Forschungsbericht 2005-2012 - Zentrum für Klinische Psychologie

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Franz Petermann (Hrsg.)
Diagnostik
Klinische Psychologie
Rehabilitation
Forschungsbericht
2005 - 2012
Diagnostik
Klinische Psychologie
Rehabilitation
Forschungsbericht
2005 - 2012
S. Roderer Verlag, Regensburg
2012
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de
abrufbar.
ISBN 978-3-89783-765-2
Herausgeber:
Prof. Dr. Franz Petermann
Zentrum für Klinische Psychologie und
Rehabilitation der Universität Bremen
Grazer Straße 6, 28359 Bremen
Tel.: 0421/218-68600
E-Mail: [email protected]
Lektorat:
Dr. Ulrike de Vries
Umschlaggestaltung:
Dr. Norbert A. Karpinski
© Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie
der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch
Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung
des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.
2012 Roderer Verlag, Regensburg
Vorwort
Das Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) wurde Ende 1995
als Forschungseinrichtung der Universität Bremen gegründet und hat sich in den
letzten acht Jahren weiter spezialisiert im Bereich der Klinischen Kinderpsychologie
und Testentwicklung. Beide Bereiche werden durch umfassende Drittmittelprojekte
und die Leistungen im Rahmen der Krankenversorgung in sehr unterschiedlicher
Weise geprägt.
Der vorliegende Forschungsbericht umfasst einen ungewöhnlich großen Zeitraum
von acht Jahren. Dies hatte zur Folge, dass nicht alle Projekte in diesem Zeitraum
berücksichtigt werden konnten. Kleinere Projekte von einer Förderdauer von unter
einem Jahr und solche, die nicht den Hauptgebieten „Klinische Psychologie“, „Rehabilitation“ und „Testentwicklung“ zugeordnet werden konnten, wurden nicht berücksichtigt. Die zusammengestellten 40 Projekte weisen ein Fördervolumen in der
Höhe eines zweistelligen Millionen-Euro-Betrages auf. Im Durchschnitt wurden jährlich ca. 50 wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter drittmittelfinanziert.
In der Ausbildung und Lehre engagierten wir uns im
•
•
•
•
Bachelor Psychologie (seit 2007),
Master Klinische Psychologie (seit 2010),
Graduiertenkolleg „Klinische Kinderpsychologie“ (seit 2006) bzw. „Klinische Psychologie“ (seit 2012) und der
Postgraduierten Ausbildung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten im
Rahmen des „Norddeutschen Verbundes Kinderverhaltenstherapie (NOKI)“ (seit
2011).
Darüber hinaus besteht eine Kooperation mit dem Christoph-Dornier-Institut für
Klinische Psychologie, Institut Bremen (seit 2007); in diesem Rahmen werden Psychologische Psychotherapeuten seit vier Jahren ausgebildet.
In die Zukunft blickend ist erwähnenswert, dass ab 2013 im ZKPR sowohl der Bereich „Gesundheitspsychologie“ als auch der Bereich „Rehabilitationspsychologie“
durch jeweils eine Stiftungsprofessur vertreten sein wird.
Für die Profilierung des Forschungsbereichs Säuglings- und Kleinkindforschung und
Klinische Kinderpsychologie wird das schon seit drei Jahren vorbereitete BMBFProjekt BIKE hoffentlich zum 1.4.2013 starten. Dieses Projekt ist als Längsschnittstudie über sieben Jahre, also bis Frühjahr 2020, konzipiert und wird vom Bund
(BMBF), dem Land Bremen und der Jacobs Foundation (Zürich) finanziert. Die Einrichtung einer Professur mit dem Forschungsschwerpunkt „Experimentelle Säuglingsforschung“ ist hierfür von zentraler Bedeutung.
Ich freue mich sehr, dass ich am 1.1.2007 einen Teil meines Lehrgebietes, nämlich
die „Klinische Kinderpsychologie“, an meine Frau abgeben konnte. An diesem Tag
5
wechselte meine Frau von der TU Dortmund auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für
Klinische Psychologie mit dem Schwerpunkt Klinische Kinderpsychologie. Ich danke
allen Beteiligten, die diesen Plan unterstützt haben und ermöglichten.
Besonders freut mich, dass wir seit dem 1.11.2010 mit Herrn Dipl.-Volkswirt Michael Behrends unseren Verwaltungsbereich gestärkt haben. Darüber hinaus steht mir
seit dem 1.4.2011 die Geschäftsführerin des ZKPR, Frau Dr. Ulrike de Vries, zur Seite. Mein Dank geht selbstverständlich auch an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ZKPR für die stets gute und erfolgreiche Zusammenarbeit.
Bremen, im Dezember 2012
Prof. Dr. Franz Petermann
Direktor des ZKPR der Universität Bremen
6
Inhalt
Inhalt
Vorwort ............................................................................................................... 5
Aufbau und Struktur des ZKPR ............................................................................. 7
Wissenschaftliche MitarbeiterInnen des ZKPR .................................................... 18
StipendiatInnen des ZKPR .................................................................................. 19
Teil I: Diagnostik
1
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
1.7
2
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
2.7
3
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.7
4
4.1
4.2
4.3
Normierung und Validierung des Zürcher Lesetest - II (ZLT-II)..................... 23
Allgemeine Angaben............................................................................................. 23
Zusammenfassung ................................................................................................ 23
Stand der Forschung............................................................................................. 23
Ziele....................................................................................................................... 25
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 26
Ergebnisse............................................................................................................. 26
Literatur ................................................................................................................ 27
Entwicklung eines neuropsychologischen Screeningverfahrens für
Vorläuferfähigkeiten von Lesen, Rechtschreibung und Rechnen: BASICPreschool .................................................................................................. 29
Allgemeine Angaben............................................................................................. 29
Zusammenfassung ................................................................................................ 29
Stand der Forschung und eigene Forschungsarbeiten ......................................... 30
Ziele....................................................................................................................... 30
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 31
Ergebnisse............................................................................................................. 32
Literatur ................................................................................................................ 33
Konstruktion, Normierung und Validierung des Sprachstandserhebungstests
für Kinder zwischen 5 und 10 Jahren (SET 5-10).......................................... 35
Allgemeine Angaben............................................................................................. 35
Zusammenfassung ................................................................................................ 35
Stand der Forschung............................................................................................. 36
Ziele....................................................................................................................... 36
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 37
Ergebnisse............................................................................................................. 38
Literatur ................................................................................................................ 39
Normierung und Validierung des Kognitiven Entwicklungstest für das
Kindergartenalter (KET-KID)....................................................................... 41
Allgemeine Angaben............................................................................................. 41
Zusammenfassung ................................................................................................ 41
Stand der Forschung............................................................................................. 41
7
Inhalt
4.4
4.5
4.6
4.7
5
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
6
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
6.6
6.7
7
7.1
7.2
7.3
7.4
7.5
7.6
7.7
8
8.1
8.2
8.3
8.4
8.5
8.6
8.7
9
9.1
9.2
Ziele....................................................................................................................... 42
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 42
Ergebnisse............................................................................................................. 43
Literatur ................................................................................................................ 44
Entwicklung eines Screenings für den Einsatz bei der schulärztlichen
Schuleingangsuntersuchung (SOPESS) ........................................................47
Allgemeine Angaben............................................................................................. 47
Zusammenfassung ................................................................................................ 47
Stand der Forschung ............................................................................................. 47
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 50
Ergebnisse............................................................................................................. 51
Literatur ................................................................................................................ 52
Normierung und Validierung des Frostigs Entwicklungstest der visuellen
Wahrnehmung für Jugendliche und Erwachsene (FEW-JE) ..........................55
Allgemeine Angaben............................................................................................. 55
Zusammenfassung ................................................................................................ 55
Stand der Forschung ............................................................................................. 55
Ziele....................................................................................................................... 56
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 56
Ergebnisse............................................................................................................. 57
Literatur ................................................................................................................ 59
Adaption, Normierung und Validierung der Wechsler-Skalen (WPPSI-III,
WISC-IV, WAIS-IV)......................................................................................61
Allgemeine Angaben............................................................................................. 61
Zusammenfassung ................................................................................................ 61
Stand der Forschung ............................................................................................. 62
Ziele....................................................................................................................... 63
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 63
Ergebnisse............................................................................................................. 65
Literatur ................................................................................................................ 65
Schuleingangsdiagnostik............................................................................67
Allgemeine Angaben............................................................................................. 67
Zusammenfassung ................................................................................................ 67
Stand der Forschung ............................................................................................. 67
Ziele....................................................................................................................... 68
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 69
Ergebnisse............................................................................................................. 70
Literatur ................................................................................................................ 70
Konstruktion, Normierung und Validierung des ADHS-Screening für
Erwachsene (ADHS-E) ................................................................................73
Allgemeine Angaben............................................................................................. 73
Zusammenfassung ................................................................................................ 73
8
Inhalt
9.3
9.4
9.5
9.6
9.7
Stand der Forschung............................................................................................. 74
Ziele....................................................................................................................... 74
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 75
Ergebnisse............................................................................................................. 75
Literatur ................................................................................................................ 76
10
Normierung der Befindlichkeitsskala (Bf-SR) u. Beschwerden-Liste (B-LR) .. 79
10.1
10.2
10.3
10.4
10.5
10.6
10.7
11
11.1
11.2
11.3
11.4
11.5
11.6
11.7
12
12.1
12.2
12.3
12.4
12.5
12.6
12.7
13
13.1
13.2
13.3
13.4
13.5
13.6
13.7
14
14.1
Allgemeine Angaben............................................................................................. 79
Zusammenfassung ................................................................................................ 79
Stand der Forschung............................................................................................. 80
Ziele....................................................................................................................... 81
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 81
Ergebnisse............................................................................................................. 81
Literatur ................................................................................................................ 82
Revision des Entwicklungstests ET 6-6: Der ET 6-6-R................................... 85
Allgemeine Angaben............................................................................................. 85
Zusammenfassung ................................................................................................ 85
Stand der Forschung............................................................................................. 86
Ziele....................................................................................................................... 87
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 87
Ergebnisse............................................................................................................. 89
Literatur ................................................................................................................ 89
Adaptation und Normierung der Wechsler Memory Scale IV - Deutsche
Version (WMS-IV)...................................................................................... 91
Allgemeine Angaben............................................................................................. 91
Zusammenfassung ................................................................................................ 91
Stand der Forschung............................................................................................. 92
Ziele....................................................................................................................... 93
Methodisches Vorgehen....................................................................................... 94
Ergebnisse............................................................................................................. 96
Literatur ................................................................................................................ 97
Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Neuropsychologische
Befunde zu diagnostischen Kriterien.......................................................... 99
Allgemeine Angaben............................................................................................. 99
Zusammenfassung ................................................................................................ 99
Stand der Forschung........................................................................................... 100
Ziele..................................................................................................................... 103
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 104
Ergebnisse........................................................................................................... 105
Literatur .............................................................................................................. 105
Entwicklungsdiagnostik und frühe Hilfen - eine bedarfsorientierte
Frühförderung......................................................................................... 109
Allgemeine Angaben........................................................................................... 109
9
Inhalt
14.2
14.3
14.4
14.5
14.6
14.7
Zusammenfassung .............................................................................................. 109
Stand der Forschung ........................................................................................... 109
Ziele..................................................................................................................... 110
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 111
Ergebnisse........................................................................................................... 112
Literatur .............................................................................................................. 116
Teil II: Klinische Psychologie
1
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
1.7
2
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
2.7
3
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.7
4
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.6
5
Depression im Jugendalter.......................................................................121
Allgemeine Angaben........................................................................................... 121
Zusammenfassung .............................................................................................. 121
Stand der Forschung ........................................................................................... 122
Ziele..................................................................................................................... 123
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 124
Ergebnisse........................................................................................................... 126
Literatur .............................................................................................................. 129
Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter: Neuropsychologische Störungen
im Langzeitverlauf ...................................................................................131
Allgemeine Angaben........................................................................................... 131
Zusammenfassung .............................................................................................. 131
Stand der Forschung ........................................................................................... 132
Ziele..................................................................................................................... 133
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 133
Ergebnisse........................................................................................................... 134
Literatur .............................................................................................................. 134
Therapeutische Hausaufgaben .................................................................137
Allgemeine Angaben........................................................................................... 137
Zusammenfassung .............................................................................................. 137
Stand der Forschung ........................................................................................... 137
Ziele..................................................................................................................... 138
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 139
Ergebnisse........................................................................................................... 140
Literatur .............................................................................................................. 141
Within- u. Between-Session Prozesse bei Panikstörung u. Agoraphobie ...143
Allgemeine Angaben........................................................................................... 143
Zusammenfassung .............................................................................................. 143
Stand der Forschung ........................................................................................... 144
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 144
Ergebnisse........................................................................................................... 146
Literatur .............................................................................................................. 147
Effekte eines Aufmerksamkeitstrainings bei Sozialer Phobie auf
verhaltensnahe Variablen ........................................................................149
10
Inhalt
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
5.7
6
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
6.6
6.7
7
7.1
7.2
7.3
7.4
7.5
7.6
7.7
8
8.1
8.2
8.3
8.4
8.5
8.6
8.7
9
Allgemeine Angaben........................................................................................... 149
Zusammenfassung .............................................................................................. 149
Stand der Forschung........................................................................................... 150
Ziele..................................................................................................................... 150
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 150
Ergebnisse........................................................................................................... 155
Literatur .............................................................................................................. 155
Vorstudie zum Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter .......................... 157
Allgemeine Angaben........................................................................................... 157
Zusammenfassung .............................................................................................. 157
Stand der Forschung........................................................................................... 158
Ziele..................................................................................................................... 159
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 159
Ergebnisse........................................................................................................... 165
Literatur .............................................................................................................. 167
Luxemburger Modell „Projet Prima!r“ ..................................................... 169
Allgemeine Angaben........................................................................................... 169
Zusammenfassung .............................................................................................. 169
Stand der Forschung........................................................................................... 170
Ziele..................................................................................................................... 172
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 172
Ergebnisse........................................................................................................... 174
Literatur .............................................................................................................. 181
Wirksamkeit von Jugendhilfe-Maßnahmen.............................................. 185
Allgemeine Angaben........................................................................................... 185
Zusammenfassung .............................................................................................. 185
Stand der Forschung........................................................................................... 186
Ziele..................................................................................................................... 186
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 186
Ergebnisse........................................................................................................... 187
Literatur .............................................................................................................. 188
JobFit-Training ........................................................................................ 191
9.1
9.2
9.3
9.4
9.5
9.6
9.7
Allgemeine Angaben........................................................................................... 191
Zusammenfassung .............................................................................................. 191
Stand der Forschung........................................................................................... 192
Ziele..................................................................................................................... 192
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 193
Ergebnisse........................................................................................................... 194
Literatur .............................................................................................................. 194
10
Bildungs- und Entwicklungsförderung junger Kinder zwischen 18 und 48
Monaten (BilKi) ....................................................................................... 197
10.1
Allgemeine Angaben........................................................................................... 197
11
Inhalt
10.2
10.3
10.4
10.5
10.6
10.7
11
11.1
11.2
11.3
11.4
11.5
11.6
11.7
Zusammenfassung .............................................................................................. 197
Stand der Forschung ........................................................................................... 197
Ziele..................................................................................................................... 198
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 199
Ergebnisse........................................................................................................... 200
Literatur .............................................................................................................. 201
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue.......................................203
Allgemeine Angaben........................................................................................... 203
Zusammenfassung .............................................................................................. 203
Stand der Forschung ........................................................................................... 204
Ziele..................................................................................................................... 205
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 205
Ergebnisse........................................................................................................... 209
Literatur .............................................................................................................. 212
Teil III: Rehabilitation
1
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
1.7
2
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
2.7
3
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.7
Depression als Prädiktor für den Misserfolg der Rehabilitation von
chronischem Rückenschmerz ...................................................................219
Allgemeine Angaben........................................................................................... 219
Zusammenfassung .............................................................................................. 219
Stand der Forschung ........................................................................................... 220
Ziele..................................................................................................................... 221
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 221
Ergebnisse........................................................................................................... 222
Literatur .............................................................................................................. 223
Evaluation der modellhaften Einführung von
Patientenschulungsprogrammen für die pneumologische Rehabilitation..225
Allgemeine Angaben........................................................................................... 225
Zusammenfassung .............................................................................................. 225
Stand der Forschung ........................................................................................... 226
Ziele..................................................................................................................... 228
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 228
Ergebnisse........................................................................................................... 229
Literatur .............................................................................................................. 236
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom ...........................................239
Allgemeine Angaben........................................................................................... 239
Zusammenfassung .............................................................................................. 239
Stand der Forschung ........................................................................................... 240
Ziele..................................................................................................................... 241
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 242
Ergebnisse........................................................................................................... 245
Literatur .............................................................................................................. 250
12
Inhalt
4
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.6
5
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
5.7
6
6.1
6.2
6.3
6.4
6.5
6.6
6.7
7
7.1
7.2
7.3
7.4
7.5
7.6
7.7
8
8.1
8.2
8.3
8.4
8.5
8.6
8.7
Internetbasierte Erhebung von Patientendaten ....................................... 253
Allgemeine Angaben........................................................................................... 253
Zusammenfassung .............................................................................................. 253
Stand der Forschung........................................................................................... 253
Ziele..................................................................................................................... 254
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 254
Ergebnisse........................................................................................................... 255
Jugendliche mit chronischer Grunderkrankung in der stationären
Rehabilitation ......................................................................................... 259
Allgemeine Angaben........................................................................................... 259
Zusammenfassung .............................................................................................. 259
Stand der Forschung........................................................................................... 260
Ziele..................................................................................................................... 260
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 261
Ergebnisse........................................................................................................... 262
Literatur .............................................................................................................. 262
Modularisiertes Elterntraining für Eltern entwicklungsauffälliger Kinder in
der stationären Rehabilitation................................................................. 265
Allgemeine Angaben........................................................................................... 265
Zusammenfassung .............................................................................................. 265
Stand der Forschung........................................................................................... 266
Ziele..................................................................................................................... 266
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 266
Ergebnisse........................................................................................................... 269
Literatur .............................................................................................................. 273
Beschwerdenvalidierung in der medizinischen Rehabilitation .................. 275
Allgemeine Angaben........................................................................................... 275
Zusammenfassung .............................................................................................. 275
Stand der Forschung........................................................................................... 276
Ziele..................................................................................................................... 277
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 277
Ergebnisse........................................................................................................... 278
Literatur .............................................................................................................. 278
Evaluation einer kulturoffenen prästationären Informationsveranstaltung
vor psychosomatischer Rehabilitation ..................................................... 281
Allgemeine Angaben........................................................................................... 281
Zusammenfassung .............................................................................................. 281
Stand der Forschung........................................................................................... 282
Ziele..................................................................................................................... 284
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 284
Ergebnisse........................................................................................................... 287
Literatur .............................................................................................................. 287
13
Inhalt
9
Analyse unspezifischer Wirkfaktoren orthopädischer Rehabilitation .......291
9.1
9.2
9.3
9.4
9.5
9.6
9.7
Allgemeine Angaben........................................................................................... 291
Zusammenfassung .............................................................................................. 291
Stand der Forschung ........................................................................................... 292
Ziele..................................................................................................................... 294
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 294
Ergebnisse........................................................................................................... 295
Literatur .............................................................................................................. 295
10
Entwicklung eines Programms zur manualgestützen Vorbereitung auf die
psychosomatische Rehabilitation.............................................................299
10.1
10.2
10.3
10.4
10.5
10.6
10.7
Allgemeine Angaben........................................................................................... 299
Zusammenfassung .............................................................................................. 299
Stand der Forschung ........................................................................................... 300
Ziele..................................................................................................................... 300
Methodisches Vorgehen..................................................................................... 300
Ergebnisse........................................................................................................... 303
Literatur .............................................................................................................. 304
Teil IV: Einrichtungen, Studiengänge und Qualifikationsarbeiten
1
Psychotherapeutische Einrichtungen - Kindes- und Jugendalter................309
1.1
Einrichtungen...................................................................................................... 309
1.1.1
Organisation.............................................................................................309
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
Wissenschaftlicher Hintergrund ......................................................................... 310
Psychologische Kinderambulanz......................................................................... 311
Psychotherapeutische Ambulanz für Kinder und Jugendliche ........................... 312
Norddeutscher Verbund für Kinderverhaltenstherapie ..................................... 312
Literatur .............................................................................................................. 314
2
Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie, Institut Bremen......317
2.1
Modelleinrichtungen .......................................................................................... 317
2.1.1
Organisation.............................................................................................317
2.2
2.3
2.4
Wissenschaftlicher Hintergrund ......................................................................... 318
Hochschulambulanz für Forschung und Lehre ................................................... 318
Modellambulanz der Christoph-Dornier-Stiftung, Institut Bremen ................... 319
3
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.7
3.8
Masterstudiengang: Klinische Psychologie (Master of Science).................323
Organisation........................................................................................................ 323
Module................................................................................................................ 323
Ziele..................................................................................................................... 324
Konzept ............................................................................................................... 325
Erreichung der Studiengangsziele....................................................................... 326
Lernziele, Modularisierung, ECTS ....................................................................... 326
Lernkontext......................................................................................................... 327
Exemplarische Modulbeschreibung.................................................................... 328
14
Inhalt
4
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
5
5.1
5.2
5.3
5.4
6
Doktorandenkolleg: Klinische Kinderpsychologie (2006-2011).................. 329
Allgemeine Angaben........................................................................................... 329
Hintergrund ........................................................................................................ 329
Forschungsprogramm des Doktorandenkollegs................................................. 330
Studienprogramm des Kollegs............................................................................ 331
Dissertationsthemen der StipendiatInnen ......................................................... 332
Doktorandenkolleg: Klinische Psychologie (2012-2016)............................ 337
Allgemeine Angaben........................................................................................... 337
Ziele, Konzepte und Methodik............................................................................ 337
Themenschwerpunkte........................................................................................ 338
Studienprogramm............................................................................................... 339
Promotionen und Habilitationen ............................................................. 341
Teil V: Symposien und Kongresse
1
1.1
1.2
1.3
2
2.1
2.2
2.3
Symposium des Rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbundes
Niedersachsen/Bremen (RFNB): Neue Ansätze in der psychosomatischen
Rehabilitation ......................................................................................... 345
Allgemeine Angaben........................................................................................... 345
Tagungsbericht ................................................................................................... 345
Literatur .............................................................................................................. 348
47. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie: Erklären,
Entscheiden, Planen ................................................................................ 349
Allgemeine Angaben........................................................................................... 349
Tagungsbericht ................................................................................................... 349
Literatur .............................................................................................................. 351
15
Aufbau und Struktur des ZKPR
Aufbau und Struktur des ZKPR
Direktor:
Geschäftsführung:
Verwaltung:
Prof. Dr. Franz Petermann
Dr. Ulrike de Vries
Dipl.-Volkswirt Michael Behrends
Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Diagnostik
Prof. Dr. Franz Petermann
Lehrstuhl für Klinische Psychologie, Schwerpunkt Klinische Kinderpsychologie
Prof. Dr. Ulrike Petermann
Lehrstuhl für Klinische Psychologie, Schwerpunkt Klinische Psychologie des Erwachsenenalters
N. N. (das Berufungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen)
Stiftungsprofessur Gesundheitspsychologie
N.N. (das Berufungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen)
Stiftungsprofessur Rehabilitationspsychologie
PD Dr. Axel Kobelt (Vertretung)
Bereich Methoden und Statistik
Leitung: Prof. Dr. Hans-Christian Waldmann
Bereich Testentwicklung
Leitung: PD Dr. Monika Daseking
Hochschulambulanz für Forschung und Lehre (Kinder, Jugendliche, Erwachsene)
Leitung: Prof. Dr. Franz Petermann
Psychologische Kinderambulanz
Leitung: Prof. Dr. Ulrike Petermann
Norddeutscher Verbund für Kinderverhaltenstherapie (NOKI)
Prof. Dr. Franz Petermann (geschäftsführend)
Prof. Dr. Wolf-Dieter Gerber, Kiel
Prof. Dr. Rainer Hanewinkel, Kiel
Prof. Dr. Ulrike Petermann
Ausbildungsambulanz des NOKI
Leitung: Prof. Dr. Franz Petermann
Kinderverhaltenstherapietage (KVT) an der Universität Bremen
Leitung: Prof. Dr. Ulrike Petermann
Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie, Institut Bremen
Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Franz Petermann
Doktorandenkolleg Klinische Psychologie
Sprecher: Prof. Dr. Franz Petermann
Sekretariate
Birgit Abel, Dana Hudcovic, Eva Todisco
17
Wissenschaftliche MitarbeiterInnen des ZKPR
Wissenschaftliche MitarbeiterInnen des ZKPR
Ahlers, Doris
Aikara, Fumiyo
Auer, Maxi e von
Bahmer, Judith Anna
Baldus, Christiane
Behrends, Ann-Kristin
Belhadj Kouider, Esmahan
Bise, Veronika
Bohn, Bernd
Bornschlegl, Mona
Brunnemann, Nicole
Czilwik, Sarah
Cammin, Sandra
Damm, Franziska
Daseking, Monika
de Vries, Ulrike
Dietmair, Iris
Eikelmann, Antje
Ender, Stephanie
Fischer, Christin
Freitag, Juliane
Fröhlich, Linda Paulina
Führer, Daniel
Geisler, Kira
Gledhill, Daniela
Groen, Gunter
Gust, Nicole
Hallmann, Andrea
Hamid, Leila
Häring, Jutta
Hecking, Masha
Hefter, Philipp
Helbig-Lang, Sylvia
Helmsen, Johanna
Hillebrandt-Wegner, Christina
Holtz, Maike
Hustedt, Katja
Jacobs, Claus
Janke, Nina
Jaščenoka, Julia
Kamau, Lena
Karpinski, Norbert
Knievel, Julia
Knisel-Scheuring, Gerlinde
Koglin, Ute
Kooiker, Elvira
Kordt, Anne
Kranz, Gesa
Kranzpiller, Juliane
Krummrich, Mara Zoe
Kruse, Leif
Laakmann, Mirjam
Lange, Meike
Laws, Tanja
Lepach, Anja
Linnemann, Lydia
Lipsius, Maike
Macha, Thorsten
Maetze, Maren
Marées, Nandoli
Meer, Bart van der
Meier, Claudia
Metz, Dorothee
Mohr, Beate
Niebank, Kai
Natzke, Heike
Nicklaussen, Julia
Nitkowski, Dennis
Oldenhage, Marijke
Owsianny, Bettina
Pätel, Johanna
Pauls, Franz
Prinz, Maren
Rau, Jörn
Renziehausen, Anja
Reuber-Linder, Danielle
18
Riezler, Bernadette
Rißling, Julia Katharina
Röll, Judith
Röpcke, Lutz
Scheewe, Liselotte
Schiffrin, Marc
Schipper, Marc
Schröder, Eva-Maria
Schröder, Katharina
Senin, Tatjana
Soltau, Christian
Sülz, Juliane
Teichmann, Juliane
Theiling, Johanna
Thomsen, Monika
Tischler, Lars
Tlach, Lisa
Toussaint, Anne
Vogel, Melanie
Volkmer, Carolin
Waldmann, Christian
Walter, Hans-Jörg
Weid, Tanja
Wensauer, Mirjam
Werpup, Lina
Wiench, Regina
Winkel, Sandra
Wintjen, Laura
Witthöft, Jan
StipendiatInnen des ZKPR
StipendiatInnen des ZKPR
Brüggemann, Johanna
Danielsson, Julia
Desman, Christiane
Fröhlich, Linda Paulina
Gienger, Claudia
Göbber, Julia
Hamid, Leila
Janke, Nina
Korsch, Franziska
Kruse, Leif
Kullik, Angelika
Lipsius, Maike
Lohbeck, Annette
Njichop, Richard Cho
Ortbandt, Christine
Pauls, Franz
Piegza, Magdalena
Rachuy, Karin
19
Rücker, Stefan
Stauber, Tatiana
Tischler, Lars
Theiling, Johanna
Walter, Franziska
Waskewitz, Steffi
Weber, Hanna Maria
Witthöft, Jan
Teil I: Diagnostik
Teil I: Diagnostik
Eine fundierte klinische Forschung ist heute ohne standardisierte Erhebungsverfahren unmöglich. Konsequent wurde für die Klinische Kinderpsychologie, Psychiatrie
und medizinische Rehabilitation eine Vielzahl von Testverfahren entwickelt. Ein
Schwerpunkt lag zweifelsfrei im Bereich der Diagnostik kognitiver Funktionen (u.a.
