harmonie mit der Natur wünschen sich auch die meisten. Leider blendet diese sozialutopische Rhetorik aber die möglichen Gefahren radikaler Technologie aus, die sich mit dem menschlichen Körper und – in Gestalt etwa der sich rasch verbreiternden Anwendungen Katja Siepmann, MA, ist Lehrbeauftragte zum Thema Transhumanismus und neue Technologien an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder, Forscherin am Marktforschungsinstitut Opina in Santiago de Chile und Senior Scholar des Council on Hemispheric Affairs (COHA) in Washington DC. Sie hat für Fachzeitschriften wie Foreign Affairs, Harvard International Review und Challenge geschrieben. E-mail: [email protected]. Selbst Heute schon gedopt? Wahrscheinlich ja – wenn Sie zu den Kaffeetrinkern gehören. Koffein ist für viele noch immer der liebste Wachmacher und das populärste Fördermittel der Konzentration. Aber seit einiger Zeit rücken neue Medikamente ins Licht der Öffentlichkeit – Mittel, die in dem Ruf stehen, Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit zu erhöhen. Die Rede ist vom «Neuro-» oder «Cognitive Enhancement», der Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit über das Normalmaß hinaus. Arzneimittel wie Modafinil oder Ritalin wird nachgesagt, sie könnten den Geist auf Trab bringen. Äußerst wenig davon wurde bislang im wissenschaftlichen Versuch oder der Praxis bestätigt. Warum werden die pharmakologischen Helfer gleichwohl fraglos aus den Regalen gereicht? Die kurze Antwort: Sie sind Zeichen einer veränderten Kultur, die statt auf Ekstase und Entspannung auf Leistung und Durchhalten setzt. Nachdem mit LSD, Psilocybin und Cannabis die Halluzinogene der 60er in den 90er Jahren ein Revival erfuhren, sind diese Drogen auf der Beliebtheitsskala gesunken. Im Gegenzug trat die einstige Schicki-Droge Kokain einen Siegeszug an, der bis heute anhält. Und weltweit nehmen mittlerweile mehr Menschen synthetische Stimulanzien wie Amphetamin («Speed») zu sich, als die lange präferierten Opiate zu konsumieren. Das legale Spiegelbild dieser Entwicklung hin zu leistungsfördernden Drogen sind Neuro-Enhancer wie Ritalin und Modafinil. Ritalin (chem. Methylphenidat) ist ein Derivat von Amphetamin und wie Modafinil ebenfalls ein Stimulans. Dass nun ausgerechnet solche primär leistungssteigernden Medikamente dazu beitragen sollen, einen kreativen Umgang mit sich selbst und seinen Mitmenschen zu fördern, verwundert. Funktion und Wille stehen im Vordergrund, so wurde beispielsweise Modafinil bei den britischen Truppen in Afghanistan und Irak sowie bei Space Shuttle Missionen eingesetzt. Wie soll aber eine Gesellschaft mit Neuro-Enhancement und den pharmakologischen Substraten umgehen? Experten sehen die Verantwortung meist bei der Einzelperson. Grenzziehungen der individuellen Redlichkeit zu überlassen ist eine hehre Methode; sie funktioniert jedoch nur bedingt in einer Gesellschaft, die im Schneller, Höher, Weiter ihr Seelenheil sieht. An den Neuro-Enhancern lässt sich zeigen, wie zweischneidig das Prinzip Eigenverantwortung ist. Denn Eigenverantwortung setzt zum einen den mündigen Konsumenten voraus und vernachlässigt zum anderen dessen Einbettung in das moderne Leistungssystem. Marx nannte das den «stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse». Heute, so scheint es manchmal, wird mit erhöhter Subtilität eine Wahlfreiheit vorgegaukelt, die letztlich doch nur wieder nur das Funktionieren in der Arbeitswelt garantieren soll. Und geht es nicht um Arbeit, so geht es um die Eliminierung unerwünschter Persönlichkeitseigenschaften. Selbst Schüchternheit kann heute schon als behandlungswürdige Sozialphobie gelten. Die Kernfrage des Neuro-Enhancement geht also weit über die pharmakologische Beeinflussung des Geistes hinaus: Wie kann künftig die Grenze zwischen Selbstgestaltung und