ORIGINALBEITRÄGE St. Springer Zusammenfassung Begutachtungsrelevante psycholo­ gische, psychosomatische und psy­ chiatrische Aspekte bei Essstörungen mit der Folge einer Adipositas im ­Kindes- und Jugendalter Einleitung Die Adipositas im Kindes- und Jugendalter stellt wegen ihrer Häufigkeit ein bedeutendes gesundheitliches und gesundheitspolitisches Problem dar, welches in den Querschnittsdaten des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS-Studie) mit 6,3 % adipösen Kindern und Jugendlichen zwischen 3 und 17 Jahren beschrieben ist [11]. Es ist bekannt, dass die Adipositas keine monokausale Erkrankung darstellt, sondern für die Entstehung der Adipositas gesellschaftliche, familiäre, individuelle und genetische Faktoren verantwortlich sind [20]. Da nur in wenigen Fällen eine einzige somatische Grunderkrankung der Adipositas zugrunde liegt (z. B. Prader-Labhart-Willi-Syndrom, Cushing-Syndrom, Hypothyreose) und die Adipositas selten ohne Begleiterkrankungen auftritt, wird im Kindes- und Jugendalter bei Diagnostik und Therapie ein besonderes Augenmerk auf die für die psychische Entwicklung relevanten personenbezogenen und umweltbezogenen Kontextfaktoren gelegt [19]. Anschrift des Verfassers Dr. med. Stephan Springer Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Schwerpunkt Neuropädiatrie Facharzt für Kinder- und Jugend­ psychiatrie und -psychotherapie Klinik Hochried Hochried 1–12 82418 Murnau Behandlungsbedürftigkeit der Adipositas mit Komorbidität In Verbindung mit der Adipositas sind psychische Auffälligkeiten (wie ein negatives Selbstbild und eine Tendenz zu depressiven Verstimmungen), psychosomatisch beeinflusste Krankheitsbilder (wie Asthma bronchiale, Kopfund Rückenschmerzen), aber auch manifeste psychiatrische Erkrankungen (wie Depression, Angststörungen, Somatisierungsstörungen und Essstörungen) gehäuft zu beobachten [20]. Das gehäufte Zusammentreffen der Adipositas mit psychischen Symptomen bzw. psychiatrischen Krankheitsbildern ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Teilhabe und die erfolgreiche schulische und berufliche Integration der betroffenen Kinder und Jugendlichen erheblich gefährdet ist [16]. Der Krankheitswert der Adipositas wird im Kindes- und Jugendalter daher auch über die psychosoziale Beeinträchtigung definiert [1]. Diagnostik bei psychischen Begleiterkrankungen Bei der Begutachtung, Begleitung und Behandlung adipöser Kinder und Jugendlicher muss man unterscheiden zwischen ◾◾ psychischen Symptomen, die in Zusammenhang mit der Adipositas und den Kontextfaktoren stehen und sich mit der Reduktion der Adipositas bessern können, ◾◾ psychosomatischen Krankheitsbildern, deren Ausmaß ebenfalls in engem Zusammenhang mit dem Kernproblem der Adipositas stehen 222 Der Krankheitswert der Adipositas wird im Kindes- und Jugendalter auch über die psychosoziale Beeinträchtigung definiert. Daher müssen bei der Begutachtung mögliche psychische Auffälligkeiten, psychosomatisch beeinflusste Krankheitsbilder und psychiatrische Erkrankungen stets berücksichtigt werden. Die Teilhabe und die erfolgreiche schulische und berufliche Integration der betroffenen Kinder und Jugendlichen sind oft erheblich gefährdet. Die Komorbidität somatischer und psychiatrischer Erkrankungen wird bei der professionellen, multiaxialen kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik bereits berücksichtigt. Bei der Therapieplanung im Kindes- und Jugendalter ist unverzichtbar darüber hinaus das Einbeziehen der individuellen und psychosozialen Kontextfaktoren, der Eltern im Besonderen, und das frühzeitige Einbeziehen eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie bei Bedarf. Dies gilt auch für die Begutachtung. Schlüsselwörter Adipositas – Kinder- und Jugendpsychiatrie – Begutachtung – Essstörungen – Kontextfaktoren – Depression – Binge-Eating-Störung und sich bessern