Intelligenzdiagnostik). Im Einzelnen wurden folgende Erhebungsverfahren von 2005
bis heute entwickelt bzw. weiterentwickelt:
2005
Hampel, P. & Petermann, F. (2005). Screening psychischer Störungen im Jugendalter (SPS-J).
Bern: Huber.
Jacobs, C. & Petermann, F. (2005). Rechenfertigkeiten- und ZahlenverarbeitungsDiagnostikum für die 2. bis 6. Klasse (RZD 2-6). Göttingen: Hogrefe.
Petermann, F. & Renziehausen, A. (2005). Neuropsychologisches Entwicklungs-Screening
(NES). Bern: Huber.
2006
Petermann, U. & Petermann, F. (2006). Lehrereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten
(LSL). Göttingen: Hogrefe.
2007
Petermann, F. & Petermann, U. (2007). Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder - IV
(HAWIK-IV). Bern: Huber.
Petermann, F. & Winkel, S. (2007). Fragebogen zur Leistungsmotivation für Schüler der 4.
bis 6. Klasse (FLM 4-6). Frankfurt: Pearson Assessment.
Petermann, F. & Winkel, S. (2007). Fragebogen zur Leistungsmotivation für Schüler der 7.
bis 13. Klasse (FLM 7-13). Frankfurt: Pearson Assessment.
Tellegen, P.J., Laros, J.A. & Petermann, F. (2007). Snijders-Oomen Non-verbaler Intelligenztest 2 1/2-7 - Revidierte Fassung (SON-R 2 1/2-7). Göttingen: Hogrefe.
2008
Heubrock, D. & Petermann, F. (2008). Kurzfragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren (K-FAF). Göttingen: Hogrefe.
Lepach, A.C. & Petermann, F. (2008). Battery for Assessment in Children - Merk- und Lernfähigkeitstest für 6- bis 16-Jährige (BASIC-MLT). Bern: Huber.
Petermann, F., Daseking, M., Oldenhage, M. & Simon, K. (2008). Sozialpädiatrisches Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen (Einschulungsscreening) SOPESS.
Düsseldorf: Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit NRW.
Petermann, F., Stein, I.A. & Macha, T. (2008). Entwicklungstest 6 Monate bis 6 Jahre (ET 6-6)
(3. Aufl.). Frankfurt: Pearson Assessment.
2009
Daseking, M. & Petermann, F. (2009). Battery for Assessment in Children - Screening für
kognitive Basiskompetenzen im Vorschulalter (BASIC-Preschool). Bern: Huber.
Daseking, M. & Petermann, F. (2009). Kognitiver Entwicklungstest für das Kindergartenalter
(KET-KID). Göttingen: Hogrefe.
21
Teil I: Diagnostik
Petermann, F. (Hrsg.) (2009). Movement Assessment Battery for Children-2 (M-ABC-2) (2.,
erweit. Aufl.). Frankfurt: Pearson Assessment.
Petermann, F. (Hrsg.) (2009). WPPSI-III - Wechsler Preschool and Primary Scale of
Intelligence - Third Edition - deutsche Version. Frankfurt: Pearson Assessment.
Schmidt, S. & Petermann, F. (2009). ADHS-Screening für Erwachsene (ADHS-E). Frankfurt:
Pearson Assessment.
2010
Koglin, U., Petermann, U. & Petermann, F. (2010). Entwicklungsbeobachtung und dokumentation: EBD 48-72 Monate. Berlin: Cornelsen.
Marées, N. v. & Petermann, F. (2010). Bullying- und Viktimisierungsfragebogen Kinderversion und Lehrerversion (BVF). Göttingen: Hogrefe.
Petermann, F. (2010). Kaufman-Computerized Assessment Battery - deutsche Adaptation
(K-CAB). Frankfurt: Pearson Assessment.
2011
Petermann, F. & Petermann, U. (Hrsg.) (2011). Wechsler Intelligence Scale for Children Fourth Edition (WISC-IV). Frankfurt: Pearson Assessment.
Zerssen, D. v. & Petermann, F. (2011). Beschwerden-Liste - Revidierte Fassung (B-LR). Göttingen: Hogrefe.
Zerssen, D. v. & Petermann, F. (2011). Befindlichkeits-Skala - Revidierte Fassung (Bf-SR).
Göttingen: Hogrefe.
2012
Hampel, P. & Petermann, F. (2012). Screening psychischer Störungen im Jugendalter-II (SPSJ-II) (2., veränd. Aufl.). Bern: Huber.
Heubrock, D. & Petermann, F. (2012). Testbatterie zur Forensischen Neuropsychologie
(TBFN) (3., korr. Aufl.). Frankfurt: Pearson Assessment.
Petermann, F. (2012). Sprachstandserhebungstest für Fünf- bis Zehnjährige (SET 5-10) (2.,
veränd. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Petermann, F. (2012). Wechsler Adult Intelligence Scale - Fourth Edition (WAIS-IV). Frankfurt: Pearson Assessment.
Petermann, F. & Lepach, A.C. (Hrsg.) (2012). Wechsler Memory Scale - Fourth Edition (WMSIV). Frankfurt: Pearson Assessment.
Petermann, F., Schmidt, M.H. & Suing, M. (2012). Kompetenzanalyseverfahren Fremdbeurteilung beobachtbarer personaler Ressourcen bei Kindern und Jugendlichen (KANN). Göttingen: Hogrefe.
Petermann, F., Waldmann, H.-C. & Daseking, M. (2012). Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung - Jugendliche und Erwachsene (FEW-JE). Göttingen: Hogrefe.
Petermann, F. & Daseking, M. (2012). Zürcher Lesetest - II (ZLT-II). Bern: Huber.
Petermann, U., Petermann, F. & Koglin, U. (2012). Entwicklungsbeobachtung und dokumentation (EBD 3-48) (3., erw. Aufl.). Berlin: Cornelson.
Tellegen, P.J., Laros, J.A. & Petermann, F. (2012). Non-verbaler Intelligenztest von 6 bis 40
Jahren (SON-R 6-40). Göttingen: Hogrefe.
von Zerssen, D. & Petermann, F. (2012). Münchner Persönlichkeitstest (MPT). Göttingen:
Hogrefe.
22
Normierung und Validierung des Zürcher Lesetest - II (ZLT-II)
1
Normierung und Validierung des Zürcher Lesetest - II
(ZLT-II)
1.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
PD Dr. Monika Daseking
Mitarbeiterin
Dipl.-Psych. Tanja Weid
Zeitraum
01.01.2010 - 30.09.2012
Finanzierung
Verlag Hans Huber, Bern
1.2
Zusammenfassung
Ziel des Projektes ist die Weiterentwicklung, Normierung und Validierung eines
Tests zur Diagnose von Lese-Rechtschreibstörung bei Kindern und Jugendlichen im
Sinne der klinisch-diagnostischen Kriterien. Das Verfahren überprüft den schulischen Leistungsstand im Lesen und bietet darüber hinaus Hinweise zur Auswahl von
Fördermaßnahmen.
1.3
Stand der Forschung
Die Bedeutung des Kulturguts „Lesen“ hat in der heutigen Gesellschaft einen enormen Stellenwert. Dennoch wird die Fertigkeit selbst, aber auch ihr Erwerb als
selbstverständlich hingenommen. Die Bildungspflicht in Nordamerika und Westeuropa spiegelt sich laut Berichten der UNESCO zum Bildungsstand in Schulbesuchsquoten von 95% wider, sodass davon ausgegangen werden kann, dass der Erwerb
der Schriftsprache naturgemäß gegeben zu sein scheint. In den Klassifikationssystemen stellt ein unzureichender Schulbesuch ein Ausschlusskriterium für die Diag23
Normierung und Validierung des Zürcher Lesetest - II (ZLT-II)
nose einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS) dar. Trotzdem weisen ungefähr 5% der
Schüler eine Entwicklungsstörung des Schriftspracherwerbs auf. Damit wird die augenscheinliche Selbstverständlichkeit der Fertigkeiten Lesen und Schreiben widerlegt.
Um den langfristigen Folgen eines defizitären Schriftspracherwerbs möglichst frühzeitig entgegenzuwirken, müssen Testverfahren zur Verfügung gestellt werden, die
die Symptome und Problemlage zuverlässig und differenziert aufdecken. Die Überprüfung der Leseleistung gehört zur Standarddiagnostik bei Verdacht auf umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Die Leitlinien der Deutschen
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (2007) empfehlen neben der Abklärung medizinischer Sachverhalte als Testdiagnostik die Verwendung von standardisierten Testverfahren.
Das Ursachengefüge, das der Entwicklung von Teilleistungsstörungen zugrundliegt,
ist multifaktoriell und sollte im Rahmen der Diagnostik möglichst auf allen Ebenen
berücksichtigt werden. Die Überprüfung der Lesefertigkeit darf nur einen, wenngleich wichtigen Faktor in der Beurteilung der individuellen Leistung von Schülern
darstellen. Basierend auf möglichen Ursachen wurden in der Vergangenheit verschiedene Verfahren entwickelt, die neben der reinen Leseleistung auch andere
Bereiche berücksichtigen. Der ZLT-II setzt einen besonderen Fokus auf die phonologische Verarbeitung, einem Indikator, der eine prominente Rolle bei der Entstehung
von Lese-Rechtschreibstörungen spielt (Wagner & Torgesen, 1987). Die phonologische Verarbeitung beschäftigt sich mit Prozessen, die bei der Verarbeitung von akustischen Signalen mit sprachlichen Inhalten ablaufen (Ptok et al., 2008). Unter
dem Begriff werden verschiedene Fertigkeiten vereint, die flüssiges und sinnentnehmendes Lesen ermöglichen. Es handelt sich dabei um die phonologische Bewusstheit, das phonologische Rekodieren mit Zugriff auf das semantische Gedächtnis sowie das phonetische Rekodieren im Arbeitsgedächtnis. All diese Prozesse kumulieren in der Fähigkeit, Schriftsymbole zu dekodieren und in Sprache zu überführen.
Durch die Kombination von Tests, die die Leseleistung erfassen (Lesegeschwindigkeit, Fehleranzahl), mit zusätzlichen differenzierteren Untertests, werden wertvolle
Hinweise gewonnen, die eine detaillierte Beschreibung der individuellen Leseschwäche ermöglichen. Die Erfassung des individuellen Leseprofils ermöglicht darüber hinaus die abgestimmte Planung von Förder- und Therapiemaßnahmen, um
auf die jeweilige Problematik des Schülers einzugehen.
Testverfahren zur Überprüfung der Leseleistung
Der Zürcher Lesetest (ZLT) stellt seit vielen Jahren ein anerkanntes Verfahren zur
Diagnostik der Lesestörung dar. Aufgrund der sich stetig verändernden Erkenntnisse
sowie der notwendigen Aktualisierung von Normen im Bereich der Leistungsdiagnostik, wurde eine Überarbeitung des Verfahrens von Linder und Grissemann
24
Normierung und Validierung des Zürcher Lesetest - II (ZLT-II)
(2000) erforderlich. Der Zürcher Lesetest-II basiert auf dem ursprünglich von Maria
Linder 1963 zusammengestellten Verfahren, das mehrfach normiert und erweitert
wurde (1967, 1973/1974, 1981). Die Kerntests der letzten aktualisierten Ausgabe
beinhalten das laute Vorlesen von Wortlisten und kurzen altersgerechten Textabschnitten. Als Kennwerte dienen die Lesegeschwindigkeit und die Anzahl der Lesefehler. Als zusätzliche Verfahren, die auch der Förderempfehlung dienen, wurden
im Laufe der Zeit der Mottiertest sowie die psycholinguistische Verlesungsanalyse
hinzugefügt.
Der ZLT, der als Einzeltest durchgeführt wird, ist für den Einsatz für Schüler ab der
zweiten Klasse bis zur sechsten Klasse vorgesehen. Er beinhaltet Normtabellen für
das erste, zweite und vierte Schulquartal (2. und 3. Klassenstufe) sowie im Jahresabstand (4., 5. und 6. Klassenstufe). Prozentrangstufen zur Beurteilung der Leseleistung hinsichtlich Lesezeit und Anzahl der Lesefehler liegen für die Klassenstufen 2
und 3 sowie 5 und 6 vor. Der ZLT stellte über lange Zeit eines der wenigen Messinstrumente der syntaktischen Lesefertigkeit dar und wird bis heute als populäres
Diagnostikinstrument bei Lerntherapeuten, Pädagogen und Psychologen angenommen.
1.4
Ziele
Um dem neuesten Forschungsstand im Schriftspracherwerb gerecht zu werden,
wurde eine grundlegende Überarbeitung des ZLT notwendig. Der Charakter eines
Förderdiagnostikums sollte dabei nicht verloren gehen. Die Kerntests (Wortlesetest,
Textabschnitte) wurden aktualisiert und an den heutigen Sprachgebrauch von Schülern angepasst. Die Überarbeitung beinhaltete auch den Mottiertest (jetzt Pseudowörter nachsprechen). Erweitert wurde der ZLT um die Berücksichtigung wichtiger
Kennwerte der phonologischen Verarbeitung (Pseudowörter lesen, Silbentrennung
mündlich und schriftlich, Schnellen Benennen). Die Psycholinguistische Verlesungsanalyse wurde übernommen, um eine weitere Möglichkeit der qualitativen Beurteilung zu bieten. Außerdem wurde der Einsatzbereich des ZLT-II vergrößert: es werden nun Normtabellen für Schüler ab Ende der ersten Klassenstufe bis zur achten
Klasse im Halbjahres- (Ende 1. bis Ende 4. Klassenstufe) bzw. Jahresabstand (5. bis 8.
Klassenstufe) angeboten. So ist es mit dem neuen Instrument möglich, bereits frühzeitige Defizite im Schriftspracherwerb festzustellen. Die Normierung und Validierung des Zürcher Lesetest-II als Nachfolger des ZLT ist Ziel des Projekts. Für die
Standardisierung eines Verfahrens ist die Gewährleistung dieser Gütekriterien unverzichtbar.
25
Normierung und Validierung des Zürcher Lesetest - II (ZLT-II)
1.5
Methodisches Vorgehen
Zur Realisierung des Normierungs- und Validierungsprojektes ZLT-II wurde die Planung und Entwicklung entsprechend der Qualitätsanforderungen an psychologische
Tests durchgeführt. Neben Wahrung der Objektivität und Reliabilität standen Testeichung und Validierung im Mittelpunkt des Arbeitsprogramms.
Nach Zusammenstellung eines Itempools wurde im Rahmen der Konstruktion einer
Stichprobe, deren Zusammensetzung analog der späteren Normierungsstichprobe
erfolgte, der ZLT-II vorgelegt. Nach einigen Modifikationen wurde die Endversion für
die Normierungsphase fertiggestellt. Im Zeitraum zwischen April 2010 und September 2011 haben 1145 Kinder und Jugendliche an der Datenerhebung im Rahmen der
Normierung teilgenommen. Es wurde dabei auf eine gleichmäßige Geschlechterverteilung geachtet. Die Datenerhebung erfolgte in vier Regionen der Bundesrepublik
Deutschland.
1.6
Ergebnisse
Zur Gewährleistung der Testgüte wurde das Verfahren im Hinblick auf Objektivität,
Reliabilität und Validität überprüft. Die Ergebnisse wurden im Manual zum ZLT-II
publiziert.
Objektivität. Die detaillierten Darstellungen im Manual des ZLT-II mit Vorgabe von
Instruktionstexten für die einzelnen Untertests unterstützen eine standardisierte
Durchführung. Um zu überprüfen, ob die Testergebnisse in Abhängigkeit vom Testleiter variieren, wurden univariate Varianzanalysen berechnet. Diese weisen nicht
signifikante Ergebnisse für die Testleiter, deren Protokollbögen miteinander verglichen wurden, in Bezug auf die Lese- bzw. Benenngeschwindigkeit sowie die Fehleranzahl auf. Somit ist das Verfahren unter Berücksichtigung der entsprechenden
Hinweise im Manual als hinreichend objektiv in der Durchführung zu betrachten.
Gleiches gilt für die Auswertungs- und Interpretationsobjektivität.
Reliabilität. Die Zuverlässigkeit wurde anhand der internen Konsistenz sowie der
Retest-Reliabilität bestimmt. Die internen Konsistenzen für die einzelnen Untertests, bei denen dieses Kriterium Anwendung fand, können insgesamt als sehr hoch
angesehen werden.
Die Retest-Reliabilität konnte mit hohen Koeffizienten für die Lesegeschwindigkeit
nachgewiesen werden. Zusätzlich wurde die Batterie-Reliabilität für alle Untertests,
die pro Gruppe durchgeführt werden, bestimmt. Vor allem für den Grundschulbereich ergeben sich sehr hohe Gesamt-Reliabilitäten.
Validität. Vergleicht man die durchschnittlichen Leistungen der Altersgruppen miteinander, kann festgestellt werden, dass die Leseleistungen mit der Zeit stetig an26
Normierung und Validierung des Zürcher Lesetest - II (ZLT-II)
steigen. Zur Überprüfung wurde eine univariate Varianzanalyse durchgeführt. Es
zeigen sich in allen Untertests signifikante Unterschiede zwischen den Grundschülern und den Schülern weiterführender Schulen und belegen somit bedeutsame
Leistungszunahmen über die Altersspanne, für die das Verfahren konzipiert wurde.
Zur Überprüfung der Kriteriumsvalidität wurden die Leseleistungen der Kinder mit
den Schulnoten des letzten Schulzeugnisses im Fach Deutsch bzw. Lesen verglichen.
Der Vergleich erbrachte signifikante Zusammenhänge zwischen Note und Leseleistung: je schneller die Lesegeschwindigkeit, umso besser die Note bzw. je weniger
Lesefehler umso besser die Note.
Leistungsunterschiede bei Zweisprachigkeit. Zusätzlich zu den Gütekriterien wurden Leistungsunterschiede von Muttersprachlern und Schülern, die zweisprachig
aufgewachsen sind. Es kann vorkommen, dass Kinder und Jugendliche, die zweioder mehrsprachig aufwachsen, Symptome zeigen können, die denen einer LRS
ähnlich sind. Bei Lesetests, die Defizite im Schriftspracherwerb im Sinne einer Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten aufdecken sollen, ist dieser Umstand besonders differenziert zu betrachten. Es wurden daher 213 Kinder mit einer anderen
Muttersprache als Deutsch mit 213 deutschsprachigen Kindern nach Alter, Klassenstufe, Schulform und Geschlecht gematcht. Mittels t-Tests für unabhängige Stichproben wurden die Leistungen der Kinder in den Untertests auf Unterschiede hin
überprüft. Bei den meisten Untertests unterscheiden sich die Leistungen der Kinder
nicht signifikant voneinander. Lediglich zwei Untertests (Schnelles Benennen 2 und
Pseudowörter nachsprechen) fielen mit leichten Unterschieden auf. So schneiden
anders- bzw. mehrsprachige Kinder beim Schnellen Benennen etwas schlechter ab.
Dies lässt sich mit dem u. U. etwas geringeren Wortschatz dieser Gruppe erklären.
Beim Untertest Pseudowörter nachsprechen hingegen lieferten die anderssprachigen Kinder bessere Ergebnisse. Dies ist möglicherweise damit erklärbar, dass diese
Kinder bereits früh eine weitere Sprache erlernt haben und somit sicherer im Umgang mit neuen (fremden) Wörtern sind. Zieht man alle Ergebnisse in Erwägung,
kann der ZLT-II auch für den Einsatz mit anderssprachigen Kindern ohne Einschränkungen eingesetzt werden.
1.7
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
(2007). Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im
Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (3., überarb. Aufl.). Köln: Deutscher Ärzte
Verlag.
Linder, M. & Grissemann, H. (2000). Zürcher Lesetest (6. Aufl.). Bern: Hans Huber.
Ptok, M., Berendes, K., Gottal, S., Grabherr, B., Schneeberg, J. & Wittler, M. (2008).
Phonologische Verarbeitung. Monatsschrift Kinderheilkunde, 156, 860-866.
27
Normierung und Validierung des Zürcher Lesetest - II (ZLT-II)
Wagner, R. K. & Torgesen, J. K. (1987). The nature of phonological processing and its
casual role in acquisition of reading-skills. Psychological Bulletin, 101, 192-212.
Publikationen
Petermann, F. & Daseking, M. (2012). Zürcher Lesetest - II (ZLT-II). Weiterentwicklung des Zürcher Lesetests (ZLT) von Maria Linder und Hans Grissemann. Bern:
Huber.