Selbstausbeutung gezogen werden? Zahlen und Fakten Bei aller Kritik der Verhältnisse darf vor Alarmismus gewarnt werden, ist doch die Verbreitung von Hirndoping noch gering. Der HISBUS Online-Panel befragt regelmäßig und repräsentativ deutsche Studenten. Zwischen Dezember 2010 bis Januar 2011 nahmen knapp 8.000 Studenten an einer Befragung teil, die den Dopingleidenschaften der kommenden wirtschaftlichen und kulturellen Intelligencia auf dem Grund gehen wollte. Glaubt man den Antworten, dann haben nur 5% der Befragten jemals eine psychoaktive Substanz eingenommen, um gezielt leistungsfähiger oder entspannter zu werden. Angesichts der verschiedenen Mittel, die angegeben wurden, ist das wohl erstaunlich wenig. Denn nicht nur die klassischen Cognitive Enhancer wie Ritalin und Modafinil fallen unter die Autoren-Definition des Hirndoping, sondern auch Drogen wie Cannabis, MDMA, Speed und Kokain sowie Arzneimittel wie Betablocker, Schmerzmittel, Schlafmittel und Antidepressiva. Der Großteil erhält das Mentaldoping vom Arzt verschrieben. Wohlgemerkt geht es den Hirndopern laut eigenen Angaben überwiegend nicht um geistige Leistungssteigerung, sondern um die Linderung von Nervosität und Lampenfieber. Fast 50% der Doper wollen sich beruhigen, ein Drittel bekämpft Schmerzen. Hier wird nicht nur gedopt, sondern sediert, gefeiert und optimiert. Die Übergänge zwischen studentischer Vergnügungslust, Stressabbau, Gesundheitserhaltung über Ernährung und Nahrungsergänzung sowie lernorientierenden Konsumverhalten sind fließend. Die Eltern von auf ADHS diagnostizierten Kindern hören es nicht gern, dass das verabreichte Medikament in der Tradition der Stimulanzien steht. Ritalin ist ein Amphetaminderivat und soll Kindern und Erwachsenen helfen zu fokussieren. In den Studien mit gesunden ProbandInnen sind die Ergebnisse allerdings widersprüchlich. Leistungssteigerungen stehen Leistungsabfällen gegenüber. Der Ruf, den Ritalin als Neuro-Enhancer hat, gründet weniger darauf, kreative Schübe auszulösen oder intelligenter zu handeln, als darauf wach zu halten. Der Wirkstoff Modafinil galt lange als der verheissungsvollste Neuro-Enhancer. Die Aufregung um die Substanz liegt auch darin begründet, dass sie strukturchemisch nicht richtig zuzuordnen ist: Sie ist kein geartetes Derivat der Amphetamine, Alkaloide oder gar Halluzinogene. Dieser Umstand hält sie bislang aus dem Fokus der Drogenkontroll-Institutionen. Die Substanz hält wach, kann aber die kognitiven Leistungen nicht zuverlässig über ihre Bandbreite steigern – im Gegenteil. Oftmals nehmen die Leistungen in bestimmten Bereichen sogar ab. Die neusten Studien weisen darauf hin, dass Modafinil umso weniger hilft, desto intelligenter die einnehmende Person ist. Dies deutet auf ein bekanntes Phänomen hin. Der menschliche Körper und sein Gehirn versuchen die Effekte von Fremdsubstanzen zu adaptieren und wirken ihnen entgegen. Toleranzbildung ist oft die Folge. Sollten nun tatsächlich weithin nebenwirkungsarme Neuro-Enhancer existieren, die sich in die Klasse von Kaffee und Tee einfügen, so besteht das Risiko, dass auch sie regelmässig eingenommen werden müssen, um uns überhaupt in Fahrt zu bringen. Quantified Self Durch den rasanten technischen Fortschritt beschränken sich die Optimierungsversuche längst nicht mehr auf pharmakologische Interventionen. Wo früher Waage und Fieberthermometer ausreichen mussten, um den eigenen Gesundheitszustand zu messen, stehen heute eine Vielzahl von Gadgets bereit. Bio-Sensoren und Apps können Körperfunktionen aufzeichnen, aus den gewonnenen Daten werden Handlungsanweisungen für optimalen Schlaf, gesündere Ernährung, bessere Fitness und höhere Intelligenz gezogen. Das Quantified Self ist geboren, die lose gekoppelten Mitglieder dieser Bewegungen nennen sich «Self-Tracker». Dieser technische