können, die aber für sich einen eigenen Krankheitswert und Behandlungsbedürftigkeit haben, ◾◾ psychiatrischen Krankheitsbildern, die gehäuft in Zusammenhang mit der Adipositas als sogenannte Komorbidität zu beobachten sind, sich aber nur durch fachkundige Behandlung und nicht allein durch die Reduktion der Adipositas bessern lassen. Im Behandlungsalltag ist diese Trennung meist nicht möglich, da sich adipöse Kinder und Jugendliche häufig in einem „psychosozialen Teufelskreis“ befinden [16]. Der niedrige Selbstwert und die psychischen Symptome verstärken und fördern die soziale Ausgrenzung, die ihrerseits wieder die Symptome verstärkt. Dies ist ein maßgeblicher Faktor für die Gefährdung der schulischen Integration, die bei der Diagnostik und Therapie beachtet werden muss. Die genannten Aspekte werden bei der professionellen, multiaxialen, kinder- MED SACH 109 6/2013 ORIGINALBEITRÄGE und jugendpsychiatrischen Diagnostik bereits berücksichtigt. Die multiaxiale Diagnostik, entwickelt in den 90er Jahren, hat die Kriterien des biopsychosozialen Modells der ICF der WHO [10, 14] bereits vorweggenommen. Es werden Befunde erhoben zu den folgenden sechs Achsen des Multiaxialen Klassifikationsschemas für psychische Störungen im Kindesalter (MAS) [17]: ◾◾ Achse I: psychiatrische Erkrankung (z.B. Essstörung, Depression…), ◾◾ Achse II: umschriebene Entwicklungsstörungen (z. B. Sprache, Lese-Rechtschreib-Störung…), ◾◾ Achse III: Intelligenzniveau, ◾◾ Achse IV: körperliche Erkrankungen (z.B. Adipositas, Hypothyreose…), ◾◾ Achse V: psychosoziale Umstände/ Kontextfaktoren, ◾◾ Achse VI: Ausmaß der psychosozialen Beeinträchtigung. Zur psychiatrischen Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit und ohne Adipositas werden verschiedene Verfahren nebeneinander eingesetzt: ◾◾ ausführliche psychiatrisch orientierte Eigen- und Fremdanamnese (unter Berücksichtigung von Aktivitätsniveau und Teilhabebeeinträchtigung nach ICF [10]); ◾◾ psychischer Befund; ◾◾ Screeningverfahren und Fragebögen (mit Eigenangaben der Patienten und Fremdangaben von Eltern und z. B. Lehrern); ◾◾ testpsychologische Untersuchungen; ◾◾ sogenannte projektive Testverfahren. Behandlungsfähigkeit und Therapieplanung Nicht nur bei der Diagnostik, sondern auch bei der Therapieplanung im Kindes- und Jugendalter ist, wie oben dargestellt, unverzichtbar: ◾◾ das Einbeziehen der individuellen und psychosozialen Kontextfaktoren; ◾◾ das Einbeziehen der Eltern im Besonderen; ◾◾ das frühzeitige Einbeziehen eines Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie bei Bedarf. Dies drückt sich auch in den Behandlungsleitlinien aus, in denen für die Behandlung der Adipositas und ihrer Komorbiditäten eine multiprofessionelle und langfristig angelegte Therapie empfohlen wird [1]. Über die klinisch nachgewiesene Wirksamkeit der ambulanten und stationären Behandlungsangebote gibt es aber nur wenige aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen [8]. Diese zeigen, dass die vorwiegend gruppenorientierten Behandlungsprogramme einschließlich Schulungen nur dann eine gute Prognose bzw. eine bessere Prognose haben, wenn eine echte Behandlungsbereitschaft und eine ausreichende Gruppenfähigkeit der Teilnehmer besteht. Daher stoßen diese (häufig stationären) Behandlungsprogramme bei Betroffenen mit psychiatrischen Begleiterkrankungen nicht selten an ihre Grenzen [18]. Eine Behandlung zusammen mit einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist in diesen Fällen erforderlich. Eine psychiatrische Komorbidität stellt aber im Unterschied zum Erwachsenen [3] nicht per se bereits eine Kontraindikation für eine Adipositastherapie dar. Es besteht Einigkeit, dass für Kinder mit psychischer bzw. psychiatrischer Komorbidität eindimensionale Behandlungsprogramme zur alleinigen Gewichtsreduktion nicht ausreichend sein können. Dies heißt aber für die mit am