28
BASIC-Preschool
2
Entwicklung eines neuropsychologischen
Screeningverfahrens für Vorläuferfähigkeiten von
Lesen, Rechtschreibung und Rechnen: BASICPreschool
2.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
PD Dr. Monika Daseking
Mitarbeiterin
Dipl.-Psych. Julia Knievel
Zeitraum
01.06.2005 - 30.06.2009
Finanzierung
FNK der Universität Bremen, BMW-Stiftung
2.2
Zusammenfassung
In den letzten drei Jahrzehnten ist ein deutlicher Erkenntniszuwachs auf dem Gebiet
der Entwicklung des schulbasierten Erwerbs von Lesen, Rechtschreiben und Rechnen zu verzeichnen. Schriftspracherwerb und die Grundschulmathematik basieren
auf einer Reihe von Vorläuferfähigkeiten, die bereits im Kindergartenalter erworben
werden. Mit altersangemessenen und sensitiven Screeningverfahren können Vorläuferbeeinträchtigungen bereits vorschulisch identifiziert werden. Ziel des Projektes war die Entwicklung, Normierung und Validierung eines Tests zu neuropsychologisch begründbaren Vorläuferfähigkeiten für den schulbasierten Erwerb von Lesen,
Rechnen und Rechtschreibung.
29
BASIC-Preschool
2.3
Stand der Forschung und eigene Forschungsarbeiten
Die Auswahl der Funktionsbereiche und Items erfolgte in Anlehnung an die Entwicklung kognitiver Funktionen (vgl. Hirnreifung).
•
•
•
•
•
•
•
•
Visuelle Differenzierung (optische Differenzierung), Visuelles Scanning (Unterscheidung oben-unten, links-rechts)
Phonologische Bewusstheit (Rhythmus, Geräuschememory, Reime)
Verbale Merkfähigkeit (Wortliste)
Visuelle Merkfähigkeit (Nachzeichnen einer komplexen Form aus dem Gedächtnis; Wiedererkennen und freie Reproduktion visuell dargebotener Inhalte)
Mengenerfassung (automatische Erfassung kleiner Mengen, Schätzung: viel –
wenig, Längen- oder Größenvergleich) und einfaches Zahlwissen (Benennen von
Ziffern, Vorgänger-Nachfolger)
Kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit als Funktion der Aufmerksamkeit
(sprachgebunden, Auge-Hand-Koordination)
Selektive Aufmerksamkeit
Kategorisieren (Klassifikationen; Reihenfolgen)
Im Rahmen von mehreren Forschungsarbeiten wurden die einzelnen Funktionsbereiche theoretisch fundiert, auf ihre Umsetzbarkeit hin überprüft und ein Aufgabenpool entwickelt, aus dem dann das eigentliche Screening zusammengestellt
wurde.
2.4
Ziele
BASIC-Screening verfolgt mehrere Strategien: Mit Hilfe einer motivierenden und
teilweise computergestützten Gestaltung soll dem Problem niedriger Reliabilitätskennwerte diagnostischer Erhebungsverfahren begegnet werden. Außerdem
sollen die wesentlichen neuropsychologischen Vorläuferfähigkeiten, die ein Kind im
Vorschulalter entwickelt und die es für einen erfolgreichen Schulstart mitbringen
sollte, wissenschaftlich fundiert in Testaufgaben umgesetzt werden, die im Sinne
eines Breitbandscreenings in verschiedenen Settings wie Einschulungsuntersuchung, klinisch-psychologischer Diagnostik oder kinderärztlicher Vorsorgeuntersuchung zum Einsatz kommen können.
30
BASIC-Preschool
2.5
Methodisches Vorgehen
Beschreibung des Testverfahrens BASIC-Preschool
Mit dem BASIC-Screening zur Analyse neuropsychologischer Basiskompetenzen im
Vorschulalter (Battery for Assessment in Children) (Daseking & Petermann, 2009)
liegt ein Verfahren zur Früherkennung von Voraussetzungen vor, die zum Gelingen
des Erlernens von Lesen, Schreiben und Rechnen beitragen. Früherkennung heißt in
diesem Fall, dass Beeinträchtigungen in den entsprechenden Vorläuferfähigkeiten
so rechtzeitig erhoben werden, dass eine gezielte und spezifische Förderung noch
vor der Einschulung greifen kann. Mögliche Defizite in einzelnen Funktionsbereichen haben zu diesem Zeitpunkt noch keine gravierenden Auswirkungen auf alltägliche Leistungen, die negativen Konsequenzen ergeben sich häufig erst durch die
deutlich steigenden Anforderungen im Rahmen des Schulunterrichts. Die Grundkonzeption basiert auf kognitions- und neuropsychologischen Erkenntnissen über
Vorläuferfähigkeiten für den schulvermittelten Erwerb der Kulturtechniken.
Um das Kind zu einer optimalen Mitarbeit zu motivieren, sind die Untertests in eine
Geschichte eingebettet. Die abwechslungsreiche Darbietung der Untertests verbessert die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit des Kindes. Die Anwendung ist besonders zu Beginn des letzten Kindergartenjahres zu empfehlen, um im Bedarfsfall
noch vor der Einschulung eine differenzierte Abklärung und/oder Förderung einleiten zu können.
Mit insgesamt zehn Untertests können Aussagen über die Teilleistungen selektive
Aufmerksamkeit, visuell-räumliche Wahrnehmung, Sprachverständnis und Zahlenund Mengenwissen gemacht werden. Es kann ein Gesamt-Risikowert gebildet werden, der als Maß für das Risiko dient, schulische Lernstörungen zu entwickeln. Neben diesem Gesamtwert kann auch auf Untertestebene eine Risikoaussage vorgenommen werden. Die zehn Untertests erfassen verschiedene neuropsychologische
Teilleistungen, die sich inhaltlich zu vier Bereichen zusammenfassen lassen (vgl.
Abb. 1):
•
•
•
•
Visuell-räumliche Wahrnehmung,
Sprachverständnis,
selektive Aufmerksamkeit und
das Zahlen- und Mengenwissen.
Die Vergleichswerte basieren auf den Ergebnissen von 710 Kindern, die im Zeitraum
zwischen dem 01.11.2005 und dem 30.06.2007 an der Datenerhebung zur Normierung des Testverfahrens teilgenommen haben.
31
BASIC-Preschool
2.6
Ergebnisse
Korrelation mit dem Elternurteil. Mit einem zusätzlichen Fragebogen wurden Angaben zu unspezifische Vorläuferfähigkeiten, spezifische Vorläuferfähigkeiten für
Lese-Rechtschreibfertigkeiten und spezifische Vorläuferfähigkeiten für Rechenfertigkeiten erhoben. Aus den Antworten wurde ein Gesamt-Risikowert des Elternurteils gebildet, der mit dem Gesamt-Risikowert des BASIC-Screenings korreliert wurde. Diese Korrelation erweist sich als hoch signifikant (r = .49***). Ein höherer Risiko-Gesamtwert im BASIC-Preschool geht demnach mit einem höheren RisikoGesamtwert im Elternfragebogen einher. Die Elterneinschätzungen und das Testergebnis zeigen also gute Übereinstimmungen.
Abbildung 1: Zuordnung der erfassten Teilleistungen zu den vier Merkmalsbereichen
Korrelation mit Entwicklungsverzögerungen. Mittels Elternfragebogen wurden Angaben zu Geburtskomplikationen, schweren Kopfverletzungen und Entwicklungsverzögerungen im motorischen und sprachlichen Bereich in den ersten beiden Lebensjahren erhoben. Geburtskomplikationen und/oder Entwicklungsverzögerungen
und BASIC-Preschool-Ergebnisse korrelieren signifikant und spezifisch, aber niedrig.
Frühe Entwicklungsverzögerungen scheinen somit kein ausreichender Prädiktor für
Beeinträchtigungen in den Vorläuferfähigkeiten im letzten Kindergartenjahr zu sein.
32
BASIC-Preschool
Zusätzlich wurde geprüft, welchen Einfluss Zweisprachigkeit beziehungsweise ein
Migrationshintergrund auf die Vorläuferfähigkeiten aufweist. Darüber hinaus wurden Korrelationsstudien mit etablierten Instrumenten (u. a. ET 6-6) zum Nachweis
der Konstruktvalidität durchgeführt.
Prognostische Validität. Die prognostische Validität des Verfahrens wurde mit einer
umfangreichen Studie (N = 122) nachgewiesen (vgl. Abb. 2). Die vorschulischen Leistungen in den vier Merkmalsbereichen wurden auf ihre Vorhersagekraft für die
Rechtschreibleistung (DRT 1), die Rechenleistung (DEMAT 1+) und das Intelligenzniveau (WISC-IV) zu Beginn der zweiten Klasse überprüft. Die Zusammenhangsmaße
und die Regressionsanalysen weisen auf die besondere Bedeutung des vorschulischen Sprachverständnisses für Rechtschreib- und Rechenleistung hin. Die Ergebnisse belegen die Notwendigkeit, sprachliche Fähigkeiten im letzten Kindergartenjahr
zu erfassen und zu fördern.
t1
letztes Kindergartenjahr
BASICPreschool
t2
Beginn zweites Schuljahr
DRT 1
DEMAT 1+
WISC-IV
Lehrerurteil
Abbildung 2: Studiendesign mit den eingesetzten Messverfahren. t1 = erster Messzeitpunkt, t2 = zweiter Messzeitpunkt, DRT 1: Diagnostischer Rechtschreibtest für 1. Klassen, DEMAT 1+: Deutscher Mathematiktest für
erste Klassen, WISC-IV: Wechsler Intelligence Scale for Children - Version IV.
2.7
Literatur
Daseking, M. & Petermann, F. (2009). Battery for Assessment in Children - Screening
für kognitive Basiskompetenzen im Vorschulalter (BASIC-Preschool). Bern: Huber.
Publikationen
Daseking, M., Bauer, A., Knievel, J., Petermann, F. & Waldmann, H.-C. (2011). Kognitive Entwicklungsrisiken bei zweisprachig aufwachsenden Kindern mit Migrationshintergrund im Vorschulalter. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie,60, 351-368.
33
BASIC-Preschool
Knievel, J. (2009). Die prognostische Bedeutung kognitiver Vorläuferfähigkeiten im
Kindergartenalter für den Erwerb der Rechtschreibung und des Rechnens. Bremen: Unveröffentlichte Dissertation.
Knievel, J., Daseking, M. & Petermann, F. (2010). Kognitive Basiskompetenzen und
ihr Einfluss auf die Rechtschreib- und Rechenleistung. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 42, 15-25.
Knievel, J., Petermann, F. & Daseking, M. (2011). Welche Vorläuferdefizite weisen
Kinder mit einer kombinierten Rechtschreib- und Rechenschwäche auf? Diagnostica, 57, 212-224.
34
SET 5-10
3
Konstruktion, Normierung und Validierung des
Sprachstandserhebungstests für Kinder zwischen 5
und 10 Jahren (SET 5-10)
3.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiterinnen
Dr. Dorothee Metz
Dr. Lina Paulina Fröhlich,
Dipl.-Psych. Julia-Katharina Rißling
Zeitraum
01.01.2007 - 31.07.2013
Finanzierung
Eigenmittel ZKPR, Hogrefe-Verlag Göttingen.
3.2
Zusammenfassung
Störungen der Sprache gehören zu den häufigsten Entwicklungsstörungen und können die kognitive, emotionale und psychische Entwicklung eines Kindes nachhaltig
beeinflussen. In der Diagnostik wird der Einsatz psychometrischer Testverfahren
empfohlen, da diese, sofern sie den Testgütekriterien genügen, zu objektiven Befunden führen. Während für das Vorschulalter noch verschiedene Verfahren zur
Verfügung stehen, nimmt die Anzahl der Verfahren im Grundschulalter erheblich
ab. Die Mehrheit der eingesetzten Instrumente beruht, wenn überhaupt, auf veralteten Normen, verfügt über keine theoretische Fundierung oder kann den Testgütekriterien nicht gerecht werden. Im Rahmen des Projektes wurde daher ein neuer
allgemeiner Sprachtests speziell für Kinder ab dem fünften Lebensjahr entwickelt,
der eine zuverlässige Diagnostik für Kinder im Vor- und Grundschulalter ermöglichen soll.
35
SET 5-10
3.3
Stand der Forschung
Sprache ist zentraler Bestandteil unserer Kultur. Sie ermöglicht die Aneignung neuen Wissens, sowie den Austausch und die Vermittlung von Emotionen und Gedanken. Die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten ist einer der wichtigsten Entwicklungsbereiche der Kindheit (Grimm, 2003; von Suchodoletz, 2003). Die Mehrheit der
Kinder bewältigt die Entwicklungsaufgabe des Spracherwerbs ohne Probleme und
eignet sich das damit verbundene Konglomerat von Regeln, Strukturen und Bedeutungen scheinbar mühelos an. Dennoch stellen Störungen der Sprache bis zum
Schulbeginn die häufigsten Entwicklungsstörungen dar, die zudem verschiedene
andere Bereiche der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung eines Kindes
beeinflussen.
Sprachstörungen können, je nach Alter des Kindes sowie Art und Ausprägung der
Störung, eine große Variationsbreite aufweisen und die kognitive, emotionale und
psychische Entwicklung eines Kindes sowie die Eltern-Kind-Beziehung negativ beeinflussen. Zudem bilden sich die Defizite im sprachlichen Bereich ohne Behandlung
meist nicht vollständig zurück (Neumann et al., 2009). Die Identifikation von Sprachstörungen ist somit wichtig, um frühzeitig Förderungen oder therapeutische Maßnahmen einleiten zu können. Hierfür ist eine optimierte, valide Diagnostik von zentraler Bedeutung.
Für das Vorschulalter stehen im deutschen Sprachraum verschiedene Verfahren zur
Verfügung. Mit Beginn des Grundschulalters nimmt die Zahl der Testverfahren jedoch erheblich ab. Viele der aktuell in der Praxis eingesetzten Instrumente werden
zudem den Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht gerecht: Sie beruhen,
wenn überhaupt, auf veralteten Normen, basieren auf keinem theoretischen Konzept oder entsprechen nicht den Gütekriterien, so dass an ihrer Aussagekraft und
ihrer Tauglichkeit für eine qualifizierte Diagnostik gezweifelt werden muss (Keilmann, Moein & Schöler, 2012; Metz & Petermann, 2010; Neumann et al., 2011).
3.4
Ziele
Es sollte ein Sprachtest für Kinder zwischen fünf und zehn Jahren entwickelt werden, der eine an den Entwicklungsstand angepasste, umfassende Beurteilung des
Sprachstandes ermöglicht. Hierfür sollte der Sprachtest verschiedene sprachliche
Bereiche, wie Wortschatz, Sprachverständnis und Sprachproduktion) aber auch die
Verarbeitungsgeschwindigkeit und die auditive Merkfähigkeit erfassen, die als wichtige Vorläuferfähigkeiten für einen erfolgreichen Spracherwerb gelten (Leonard et
al., 2007). Die Normen des Tests sollten in einer deutschlandweiten Erhebung an
mindestens 1000 Kindern basieren und den Testgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität genügen (vgl. Petermann, 2012).
36
SET 5-10
3.5
Methodisches Vorgehen
Im Rahmen der Konstruktionsstichprobe des neu entwickelten Testverfahrens SET
5-10 sollten 2008 etwa 300 Kinder aus den Bundesländern Bayern, Bremen und
Hessen überprüft werden. Für die Normierung des SET 5-10 wurde als Ziel definiert,
dass im Zeitraum von April bis Oktober 2009 etwa 1000 Kinder im Alter zwischen
5;0 und 10;11 Jahren in Kindergärten und Grundschulen in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Sachsen überprüft werden sollten. Um die Validität
des SET 5-10 zu bestimmen sollten weitere Studien, u.a. zur Überprüfung der Kriteriumsvalidität des Verfahrens folgen.
Für die Entwicklung des SET 5-10 wurde eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zusammengestellt, die sich aus Kinderpsychologen, Entwicklungspsychologen und
Linguisten zusammensetzte. Es wurden Items unterschiedlicher Schwierigkeitsstufen entwickelt. Die Auswahl der endgültigen Items orientierte sich an den statistischen Kennwerten und inhaltlicher Vorgaben (wie uneindeutige Items), die im
Rahmen der Konstruktionsstichprobe des SET 5-10 ermittelt wurden.
Konstruktion und Analyse. Für die Konstruktionsstichprobe wurden N=275 Kinder
(142 Jungen und 133 Mädchen) aus den Bundesländern Bayern, Bremen und Hessen mit dem SET 5-10 überprüft. 74 Kinder (27%) wiesen einen Migrationshintergrund auf. Das durchschnittliche Alter der Grundschüler betrug 7;8 Jahre, die
Kindergartenkinder wiesen ein durchschnittliches Alter von 5;7 Jahren und die Kinder aus der pädiatrischen Praxis ein durchschnittliches Alter von 7;4 Jahren auf.
Normierung. Die Erhebung der Normstichprobe erfolgte im Zeitraum von Mai bis
September 2009. Es wurden 1052 Kinder im Alter zwischen 5;0 und 10;11 Jahren
mit dem SET 5-10 überprüft. Die Eltern der überprüften Kinder erhielten zudem
einen Fragebogen, u.a. zur Entwicklung des Kindes, zur Muttersprache und zum
Bildungshintergrund der Eltern. 83% der Kinder wuchsen monolingual deutschsprachig auf. Auf der Basis der Normierungsstichprobe konnten T-Werte und Prozentränge für sieben Altersgruppen bestimmt werden.
Validierung. Erste Analysen zur Güte des SET 5-10 wurden auf der Basis der Normierungsstichprobe des SET 5-10 durchgeführt. Hierfür wurden die Daten von n=46
Kindern, die laut Elternurteil grammatikalische Auffälligkeiten aufwiesen, mit einer
altersgleichen Kontrollgruppe verglichen. Die Analysen zeigten, dass die Kinder mit
grammatikalischen Auffälligkeiten signifikant niedrigere Ergebnisse in den Bereichen Sprachverständnis, Sprachproduktion sowie Grammatik/Morphologie aufwiesen als die Kinder ohne grammatikalische Auffälligkeiten (Metz, Belhadj, Kouider,
Karpinski & Petermann, 2011).
In einer ersten Studie zur konvergenten Validität des SET 5-10 für die Altersgruppe
der Sieben- und Achtjährigen wurden N=71 Kinder mit dem SET 5-10 sowie einer
Auswahl spezifischer Sprachtests überprüft und die Korrelationen der SET 5-10 Ska37
SET 5-10
len mit Testverfahren, die vergleichbare Konzepte erheben, berechnet. Die Stichprobe setzte sich aus n=40 Achtjährigen und n=31 Siebenjährigen monolingual
deutschsprachigen Kindern mit durchschnittlichen, nonverbalen kognitiven Fähigkeiten zusammen. Zu den eingesetzten Verfahren gehörten der Wortschatz- und
Wortfindungstests für 6- bis 10-Jährige (WWT 6-10; Glück, 2007), der Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses (TROG-D; Fox, 2009), der Untertest Expressive Sprache (Grammatik), der Basisdiagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen
im Grundschulalter (BUEGA; Esser, Wyschkon & Ballaschk, 2008) und die Untertests
Symbolsuche und Durchstreichtest des Wechsler Intelligence Scale for Children
(WISC-IV; Petermann & Petermann, 2011).
Aufbauend auf diesen ersten Ergebnissen zur konvergenten Validität des SET 5-10
wurde in einer weiteren Studie die Kriteriumsvalidität der SET5-10-Skalen für alle
Altersgruppen und Untertests durchgeführt. Hierfür wurden im Zeitraum von Oktober 2011 bis Juni 2012 N=304 Kindern (141 Mädchen; 163 Jungen) zwischen 5 und
10 Jahren in Kindergärten und Grundschulen in Bremen und Niedersachsen mit dem
SET 5-10 und den zugeordneten Testverfahren überprüft. Das durchschnittliche Alter der Kinder betrug 7;5 Jahre. Zur Prüfung der Kriteriumsvalidität des SET 5-10
wurden die korrelativen Zusammenhänge der einzelnen Untertests des SET 5-10 mit
den Ergebnissen aus anderen Verfahren bzw. deren Untertests bestimmt. Zu diesem Verfahren gehörten der Aktive Wortschatztest für 3- bis 5-jährige Kinder
(AWST-R; Kiese-Himmel, 2005), der Wortschatz- und Wortfindungstests für 6- bis
10-Jährige (WWT 6-10; Glück, 2007), der Sprachentwicklungstest für 3- bis 5-jährige
Kinder (SET-K 3-5; Grimm, Aktas & Frevert, 2010), der Test zur Überprüfung des
Grammatikverständnisses (TROG-D; Fox, 2009), der Untertest Expressive Sprache
(Grammatik) der Basisdiagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen im Grundschulalter (BUEGA; Esser, Wyschkon & Ballaschk, 2008) und der Untertest Kunstwörter nachsprechen des Heidelberger auditiven Screenings in der Einschulungsdiagnostik (HASE; Brunner & Schöler, 2008) sowie die Untertests Symbol-Suche und
Kodieren die Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence - III (WPPSI III;
Petermann, 2011) und die Untertests Symbolsuche und Durchstreichtest des Wechsler Intelligence Scale for Children (WISC-IV; Petermann & Petermann, 2011).
3.6
Ergebnisse
Die Berechnungen, basierend auf den Daten der Konstruktionsstichprobe, ergaben,
dass die Itemschwierigkeiten breit streuten und die Trennschärfe der Items innerhalb einzelner Untertests von .34 bis .74 reichte (Metz, Fröhlich & Petermann,
2009). Die Mehrzahl der Untertests zeigte eine zufriedenstellende bis gute interne
Konsistenz.
Erste Analysen zur Güte des SET 5-10, basierend auf der Normierungsstichprobe,
38
SET 5-10
geben einen ersten Hinweis darauf, dass Kinder mit grammatikalischen Auffälligkeiten auch im SET 5-10 als auffällig identifiziert werden können (Metz, Belhadj Kouider, Karpinski & Petermann, 2011).
Die Analysen im Rahmen der ersten Studie zur konvergenten Validität des SET 5-10
sprechen für eine mittlere bis hohe Validität der SET 5-10 Skalen für die Altersgruppe der Sieben- und Achtjährigen (Metz, Rißling, Karpinski & Petermann, 2011). Diese Ergebnisse konnten für alle Altersgruppen und Untertests weitgehend bestätigt
werden (Rißling & Petermann, 2012). Insgesamt lässt sich festhalten, dass der SET 510 eine an den Entwicklungsstand angepasste, umfassende Beurteilung des Sprachstands ermöglicht und so einen wichtigen Beitrag zur objektiven Diagnostik sprachlicher Fähigkeiten von Kindern ab fünf Jahren leistet.
Mit dem SET 5-10 wurde ein Verfahren entwickelt, dem gegenwärtig im deutschsprachigen Raum in Bezug auf Aktualität, Auswahl der Zielgruppe und der Weite des
Ansatzes eine Alleinstellung zukommt.
3.7
Literatur
Brunner, M. & Schöler, H. (2008). Heidelberger Auditives Screening in der Einschulungsdiagnostik (HASE) (2., überarb. u. erw. Aufl.). Wertingen: Westra.
Esser, G., Wyschkon, K. & Ballaschk, K. (2008). Basisdiagnostik umschriebener Entwicklungsstörungen im Grundschulalter (BUEGA). Göttingen: Hogrefe.
Fox, A.V. (2009). Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses (TROG-D). Idstein: Schulz-Kirchner.
Glück, C.W. (2007). Wortschatz- und Wortfindungstest für 6- 10-Jährige (WWT 610). München: Urban & Fischer.
Grimm, H. (2003). Störungen der Sprachentwicklung (2., überarb. Aufl.).Göttingen:
Hogrefe.
Grimm, H. Aktas, M. & Frevert, S. (2010). SETK 3-5. Sprachentwicklungstest für dreibis fünfjährige Kinder. Diagnose von Sprachverarbeitungsfähigkeiten und auditiven Gedächtnisleistungen (2., überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Keilmann, A., Moein, G. & Schöler, H. (2012). Werden mit dem SETK 3-5 klinisch
diagnostizierte Sprachentwicklungsstörungen erfasst? HNO, 60, 63-71.
Kiese-Himmel, C. (2005). AWST-R. Aktiver Wortschatztest für 3- bis 5-jährige Kinder Revision. Göttingen: Beltz Test GmbH.
Leonard, L.B., Weismer, S.E., Miller, C.A., Francis, D.J., Tomblin, J.B. & Kail, R.V.