Enthusiasmus ruft Kritiker auf den Plan. Diese reiben sich nicht nur am gefährdeten Datenschutz, sondern befürchten einerseits einen Kampf gegen den eigenen Körper, der sich der Illusion hingibt, über eine gesteigerte Selbstkontrolle Herr über das eigene Schicksal werden zu können. Andererseits beginnt man in den Trackern die Spitze der gesellschaftlichen Tendenz und die physische Vollkommenheit als das höchste Gut im Leben zu sehen. Jüngst hat sich die Autorin Juli Zeh mit einem grimmigen Artikel zu Wort gemeldet. Zeh hatte schon in ihrem Roman «Corpus Delicti» eine Gesundheitsdiktatur beschrieben, in der hyperhygienische Kontrollen und Regulationen herrschen. In der SelbstQuantifzierung sieht sie nun eine Art Magersucht für Männer, in den Trackern die Versuchskaninchen für das aufkeimende «Konzept des Gesundheitsuntertanen». Ihr Argument: «Wenn es einen optimalen Lebensstil gibt, der zum optimalen Körper führt, dann gibt es auch messbare Abweichungen, an die sich Belohnung und Strafe knüpfen lassen.» Man kann das für übertrieben halten. Florian Schumacher vom Quantified Self Netzwerk Deutschland gibt zu bedenken, dass es einen allgemein gültigen, optimalen Lebensstil ohnehin nicht gäbe, da sich jeder Mensch in seinem Stoffwechsel, seinen gesundheitlichen Voraussetzungen und seinen persönlichen Bedürfnissen unterscheide. «Lösungen nach dem Prinzip von Quantified Self zielen darauf ab, besser auf den Einzelnen mit seinen individuellen Besonderheiten einzugehen. Die Auseinandersetzung mit sich selbst führt zu Wissen, welches man für einen selbstverantwortlichen Lebensstil einsetzen kann.» Darin sieht er primär eine Chance zum mündigen Umgang mit der eigenen Gesundheit. Allerdings fallen die Optimierungsbemühungen der Self-Tracker in eine Zeit, in der das Individuum ohnehin als durch und durch messbare und jederzeit zu verbessernde Gestalt interpretiert wird. Die Industrie steht zur Seite, wenn es darum geht, an be- liebigen Stellschrauben zu drehen: Nahrungsergänzungsmittel für die tägliche Ernährung, Koffein für das Büro, Stimulanzien für den Abend und vor dem Halbmarathon ein paar Schmerzmittel. So sehr man den Optimierungswahn auch kritisieren mag: Quantified Self könnte durchaus zur zivilen Selbstermächtigung und der damit möglichen Autonomisierung von den Institutionen des Gesundheitssystems und Fitnessbranche beitragen. Folgt man allerdings AutorInnen wie Juli Zeh, ist körperlich-geistige Kultivierung ohne Unterordnung unter das kapitalistische Leistungsdiktat überhaupt nicht möglich. Auch die junge Bewegung der Self -Tracker kommt nicht um die Frage herum, ob sie einer weiteren Form leistungsgesellschaftlicher Anpassungsvorgänge unterliegen und so zur Erosion gesellschaftlicher Solidarität beitragen. In den modernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaften hat die zentrale Bedeutung der entlohnten Erwerbstätigkeit ein Heer von Tätigen erschaffen, die aus ihrer Arbeit einen Grossteil ihrer Bestätigung, ihres Selbstbildes und Lebenssinns schöpfen. Wer hier versagt, dem bricht oft das innere Korsett weg. Wer dann nicht die Bremse tritt, dessen ständiger Stress greift die Körperfunktionen an. Die Übergänge zwischen Burn-Out und Depression sind fließend. Und um auch noch das beliebte Schlagwort des NeoLiberalismus ins Spiel zu bringen: Dieser hat die Verantwortung noch einmal mehr auf das Individuum verschoben, das deutlich stärker als früher für sein Schicksal und sein gelingendes Leben verantwortlich ist. Dem Arbeitsstress wird mit knallharter Meditation entgegen gewirkt: Am Samstag Rave, am Sonntag Yoga, am Montag Bank. Die menschliche Taktung, die schon durch die Industrialisierung einen gewaltigen Schub bekam, scheint den stampfenden Rhythmus der Maschinen verlassen und sich den Oszillationen der Prozessoren anpassen zu wollen. Das stößt