häufigsten angewandte Behandlungsmethode der stationären Rehabilitation nicht, dass alle diese Jugendlichen keine Rehabilitationsfähigkeit für eine stationäre medizinische Rehabilitation haben [21]. Die multimodale Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas und Schulproblemen unter Verwendung psychoedukativer, kognitiver und übender Verfahren ist unter anderem bei Pothmann ausführlich beschrieben [15, 16]. Eine Adipositastherapie im engeren Sinne bei Kindern und Jugendlichen ruht auf den drei Säulen der Ernährungstherapie, der Bewegungstherapie und der Verhaltenstherapie, ergänzt um Schulungen von Patienten und Eltern. Die Verhaltenstherapie und Begleitung der Eltern muss und kann bei psychischer Komorbidität individuell angepasst werden. Langzeitstudien haben die Wirksamkeit des verhaltensorientierten Ansatzes zur Reduktion der psychischen Symptome nachgewiesen [4]. Die Stärke stationärer Behandlungen liegt in der nachhaltigen Mitbeeinflussung der psychischen und psychosozialen Faktoren [1]. Typisch für die stationäre Therapie ist die großzügige Vernetzung mit den Heimatschulen der Betroffenen unter Einbeziehen auch der Jugendhilfe bei Bedarf (mit Teilhabebeeinträchtigung nach § 35a SGB VIII). Die Wirksamkeit des Einbeziehens von Eltern und psychosozialem Umfeld ist im Alltag offensichtlich, aber noch kaum wissenschaftlich nachgewiesen. Bedeutung des psychosozialen Umfelds und der Eltern Die enge Assoziation der kindlichen Adipositas mit sozioökonomischen Risikofaktoren ist durch Feldstudien inzwischen bewiesen [13]. In amerikanischen Studien wurde die enge Assoziation zwischen psychiatrischen Störungen, Schulschwierigkeiten und Adipositas ebenfalls nachgewiesen und daraus die Notwendigkeit einer familienorientierten Behandlung abgeleitet [7]. Das familiäre Umfeld stellt aber nicht nur einen Schutzfaktor, sondern nicht selten auch einen Risikofaktor dar. Dieses Risiko besteht nicht nur bei Adipositas der Eltern oder niedrigem sozioökonomischem Status. Auch die mütterliche Depression führt zu häufigerer Adipositas bei Jungen [6]. Bedeutung anderer Essstörungen bei Adipositas Die im Kindes- und v. a. Jugendalter beginnenden Essstörungen spielen bei der Differenzialdiagnostik zwar eine Rolle (siehe unten). Die Möglichkeit ihres Auftretens stellt keine Kontraindikation zur Therapie dar: Bei der Adipositasbehandlung durch geschulte Fachkräfte sind nur minimale Risiken hinsichtlich der Entwicklung von Essstörungen durch die Behandlung nachgewiesen [5]. Die Adipositastherapie stößt aber beim Auftreten von Essstörungen oder anderen schweren psychiatrischen Erkrankungen an ihre Grenzen. Im Kindes- und Jugendalter relevant sind die drei Essstörungen Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und BingeEating-Störung (BES). Bei der Anorexie und Bulimie wird das Gewicht von den Betroffenen streng kontrolliert. Menschen aber, die an einer Binge-Eating- MED SACH 109 6/2013 223 ORIGINALBEITRÄGE Störung leiden, setzen keine Maßnahmen ein, um einer Gewichtszunahme vorzubeugen. An einer BES erkrankte Patienten (2/3 Frauen, 1/3 Männer) sind häufig übergewichtig oder adipös. Dies stellt eine besondere Herausforderung für deren Behandlung dar [2]. Von der BES, ebenso wie von der Anorexia nervosa und der Bulimia nervosa, sind vorwiegend Adoleszente betroffen, so dass bei der Diagnostik und Therapie der Essstörungen vergleichbar mit der Adipositas das familiäre Umfeld mit einbezogen werden muss und multimodale therapeutische Ansätze empfohlen werden [2]. Binge eating wird bereits bei 2 % der Kinder im Grundschulalter von Eltern im Rahmen einer Feldstudie benannt [12]. Es zeigt sich eine starke Korrelation des frühen binge eating mit Adipositas, v.a. aber auch mit Essstörungen der Mutter mit einer Odds ratio von 6,1 [12]. Die Assoziation zwischen Essstörung und Adipositas ist umso stärker, je jünger