(2007). Speed of processing, working memory, and language impairment in
children. Journal of Speech, Language, and Hearing Research, 50, 408-428.
Metz, D., Belhadj-Kouider, E., Karpinski, N. & Petermann, F. (2011). Die Validität des
Sprachstandserhebungstests für fünf- bis zehnjährige Kinder (SET 5-10): Erste
Analysen. Das Gesundheitswesen, 73, 637-643.
39
SET 5-10
Metz, D. & Petermann, F. (2010). Sprachdiagnostik und -förderung im Grundschulalter. Monatsschrift Kinderheilkunde, 158, 1125-1136.
Metz, D., Rißling, J.-K., Karpinski, N. & Petermann, F. (2011). Erste Analysen zur Kriteriumsvalidität des Sprachstandserhebungstests für Kinder im Alter zwischen 5
und 10 Jahren (SET 5-10). Sprache Stimme Gehör, 35, 216-221.
Neumann, K., Holler-Zittlau, I., van Minnen, S., Sick, U., Zaretsky, Y. & Euler, H.A.
(2011). Katzengoldstandards in der Sprachstandserfassung. HNO, 59, 97-109.
Neumann, K., Keilmann, A., Rosenfeld, J., Schönweiler, R., Zaretsky, Y. & KieseHimmel, C. (2009). Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern - Leitlinien der
Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie. Kindheit und Entwicklung, 18, 222-231.
Petermann, F. (2011). Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence - III Deutsche Version (2. Aufl.). Frankfurt: Pearson Assessment.
Petermann, F. (2012). Sprachstandserhebungstest für Kinder zwischen 5 und 10 Jahren (SET 5-10) (2., veränd. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Suchodoletz, W. von (2003). Umschriebene Sprachentwicklungsstörungen. Monatsschrift Kinderheilkunde, 151, 31-37.
Publikationen
Metz, D., Belhadj-Kouider, E., Karpinski, N. & Petermann, F. (2011). Die Validität des
Sprachstandserhebungstests für fünf- bis zehnjährige Kinder (SET 5-10): Erste
Analysen. Das Gesundheitswesen, 73, 637-643.
Metz, D., Fröhlich, L.P. & Petermann, F. (2009). Sprachstandserhebungsverfahren
für Fünf- bis Zehnjährige (SET 5-10). Konstruktion und Analyse. Kindheit und Entwicklung, 18, 194-203.
Metz, D. & Petermann, F. (2010). Sprachdiagnostik und -förderung im Grundschulalter. Monatsschrift Kinderheilkunde, 158, 1125-1136.
Metz, D., Rißling, J.-K., Karpinski, N. & Petermann, F. (2011). Erste Analysen zur Kriteriumsvalidität des Sprachstandserhebungstests für Kinder im Alter zwischen 5
und 10 Jahren (SET 5-10). Sprache Stimme Gehör, 35, 216-221.
Petermann, F. & Petermann, U. (Hrsg.) (2011). Wechsler Intelligence Scale for
Children - Fourth Edition (WISC-IV, deutsche Version). Frankfurt: Pearson Assessment.
Petermann, F. & Rißling, J.-K. (2011). Sprachdiagnostik im Vor- und Grundschulalter.
Sprachheilarbeit, 56, 131-137.
Petermann, F. & Rißling, J.-K. (2012). Sprachdiagnostik in der Praxis. Kinder- und
Jugendarzt, 43, 241-245.
Petermann, F. & Rißling, J.-K. (Hrsg.) (2013). Fallbuch SET 5-10. Göttingen: Hogrefe.
Rißling, J.-K. & Petermann, F. (2012). Intelligenz und Sprache - Sprachentwicklung
bei Kindern mit Intelligenzminderung. Sprache Stimme Gehör, 36, 123-127.
Rißling, J.-K. & Petermann, F. (2012). Kriteriumsvalidität des SET 5-10. Sprache
Stimme Gehör, 36, 123-127.
40
KET-KID
4
Normierung und Validierung des Kognitiven
Entwicklungstest für das Kindergartenalter (KET-KID)
4.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
PD Dr. Monika Daseking
Mitarbeiterin
Dipl.-Psych. Julia Danielsson
Zeitraum
01.01.2006 - 31.12.2009
Finanzierung
Hogrefe Verlag, Göttingen und Eigenmittel (Doktorandenkolleg)
4.2
Zusammenfassung
Ziel des Projektes ist die Adaption, Normierung und Validierung eines Tests zur kognitiven Entwicklung nach dem Konzept von A. Luria (Cuestionario de Madurez Neuropsicológica Infantil, CUMANIN; Porcellano Pérez et al., 2002).
4.3
Stand der Forschung
Mit dem CUMANIN steht ein spanischsprachiges, neuropsychologisches Untersuchungsinstrumentarium zur Verfügung, dass verschiedener kognitiver Funktionen
wie Psychomotorik, Sprache, Aufmerksamkeit, räumliches Denken, visuelle Wahrnehmung, Gedächtnis und Lateralität bei 3- bis 6-jährigen Kindern überprüfen soll.
Die ausgewählten Funktionen weisen einen engen Zusammenhang zur Hirnreifung
auf. Die ersten Jahre der frühkindlichen Entwicklung sind von überaus großer Wichtigkeit, sowohl im Sinne der zerebralen Reifungsprozesse als auch hinsichtlich neuronaler Hirnreifungsstörungen. Die Autoren weisen darauf hin, dass es zwar eine
41
KET-KID
Reihe von exzellenten entwicklungsneuropsychologischen Testverfahren und Skalen
zur Einschätzung des Kindes gibt, aber nicht für die genannte Altersspanne. Dabei
stellt das Vorschulalter einen Entwicklungszeitraum dar, der sich für die zerebrale
Entwicklung als enorm bedeutungsvoll erwiesen hat. Die neuronalen Verbindungen,
die in dieser Zeit geknüpft werden, bilden das zukünftige Fundament für Lernen und
Verhalten. Auch die zerebrale Stoffwechselaktivität ist in dieser Zeit (bis zu 60% des
Gesamtstoffwechsels) so hoch wie zu keinem anderen Zeitpunkt in der Entwicklung!
CUMANIN verfolgt das Ziel, eine diagnostische Lücke zu schließen. Rechtzeitige Identifikation, Intervention oder Therapie kann dazu beitragen, Lernstörungen zu
verhindern oder zu minimieren. CUMANIN stellt ein Instrument dar, das eher zur
Einschätzung der neuropsychologischen Reifung als zur Beurteilung der intellektuellen Entwicklung eingesetzt werden kann. Dies umfasst auch die Evaluation von Kindern, die neurologische Softsigns oder Hirnschädigungen aufweisen, mit dem Ziel,
darauf aufbauende spezifische Therapie-Programme zu entwickeln und die Entwicklungschancen oder Lernkapazitäten des Kindes entscheidend zu verbessern.
4.4
Ziele
Das neu konzipierte Verfahren mit dem mit dem Titel „Kognitiver Entwicklungstest
für das Kindergartenalter“ beinhaltet eine Vielzahl von Vorläuferfähigkeiten schulbezogener Kompetenzen. Damit kann das Verfahren auch eine Verbesserung des
Bildungsangebotes in Kindergärten anregen. In anderen Ländern wurde bereits
nachgewiesen, dass die Qualität der Förderung im Kindergartenalter einen großen
Einfluss auf die späteren schulischen Leistungen der Kinder hat. Die Ergebnisse dieses Projektes können eine ähnliche Entwicklung in Deutschland fördern. Dazu wurde die neuropsychologische Testbatterie zur Diagnostik von neuropsychologischen
Störungen und umschriebenen Entwicklungsstörungen in das deutsche Sprachsystem übertragen und inhaltlich erweitert. Über die Beurteilung aller wichtigen neuropsychologischen Entwicklungsaspekte hinaus können mithilfe der Weiterentwicklung des Verfahrens vor allem im Bereich Sprachkompetenz wichtige Entscheidungen bezüglich schulischer Fertigkeiten und deren Störungen frühzeitig getroffen und
notwendige Interventionen eingeleitet werden.
4.5
Methodisches Vorgehen
Für die Normierung und Validierung des Testverfahrens wurden die Daten sowohl
gesunder Kindergarten-, Vor- und Grundschulkindern als auch einer klinischen
Stichprobe bei Frühgeborenen erhoben. Daraus ergibt sich eine differenzierte Aussagekraft des Verfahrens im Hinblick auf die Einordnung einer normalen Entwick42
KET-KID
lung und ihren Abweichungen. Damit wird die Einsatz- bzw. Indikationsbreite des
Testes deutlich verbessert. Die Datenerhebung im Rahmen der Testnormierung erstreckte sich von August 2007 bis April 2008. Um eine hohe Repräsentativität des
Testes sicherzustellen, wurden Kinder aus verschiedenen Bundesländern einbezogen. Da sich in den OECD-Studien ein deutlicher Vorteil für das ostdeutsche Kindergartensystem herausgestellt hat, war eine Einbeziehung eines entsprechenden
Bundeslandes in die Normierung zwingend erforderlich.
4.6
Ergebnisse
Beschreibung des Testverfahrens KET-KID
Der KET-KID ist ein Testverfahren für die diagnostische Einzelfalluntersuchung zur
Erfassung von neuropsychologischen Basisfähigkeiten für Kinder im Altersbereich
von 3;0 Jahren bis 6;6 Jahren. Das Verfahren erfasst neuropsychologische Basiskompetenzen und Teilleistungen wie Psychomotorik, visuelle Wahrnehmungsleistungen, auditive und visuelle Gedächtnisleistungen, expressive und rezeptive Sprache oder Aufmerksamkeit und ermöglicht Aussagen zur Lateralität. Die Grundkonzeption basiert auf entwicklungsneuropsychologischen Erkenntnissen zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen. Die abwechslungsreiche Darbietung der Untertests verbessert die Aufrechterhaltung der kindlichen Aufmerksamkeit. Die Untertestleistungen (Psychomotorik, Artikulation, auditives Gedächtnis, Sprachverständnis, räumliche Vorstellung, Visuoperzeption und -konstruktion, bildhaftes Gedächtnis und Rhythmus) fließen in einem Entwicklungsquotienten zusammen. Dazu lassen sich verbale und nonverbale Fähigkeiten getrennt bewerten. Parallel wird die
Lateralität des Kindes eingeschätzt.
Die publizierten Vergleichswerte basieren auf den Leistungen von 750 Kindern aus
verschiedenen deutschen Standorten.
Der Test kann vor allem zur Früherkennung kognitiver und motorischer Teilleistungsstörungen eingesetzt werden kann. Das Verfahren weist eine hohe prognostische Validität im Hinblick auf mögliche spätere Beeinträchtigungen auf. Die betrifft
besonders den schulischen Bereich also die umschriebenen Entwicklungs- und Lernstörungen. Sollten spezifische Teilleistungsstörungen mit KET-KID identifiziert werden, kann eine weitere Abklärung erfolgen. Auch für eine allgemeine Entwicklungsbegleitung von Kindern im Kindergartenalter ist KET-KID eine gute Alternative. Entwicklungsverläufe in verschiedenen kognitiven Bereichen lassen sich gut abbilden.
Im klinischen Kontext und auch im Rehabilitationsprozess von Kindern bietet KETKID eine fundierte Möglichkeit, den (Rehabilitations-) Verlauf abzubilden.
43
KET-KID
Geschlechtsunterschiede
Für Leistungsunterschiede zwischen Mädchen und Jungen ergeben sich nur in den
Untertests Visuokonstruktion und Aufmerksamkeit signifikante Unterschiede, wobei
sich die realen Leistungsunterschiede im Rahmen eines Rohwertpunktes bewegen.
Auf Skalenebene ergibt sich eine signifikante Differenz für die Nonverbalen Skala,
die aber ebenfalls vernachlässigbar erscheint.
Leistungsunterschiede zwischen ein- und zweisprachig aufwachsenden Kindern
Die Überprüfung der Daten der Normierungsstichprobe ergab, signifikanten Leistungsunterschiede in den sprachlichen Untertests. In den übergeordneten Skalen
zeigen sich sehr signifikante Unterschiede in der Entwicklungsskala und in der Verbalen Skala. Nur in der Nonverbalen Skala und in den entsprechenden Untertests
ergeben sich keine Leistungsunterschiede. Eine Ausnahme bildet der Untertest
Räumliche Vorstellung. Hier sollen die Kinder sprachliche Anweisungen mit einem
hohen Anteil an Raumwahrnehmung und Raumvorstellung umsetzen. Hier muss das
Kind auch präpositionale Beziehungen erfassen und umsetzen (vor, hinter usw.).
Diese Fähigkeit hat sich als sensibler Prädiktor für Leistungen des Sprachverständnisses erwiesen. Hier schneiden Kinder mit einer anderen Muttersprache deutlich
schwächer ab.
Kinder mit Sprachstörungen
Ergebnisse einer Studie zeigen, dass Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen in
den Bereichen Artikulation, auditives Gedächtnis, räumliche Vorstellung sowie Visuokonstruktion signifikant schlechter abschneiden als die gesunden Kinder einer nach
Alter und Geschlecht gematchten Kontrollstichprobe. In der nonverbalen Intelligenzleistung gibt es keine signifikanten Unterschiede. Damit weisen Kinder mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen ein erhöhtes Risiko zu weiteren kognitiven Beeinträchtigungen auf. Auch in der Lateralitätsausbildung erweisen sich diese
Kinder als verzögert. Dies geht einher mit graphomotorischen Defiziten, die wiederum Auswirkungen auf schulische Leistungen haben können. Alle Bereiche sollten
frühzeitig diagnostisch mit überprüft und bei Bedarf in die Förderung integriert
werden.
4.7
Literatur
Daseking, M. & Petermann, F. (2009). Kognitiver Entwicklungstest für das Kindergartenalter (KET-KID). Göttingen: Hogrefe.
OECD (2001). Starting Strong - early childhood and education care. Paris: OECD
Publications.
44
KET-KID
Portellano Pérez, J.A. Mateos Mateos, R., Martínez Arias, R., Tapia Pavón, A. &
Granados García-Tenorio, M.J. (2002). Cuestionario de Madurez Neuropsicológica
Infantil (CUMANIN). Madrid: TEA Ediciones.
Publikationen
Danielsson, J. (2010). Kognitive Entwicklung bei Kindern im Kindergartenalter bei
drei ausgewählten Risikogruppen. Unveröffentlichte Dissertation: Bremen.
Danielsson, J., Daseking, M. & Petermann, F. (2010). Komorbide Beeinträchtigungen
bei Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen. Monatsschrift Kinderheilkunde,
158, 669-676.
Danielsson, J., de Boer, M., Petermann, F. & Daseking, M. (2009). Nikotinexposition
in der Schwangerschaft - Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung im Kindergartenalter. Geburtshilfe und Frauenheilkunde, 69, 692-697.
Danielsson, J. & Petermann, F. (2009). Cognitive deficits in children with benign
rolandic epilepsy of childhood or rolandic discharges: a study of children
between 4 and 7 years of age with and without seizures compared with healthy
controls. Epilepsy & Behavior, 16, 646-651.
45
SOPESS
5
Entwicklung eines Screenings für den Einsatz bei der
schulärztlichen Schuleingangsuntersuchung (SOPESS)
5.1
Allgemeine Angaben
Leitung
PD Dr. Monika Daseking
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiterin
Dipl.-Psych. Marijke Oldenhage
Zeitraum
01.10.2006 - 30.09.2009
Finanzierung
Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst Nordrhein Westfalen
(LIGA.NRW)
5.2
Zusammenfassung
Ziel des Projektes ist die Entwicklung eines Screening-Verfahrens zur Erhebung des
Entwicklungsstands eines Kindes im Rahmen der Einschulungsuntersuchung in
Nordrhein- Westfalen bei vorgezogenem Einschulungsalter. Das neue Testverfahren
soll in ein Gesamtkonzept vorschulischer Förderung eingebunden werden. Daher
soll es in erster Linie dazu dienen, frühzeitig Förderbedarf zu ermitteln, der sich an
schulbezogenen Vorläuferfähigkeiten orientiert.
5.3
Stand der Forschung
Durch die Kritik an Reifungstheorien und einer biologischen Sichtweise der kindlichen Entwicklung wurde der ursprünglich verwendete Begriff der Schulreife in der
aktuellen Diskussion durch den Begriff der Schulfähigkeit (und Schulbereitschaft)
abgelöst, wobei der ökosystemische Ansatz von Nickel (1991) eine dominierende
Rolle spielt.
47
SOPESS
Danach basiert die Schulfähigkeit auf vier sich gegenseitig beeinflussenden Komponenten/Teilsystemen:
•
•
•
•
Schule (Anforderungen, Unterrichtsbedingungen)
Schüler (individuelle Lernvoraussetzungen)
Ökologie (häusliche, vorschulische und schulische Lernumwelt)
Gesamtgesellschaftlicher Hintergrund (Wertvorstellungen, Ziele...)
Schulfähigkeit wird also als ein multifaktorielles Konstrukt definiert. Sie ist daher
nicht nur von den Lernvoraussetzungen des Kindes, sondern auch von den Anforderungen des Unterrichtes her zu bestimmen (Kammermeyer, 2001a). Für den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule werden dabei seit einigen Jahren immer
wieder neue Modelle vorgeschlagen, die insbesondere auf eine veränderte Schuleingangsphase abzielen. Aufgrund der Bildungshoheit der Bundesländer werden
hier unterschiedliche Strategien verfolgt. Die unterschiedliche Praxis der Bundesländer in der Stichtagsregelung und in der Flexibilisierung der Schuleingangsphase
führt in Abhängigkeit vom Wohnort langfristig zu zeitlichen Verschiebungen in den
Bildungsverläufen (vgl. dazu Daseking, Oldenhage & Petermann, 2008).
Im Zusammenhang mit diesen Veränderungen steht dabei immer wieder auch die
Funktion der Schuleingangsdiagnostik zur Diskussion. Die Abkehr vom Selektionsprinzip impliziert gleichzeitig eine Hinwendung zum Förderprinzip. Dies führt zu einer deutlichen Veränderung in der Einschulungspraxis: die neue Schulgesetzgebung
sieht die bislang praktizierte Form der Zurückstellung nur noch in definierten Ausnahmefällen vor. Gleichzeitig werden aber Vorgaben zur Förderung von Kindern
gesetzlich verankert.
Schuleingangsdiagnostik. Die Schuleingangsdiagnostik dient der Feststellung der
Lernausgangslage eines Kindes. Es sollen Aussagen über Stärken und Schwächen des
Kindes getroffen werden (kompetenzorientierte Feststellung der Eingangsvoraussetzungen). In der aktuellen Betrachtung enthält die Schuleingangsdiagnostik vier
Hauptkriterien:
•
•
•
•
Körperliche Aspekte
Sozialfähigkeit
Motivationale und emotionale Stabilität
Kognitive Schulfähigkeit
somatische Entwicklung
psychische Entwicklung
Als Bereiche der individuellen Lernvoraussetzungen des Kindes werden die somatische und psychische Entwicklung angeführt; die psychische Entwicklung umfasst
kognitive, soziale und motivationale Faktoren.
Bedeutung von Testverfahren zur Einschulungsuntersuchung. Eine wesentliche
Schwierigkeit in der Früherkennung von schulbezogenen Entwicklungsstörungen ist
48
SOPESS
darin zu sehen, dass sich verschiedene kognitive Funktionen nicht ohne weiteres im
Alltag des Kindes (Kindergarten, Elternhaus) beobachten lassen, sondern meist nur
über entsprechende Testverfahren valide erhoben werden können.
Als Kritikpunkt an der Schulfähigkeitsdiagnostik wird üblicherweise angeführt, dass
überwiegend kognitive Fähigkeiten erfasst werden, die sich zudem am „Normalkind“ (normorientiert) orientieren. Dagegen können kriteriumsorientierte Testverfahren, die zudem die Messung des Lernerfolgs in einem Themenbereich über einen
längeren Zeitraum beinhalten (Statuserhebung - Intervention - Überprüfung des
Erfolges), zugleich einen Förderbedarf ermitteln und den Erfolg einer eingeleiteten
Maßnahme evaluieren.
Da die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchung U8 und U9 konzeptionell nur unzureichend geeignet sind, um einschulungsgefährdende Auffälligkeiten bei Kindergartenkindern zu erfassen (Michaelis, 2000), kommt der Einschulungsuntersuchung
eine wesentliche Rolle bei der Feststellung von Risikokindern für die Entwicklung
von Schulleistungsproblemen zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Risikokind erst
mit der Einschulungsuntersuchung identifiziert wird, ist außerdem abhängig von der
Art der Störung, dem Geschlecht und der Nationalität des Kindes (Tröster, Flender &
Reineke, 2004).
Aufgrund der entwicklungspsychologischen und entwicklungspädagogischen Erkenntnisse der letzten Jahre geht die Entwicklung insgesamt weg von einer Spätdiagnostik (kurzfristig mit dem Ziel einer Selektion bzw. Zuordnung zu einer Schulform)
hin zur Früherkennung schulischer Lernstörungen auf der Basis von Vorläuferstörungen (Krajewski, 2003, 2005). Verschiedene Argumente sprechen für einen möglichst frühen Zeitpunkt förderdiagnostischer Maßnahmen zur Identifizierung von
Risikokindern. Werden schulleistungsbezogene Vorläuferstörungen erst zum Zeitpunkt der Einschulung oder in den ersten Grundschulmonaten erkannt, ist der zeitliche Rahmen für eine zielgerichtete Intervention bereits sehr eng gesteckt und erstreckt sich häufig weit in die Schuleingangsphase hinein. Fördermaßnahmen im
Vorschulalter lassen sich dagegen oft optimal in das Setting des Kindergartens einbinden. Auch entwicklungspsychologische Befunde lassen den Schluss zu, dass eine
frühe Förderung schulbezogener Vorläuferfunktionen auf basaler Ebene die Entwicklungsprognose des Kindes verbessert. In diesem Zusammenhang sei auf Annahmen zur Entwicklung als Abfolge sich aufeinander beziehender Entwicklungsschritte oder die Modellvorstellung von sensiblen Entwicklungsphasen („Zeitfenstern“) für einzelne Funktionsbereiche (wie beispielsweise in der Sprachentwicklung;
Grimm, 2003) verwiesen.
Auf Grund dieser Überlegungen geht der Weg wieder hin zu einer testgestützten
Überprüfung von kognitiven Fähigkeiten im Sinne lernzielnaher Voraussetzungen
(Kammermeyer, 2001b). Zu diesen kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten gehören:
•
Visuelle Wahrnehmung
49
SOPESS
•
•
•
•
•
•
•
Denkfähigkeit (allgemeine Intelligenz)
Visuomotorik
Mengen- und zahlenbezogenes Vorwissen (Krajewski, 2003, 2005)
Gedächtnis (phonologisches und visuell-räumliches Arbeitsgedächtnis) (Roebers & Zoelch, 2005)
Sprachverständnis (u.a. präpositionale Beziehungen)
Phonologische Bewusstheit und
Aufmerksamkeit.
Mit dem Schuljahr 2007/2008 beginnt die Vorverlegung des Stichtages zur Schulpflicht in NRW um jährlich einen Monat. Dieser Prozess erstreckt sich über sechs
Jahre und soll langfristig dazu führen, dass alle Kinder zum 1. August des Jahres
schulpflichtig werden, in dem sie sechs Jahre alt werden (Stichtag 31.12.). In der
ersten Phase erfolgt eine Vorverlegung um drei Monate (Stichtag 30.09.) Die Einschulungsuntersuchung wird mit dem Schwerpunkt durchgeführt, Kinder frühzeitig
zu fördern, die im Bereich der schulbezogenen Lernvoraussetzungen Schwächen
aufweisen.
5.4
Methodisches Vorgehen
Das zu entwickelnde Testverfahren soll als Modell für den Einsatz bei der Einschulungsuntersuchung 2008/2009 einsatzfähig sein. Im Anschluss an die Veröffentlichung des Verfahrens ist es notwendig, Validierungsstudien zur durchzuführen.
Das ZKPR kann auf eine langjährige Tradition in der Entwicklung von Testverfahren
für das Vorschulalter verweisen. Hier sei auf den Entwicklungstest für 6 Monate bis
6 Jahre. ET 6-6 (Petermann, Stein & Macha, 2005) sowie das Vorschulscreening
BASIC-Preschool (Daseking & Petermann, 2009) verwiesen. Dieses Verfahren hat
zum Ziel, ein breites Spektrum kognitiver Funktionen (Vorläuferfähigkeiten) zu erheben, um Risikokinder für umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten bereits frühzeitig zu identifizieren. Die verschiedenen Untertests Visuelle
Analyse, Raum- und Objektwahrnehmung, Verbale Merkfähigkeit, Passiver Wortschatz, Selektive Aufmerksamkeit, Zählfertigkeit, Automatische Mengenerfassung,
Mengenvergleich sowie Mengenkonstanz werden den Funktionsbereichen Visuellanalytische Leistungen, Sprachverständnis, selektive Aufmerksamkeitsleistungen
und Mengen- und Zahlenvorwissen zugeordnet.