uns natürlich an die Grenzen der Belastbarkeit. Mithin wird das eigene Nervenkostüm als Feind aufgefasst, dass den Geboten des Multitasking angepasst werden muss. Dem in die Karten spielt ein ungebrochener Wissenschaftsglaube, der suggeriert, dass zu jedem Zustand, mehr noch, zu jeder Befindlichkeit, ein Mittel existiert, das den Zustand noch steigert, eliminiert oder zumindest dämpft. Die letzten drei Jahrzehnte der Medizin stehen nicht zufällig unter dem Primat der Hirnforschung. Sie bestimmt den Diskurs um menschliches Erleben. Wo ist die Rettung? Auf subjektiver Ebene sicherlich in dem wachen Blick auf die eigene Geschichte, Sinnhaftigkeit von Tätigkeit und Leben – und im Bedarfsfall in der Wahl des richtigen Arztes, der in der Lage ist und sich die Zeit nimmt, die Gesamtperson, die vor ihm sitzt, zu würdigen. Intersubjektiv sicherlich in einer neuen Bestärkung des sozialen Miteinanders. Auf Systemebene ist eine stärkere Autonomie der medizinisch-pharmazeutischen Wissenschaft von der herstellenden Industrie anzustreben. Und nicht zuletzt kulturell gilt es, die verinnerlichten Konsummentalitäten aufzubrechen, die, gestützt vom Funktionsdenken, vorgeben, für jeden geistigen Zustand ein technologisches Mittel zu dessen Potenzierung oder Dämpfung zu besitzen. von Jörg Auf dem Hövel ausbeutung Die 1948 verabschiedete Erklärung der Menschenrechte garantiert uns, dass Alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Und doch wissen wir alle, Menschen waren noch nie gleich. Und viele wollen es auch nicht sein. Die evolutionäre Entwicklung der Menschheit gegenüber anderen Arten war nicht zuletzt darum so erfolgreich, weil sie immer auch auf einem gegenseitigen Wettbewerb innerhalb der Menschheit basierte. Der britische Naturforscher Sir David Attenborough behauptete zwar kürzlich, dass wir fz307 die Evolution des menschlichen Körpers gestoppt haben, weil wir die natürliche Auslese überwunden haben. Er meinte damit aber keineswegs, dass die Evolution an sich nicht mehr stattfindet; vielmehr findet der evolutionäre Prozess auf kultureller, kognitiver und technologischer Ebene statt. Die für die Evolution des Menschen so wichtige Anpassungsfähigkeit ist auch hier gleichermassen Fluch und Segen. Denn wo immer man versucht, Gleichheit zu vermessen, entsteht Ungleichheit. Standardisierte Tests, begonnen mit dem IQ-Test bis zu den Pisa-Studien zielen darauf ab, eine Eigenschaft oder einen Zustand objektiv vergleichen zu können. Während die Tests damit oft unberührtes Neuland beschreiten, folgen ihnen hinterher fast zwingend die Bemühungen, von ihren Erkentnissen zu profitieren. Pharmakologische Neuroenhancer, angepasste Lehrpläne, regelmässige Schönheitsbehandlungen oder Fitnessarmbänder sind dabei die Mittel zum quantifizierten Selbst; und während sie den einen dabei helfen, etwas gleicher zu werden, dienen sie den anderen dabei, aus der Gleicheit auszubre- chen. Nachdem Oscar Pistorius mit seinen KarbonProthesen bereits an der sogenannt «normalen» Olympiade gelaufen ist, ist es lediglich noch eine Frage der Zeit, bis ein Paralympics-Athlet einem gewöhnlichen Athleten überlegen sein wird. Folgt man dieser Konsequenz aus Leistungssport und Selbstoptimierung, dann verwundert es auch nicht, wenn sich die britische Paralympics Sportlerin Danielle Bradshaw ihr zweites Bein amputieren lassen möchte, damit sie an den Paralympics 2016 als Doppel-Amputierte eine bessere Leistung erreichen kann. Die Grenzen zwischen Selbstoptimierung und –ausbeutung lassen sich selten klar ziehen. Die Autoren der vorliegenden Ausgabe beleuchten den Transhumanismus und Quantified Self und aus unterschiedlichen Blickwinkeln und zeigen dabei auf, welche gesellschaftlichen und politischen Fragen durch die zunehmende Verschmelzung von Mensch und Technologie entstehen. von Ivan Sterzinger