die Kinder sind [12]. Etwa 60 % aller Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen können nicht einer der drei Kategorien Anorexie, Bulimie oder binge eating zugeordnet werden. Die Prävalenz für atypische Essstörungen bei Jugendlichen beträgt mindestens 2 bis 3 %, für die typischen Essstörungen 1 bis 1,5 % [2]. Bei Adipositas nimmt die Häufigkeit des begleitenden Auftretens von BES auf bis zu 20 bis 30 % mit dem Alter erheblich zu [2]. Für das Screening speziell der Essstörungen im Kindes- und Jugendalter stehen verschiedene geeignete Fragebogenverfahren wie der Ch-EDE, EDEQ, EDI und FEV zur Verfügung [2]. In Zusammenhang mit den Essstörungen werden im Kindesalter nicht die absoluten BMI-Werte, sondern Altersperzentilen verwendet. Hierzu wird auf den Artikel von Schnell und Danne in diesem Heft verwiesen [18]. Wenn eine Adipositas zusammen mit einer Essstörung, insbesondere der Binge-Eating-Störung, auftritt, muss bei der Therapieplanung berücksichtigt werden, dass der Verlauf der Adipositas in den meisten Fällen unabhängig von der Psychopathologie ist, also eine Gewichtsveränderung nicht zwangsläufig eine Besserung der Psychopathologie nach sich zieht und umgekehrt [2]. Die Prognose der Binge-Eating-Störung ist im Kindes- und Jugendalter deutlich besser als die der Anorexia nervosa und Bulimia nervosa; kontrollierte Therapiestudien gibt es für Kinder und Jugendliche nicht [2]. Psychiatrische Begleiterkrankungen bei Adipositas Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen sind die häufigsten komorbiden psychiatrischen Störungen der Essstörungen [2]. Viele Literaturstellen beschreiben insbesondere die enge Assoziation zur jugendlichen Depression auch ohne antidepressive, gewichtssteigernde Medikation. Entgegen der zu erwartenden Annahme, dass ein ADHS aufgrund des erhöhten Aktivitätsniveaus zu einem durchschnittlich niedrigeren Gewicht führt, ist auch bei Kindern mit dieser psychiatrischen Störung die Adipositas häufiger als in der Allgemeinbevölkerung; das ADHS muss daher ebenso wie z. B. die emotionalen Störungen oder Essstörungen als komorbides Störungsbild der Adipositas betrachtet werden [9]. Während die Behandlung des ADHS mit Methylphenidat aufgrund der appetithemmenden Wirkung nicht die Adipositas fördert, stellt die medikamentöse Behandlung der übrigen psychiatrischen Störungsbilder ein Adipositasrisiko dar; denn viele der Antidepressiva und Neuroleptika führen zu einer teils erheblichen Appetitsteigerung. Unter den psychiatrischen Erkrankungen werden auch die meisten nicht organischen Schlafstörungen klassifiziert. Diese stellen ebenfalls ein Risiko für eine Adipositas dar. Besonders das obstruktive Schlafapnoesyndrom ist gehäuft in Verbindung mit oder als Folge von Adipositas zu beobachten. Fazit Psychologische, psychosomatische und psychiatrische Aspekte spielen bei Essstörungen mit der Folge einer Adipositas im Kindes- und Jugendalter eine zentrale Rolle. Sie müssen bei der Diagnostik und Therapieplanung ebenso wie der gutachterlichen Beurteilung immer beachtet werden. Weiterhin muss immer auch das psychosoziale Umfeld, insbesonde- 224 re Eltern und Schule, in Diagnostik, Therapie und Beurteilung einbezogen werden. Die Fachkunde eines Kinder- und Jugendpsychiaters ist häufig erforderlich. Literatur 1 Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA). Leitlinien für Diagnostik, Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter. S2-Leitlinie – Version 2011 2 AWMF – Evidenzbasierte Leitlinie Diagnostik und Therapie der Essstörungen (2010) Leitlinien-Nr. 051–026 3 AWMF – Evidenzbasierte Leitlinie zur Prävention und Therapie der Adipositas (2007) Leitlinien-Nr. 050–001 4 Braet CA., Tanghe et al: Inpatient treatment for children with obesity: weight loss, psychological well-being, and eating behaviour. 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