50
SOPESS
5.5
Ergebnisse
Beschreibung des Testverfahrens SOPESS
Das Sozialpädiatrische Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen
(SOPESS, Petermann, Oldenhage, Simon & Daseking, 2009a, 2009b) kommt als
Screeningverfahren im Rahmen der Einschulungsuntersuchung durch die Gesundheitsämter zum Einsatz. Mit dem Test kann eine orientierende Einschätzung des
Entwicklungsstandes eines Kindes im Vorfeld der Einschulung vorgenommen werden. Fallen Kinder durch Entwicklungs- und Verhaltensdefizite auf, können weitere
Maßnahmen eingeleitet werden. Damit steht das Förderprinzip im Vordergrund.
Das Verfahren zielt nicht auf eine Entscheidung über Einschulung bzw. Rückstellung.
Mit SOPESS können standardisierte Aussagen zu den Merkmalsbereichen Visuomotorik, Selektive Aufmerksamkeit, Zahlen- und Mengenvorwissen, Visuelles Wahrnehmen und Schlussfolgern, Sprechen und Sprache sowie Körperkoordination getroffen werden (vgl. Tab. 1).
Für die Normierung des Tests wurden die Daten von 13.600 Kindern einbezogen.
Die Validierung erfolgte über spezifische Verfahren zur Merkmalserfassung (Sprachtest, Entwicklungstest, Intelligenztest). Darüber hinaus wurde eine Studie zur Vorhersagegenauigkeit von SOPESS mit N = 372 Kindern durchgeführt. Alle Ergebnisse
wurden bereits publiziert.
Tabelle 1: Merkmalsbereiche und Untertests des SOPESS (modifiziert nach Daseking
et al., 2009b)
Merkmalsbereich
Nichtärztliches
Personal
Arzt/Ärztin
Untertests
Einzeichnen
geometrischer
Visuomotorik I
Formen (LKW)
Selektive Aufmerksamkeit Gesichter durchstreichen
Zählen
Zahlen- und MengenvorSimultanerfassung
wissen
Mengenvergleich
Visuomotorik II
Abzeichnen von Zelt und Pfeil
Visuelles
Wahrnehmen
Matrizenaufgaben
und Schlussfolgern
Präpositionen
Pluralbildung
Sprache und Sprechen
Pseudowörter
Artikulation
Körperkoordination
seitliches Hin- und Herspringen
51
SOPESS
5.6
Literatur
Daseking, M., Oldenhage, M. & Petermann, F. (2008). Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule - eine Bestandsaufnahme. Psychologie in Erziehung und
Unterricht, 55, 84-99.
Daseking, M. & Petermann, F. (2009). Battery for Assessment in Children - Screening
für kognitive Basiskompetenzen im Vorschulalter (BASIC-Preschool). Bern: Huber.
Grimm, H. (2003). Störungen der Sprachentwicklung (2., erweit. Aufl.). Göttingen:
Hogrefe.
Kammermeyer, G. (2001a). Schulfähigkeit. In G. Faust-Siehl & A. Speck-Hamdan
(Hrsg.), Schulanfang ohne Umwege (S. 96-118). Frankfurt: Arbeitskreis Grundschule.
Kammermeyer, G. (2001b). Schuleingangsdiagnostik. In G. Faust-Siehl & A. SpeckHamdan (Hrsg.), Schulanfang ohne Umwege (S. 119-143). Frankfurt: Arbeitskreis
Grundschule.
Krajewski, K. (2003). Vorhersage von Rechenschwäche in der Grundschule. Hamburg: Kovac.
Krajewski, K. (2005). Vorschulische Mengenbewusstheit von Zahlen. In M. Hasselhorn, H. Marx & W. Schneider (Hrsg.), Diagnostik von Mathematikleistungen (S.
49-70). Göttingen: Hogrefe.
Michaelis, R. (2000). Kinderärztliche Beurteilung der Schulfähigkeit. Kinderärztliche
Praxis, 71, 216-220.
Nickel, H. (1991). Die Einschulung als pädagogisch-psychologische Herausforderung.
„Schulreife“ aus ökologisch-systemischer Sicht - kritisches Ereignis oder erfolgreicher Übergang. In D. Haarmann (Hrsg.), Handbuch Grundschule Bd. 1 (3. Aufl., S.
88-100). Weinheim: Beltz.
Petermann F., Stein I.A. & Macha T. (2006). ET 6-6. Entwicklungstest 6 Monate bis 6
Jahre (3., veränd. Aufl.). Frankfurt: Pearson Assessment.
Petermann, F., Daseking, M., Oldenhage, M. & Simon, K. (2009a). Sozialpädiatrisches Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen - SOPESS Theoretische und statistische Grundlagen zur Testkonstruktion, Normierung und Validierung. Düsseldorf: LIGA.NRW.
Petermann, F., Daseking, M., Oldenhage, M. & Simon, K. (2009b). Sozialpädiatrisches Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen - SOPESS. Handanweisung zur Durchführung und Auswertung. Düsseldorf: LIGA.NRW.
Roebers, C.M. & Zoelch, C. (2005). Erfassung und Struktur des phonologischen und
visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses bei 4-jährigen Kindern. Zeitschrift für
Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 37, 113-121.
Tröster, H., Flender, J. & Reineke, D. (2004). Dortmunder Entwicklungsscreening für
den Kindergarten (DESK 3-6). Göttingen: Hogrefe.
52
SOPESS
Publikationen
Daseking, M., Oldenhage, M., Petermann, F. & Waldmann, H.-C. (2009). Die Validität
der Sprachskala des SOPESS unter Berücksichtigung der Erstsprache. Gesundheitswesen, 71, 663-668.
Daseking, M. & Petermann, F. (2011). Der Einfluss von Vorläuferfähigkeiten auf die
Rechtschreib-, Lese- und Rechenleistung in der Grundschule. Gesundheitswesen, 73, 644-649.
Daseking, M., Petermann, F., Röske, D., Trost-Brinkhus, G. Simon, K. & Oldenhage,
M. (2009). Entwicklung und Normierung des Einschulungsscreenings SOPESS. Gesundheitswesen, 71, 648-655.
Daseking, M., Petermann, F. & Simon, K. (2011). Zusammenhang zwischen SOPESSErgebnissen und ärztlicher Befundbewertung. Gesundheitswesen, 73, 660-667.
Daseking, M., Petermann, F, Simon, K. & Waldmann, H.-C. (2011). Vorhersage von
schulischen Lernstörungen durch SOPESS. Gesundheitswesen, 73, 650-659.
Petermann, F. & Daseking, M. (2011). Screening und Schuleingangsuntersuchung.
Das Gesundheitswesen, 73, 635-636.
Petermann, F., Daseking, M., Oldenhage, M. & Simon, K. (2009). Sozialpädiatrisches
Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen - SOPESS Theoretische
und statistische Grundlagen zur Testkonstruktion, Normierung und Validierung.
Düsseldorf: LIGA.NRW.
Petermann, F., Daseking, M., Oldenhage, M. & Simon, K. (2009). Sozialpädiatrisches
Entwicklungsscreening für Schuleingangsuntersuchungen - SOPESS. Handanweisung zur Durchführung und Auswertung. Düsseldorf: LIGA.NRW.
Oldenhage, M., Daseking, M. & Petermann, F. (2009). Erhebung des Entwicklungsstandes im Rahmen der ärztlichen Schuleingangsuntersuchung. Gesundheitswesen, 71, 638-647.
Waldmann, H.-C., Oldenhage, M., Petermann, F. & Daseking, M. (2009). Screening
des Entwicklungsstandes bei der Einschulungsuntersuchung: Validität der kognitiven Skalen des SOPESS. Gesundheitswesen, 71, 656-662.
53
FEW-JE
6
Normierung und Validierung des Frostigs
Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung für
Jugendliche und Erwachsene (FEW-JE)
6.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
PD Dr. Monika Daseking
Prof. Dr. Hans-Christian Waldmann
Mitarbeiterin
Dipl.-Psych. Lina Werpup
Zeitraum
01.06.2010 - 30.09.2012
Finanzierung
Hogrefe Verlag
6.2
Zusammenfassung
Ziel des Projektes ist die Normierung und Validierung eines Tests zur Visuellen
Wahrnehmung nach dem Konzept von Marianne Frostig für Jugendliche und Erwachsene (Developmental Test of Visual Perception - Adolescents and Adults,
DTVP-A). Das neue Testverfahren ist in ein Gesamtkonzept zur Erfassung von Funktionen der visuellen Wahrnehmung eingebunden (dt. Fassung: FEW-JE).
6.3
Stand der Forschung
Der Bereich der visuellen Wahrnehmung wird von Praktikern schon lange als wichtiges Einsatzgebiet für psychodiagnostische Verfahren anerkannt. Tatsächlich haben
Psychologen (in erster Linie Schul- und Neuropsychologen), Arbeitspsychologen,
Entwicklungsdiagnostiker und andere Berufsgruppen, die im Bereich Diagnostik o55
FEW-JE
der Rehabilitation tätig sind, die Messung der visuellen Wahrnehmung seit mehr als
50 Jahren als Standardbaustein in den diagnostischen Prozesses aufgenommen.
Allerdings erscheint die ursprünglich sehr weit gefasste Diagnostik mit geringer Präzision und mangelnder Abgrenzung zu motorischen Defiziten heute nicht länger als
angemessen. Für jugendliche und erwachsene Patienten existieren nur sehr wenige
Testverfahren, die zudem als unzureichend zu bewerten sind. So genügen die Verfahren nicht mehr den modernen wissenschaftlichen Standards, die man an psychologische Testverfahren anlegt (z. B. Gütekriterien, aktuelle Normierung).
6.4
Ziele
Die einzelnen Teilbereiche sind von großer Bedeutung für die Entwicklung und die
Erfassung von Defiziten in der visuellen Wahrnehmung. Das Aufdecken von Defiziten in der visuellen Wahrnehmung kann hilfreich bei der Erklärung schulischer und
lebenspraktischer Probleme (u. a. beim Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen, Basteln) sein und eine Erfassung der einzelnen Leistungen ermöglicht die abgestimmte
Planung von Förder- und Therapiemaßnahmen, um auf die individuellen Probleme
des Kindes eingehen zu können.
6.5
Methodisches Vorgehen
Der Developmental Test of Visual Perception - Adolescent and Adult (DTVP-A) ist ein
im amerikanischen Sprachraum weit verbreitetes und anerkanntes standardisiertes
Verfahren zur Erfassung der Fähigkeiten der visuellen Wahrnehmung. Er basiert auf
einer von der Forschungsgruppe um Marianne Frostig (1961; 1964; 1966) entwickelten Testbatterie, die zuletzt von Reynolds et al. (2002) für den Einsatz im Jugendund Erwachsenenalter weiterentwickelt und nun ins Deutsche übertragen und in
Deutschland normiert wurde. Der amerikanische DTVP-A ist für den Einsatz ab einem Alter von 11;0 Jahren vorgesehen. Um die Anschlussfähigkeit an den FEW-2 zu
garantieren, wurde für die deutsche Version (FEW-JE) auch neun- und zehnjährige
Kinder in die Datenerhebung einbezogen. Der FEW-2 (Büttner, Dacheneder, Schneider & Weyer, 2008) wird zur Diagnostik bei Kindern bis 8;11 Jahre eingesetzt. Die
amerikanische Originalversion DTVP-2 (Hammill, Paerson & Voress, 1993) war auch
für Kinder bis 11;11 vorgesehen.
Der Test wird als Einzeltest durchgeführt und erfasst anhand von sechs Untertests
die globale visuelle Wahrnehmung sowie die motorikreduzierte visuelle Wahrnehmung (MRVW) und die visuo-motorische Integration (VMI), aus denen sich die globale visuelle Wahrnehmung (AVW) zusammensetzt. Die Skala zur visuo-motorischen
Integration setzt sich aus den Untertests Abzeichnen (AZ), Visuo-motorische Suche
56
FEW-JE
(VMS) und Visuo-motorische Geschwindigkeit (VMG) zusammen. Die motorikreduzierte Wahrnehmung wird über die Untertests Figur-Grund (FG), Gestaltschließen
(GS) und Formkonstanz (FK) erhoben. Durch die Vielseitigkeit der verschiedenen
Untertests und einen permanenten Wechsel von Aufgaben zur visuo-motorischen
Integration (im Aufgabenheft) und zur motorikreduzierten Wahrnehmung (im Stimulusbuch) bleibt die Testperson optimal motiviert.
Bei den Untertests Figur-Grund, Gestaltschließen und Formkonstanz wird jeweils
die Anzahl der korrekt gelösten Aufgaben notiert. Beim Untertest Abzeichnen gibt
es Punkte für die Qualität der Zeichnungen. Bei der visuo-motorischen Suche wird
die Zeit notiert, die das Kind benötigt, um die Aufgabe zu lösen und beim Untertest
Visuo-motorische Geschwindigkeit zählt die Anzahl der korrekt markierten Formen,
die innerhalb einer Minute eingezeichnet wurden. Für alle Untertests werden
Normwerte ermittelt. Zusätzlich werden Normwerte und Prozentränge für die Leistungen der globalen visuellen Wahrnehmung, der visuo-motorischen Integration
und der motorikreduzierten Wahrnehmung angegeben. Alle Normwerte können im
Profil dargestellt werden, sodass nicht nur eine Einschätzung der globalen visuellen
Wahrnehmung, der motorikreduzierten Wahrnehmung und der visuo-motorischen
Integration möglich sind, sondern auch dass einzelne Fähigkeiten miteinander verglichen werden können, um Schwächen und Stärken differenziert zu ermitteln.
6.6
Ergebnisse
Beschreibung des Testverfahrens FEW-JE
Der FEW-JE stellt eine Testbatterie dar, bestehend aus sechs Untertests, die jeweils
unterschiedliche visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten und visuo-motorische Fähigkeiten erfassen. Der FEW-JE kann im Alter von 9 bis 90 Jahren eingesetzt werden. In
die Normstichprobe sind die Leistungen von insgesamt 1450 Kindern, Jugendlichen
und Erwachsenen aus allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland eingeflossen.
Der FEW-JE kann im Bereich Diagnostik, Therapie und Forschung bei Fragestellungen zur visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ab neun Jahren eingesetzt werden. Die Untertests des FEW-JE wurden
so gestaltet, dass sie mit Frostigs Vorannahmen übereinstimmen. Jeder der 6 Untertests erfasst eine oder mehrere Formen visuell-perzeptueller Fähigkeiten (vgl. Tab.
1). Bei diesen Fähigkeiten handelt es sich um die Einschätzung der Raum-Lage Position, der Formkonstanz, der räumlichen Beziehungen und der Figur-GrundUnterscheidung. Die Untertests lassen sich danach klassifizieren, in welchem Umfang motorische Fähigkeiten bei der Lösung der Aufgaben erforderlich sind (motorik-reduziert vs. motorik-abhängig). Neben der Dokumentation von visuellen Wahrnehmungsstörungen und visuo-motorischen Störungen sowie der Erfassung des
Ausmaßes der Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kann der Test
57
FEW-JE
vor allem eingesetzt werden, um auffälligen Testpersonen gezielte Förderung zukommen zu lassen beziehungsweise, um die Effektivität von Behandlungen zu überprüfen.
Tabelle 1: Formen visuell-perzeptueller Fähigkeiten des FEW-JE.
Untertest
Visuell-perzeptuelle Fähigkeit
1 Abzeichnen
2 Figur-Grund
3 Visuo-motorische Suche
4 Gestaltschließen
Visuo-motorische Ge5
schwindigkeit
6 Formkonstanz
Räumliche Beziehungen
Figur-Grund-Unterscheidung
Figur-Grund Unterscheidung
Formkonstanz
Formkonstanz, räumliche Beziehungen
Formkonstanz
Beteiligung motorischer Fähigkeiten
gering
hoch
X
X
X
X
X
X
Die Faktorenanalyse bestätigt die vorgeschlagene Teststruktur, zeigt gleichzeitig
aber auch Zusammenhänge zwischen den Skalen auf (vgl. Abb. 1).
0.449
MRVW
0.671
0.741
FG
0.798
GS
0.550
FK
0.451
0.753
0.542
VMI
0.489
0.431
AZ
0.707
VMS
0.761
VMG
0.814
Abbildung 1: Fit-Maße der Faktorenanalyse.
58
Index
Wert
Determination
0.807
N
1440
Χ²
104.277
Χ² df
12
p > Χ²
Standardized Root Mean
Square Residual
<0.001
Goodness of Fit Index
Root Mean Square Error
of the Approximation
Bentler-Bonnett-Normed
Fit Index
Adjusted Goodness of Fit
Index
Bentler-Comparative Fit
Index
0.058
0.996
0.073
0.795
0.992
0.813
FEW-JE
Darüber hinaus konnten erste Datenanalysen zeigen, dass sich für die visuelle
Wahrnehmung eine Abhängigkeit zum Bildungsniveau zeigt: Kinder und Jugendliche, die ein Gymnasium besuchten, schnitten signifikant besser ab als Kinder und
Jugendliche auf einer Realschule. Die schwächsten Leistungen weisen Kinder und
Jugendliche auf, die auf einer Hauptschule lernen. Hingegen können keine übergreifenden Geschlechtsunterschiede gefunden werden.
6.7
Literatur
Büttner, G., Dacheneder, W., Schneider, W. & Weyer, K. (2008). Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung - 2 (FEW-2). Göttingen: Hogrefe.
Frostig, M., Lefever, D.W. & Whittlesey, J. R.B. (1961). A developmental test of
visual perception for evaluating normal and neurologically handicapped children.
Perceptual and Motor Skills, 12, 383 - 394.
Frostig, M., Lefever, D.W. & Whittlesey, J.R.B. (1966). Administration and scoring
manual for the Marianne Frostig Developmental Test of Visual Perception. Palo
Alto, CA: Consulting Psychologist Press.
Hammill, D.D., Pearson, N.A. & Voress, J.K. (1993). Developmental Test of Visual
Perception - Second Edition. Austin, TX: PRO-ED.
Reynolds, CR., Pearson, N.A. & Voress, J.K. (2002). Developmental Test of Visual
Perception - Adolescent and Adult (DTVP-A). Austin, TX: PRO-ED.
59
Wechsler-Skalen
7
Adaption, Normierung und Validierung der WechslerSkalen (WPPSI-III, WISC-IV, WAIS-IV)
7.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Prof. Dr. Ulrike Petermann
PD Dr. Monika Daseking
Prof. Dr. Hans-Christian Waldmann
Mitarbeiterinnen
Dr. Maike Lipsius
Dr. Claudia Gienger
Dr. Anne Toussaint
Zeitraum
01.01.2005 - 30.11.2012
Finanzierung
Durch die Verlage Huber (Bern) und Pearson Assessment (Frankfurt), Eigenmittel
7.2
Zusammenfassung
Die Wechsler-Skalen stellen die weltweit am häufigsten eingesetzten Intelligenztestverfahrens dar. Sie liegen in der amerikanischen Originalversion für einander
ergänzende Altersbereiche vor. Im Rahmen der Projekte wurde die Adaption und
Normierung der drei Skalen WPPSI-III, WISC-IV und WAIS-IV für den deutschen
Sprachraum vorgenommen. Alle drei Verfahren wurden publiziert und um diverse
Validierungsstudien ergänzt (Tab. 1).
61
Wechsler-Skalen
Tabelle 1: Wechsler-Skalen.
Amerikanische Originalversion
Wechsler Preschool and Primary
Intelligence Scale - Third Edition
(WPPSI-III, Wechsler, 2002)
Wechsler Intelligence Scale for Children
- Fourth Edition (WISC-IV, Wechsler,
2003)
Wechsler Adult Intelligence Scale Fourth Edition (WAIS-IV, Wechsler,
2008)
7.3
Deutschsprachige Adaptation
Wechsler Preschool and Primary
Intelligence Scale -III (dt. Version
WPPSI-III, Petermann, 2011)
Wechsler Intelligence Scale for Children
- IV (dt. Version WISC-IV, Petermann &
Petermann, 2011)
Wechsler Adult Intelligence Scale - IV
(dt. Version WAIS-IV, Petermann, 2012)
Stand der Forschung
Wechsler Primary and Preschool Intelligence Scale -III (WPPSI-III)
Die WPPSI-III stellt einen Intelligenztest zur Erfassung allgemeiner und spezifischer
intellektueller Fähigkeiten von Kindern zwischen 3;0 und 7;2 Jahren dar. Die WPPSIIII wird als Einzeltest durchgeführt. Mit dem Gesamt-IQ steht ein allgemeines Maß
für den kognitiven Entwicklungsstand eines Kindes im Vorschulalter zur Verfügung.
Zusätzlich lassen sich vier weitere übergeordnete Werte berechnen: Verbal- und
Handlungsteil, Verarbeitungsgeschwindigkeit und Allgemeine Sprachskala. Die Reliabilität für den Gesamttest beträgt r = .95. Zum Nachweis der Validität liegen Interkorrelationsstudien, faktorenanalytische Studien, Korrelationsstudien mit anderen
Messinstrumenten wie der WISC-IV sowie klinische Validierungsstudien vor.
Wechsler Intelligence Scale for Children - IV (WISC-IV)
Die WISC-IV ist ein Einzeltest zur Untersuchung der kognitiven Entwicklung (Fähigkeiten) von Kindern im Alter von 6;0 bis 16;11 Jahren. Diese aktualisierte Version
der WISC-III beinhaltet bedeutsame Änderungen wie neue Normen und neue Untertests. Außerdem wird ein größeres Gewicht auf die zusammengesetzten Skalen gelegt, die die Leistungen des Kindes in einzelnen kognitiven Funktionsbereichen widerspiegeln. Für die Testdurchführung wurden alle Vorlagen aktualisiert, um ansprechender und zeitgemäßer zu sein. Um die Benutzerfreundlichkeit des Tests zu
erhöhen, wurden Veränderungen in der Testdurchführung und -auswertung vorgenommen (Manual zum WISC-IV).
Unter Einbeziehung der gegenwärtigen Forschung zur kognitiven Entwicklung, zu
Intelligenztestung und zu kognitiven Prozessen ergeben sich für den WISC-IV deutliche Unterschiede im Vergleich den Vorgängerverfahren. Die WISC-IV setzt sich aus
62
Wechsler-Skalen
15 Untertests zusammen: zehn Untertests wurden dabei aus der WISC-III übernommen, fünf Untertests wurden neu entwickelt. Für die Berechnung des GesamtIQ und der Indizes sind zehn Untertestergebnisse erforderlich. Neben der Neunormierung wurde eine klinische Validierung über diverse zusätzliche Stichproben vorgenommen. Diese betreffen insbesondere Kinder mit Lernstörungen, Hochbegabung, ADHS, geistiger Behinderung, Autismus und Hirnverletzungen.
Wechsler Adult Intelligence Scale - IV (WAIS-IV)
Die WAIS-IV gilt als eines der weltweit am häufigsten eingesetzte Intelligenzverfahren für Jugendliche und Erwachsene von 16 bis 90 Jahren. Die WAIS-IV verbindet die
bewährte Wechsler-Tradition mit aktuellen Befunden aus der Intelligenzforschung.
Durch die neu entwickelten Untertests (z. B. Formenwaage, Visuelle Puzzle) können
Facetten der Intelligenz erfasst werden, die sich in der aktuellen Forschung als bedeutsam herausgestellt haben. Die Aufteilung in Verbal- und Handlungsteil wurde wie auch für die WISC-IV - aufgegeben und durch vier Indexwerte ersetzt. Darüber
hinaus kann ein Gesamt-IQ bestimmt werden. Neben der differenzierten Einschätzung des Intelligenzniveaus einer Person auf Index-Ebene können weitere Analysen
auf der Untertestebene vorgenommen werden. Es liegen repräsentative Normen
für Deutschland aus dem Jahr 2012 vor. Aktuell werden Validierungsstudien zu verschiedenen klinischen Störungsbildern (u. a. Schlaganfall, ADHS, Intelligenzminderung, Depression) vorbereitet.
7.4
Ziele
Im Rahmen von klinischer Arbeit bestanden langjährige und umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit den Vorgängerverfahren. In der Vorbereitung der Adaptionen wurden differenzierte Vergleiche zwischen Vorgänger und aktueller amerikanischer Version erarbeitet. Im Folgenden soll dies am Beispiel von WISC-III und WISCIV gezeigt werden.
7.5
Methodisches Vorgehen
In der WISC-III wird ein hierarchisches Modell angenommen, dass sich auf drei Ebenen darstellen lässt (vgl. Abb. 1). Auch bei der WISC-IV handelt es sich um ein
hierarchisches Modell (vgl. Abb. 2). Jedoch zeigt die Gegenüberstellung der Skalen,
dass der Verbal-IQ und der ursprünglich untergeordnete Index „Sprachliches Verständnis“ zu einem neuen Index verschmolzen sind. Gleiches gilt für den HandlungsIQ und den Index „Wahrnehmungsorganisation“ (vgl. Tab. 2).
63
Wechsler-Skalen
Gesamt-IQ
Verbal-IQ
Sprachliches
Verständnis
AW
AW
AW
Handlungs-IQ
Wahrnehmungsorganisation
Unablenkbarkeit
AW
AW
AW
AW AW AW AW
Arbeitsgeschwindigkeit
AW
AW
Abbildung 1: Die hierarchische Aufschlüsselung der Gesamt- und Testleistungen
der WISC-III.
VCI
Similarities
Vocabulary
Comprehension
Information
PRI
Block Design
Picture Concepts
Matrix Reasoning
Picture Completion
FSI
Q
WMI
Digit Span
Letter-NumberSequencing
Arithmetic
PSI
Coding
Symbol Search
Cancellation
Abbildung 2: Konzeption WISC-IV: vier Faktoren (Indizes), ein Gesamtwert.
Tabelle 2: Gegenüberstellung der Faktoren und Indizes von WISC-III und WISC-IV.
WISC-III
Gesamt-IQ
Verbal-IQ
Sprachliches Verständnis
Handlungs-IQ
Wahrnehmungsorganisation
Unablenkbarkeit
Arbeitsgeschwindigkeit
WISC-IV
Gesamt-IQ
Sprachverständnis
Wahrnehmungsbezogenes Logisches Denken
Arbeitsgedächtnis
Verarbeitungsgeschwindigkeit
64
Wechsler-Skalen
7.6
Ergebnisse
Die deutschen Adaptionen der drei Wechsler-Skalen wurden publiziert. Verschiedene Validierungsstudien wurden bereits in den Testmanualen oder in der entsprechenden wissenschaftlichen Fachpresse veröffentlicht (siehe auch Publikationen).
Weitere Studien befinden sich in Vorbereitung. Dazu zählen vor allem die klinischen
Valdierungsstudien zur WAIS-IV (u. a. Studien zu Patienten mit Schlaganfall, Alzheimer, Depression, ADHS).
7.7
Literatur
Petermann, F. (2011). Wechsler Preschool and Primary Scale - Third edition (WPPSIIII, deutsche Version) (2., überarb. u. erw. Aufl.). Frankfurt: Pearson Assessment.
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66
Schuleingangsdiagnostik
8
Schuleingangsdiagnostik
8.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
MitarbeiterInnen
Dipl.-Psych. Franziska Korsch
Dr. Sören Schmidt
Kooperationspartner
Eberhard Zimmermann, Gesundheitsamt Bremen
Zeitraum
01.05.2011 - 31.04.2014
Finanzierung
Mittel aus dem Doktorandenkolleg, Mittel der Hochschulambulanzen
8.2
Zusammenfassung
Das Projekt entstand im Rahmen einer Kooperation des Zentrums für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) der Universität Bremen mit dem Gesundheitsamt der Stadt Bremen. Kinder, bei denen im Verlauf der schulärztlichen Eingangsuntersuchung Verhaltensauffälligkeiten festgestellt werden, durchlaufen in der Psychotherapeutischen Kinderambulanz des ZKPR ergänzende Untersuchungen, um
eine Einschätzung des psychosozialen, kognitiven und körperlichen Entwicklungsstandes der Kinder zu ermöglichen, psychische Auffälligkeiten zu ermitteln
und gegebenenfalls im Rahmen präventiver Verhaltenstrainings zu verbessern.
8.3
Stand der Forschung
Mit dem Schuleintritt müssen sich Kinder an schulische Leistungsnormen gewöh67
Schuleingangsdiagnostik
nen, neue Lerninhalte erschließen und sich in einem neuen sozialen Umfeld orientieren. Für die erfolgreiche Bewältigung dieses Entwicklungsschritts wird nicht nur
eine altersentsprechende kognitive und körperliche Entwicklung benötigt. Schulanfänger müssen auch in der Lage sein, ihr Verhalten an die neuen Regeln und Strukturen anzupassen (Koglin & Petermann, 2008). Kinder mit einer Verhaltensstörung
haben häufig Schwierigkeiten diese Anpassung vorzunehmen und es besteht die
Gefahr einer frühen Beeinträchtigung des schulischen Werdegangs: Betroffene Kinder werden von Lehrkräften bezüglich des Lern- und Unterrichtsverhaltens signifikant schlechter eingestuft (Massetti et al., 2008), stehen in ihrer kognitiven Entwicklung bis zu zwei Jahre hinter ihren Klassenkameraden zurück (Green, McGinnity,
Meltzer, Ford & Goodman, 2005) und bleiben häufiger und länger vom Unterricht
fern als verhaltensunauffällige Kinder (Green, McGinnity, Meltzer, Ford & Goodmann, 2005). Obwohl Verhaltensstörungen im Einschulungsalter keine Seltenheit
sind (Elberling, Linneberg, Olsen, Goodman & Skovgaard, 2010; Kuschel, Heinrichs,
Bertram, Naumann & Hahlweg, 2008), besteht im deutschsprachigen Raum noch
immer Forschungsbedarf bezüglich etablierter präventiver Maßnahmen und die
Möglichkeit der Umsetzung einer flächendeckenden Früherkennung von Verhaltensstörungen gewinnt zunehmend an Bedeutung.
Mit der schulärztlichen Eingangsuntersuchung (SEU) existiert eine groß angelegte
Maßnahme zur Feststellung von Förderbedarf im Einschulungsalter, in der ein
Screening nach Verhaltensstörungen eingesetzt werden könnte, wodurch aufgrund
ihrer gesetzlich verbindlichen Teilnahme aller Einschulungskinder (z.B. §36 Abschnitt 4 BremSchulG) eine flächendeckende Erfassung der Einschulungskohorte
ermöglicht wird. Obwohl ein Screening nach psychosozialen Defiziten in der frühen
Kindheit heutzutage als unverzichtbar angesehen wird (Wiedebusch & Petermann,
2011), sehen einige Bundesländer bislang noch kein Screening nach Verhaltensstörungen in der SEU vor. So verzichtet beispielsweise Berlin bislang auf die Erhebung
der psychosozialen Gesundheit im Rahmen der SEU (Senatsverwaltung für Gesundheit, 2011). In der SEU in Bremen wird seit 2010 der schnell und einfach einsetzbare
Strength and Difficulties Questionnaire (SDQ; Goodman, 1997) als Screeningverfahren eingesetzt (Gesundheitsamt Freie Hansestadt Bremen, 2010), der mit nur
25 Items eine große Bandbreite kindlichen Problemverhaltens schnell und einfach
erfasst. Um bei einem auffälligen Screeningbefund die Wartezeit bis zur differenzierten psychologischen Abklärung zu verringern, wurde zeitgleich eine Kooperation
des Gesundheitsamts mit der Psychotherapeutischen Kinderambulanz der Universität Bremen ins Leben gerufen.
8.4
Ziele
Auf Grundlage des oben beschriebenen Forschungsstands und des Kooperations68
Schuleingangsdiagnostik
projekts des Gesundheitsamts Bremen mit dem ZKPR der Universität Bremen, untersucht das Projekt, ob Kinder mit klinisch bedeutsamen Verhaltensauffälligkeiten
durch die SEU zuverlässig identifiziert werden und ob betroffene Kinder von den
nach der SEU ansetzenden weiterführenden Diagnostik und den angebotenen Fördermaßnahmen ausreichend profitieren. Aufgrund der zunehmenden Kritik am zeitlichen Setting der SEU stellt sich dabei weiterhin die Frage, ob das Verhaltensscreening nicht bereits ein Jahr vor der Einschulung stattfinden sollte, um betroffenen
Kindern die Zeit zu geben, sich noch vor Schulbeginn einer Fördermaßnahme zu
unterziehen. Daher soll auch untersucht werden, ob es Kindern mit einer Verhaltensstörung gelingt, sich durch eine während der ersten Klasse einsetzende Förderung an das Leistungsniveau verhaltensunauffälliger Gleichaltriger anzunähern.
8.5
Methodisches Vorgehen
Die Überweisung von verhaltensauffälligen Schulanfängern an die Hochschulambulanz der Universität Bremen wird seit der SEU 2010 durchgeführt. Das Forschungsprojekt begann am 01.05.11 und wird in Form einer Fall-Kontroll-Studie zur Untersuchung der psychosozialen Entwicklung von verhaltensauffälligen und -unauffälligen Kindern über das erste Schuljahr mit Kohortensequenzdesign umgesetzt.
Fallgruppe. Die Rekrutierung der Fallgruppe erfolgt 2011 und 2012 anhand des Patientenaufkommens der Hochschulambulanz, bei denen in der SEU der Verdacht auf
das Vorliegen einer Verhaltensstörung festgestellt wurde. Nach einem Jahr erhalten
alle untersuchten Kinder eine Einladung zur erneuten psychodiagnostischen Überprüfung. Das schriftliche Einverständnis der Eltern zur wissenschaftlichen Verwendung des Datenmaterials wurde eingeholt.
Kontrollgruppe. Die Kinder der Kontrollgruppe wurden über die Ausgabe von Infomaterial in Kindergärten in allen Stadtgebieten Bremens, sowie die Veröffentlichung
von Zeitungsinseraten rekrutiert. Eingeschlossen wurden Kinder, die im Elternurteil
unauffällige SDQ-Werte erzielten und sich zur Zeit der Untersuchung nicht aufgrund
von psychosozialen Schwierigkeiten in einer Verhaltenstherapie befanden. Nach
Abschluss der ersten Klasse, erhalten alle Kinder der Kontrollgruppe eine Einladung
zum zweiten Messzeitpunkt.
Material zu Messzeitpunkt 1. Die Verhaltensbeurteilung vor Schulbeginn erfolgt
nach den Diagnosekriterien des ICD-10 und setzt sich aus einer ausführlichen Anamnese, der Verhaltensbeobachtung durch den Diagnostiker sowie einer situationsübergreifenden Befragung von Eltern und Erziehern anhand des SDQ und
Fremdbeurteilungsbögen des Diagnostik-Systems für psychische Störungen (DISYPSII; (Döpfner, Görtz-Dorten, Lehmkuhl, Breuer & Goletz, 2008)) zu ADHS, Störungen
des Sozialverhaltens und Angststörungen, zusammen. Weiterhin wird das kognitive
Leistungsniveau über die Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence-III
69
Schuleingangsdiagnostik
(WPPSI-III; Petermann, F., 2011b) überprüft. Aufgrund der bekannten Zusammenhänge zwischen Verhaltensstörungen, kognitiven Defiziten und entwicklungsbedingten Koordinationsstörungen (Kastner & Petermann, 2010) erfolgt weiterhin ein
entwicklungsneurologisches Screening anhand der Movement Assessment Battery
for Children (M-ABC-II; Petermann, F., 2011a).
Material zu Messzeitpunkt 2. Die Verhaltensbeurteilung nach der ersten Klasse
erfolgt wie zu Messzeitpunkt 1. Aufgrund des angehobenen Alters der Versuchspersonen wird das kognitive Leistungsniveau zu Messzeitpunkt 2 über die Wechsler
Intelligence Scale for Children (WISC-IV; Petermann, F., 2011b) überprüft. Weiterhin
wird erneut der Movement Assessment Battery for Children (M-ABC-II; Petermann,
F., 2011a) eingesetzt. Zur Überprüfung des Schulerfolgs wird die Lehrereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten (LSL; Petermann & Petermann, 2006) an
die Lehrer ausgegeben.
8.6
Ergebnisse
Nach der SEU 2011 in Bremen erhielten 130 (3.38%) der 4212 untersuchten Kinder
eine Überweisung in die Hochschulambulanz der Universität Bremen zur psychologischen Abklärung. Von diesen 130 Kindern wurden 81 zur psychologischen Diagnostik angemeldet, 13 erschienen nicht zu den vereinbarten Terminen. Eine Diagnostik wurde aus Krankheitsgründen abgebrochen. Insgesamt konnte bei 67 Schulanfänger (20 w; 47 m) eine vollständige Diagnostik durchgeführt werden. Das
durchschnittliche Alter lag bei 75.4 Monaten. Die Termine für den zweiten Messzeitpunkt wurden vergeben und finden aktuell statt. Die Erhebung der Kontrollstichprobe zu Messzeitpunkt 1 konnte mit 54 Schulanfängern abgeschlossen werden. Die Termine für den zweiten Messzeitpunkt werden kommendes Frühjahr vereinbart.
8.7
Literatur
Döpfner, M., Görtz-Dorten, A., Lehmkuhl, G., Breuer, D. & Goletz, H. (2008). Diagnostik-System für psychische Störungen nach ICD-10 und DSM-IV für Kinder und
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70
Schuleingangsdiagnostik
Leistungsbericht
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71
ADHS-E
9
Konstruktion, Normierung und Validierung des ADHSScreening für Erwachsene (ADHS-E)
9.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiter
Dr. Sören Schmidt
Prof. Dr. Hans-Christian Waldmann
Kooperationspartner
Dr. Paul Brieler, Institut für Schulungsmaßnahmen, Hamburg, Prof. Dr. Elmar Brähler, Selbstständige Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universität Leipzig
Zeitraum
01.07.2007 - 30.06.2009
Finanzierung
Pearson Assessment, Frankfurt und Eigenmittel der Universität Bremen und Leipzig
9.2
Zusammenfassung
Ziel des Projektes war die Etablierung eines Verfahrens, das Symptome einer ADHS
bei Erwachsenen auf der Basis der diagnostischen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) sowie der Kriterien nach ICD-10 und DSM-IV-TR dokumentiert. Die Erfassung erfolgt dimensional
(T-Werte und Prozentränge) und ermöglicht eine differenzierte Problemanalyse
über verschiedene Subskalen und einem Gesamtwert (globale Beeinträchtigung).
Das ADHS-Screening für Erwachsene besteht aus zwei Fragebögen: Das ADHS-E als
Kernscreening mit 25 Items (5 Subskalen) und das ADHS-LE als Fragebogenlangform
mit 64 Items (7 Subskalen und ein Substanzmittelscreening).
73
ADHS-E
9.3
Stand der Forschung
ADHS ist eine Lebensspannenerkrankung, die ihren Ausdruck in einer grundlegenden Beeinträchtigung der Symptomtrias Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität findet. Betroffene Kinder erfüllen mit einer Prävalenz von etwa 2% teilweise schon im Vorschulalter die diagnostischen Kriterien (Petermann & Toussaint,
2009; Schlack, Hölling, Kurth & Huss, 2007), die stärkste Häufung findet sich mit
eine Prävalenz zwischen 4 und 10% im Grundschulalter (Schmidt et al., 2012), wobei
die hohe Varianz unter anderem auch auf die Unterschiede zwischen den eingesetzten diagnostischen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV-TR zurückzuführen
ist. Im Erwachsenenalter sind etwa 3 und 5% von einer ADHS betroffen (Schmidt &
Petermann, 2009b; Schmidt, Waldmann, Petermann & Brähler, 2010), im USamerikanischen Raum ist der Anteil betroffener Erwachsener mit bis zu 7,3% noch
höher ausgeprägt (Turgay et al., 2012). Für das Erwachsenenalter erschwert das
Fehlen expliziter Diagnosekriterien eine diagnostische Eingrenzung der Symptome
(klinische Diagnose). Die von ICD-10 und DSM-IV geforderten Symptomtrias stellen
im Erwachsenenalter häufig nicht mehr den Problemschwerpunkt dar; vielmehr
leiden Betroffene an den daraus resultierenden Beschwerden. Zur diagnostischen
Unterstützung eignen sich die diagnostischen Leitlinie, basierend auf einem Expertenkonsensus der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Dies beinhalten beispielsweise auch die im US-amerikanischen Raum eingesetzten Utah-Kriterien (Wender, 2000), die sich explizit an das
pathologische Erscheinungsbild einer ADHS bei Erwachsenen richten. Neben der
ADHS-Symptomtrias werden auch Desorganisation, Affektlabilität, mangelnde Affektkontrolle und Stressintoleranz als diagnoserelevante Kriterien angeführt; es gibt
im deutschsprachigen Raum jedoch kaum diagnostische Verfahren, die sich an diesen Kriterien orientieren. Diese Lücke sollte durch das ADHS-E geschlossen werden
9.4
Ziele
Ziel des Forschungsprojektes ist die Entwicklung eines Testverfahrens, welches unter Einbezug erwachsenenspezifischer Diagnosekriterien eine valide Aussage zur
Symptombelastung durch ADHS ermöglicht. Dabei soll das Verfahren nicht allein
kriterienorientiert vorgehen, sondern auch Aussagen zum Schweregrad eine Belastung durch ADHS ermöglichen. Dies hat eine hohe Praxisrelevanz, da auf diese Weise die Möglichkeit zur Veränderungsmessung gegeben ist. Ziel ist ein Verfahren,
dass auf der Basis einer hohen psychometrischen Güte und unter Einbezug von
Normwerten (T-Werte und Prozentränge) eine möglichst breite Aussage zu Beeinträchtigungen durch ADHS-Symptome ermöglicht.
74
ADHS-E
9.5
Methodisches Vorgehen
Die erste Version des Verfahrens (BAS-E; vgl. Schmidt, Brücher & Petermann, 2006)
wurde einer Patientenstichprobe vorgelegt um die psychometrische Güte zu überprüfen (Item- und Faktorenanalysen). Anschließend wurden die Fragebögen (eine
Kurzform [ADHS-E] und eine Langform [ADHS-LE]) an verschiedenen Stichproben
normiert. Parallel dazu wurden Studien durchgeführt, die der Validierung des ADHSE dienten.
Testkonstruktion. Die Itemanalysen wurden im Winter 2007/2008 realisiert. Die
Konstruktionsversion BAS-E wurde einer Patientenstichprobe vorgelegt, die sich mit
Verdacht auf eine ADHS in der Institutsambulanz des AMEOS Klinikum Dr. Heines in
Bremen einfanden. Für die statistische Weiterverarbeitung wurden nur Fragebögen
von den Patienten berücksichtigt, bei denen sich die Diagnose einer ADHS bestätigte. Aus den Item- und Faktorenanalysen entstanden zwei verschiedene Fragebogenversionen. Die Kurzform (ADHS-E) beinhaltete 25 Items, die sich auf fünf Problemskalen verteilen. Die Fragebogenlangform (ADHS-LE) umfasste 64 Items und
ermöglicht eine Einordnung der Problemlage auf sieben Dimensionen. Beide Fragebogenformen ermöglichen die Berechnung eines Gesamtwerts, der eine Aussage
über die globale Beeinträchtigung durch die Symptome zulässt.
Normierung und Validierung. Die Normierung des ADHS-E erfolgte im Juli 2008 an
einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe von N=1845 Personen. Die Daten
wurden vom Markt-, Meinungs-, und Sozialforschungsinstitut USUMA (Berlin) erhoben. Zeitgleich wurden Normwerte für das ADHS-LE an einer nicht-klinischen Vergleichspopulation erhoben und berechnet (N=1296). Diese Daten entstammen dem
Institut für Schulungsmaßnahmen (IFS), Hamburg.
9.6
Ergebnisse
Eine a priori festgelegte Skalenzuordnung konnte mittels explorativer Faktorenanalysen bestätigt werden. Die Items beider Fragebögen verfügen über eine angemessene Itemschwierigkeit, hohe Trennschärfen und eine insgesamt sehr zufriedenstellende Reliabilität (interne Konsistenz [Cronbachs α] zwischen α = .86 und α = .93;
Split-Half-Reliabilität in beiden Fragebögen bei rk = .83; Retest-Reliabilität zwischen
rtt = .53 und rtt = .95). Unter Einbezug von klinischen- und Normdaten bescheinigen
multivariate Analysen dem Verfahren eine insgesamt eine hohe konvergente und
diskriminante Validität. Mittels ROC-Analysen wurden Sensitivität und Spezifität
berechnet. Diese fiel für beiden Verfahren ausgezeichnet aus (Schmidt, 2009;
Schmidt & Petermann, 2009a; Schmidt & Petermann, 2011).
75
ADHS-E
9.7
Literatur
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mit ADHS. Kindheit und Entwicklung, 18, 83-94.
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77
Bf-SR und B-LR
10
Normierung der Befindlichkeitsskala (Bf-SR) u.
Beschwerden-Liste (B-LR)
10.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Prof. Dr. Detlev von Zerssen, Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München
Mitarbeiter
Dr. Sören Schmidt
Prof. Dr. Hans-Christian Waldmann
Kooperationspartner
Prof. Dr. Elmar Brähler, Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische
Soziologie, Universität Leipzig
Zeitraum
01.03.2010 - 31.04.2011
Finanzierung
Hogrefe Verlag, Göttingen
10.2
Zusammenfassung
Sowohl die Beschwerden-Liste (Bf-SR) als auch die Befindlichkeits-Skala (B-LR) haben in der Psychiatrie, der Klinischen Psychologie und der Medizin eine lange Tradition. Beide Verfahren sind seit mehr als 35 Jahren im klinischen Einsatz und haben
sich dort in hohem Maße bewährt (vgl. v. Zerssen, 1975, 1976). Um sowohl Bf-SR als
auch B-LR weiterhin den aktuellen klinisch diagnostischen Ansprüchen gerecht werden zu lassen, wurde eine grundlegende Revision angestrebt. Diese umfasste eine
Umformulierung einzelner Items, eine erneute Überprüfung der Itemgüte (Itemschwierigkeit und Trennschärfe), der Dimensionalität sowie der klinischen Eignung.
79
Bf-SR und B-LR
10.3
Stand der Forschung
Der Begriff „Befindlichkeit“ kann als ein zentraler Zustand aufgefasst werden, welcher in der Literatur in verschiedener Art und Weise verwendet und diskutiert wird.
Neben verschiedenen Ansätzen in der Definition von Befindlichkeit, die sich an den
Disziplinen orientieren, in denen der Begriff verwendet wird (z.B. kulturwissenschaftliche Definition vs. medizinisch-psychiatrische Definition), besteht ein Konsens
darin, dass Befindlichkeit eher eine Konsequenz denn eine Grundlage von Verhalten
darstellt und zentrale Komponenten des subjektiven Empfindens von Emotionen
und deren kognitiver Bewertung (unter anderem) eine Rolle spielen (z.B. Kleinert,
Golenia & Lobinger, 2007). Dabei kann nach Schumacher, Klaiberg und Brähler
(2003) die emotionale Komponente in die Teilkomponenten „Positiver Affekt“, „Negativer Affekt“ sowie „Glück“ (als längerfristiger positiver Affekt) unterteilt werden.
Die kognitive Komponente umfasst sowohl globale als auch bereichsspezifische Lebenszufriedenheit und stellt eher einen längerfristig andauernden Zustand (Trait)
dar, als es bei der emotionalen Komponente (State) der Fall ist (vgl. DeNeve & Cooper, 1998). Im Hinblick auf die psychodiagnostische Erfassung von Befindlichkeit ist
die zeitliche Komponente von Bedeutung. So lässt sich Wohlbefinden in einen aktuellen Zustand und einen habituellen Zustand unterteilen (vgl. Becker, 1994). Während sich der aktuelle Zustand ausschließlich auf das momentane Erleben einer Person bezieht, umfasst der habituelle Zustand das allgemeine Wohlbefinden mit einem zeitlichen Bezug auf die letzten Wochen und Monate. Die Bf-SR fokussiert dabei das momentane Erleben und ermöglicht damit dem Diagnostiker einen Überblick zum aktuellen Zustand.
Die Beschwerden-Liste zielt demgegenüber auf einen eher habituellen Zustand ab,
indem mit diesem Fragebogen verschiedene Formen von subjektiven Beschwerden
erfasst werden, die auch eine höhere zeitliche Stabilität aufweisen können. Beschwerden (oder auch Symptome) stellen im diagnostischen Prozess die kleinste
Einheit operationalisierbarer Informationen dar und signalisieren Veränderungen
oder auch Störungen von grundlegenden Eigenschaften oder Funktionen (vgl. Payk,
2010). Sie lassen sich zum einen durch die psychometrische Ermittlung von „beobachtbaren“ Symptomen ermitteln, zum anderen über die Schilderung von individuell erlebten Beschwerden auf Seiten des Patienten. Die Einordnung und Interpretation von Symptomen in das individuelle Lebensumfeld des Patienten dient dann als
Handlungsgrundlage für den weiteren diagnostischen und später therapeutischen
Prozess. Ähnlich der Bf-SR hat sich die B-LR sowohl in der somatischen Medizin, der
klinischen Psychologie als auch der Psychiatrie etabliert und ist ebenfalls seit über
35 Jahren im Einsatz. Erfasst werden überwiegend körperliche und Allgemeinbeschwerden, sodass insbesondere Patienten mit chronischen Erkrankungen angesprochen werden (Conrad et al., 2000; Strittmatter et al., 2005; Waanders, Tautermann & König, 1997; Zimmermann et al., 2010). Da somatische Beschwerden häufig
mit psychischen Störungen einhergehen, liefert die B-LR auch hier wichtige Informa80
Bf-SR und B-LR
tionen zur subjektiven Einschätzung des Gesundheitszustands (Ayen & Hautzinger,
2004; Denecke et al., 1995; Fehm, Beesdo, Jacobi & Fiedler, 2008; Schmidt, Waldmann, Petermann & Brähler, 2010).
10.4
Ziele
Ziel des Forschungsprojektes ist die grundlegende Überarbeitung beider Fragebögen und die Adaption der Items an den aktuellen klinisch-diagnostischen Standard.
Da es sich bei beiden Fragebögen um etablierte Instrumente handelt, bestand das
primäre Ziel nicht darin, die Fragebögen völlig neu zu konzipieren. Vielmehr stellte
eine sprachliche Anpassung der Items sowie eine Re-Analyse der psychometrischen
Güte beider Verfahren das Kernelement des Projekts dar. Um letztlich die Aktualität
einer diagnostischen Aussage zu gewährleisten, wurden beide Verfahren an einer
bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe neu normiert und validiert.
10.5
Methodisches Vorgehen
Nach erfolgter sprachlicher Überarbeitung der Items wurden einzelne Items entfernt, da diese entsprechend des diagnostischen Standards nicht mehr zeitgemäß
erschienen oder redundante Informationen erfassten. Anschließend erfolgte eine
Neuerhebung und Berechnung der Normdaten, eine grundlegende Re-Analyse der
Itemgüte sowie eine umfassende Validierung.
Normierung und Validierung. Die Normierung von Bf-SR und B-LR erfolgte im April
2010 an einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe (N=2504). Die Erhebung der
Daten wurde über das Markt, Meinungs- und Sozialforschungsinstitut USUMA (Berlin) realisiert. Da die Fragebögen in beiden Verfahren über eine Parallelversion verfügen (Bf-SR und Bf-SR‘; B-LR und B-LR‘) erfolgte die Normierung in zwei Wellen. In
der ersten Befragungswelle erhielten N=1235 Personen die Bf-SR und N=1230 die BLR. In der zweiten Befragungswelle wurde ausschließlich die Parallelform eingesetzt,
so dass N=1269 Personen die Bf-SR‘ und N=1267 die B-LR‘ erhielten. Anschließend
erfolgten die Berechnung der psychometrischen Güte, der Dimensionalität sowie
der faktoriellen und klinischen Validität.
10.6
Ergebnisse
Basierend auf der Forderung eines möglichst geringen Unterschiedes, wurde im
Rahmen einer Diskriminanzanalyse der Koeffizient Wilks Lambda (λ) berechnet. Sowohl für die Parallelformen in der Bf-SR und in der B-LR ließ sich eine außergewöhn81
Bf-SR und B-LR
lich hohe Ausprägung des Koeffizienten feststellen (λ = 1, p = n.s.), so dass angenommen werden kann, dass sowohl Grund- als auch Parallelform die gleichen
Merkmale erfassen. Die Itemmittelwerte lagen in allen Fragebögen zwischen = 40
und = 46. Die Itemtrennschärfen lagen zwischen rit = .57 und rit = .68. Für die Reliabilität wurden die interne Konsistenz (Cronbachs Alpha; Werte zwischen .93 und
.94) und die Split-Half-Reliabilität (mit Spearman-Brown-Korrektur; Werte zwischen
.90 und .93) berechnet. Alle Fragebögen liegen hier in einem sehr guten Bereich. Die
Validierung erfolgte in zwei Schritten. Zunächst wurde die faktorielle Validität bestimmt, indem Bf-SR und B-LR mit verschiedenen konstruktnahen und konstruktfernen Verfahren einer gemeinsamen Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse
mit Varimax-Rotation) unterzogen wurden. Hier zeigte sich, dass sowohl Bf-SR als
auch B-LR mit verschiedenen Verfahren zur Erfassung psychischer Belastung auf
einem gemeinsamen Faktor luden (konvergenter Faktor), während die konstruktfernen Verfahren auf einem separaten Faktor luden (divergenter Faktor). Somit
konnte die Forderung an konvergente und divergente Validität bestätigt werden.
Als ein weiterer Schritt wurden für beide Verfahren Gruppenvergleiche berechnet,
in welchen eine Zufallsstichprobe aus dem Normdatensatz mit einer klinisch auffälligen Gruppe verglichen wurde. Dabei ergab sich ein signifikant höherer Belastungswert auf Seiten der klinisch auffälligen Gruppe, so dass die Aussage zulässig
ist, dass sich Bf-SR und B-LR gleichermaßen zur trennscharfen Erfassung psychischer
Belastung eignen (vgl. v. Zerssen & Petermann, 2011a, 2011b)
10.7
Literatur
Ayen, I. & Hautzinger, M. (2004). Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen im
Klimakterium. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 33, 290299.
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Kleinert, J., Golenia, M. & Lobinger, B. (2007). Emotionale Prozesse im Bereich der
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Publikationen
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- die Parallelformen Bf-SR und Bf-SR'. Göttingen: Hogrefe.
Zerssen, D. v. & Petermann, F. (2011). Die Beschwerden-Liste in revidierter Fassung.
Göttingen: Hogrefe.
83
ET 6-6-R
11
Revision des Entwicklungstests ET 6-6: Der ET 6-6-R
11.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiter
Dr. Thorsten Macha
Kooperationspartner
Prof. Dr. Heinrich Tröster, Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften
Prof. Dr. Udo Rudolph, TU Chemnitz, Institut für Psychologie
Prof. Dr. Ronald G. Schmid, Zentrum für Kinder und Jugendliche, Altötting
Dr. Rainer Hasmann, Sozialpädiatrisches Zentrum Kohlhof
Zeitraum
01.08.2008 - 31.12.2012
Finanzierung
Pearson Assessment, Eigenmittel
11.2
Zusammenfassung
Im Zuge einer anstehenden Aktualisierung der Testnormen erfolgte eine Weiterentwicklung des ET 6-6. Hierbei konnte unter Beibehaltung seiner günstigen Eigenschaften wie seiner hohen Praktikabilität und der hohen Testmotivation der Kinder
eine Erhöhung des Standardisierungsgrades sowie der Differenzierungsfähigkeit
erzielt werden. Kritikpunkte an den Skaleneigenschaften (z.B. Dokumentationslücke
zur Reliabilität) konnten ausgeräumt werden, die Auswertung wurde dabei an psychometrisch gängige Standardwerte (Skalen-Entwicklungsquotienten: 10/3; Gesamt-Entwicklungsquotient: 100/15) angepasst und realisiert somit eine einfachere
Interpretation von Testergebnissen, eine präzisere Indikationsstellung sowie eine
bessere Vergleichbarkeit mit den Ergebniswerten anderer Leistungstests.
85
ET 6-6-R
11.3
Stand der Forschung
In den Jahren 1994 bis 2000 wurde am ZKPR der Universität der allgemeine Entwicklungstest für Kinder von sechs Monaten bis sechs Jahren (ET 6-6) konstruiert. Das
Verfahren untersucht in 12 Altersgruppen entwicklungsrelevante Leistungen von
Kindern in den Bereichen Körper- und Handmotorik, Kognitive Entwicklung und
Sprache sowie der Sozialentwicklung und der emotionalen Entwicklung. Der ET 6-6
hat sich seit dem Jahr 2000 als ein Standardverfahren zur Erfassung des Entwicklungsstandes von Kindern im deutschen Sprachraum etabliert. Entwicklungstests
identifizieren entwicklungsauffällige Kinder und stellen die Art und das Ausmaß von
Entwicklungsstörungen und Entwicklungsverzögerungen dar und liefern eine wichtige Grundlage bei der Indikationsstellung in Bezug auf die Komplexleistung Frühförderung (SGB IX) sowie in Bezug auf spezifische Entwicklungsförderung und Therapie (z.B. Ergotherapie, Physiotherapie, Sprachtherapie).
Die psychometrische Entwicklungsdiagnostik blickt auf eine nunmehr hundertjährige Geschichte zurück und lässt sich in ihren Anfängen zurückführen auf die Verfahren von Binet und Simon (1905 a-c). Dabei haben sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte unterschiedliche inhaltliche Anknüpfungspunkte und, teilweise dadurch beeinflusst, charakteristische Konstruktionsmerkmale von Entwicklungstests in drei
unterschiedlichen Testformen (vgl. Macha & Petermann, 2006a) manifestiert:
• die Entwicklungs-Stufenleiter,
• die Entwicklungs-Testbatterie sowie
• das Entwicklungs-Inventar.
Jede dieser Testformen weist aufgrund ihrer Konstruktionsmerkmale besondere
Voraussetzungen bei der Durchführung auf und generiert charakteristische Testaussagen. Die Stärken und Kritikpunkte an den verschiedenen Testformen wurden in
der deutschsprachigen Literatur in den letzten Jahren rege diskutiert (zusammenfassend s. Petermann & Macha, 2008a).
Der ET 6-6 war als ein Inventar ausgelegt, das heißt er erhebt eine große inhaltliche
Vielfalt entwicklungsrelevanter Leistungen und Fertigkeiten in inhaltlich heterogenen Skalen. Dies gewährleistet einen abwechslungsreichen Testverlauf und somit
eine hohe Testmotivation auch bei schwierig zu untersuchenden Kindern. Eine besondere Schwierigkeit weist jedoch die Reliabilitätsbestimmung von inhaltlich heterogenen Tests auf, da die klassischen methodischen Zugänge der Reliabilitätsbestimmung (Retest- und Splithalf-Reliabilität sowie innere Konsistenz; vgl. Lienert
und Raatz, 1998, S. 175ff) bei sich über die Zeit verändernden Merkmalen in heterogene Skalen zu einer Unterschätzung der „wahren Reliabilität“ führen, auch wenn
heterogene Tests „mit praktischen Validitätskriterien oft höher korrelieren als homogene Tests“ (Lienert & Raatz, 1998, S. 203). Ein weiterer Reliabilitätsaspekt, die
Paralleltestreliabilität, scheidet bei der Ermittlung der Reliabilität des ET 6-6 aus, da
keine Parallelversion vorliegt. Die Reliabilität des ET 6-6 lässt sich somit indirekt an86
ET 6-6-R
hand von Studien zur Validität einschätzen: Die Art und das Ausmaß, in dem ein
Entwicklungstest inhaltlich plausible entwicklungspsychologische sowie klinische
Erkenntnisse darzustellen vermag definiert indirekt auch seine Reliabilität. Macha
und Petermann (2006b) fordern somit eine punktuelle Validierungsstrategie für
Entwicklungstests, insbesondere auch um indirekt die Reliabilität von EntwicklungsInventaren einzuschätzen.
11.4
Ziele
Die Zielsetzungen bei der Revision des ET 6-6 konzentrierten sich insbesondere auf
•
•
•
•
•
11.5
die Beibehaltung oder gar Erhöhung der bereits guten Praktikabilität des
Tests,
die Erhöhung des Standardisierungsgrades der einzelnen Aufgaben,
die Erhöhung der Differenzierungsleistung seiner Ergebniswerte,
die Aktualisierung der Normen sowie
die Optimierung seiner psychometrischen Eigenschaften.
Methodisches Vorgehen
Zu Beginn der Arbeiten zum ET 6-6-R lag der ET 6-6 mit einem Aufgabenpool von
insgesamt 180 Aufgaben über die Altersspanne von 6 Monaten bis 6 Jahren vor.
Dabei waren die verschiedenen Entwicklungsbereiche in den unterschiedlichen Altersgruppen jedoch durch zum Teil deutlich unterschiedliche Item-Anzahlen repräsentiert, was wiederum zu stark abweichender psychometrischer Qualität der Skalen führte. So wurde in einem ersten Arbeitsschritt zum ET 6-6-R eine ItemDatenbank erstellt, in die über 1000 Items aus etablierten Leistungstests eingingen.
Ein besonderes Problem im Hinblick auf die Item-Auswahl bestand darin, dass verschiedene Test vordergründig sehr ähnliche Testaufgaben durchführen, dabei aber
sehr verschiedene Normdaten präsentieren. Hierzu ein Beispiel: Alle BreitbandEntwicklungstests weisen für das zweite Lebensjahr eine Aufgabe „Das Kind stapelt
zwei Würfel“ auf, jedoch mit zum Teil drastisch voneinander abweichenden Normangaben: nach den Denver-Skalen (Flehmig, Schloon, Uhde & v. Bernuth, 1973)
lösen 90% aller Kinder die Aufgabe mit 18,7 Monaten, nach den Griffiths-Skalen
(Brandt & Sticker, 2001) lösen 95% aller Kinder die Aufgabe bereits mit 15 Monaten.
Dieser Unterschied ist im Wesentlichen auf die unterschiedlichen Durchführungsbedingungen zurückzuführen: Während die Rahmenbedingungen (Körperhaltung,
Sitzposition, Beschaffenheit der Unterlage) in den Denver-Skalen nicht weiter spezifiziert sind, erfolgte bei den Griffiths-Skalen eine präzise Standardisierung. Solche
87
ET 6-6-R
Unterschiede wurden in der Item-Datenbank sorgfältig berücksichtig, so dass eine
gute empirische Fundierung entwicklungspsychologisch begründbarer Entwicklungsschritte gewährleistet war.
In diesem Zusammenhang wurde auch deutlich, dass der Standardisierungsgrad der
bisherigen ET 6-6-Aufgaben noch Optimierungspotential bot. Aus diesem Grund
wurde das Beschreibungsvolumen der einzelnen ursprünglichen Testaufgaben
durchschnittlich um den Faktor zwei bis drei erhöht. Auf diese Weise wurde die
Durchführungs- und Beurteilungsobjektivität des Tests spürbar erhöht und an
höchste psychometrische Standards angepasst. Die Gesamt-Item-Menge des ET 6-6R wurde zur Erhöhung der Differenzierungsleistung von ursprünglich 180 auf nun
245 Items erhöht, wobei es sich bei den neuen Aufgaben um 54 neue Testaufgaben
und 11 neue Elternfragen handelt. Hierzu wurden zahlreiche neue Testmaterialien
entworfen.
Eine vorläufige Version des ET 6-6-R wurde nun zunächst an 200 Kindern in Bremen
und im niedersächsischen Umland auf ihre Praktikabilität hin überprüft und auf seine Skaleneigenschaften hin untersucht. Es stellte sich heraus, das lediglich noch
geringe Korrekturen notwendig wurden, so dass in den Jahren 2011 und 2012 eine
Normierung mit 1053 Kindern mit der Unterstützung durch die o.a. Kooperationspartner erfolgen konnte.
Hinsichtlich der Skalierung wurden beim ET 6-6-R folgende Änderungen vorgenommen:
(1) Die kognitive Entwicklung, die Sprachentwicklung sowie die sozialemotionale Entwicklung wird nun jeweils in einer umfassenden Skala abgebildet, eine weitere Unterteilung wie beim ET 6-6 (z.B. Kognitive Entwicklung: Gedächtnis, Handlungsstrategien, Kategorisieren und Körperbewusstsein) wurde aufgrund der eher entwicklungspsychologischen, aber geringeren klinischen Relevanz aufgegeben.
(2) In den einzelnen Skalen erfolgte eine bessere Ausbalancierung der Items
nach ihren Schwierigkeiten. Der ET 6-6-R hat den Anspruch (a) einerseits auffällige Kinder zu identifizieren (Screening-Anliegen) sowie (b) andererseits
vorliegend Entwicklungsdefizite differenziert abzubilden (gute Differenzierung im unteren Leistungsbereich).
Somit wurden die Aufgabenzusammenstellungen in den einzelnen Bereichen so
vorgenommen, dass grundsätzlich etwas 50% leichte Aufgaben (p > 70), 30% mittelschwere Aufgaben (70>p>35) sowie 20% schwierige Aufgaben (p<35) mit dem Kind
durchgeführt werden. Somit weist der ET 6-6-R notwendige Konstruktionsmerkmale
auf, um die typischen klinischen Fragestellungen der Entwicklungsdiagnostik zu beantworten (vgl. Petermann & Macha, 2003).
88
ET 6-6-R
11.6
Ergebnisse
Die Gesamtdurchführungsdauer des Tests konnte erhalten werden, so dass Aspekte
wie die Konzentrations- und Ausdauerleistung in den verschiedenen Altersbereichen nach wie vor angemessen berücksichtigt sind. Der Test konnte von den Untersuchern bei der Normierung bereits nach geringer Einarbeitungszeit objektiv und
sicher durchgeführt und die Aufgaben sicher bewertet werden.
Der Test erzielt wie angestrebt eine gute Differenzierungsleistung im klinisch relevanten unteren Leistungsbereich, dies jedoch um den Preis von Deckeneffekten.
Dies definiert sein Einsatzgebiet für die klinische Diagnostik (vgl. Macha, Proske &
Petermann, 2005).
Die inhaltlich heterogenen Skalen weisen innere Konsistenzen im Bereich von .50
bis über .80 (Cronbachs Alpha) mit einer Häufung im Bereich um .70 bis .80 auf. Dies
ist vor dem Hintergrund der Testanliegens einer Eignung als Entwicklungs-Screening
einerseits und einer guten Differenzierungsleistung in einem weiten Leistungsbereich andererseits als sehr positiv zu bewerten.
11.7
Literatur
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ET 6-6-R
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90
WMS-IV
12
Adaptation und Normierung der Wechsler Memory
Scale IV - Deutsche Version (WMS-IV)
12.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiterin
Dr. Anja Lepach
Zeitraum
01.06.2010 - 31.05.2012
Finanzierung
Pearson Assessment
12.2
Zusammenfassung
Der Wechsler Gedächtnistest - Vierte Version (WMS-IV) ist ein Einzeltestverfahren
zur Erhebung verschiedener Gedächtnis- und Arbeitsgedächtnisfähigkeiten im Alter
von 16 bis 90 Jahren. Anhand eines Gesamtstichprobenumfang von N = 1.040 aus
16 Bundesländern wurden Maße zur Standardisierung und Validierung des Verfahrens erhoben. Die für Geschlecht und Bildung repräsentative Normstichprobe umfasst 812 Personen für 14 Altersstufen. Die WMS-IV weist ein hohes Maß an Standardisierung für Durchführung und Auswertung auf (Interrater-Übereinstimmungen
von 96% bis 97%). Die Indexwerte liefern in allen Altersgruppen überwiegend sehr
hohe Reliabilitätsmaße ( .88 bis .98).
Die Interkorrelationen der Untertests zu den Indizes fallen moderat bis hoch aus.
Untertests die ähnliche Funktionen prüfen korrelieren höher. Faktorenanalytisch
ließen sich die drei Hauptskalen (Auditives und Visuelles Gedächtnis, Visuelles Arbeitsgedächtnis) bestätigen. Klinische Vergleichsstichproben erbrachten signifikante
Leistungsunterschiede zwischen Hirngesunden und klinischen Kontrollgruppen.
91
WMS-IV
12.3
Stand der Forschung
Der Begriff „Gedächtnis“ ist Gegenstand diverser Theorien und Modellvorstellungen. Gedächtnis und Lernen sind eng miteinander verbunden, da das Gedächtnis
das Endprodukt von bewussten oder unbewussten Lernprozessen ist. Squire (1987)
beschreibt Lernen als die Prozesse die zur Aufnahme neuer Informationen führen,
während das Gedächtnis für den Verbleib der Informationen und damit die Möglichkeit des späteren Abrufs steht. Das Gedächtnis ist also ein Indikator für vorherige Lernprozesse.
Gängige traditionelle Modelle nehmen eine Unterteilung in Kurz- und Langzeitgedächtnis vor (Atkinson & Shiffrin, 1968). Sehr vereinfacht gesprochen wird dabei das
Kurzzeitgedächtnis üblicherweise als ein Speicher betrachtet, der Informationen nur
für wenige Sekunden bis Minuten bereit hält, während das Langzeitgedächtnis als
überdauernder und vergleichsweise stabilerer Speicher gilt. Die Aufbereitung der
externen Informationen in innere Gedächtnisrepräsentanzen bezeichnet man als
Enkodierung. Die Konsolidierung umfasst die biologischen Prozesse die eine Verfestigung der Informationen ermöglichen (Squire & Butters, 1992). Beim Abruf werden
die Informationen wieder als bewusst erlebbar bzw. als Erinnerung aufbereitet. Gedächtnisstörungen können bei jedem dieser Prozesse auftreten. Neben den von
Atkinson und Shifrin beschriebenen Kurzzeitspeichervorstellungen, enthalten modernere Gedächtnistheorien komplexe Arbeitsgedächtnismodelle (z.B. Baddeley,
2000; Gathercole, 2008).
Die Erfassung von visuellen und auditiven Gedächtnisleistungen sind eine elementarer Bestandteil neuropsychologischer Diagnostik (Lepach & Petermann, 2007, 2008;
Lepach, Petermann & Schmidt, 2007; 2008). Die erforderlichen Teststandards sind
in Leitlinien zur Gedächtnisdiagnostik definiert (Diener & Putzki, 2008; Thöne-Otto
et al., 2010). Gefordert werden mindestens ein standardisiertes Verfahren zur Erfassung der Gedächtnisspanne und des Arbeitsgedächtnisses, je ein verbales und
visuelles Verfahren zur Untersuchung der unmittelbaren und verzögerten Wiedergabe von Informationen sowie eine Überprüfung von Lernverläufen (z. B. Wortlisten-Lernen).
Der Wechsler Gedächtnistest - Vierte Version (WMS-IV) ist ein Einzeltestverfahren
zur Erhebung verschiedener Gedächtnis- und Arbeitsgedächtnisfähigkeiten im Alter
von 16 bis 90 Jahren, der in Form einer Testbatterie die geforderten Bereiche umfassend prüft (s. Tab. 1). Die Deutsche Version der WMS-IV ist eine Adaptation der
amerikanischen Version (Pearson, 2009). Die WMS-IV enthält neben dem Kognitiven Kurzscreening, insgesamt sechs weitere Untertests. Vier der Untertests (Logisches Gedächtnis, Verbale Paarerkennung, Muster Positionieren und Visuelle Wiedergabe) sind in zwei Phasen unterteilt: die unmittelbare Wiedergabe (I) und den
Abruf nach Verzögerung (II) jeweils nach etwa 20 bis 30 Minuten. Einige Untertests
beinhalten zudem auch optionale Aufgaben für zusätzliche Prozessinformationen
92
WMS-IV
(Wiedererkennungsleistungen, zusätzliche Abrufformaten etc.).
Tabelle 1: Abkürzungen und Beschreibungen der Untertests (Petermann & Lepach,
2012; S. 24f).
Untertests/Abkürzung
Beschreibung
Kognitives Kurzscreening (16-90 Jahre) /KKS
Logisches Gedächtnis
(16-90 Jahre) / LG I
LG II
Optionales Screening; Überprüfung kognitiver Funktionen.
Freie Wiedergabe von vorgelesenen Geschichten.
Verbale Paarerkennung
(16-90 Jahre) / VPI
VP II
Muster Positionieren
(16-69) / MP I
MP II
Visuelle Wiedergabe
(16-90 Jahre) / VW I
VW II
Räumliche Ergänzung
(16-69 Jahre) / RE
Symbolfolgen
(16-90 Jahre) / SF
Geschichten nacherzählen und „Ja oder Nein“-Fragen
zur Wiedererkennung beantworten
Ergänzung von dargebotenen Wortpaaren.
Abruf nach Verzögerung, Wortpaarergänzung nach
Wortauswahl.
Raster mit Mustern wiedererkennen.
Nach Verzögerung, die in MP I gesehenen Musteranordnungen wiedererkennen.
Muster nachzeichnen.
Nach Verzögerung Muster aus VW II wiedererkennen.
Raster / Muster bilden.
Reihenfolge von Symbolen wiedergeben.
Die Untertests werden zu fünf Indizes zugeordnet: Auditives Gedächtnis (AUG), Visuelles Gedächtnis (VIG), Visuelles Arbeitsgedächtnis (VAGD), Unmittelbare Wiedergaben (UWG) und Verzögerte Wiedergabe (VWG). Die WMS-IV ist in zwei Testbatterien (Erwachsene I: 16-69 Jahre und Erwachsene II: 65-90 Jahre) unterteilt, die zusammen in insgesamt 14 Altersgruppen zwischen 16 und 90 Jahren differenzieren.
Testbatterie II ist in Länge und Schwierigkeitsgrad an die Bedürfnisse älterer Menschen angepasst.
12.4
Ziele
Ziel der Studie war eine repräsentative Standardisierung des Testverfahrens für den
deutschsprachigen Raum (Normierung). Dies beinhaltete auch eine Überprüfung
93
WMS-IV
sämtlicher relevanter Testgütekriterien, um Aussagen über Objektivität, Reliabilität
und Validität des Verfahrens zu leisten. Die Studie sollte außerdem eine Basis für
weitere Validierungsstudien und Erkenntnisse zu diversen Aspekten von Gedächtnisleistung über die Lebenspanne liefern. Sie knüpft daher inhaltlich eng an die hier
ebenfalls berichtete Studie „Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen.
Neuropsychologische Befunde zu diagnostischen Kriterien und differentialdiagnostischen Aspekten“ an, erweitert diese aber auf die gesamte Lebenspanne.
12.5
Methodisches Vorgehen
Insgesamt wurden knapp 1.250 Personen zwischen 16 und 90 Jahren mit der deutschen Version der WMS-IV getestet. Davon blieben nach Bereinigung 1.040 Datensätze übrig, diese teilten sich in 812 Personen für die Normstichprobe und 228 Teilnehmer aus klinischen Stichproben auf. Folgende klinische Störungsbilder wurden in
die Testungen einbezogen: ADHS (N = 16), Depression (F33 und F32 ICD-10; N = 44),
Substanzmissbrauch F10-13 ICD-10; N = 15), diverse Hirnschädigungen (Schlaganfall,
Schädelhirntrauma, Epilepsie, neurologische Störung; N = 91), leichte Intelligenzminderung (IQ <70; N = 15), Schizophrenie (F20 ICD-10; N = 17) und Demenz (Alzheimer, vaskuläre und andere Demenz, Korsakow; N = 30). Die klinischen Datensätze wurden in 11 Bundesländern, aber überwiegend in Bremen und Niedersachsen
erhoben.
Die Erhebung der Normstichprobe erfolgte in 16 Bundesländern und wurde diese
wurde repräsentativ für Geschlecht und Bildung nach Zensus (Statistisches Bundesamt, 2011) stratifiziert. Für die Altersgruppen bis 64 Jahre wurde eine Gleichverteilung des Geschlechts zu Grunde gelegt, für die älteren Personen überwiegt der
Frauenanteil (gemäß Zensus).
Es wurde in vier Bildungsgrade unterschieden: < 8 J. (kein Abschluss, noch Schüler,
Sonderschulabschluss); 8-9 J. (Volks- oder Hauptschulabschluss); 10-11 J. (Realschule, Polytechnische Oberschule; ≥ 12 J. (Fach- oder allgemeine Hochschulreife und
ggf. Studium). Für die WMS-IV Testbatterie Erwachsene I (16-69 J.) wurden neun
Altersgruppen (16-17, 18-19, 20-24, 25-29, 30-34, 35-44, 45-54, 55-64, 65-69) erhoben; für die Testbatterie Erwachsene II (65-90J.) fünf (65-69, 70-74, 75-79, 80-84,
85-90). Die Altersgruppe 65-69 J. ist in beiden Testbatterien enthalten und wurde
anhand zwei verschiedener Stichproben erhoben.
In die Normstichprobe wurden nur hirngesunde Personen (Kognitives Kurzscreening unauffällig) aufgenommen, die über für den Test ausreichend erforderliche
Deutschkenntnissen verfügten. Außerdem durften sich während der Testdurchführung keine Hinweise auf besondere Einschränkungen, Auffälligkeiten oder Störungen ergeben. Für alle Teilnehmer wurden Einverständniserklärungen (ggf. durch
gesetzliche Vertreter) eingeholt.
94
WMS-IV
Eine Anonymisierung der Daten war durch eine Codierung gesichert. Alle Testungen
wurden durch geschulte Testleiter durchgeführt und jeweils von zwei Experten unabhängig ausgewertet. Die Urteilerübereinstimmung lag bei über 95 %. Bei abweichenden Urteilen wurde eine dritte Expertise der Projektverantwortlichen eingeholt. Zusätzlich erfolgte eine stichprobenartige Gegenkontrolle durch diese. Für die
Dateneingabe wurden eigene Datenbanken mit rückmeldender Eingabemaske erstellt, die fehlende Eingaben oder Eingaben außerhalb des erlaubten Wertebereichs
anmahnten. Die Datensätze wurde systematisch auf fehlende Werte und außergewöhnliche Abweichungen kontrolliert und bereinigt.
Im Anschluss an die Datenaufbereitung wurden die WMS-IV-Normdaten anhand
inferentieller Normierungsmethoden entwickelt (Gorsuch, 2003; Roid, 2003, Wilkins, Rolfhus, Weiss & Zhu, 2005). Für jede Altersgruppe wurden diverse Momente
(Mittelwerte [M], Standardabweichungen [SD] und Schiefe) berechnet und über das
Alter hinweg geplottet. Dabei wurden diesen Daten mehrere polynomische Regressionsgraden, die von einer einfachen linearen bis hin zu Polynomen 4. Ordnung
reichten, angepasst. Die jeweiligen Funktionen der entsprechenden WerteMomente wurden auf Grundlage ihrer Konsistenz mit zugrundeliegenden theoretischen Erwartungen und dem in der Normierungsstichprobe beobachteten Muster
der abnehmenden Kurven gewählt. Die geschätzten Momente wurden dann zur
Entwicklung theoretischer Verteilungen für die Normgruppen genutzt, um Perzentile für die Rohwerte zu erhalten. Diese Perzentile wurden in Standardwerte (Skalenwertpunkte) von 1-19 (M 10; SD 3) überführt. Die Progression der Standardwerte
innerhalb und über die Altersgruppen hinweg wurde geprüft und kleinere Unregelmäßigkeiten geglättet (Petermann & Lepach, 2012). Für zusätzliche Untertest, die
aufgrund ihrer Beschaffenheit (z.B. hohe Ratewahrscheinlichkeit bei allen Wiedererkennungsaufgaben, geringer Schwierigkeitsgrad für Hirngesunde) sehr schiefe,
nicht normalverteilte Maße liefern, wurden anstelle von Skalenwerten kumulierte
Prozentwertbereiche ausgegeben (≤2, 3-9,10-16, 17-25, 26-50, 51-75 und >75).
Desweiteren wurden Kontrastskalenwerte für Leistungsvergleiche basierend auf der
Methode nach Delis et al. (2001) erstellt.
Lediglich anhand der alterskorrigierten Skalenwerte wurden anschließend die
Summen der Untertestskalenwerte für jeden Index gebildet. Diese Summenwerte
wurden wiederum in Skalensummenäquivalente überführt. Diesen resultierenden
Skalenwertsummen wurde für jeden Index eine Skala mit Mittelwert 100 und Standardabweichung 15 zugewiesen. Dies wurde auf Basis kumulierter Häufigkeitsverteilungen für die wahren Skalenwertsummen der Indizes und deren Überführung in
Skalenwertäquivalente erreicht. Zur Bestimmung der Testgüte wurden diverse Reliabilitätsmaße, Faktorenanalysen und Stichprobenvergleiche ermittelt. Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Petermann und Lepach (2012).
95
WMS-IV
12.6
Ergebnisse
Die Ergebnisse sind in Form des Testmanuals und weiterer Studien (siehe unten)
veröffentlicht worden. An dieser Stelle soll lediglich eine kurze Zusammenfassung
der Testgütekriterien erfolgen.
Objektivität. Bei Einhaltung der Testvorgaben ist ein hohes Maß an Standardisierung für die Durchführung gegeben. Für die Untertests, die Entscheidungen des Beurteilers erfordern (Uhrenzeichnen, Visuelle Wiedergabe) wurden InterraterÜbereinstimmungen von 96% und 97% festgestellt. Es kann insgesamt von einer
hohen Durchführungs- und Auswertungsobjektivität ausgegangen werden.
Reliabilität. Die Untertests der WMS-IV unterscheiden sich u.a. in der Präsentationsform, Durchführung und der Art der geforderten Antwortformate. Dies nimmt
Einfluss auf die Berechnung der Reliabilität (vgl. Strauss, Sherman & Spreen, 2006
für eine Übersicht zur Testgüte bei neuropsychologischen Testbatterien). Reliabilitäten durch Messwiederholungen (Retest-Reliabilitäten) sind bei Gedächtnistest aufgrund vom Lerneffekten problematisch, weshalb hier untertestabhängig auf mehrere andere Methoden der Reliabilitätsprüfung zurückgegriffen wurde. Für die interne
Konsistenzprüfung wurden Split-Half- und Cronbachs-Alpha-Kennwerte berechnet.
Außerdem wurden Stabilitätskoeffizienten für die Untertests verwendet bei denen
interne Konsistenzen ungeeignet waren. Es ergaben sich für die alle Untertests moderate bis hohe Reliabiliätsmaße ( .74 bis .94). Die Indexwerte weisen alle sehr hohe
Reliabilitätsmaße auf ( .88 bis .98). Die Untertests mit kleineren Wertebereichen
erreichten die niedrigsten Reliabilitäten. Die Reliabilitäten der Prozessskalenwerte
fallen niedriger aus als die der Hauptuntertests. Dies ist vermutlich auf die geringeren Wertebereiche und Deckeneffekte oder den Einsatz von Retest-Reliabiliäten
zurückzuführen. Diese Ergebnisse zeigen, dass die WMS-IV als zuverlässiges Testinstrument betrachtet werden kann.
Validität. Inhaltsvalidität kann anhand der amerikanischen Testkonstruktionsphase
angenommen werden (Pearson, 2009a). Interkorrelationen liefern ebenfalls Hinweise auf die Validität des Verfahrens. Die Interkorrelationen der Untertests zu den
Indizes fallen moderat bis hoch aus. Insgesamt zeigte sich trotz moderater Zusammenhänge der Untertests, dass Untertests die ähnliche Funktionen prüfen höher
korrelieren. Die WMS-IV greift auch innerhalb der Skalen auf diverse Teilaspekte
von Gedächtnis zurück. Z.B. gehören die Untertests Logisches Gedächtnis und Verbale Paarerkennung beide zur Skala Auditives Gedächtnis, messen dieses aber in
völlig unterschiedlicher Weise. Erwartungsgemäß ergeben sich moderate Korrelationskoeffizienten. Hohe Korrelationen zwischen einzelnen Untertests werden nicht
erwartet. Moderate Korrelationen zwischen den Skalen sind ebenfalls plausibel, da
es Ähnlichkeiten in der angesprochenen Modalität oder in der Art der Präsentation
oder Items gibt.
Faktorenanalytisch ließen sich die drei Hauptskalen (Auditives und Visuelles Ge96
WMS-IV
dächtnis, Visuelles Arbeitsgedächtnis) bestätigen. Klinische Vergleichsstichproben
erbrachten signifikante Leistungsunterschiede und zeigen auf, dass die WMS-IV geeignet ist, im klinischen Bereich zu differenzieren (Lepach & Petermann, 2012; Petermann & Lepach, 2012). Weitere Studien zu Validierungsaspekten werden fortlaufend erhoben und veröffentlicht.
12.7
Literatur
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97
WMS-IV
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memory and visual working memory including the effects of age. Manuscript
submitted for publication.
Petermann, F. & Lepach, A.C. (Hrsg.) (2012). Wechsler Memory Scale - Fourth
Edition (WMS-IV). Deutsche Version. Frankfurt: Pearson Assessment.
98
Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen
13
Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen.
Neuropsychologische Befunde zu diagnostischen
Kriterien
13.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Franz Petermann
MitarbeiterInnen
Dr. Anja Lepach, Alja von Stülpnagel, Jörg Eckert
Kooperationspartner
Neurologisches Rehabilitationszentrum Bremen Friedehorst für Kinder und Jugendliche
Zeitraum
01.10.2007 - 31.03.2014
Finanzierung
Zentrale Forschungsförderung der Universität Bremen
13.2
Zusammenfassung
Eine Aufnahme eng umschriebener neuropsychologischer Funktionsbeeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter in das ICD-Klassifikationssystem und damit auch eine Kodierbarkeit und offizielle Anerkennung als Versorgungsleistung ist
nur möglich, wenn es eindeutige diagnostische Kriterien und daraus resultierende
Behandlungsempfehlungen gibt. Ein zentraler Beitrag klinisch orientierter neuropsychologischer Forschung liegt daher in der Erhebung von Klassifikationsmerkmalen von bisher nicht oder nur unzureichend erfasster Störungsbilder. Gedächtnisstörungen im Kindes- und Jugendalter stellen ein wichtiges Störungsbild dar, auf das
bei diesem Forschungsvorhaben fokussiert werden soll. Anhand einer klinischen
Inanspruchnahmestichprobe der Psychologischen Kinderambulanz der Universität
Bremen und des Neurologischen Rehabilitationszentrum Bremen für Kinder und
99
Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Jugendliche Friedehorst, Bremen, sollen unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer und differentialdiagnostischer Aspekte Untersuchungen zu Gedächtnisleistungen vorgenommen werden. Dabei geht es vor allem um die Differenzierbarkeit von Syndromtypen mit Hilfe von strukturentdeckenden Verfahren.
Übergeordnetes Ziel dieser Pilotstudie sind Erkenntnisse, die die Erstellung von bisher fehlenden diagnostischen Kriterien und Behandlungsindikationen für die Diagnose einer Gedächtnisstörung im Kindes- und Jugendalter ermöglichen.
13.3
Stand der Forschung
Der Diagnostik und Therapie von Störungen im Bereich der Basisfunktionen wie den
Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsprozessen kommt eine große Bedeutung zu. Diese Funktionen werden grundlegend benötigt, um schulische oder andere kognitive
Alltagsanforderungen bewältigen zu können. Dieser hohen Bedeutung steht ein
Mangel an Definitionen für Störungsbilder und konkreten diagnostischen Kriterien
für diesen Bereich entgegen.
Ein großes Problem für die Anerkennung und damit auch für Behandlungsmöglichkeiten neuropsychologischer Störungsbilder stellt die mangelnde Berücksichtigung
dieser in den internationalen Klassifikationssystemen dar. Für die in der neuropsychologischen Diagnostik ermittelten Störungen auf Ebene von Teilfunktionen oder leistungen, sieht das bisherige ICD-10-Kodierungssystem (Weltgesundheitsorganisation, 1991) keine differenzierten Kodierungen vor. Objektivierbare Störungen die als
direkte Folge eines Schädelhirntraumas oder anderer neurologischer Störungen
zugeordnet werden können, werden zusammengefasst unter der DiagnoseKategorie F06 ICD-10 Sonstige psychische Störungen aufgrund einer Schädigung
oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Erkrankung. Treten nach
einem Schädelhirntrauma vor allem Wesensveränderungen und subjektive kognitive Leistungseinbußen (meist Aufmerksamkeit und Gedächtnis) ein, wird die Diagnose F07.2 ICD-10 Organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma vergeben.
Wesentlich schwieriger wird es bei angeborenen oder erworbenen Störungen, bei
denen keine eindeutige Verursachung auszumachen ist. Diese stellen aber gerade in
der ambulanten Versorgung einen großen Anteil dar. Da sich die Funktionsstörungen und deren emotionale Folgen häufig auf die schulischen Fähigkeiten auswirken
und in Form von Lernstörungen auffällig werden, ist eine ungenaue und unbefriedigende Möglichkeit die Kodierung als nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung
schulischer Fertigkeiten (F 81.9), die aber wiederum nicht zu den abrechenbaren
Leistungen gehört.
Eine Aufnahme häufiger eng umschriebener neuropsychologischer Funktionsbeeinträchtigungen mit Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes in das ICDKlassifikationssystem und damit auch eine Kodierbarkeit und offizielle Anerkennung
100
Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen
als abrechnungsfähige Leistung ist nur möglich, wenn es eindeutige diagnostische
Kriterien und daraus resultierende Behandlungsempfehlungen gibt. Ein zentraler
Beitrag klinisch orientierter neuropsychologischer Forschung liegt daher zunächst in
der Erhebung von Klassifikationsmerkmalen von bisher nicht oder nur unzureichend
erfassten Störungsbildern. Gedächtnisstörungen im Kindes- und Jugendalter stellen
ein wichtiges Störungsbild dar, auf das bei diesem Forschungsvorhaben fokussiert
wird.
Gedächtnis
Thöne-Otto und Markowitsch (2004) fassen unter den Begriff Gedächtnisstörung
alle Einbußen des Lernens, Behaltens und des Abrufs gelernter Information. Gedächtnisbeeinträchtigungen können sowohl im Bezug auf die Gedächtnisprozesse
(Einprägen, Behalten und Abruf) als auch auf die Gedächtnissysteme auftreten. Am
häufigsten ist dabei das explizite Gedächtnissystem auffällig. Die expliziten Gedächtnisstörungen können isoliert auftreten und entweder modalitätsübergreifend
(global) oder spezifisch sein oder zusammen mit anderen kognitiven Beeinträchtigungen auftreten (sekundäre Gedächtnisstörung). Die Prävalenzrate für organisch
bedingte Beeinträchtigungen von Gedächtnisleistungen variiert nach Rak (2002)
zwischen 36% und 70%. Gedächtnisstörungen gehören beispielsweise zu den besonders häufigen Folgen erworbener Hirnverletzungen. Für den Kinder- und Jugendlichenbereich liegen keine eigenen Prävalenzzahlen vor, aber Heubrock und Petermann (2001) konnten exemplarisch für eine ambulante Population aufzeigen, dass
42% aller über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren untersuchten Kinder, die aufgrund von Entwicklungsauffälligkeiten oder schulischen Leistungsproblemen vorgestellt wurden, klinisch bedeutsame Merkfähigkeitsstörungen aufwiesen.
Während eine Störung der Merk- und Lernfähigkeit zu den erwarteten Beeinträchtigungen nach Hirnverletzungen gehört, bleiben angeborene oder anderweitig erworbene Defizite in diesem Bereich speziell bei Kindern häufig unentdeckt. Besonders erschwert wird die Diagnose, da die Trennschärfe zu anderen Störungsbereichen beispielsweise der Wahrnehmung und der Aufmerksamkeit erschwert ist und
differentialdiagnostische Fragen aufwirft. Im Alltag fallen Kinder mit Gedächtnisstörungen häufig durch unspezifische Symptome auf, die wenig Trennschärfe zu anderen Störungsbildern liefern (z. B. planloses, unorganisiertes Verhalten, unvollständige Handlungen, Vergesslichkeit, häufiges Nachfragen, geringer Lernzuwachs). Eine
weitere Schwierigkeit im Diagnoseprozess stellt die Erkenntnis dar, dass globale
Amnesien im Kindesalter vergleichsweise selten sind, sondern wesentlich häufiger
Teilfunktionen innerhalb der diversen Gedächtnisprozesse und -strukturen betroffen sind. Während auf Systemebene wie oben beschrieben den Störungen des expliziten Gedächtnisses eine große Bedeutung zukommt, liegt der wichtigste Unterschied auf der Prozessebene zwischen Störungen die die Aufnahme, Einspeicherung
und Verfestigung der Informationen betreffen (Speicherstörungen) und solchen, die
101
Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen
den Abruf betreffen (Abrufstörungen).
Modalitätsübergreifend zeigen sich Merkfähigkeitsstörungen hauptsächlich unter
komplexeren Lernbedingungen, zum Beispiel bei Reproduktion einer größeren Informationsmenge, beim verzögerten Abruf oder bei Wiedergabe zuvor gelernter
Information nach einer Interferenz. Hingegen zeigen die merkfähigkeitsgestörten
Kinder weniger Schwierigkeiten beim unmittelbaren Abruf und Wiedererkennen.
Diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die Gedächtnisstörungen bei einfachen
Testbedingungen übersehen werden können. Das ist besonders relevant wenn man
bedenkt, dass gängige Gedächtnistestaufgaben speziell die unmittelbare Merkspanne beziehungsweise Arbeitsgedächtnisleistungen prüfen (vgl. z.B. Gathercole & Alloway, 2006; Gathercole et. al., 2004; Schmid, Zoelch & Roebers, 2008). Deswegen
ist der Einsatz von differentiellen diagnostischen Verfahren, die die Gedächtniseigenschaften sowohl unter einfachen als auch unter komplexeren Lernbedingungen
untersuchen, notwendig (Lepach & Petermann, 2010).
Die Diagnostik sollte daher sowohl Prozesse der Informationsaufnahme beziehungsweise Enkodierung (Einprägen, Lernen), des Behaltens neuer Informationen
(kurz-, langfristig) als auch des Abrufs neuer und alter Gedächtnisinhalte (freier Abruf, Abruf mit Hilfen, Wiedererkennen) berücksichtigen (Erdfelder & Brandt, 2007;
Schuri, 1993, Schuri, 2000). Wichtig ist dabei auch zu beurteilen, inwieweit das Lernen eines neuen Materials früher Gespeichertes stören kann (retroaktive Interferenz) beziehungsweise ob gelerntes Material die anschließende Aufnahme anderer
Information stört (proaktive Interferenz). Ein weiterer wichtiger Beurteilungsfaktor
ist der Lernverlauf, der durch Einprägungswiederholungen sichtbar wird.
Tests mit Lernwiederholungsdurchgängen ermöglichen eine differenzierte Profilbeurteilung. Anhand von Fallstudien lassen sich Typen von Merk- und Lernstörungen
(Lepach & Petermann, 2007) vorschlagen, die auch in Kombination auftreten können:
•
•
•
Der unaufmerksame Typ (beeinträchtigte unmittelbare Merkspanne,
schwankende Lernverläufe, Interferenzanfälligkeit, unorganisiertes Lernen),
der stagnierende Typ (geringer Lernzuwachs, profitiert nicht von Wiederholung),
der vergessliche Typ (behält Informationen nur über kurzen Zeitraum).
Die Merk- und Lernfähigkeit sollte auch in Relation zur Intelligenz und zur Aufmerksamkeit sowie weiterer differentialdiagnostischer Faktoren betrachtet werden.
Eine weitere Schwierigkeit in der Beurteilung von Gedächtnisleistungen bei Kindern
ist, dass entwicklungsbezogene Aspekte berücksichtigt werden müssen. Dafür spielen biologisch-funktionelle und entwicklungspsychologische Aspekte eine Rolle.
Es werden komplex interagierende biopsychosoziale Faktoren angenommen, die die
102
Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen
individuelle Merk- und Lernfähigkeit gestalten. Während früher eher davon ausgegangen wurde, dass es entweder primär von Umweltfaktoren abhänge was und wie
viel Kinder lernen oder primär durch Gene und Hirnstrukturen vorhergesagt werde,
wird heute als wahrscheinlich gesehen, dass nicht nur eine Kombination aus biologischen Vorrausetzungen und Umwelteindrücken darüber entscheiden, sondern diese
sich auch gegenseitig stark beeinflussen. Biologische Limitationen in der Anpassungsfähigkeit des Organismus an die durch Lernprozesse initiierten Veränderungen
spielen demnach besonders dann eine Rolle, wenn sie nicht ausreichend durch andere (Umwelt-)faktoren kompensiert werden können. Dies kann beispielsweise bei
Schädigungen hippokampaler Strukturen (z. B. bei Temporallappenepilepsien) angenommen werden. Den hippokampalen Strukturen kommt bekanntermaßen eine
wesentliche Bedeutung für das explizite Gedächtnis zu (Townsend et al., 2010).
Zur Definition von Merk- und Lernstörungen gehört die Frage, welche Gedächtniskapazität und Ausnutzung dieser durch Strategien und metakognitive Prozesse als
altersgemäß zu betrachten ist. Für eine umfassende entwicklungspsychologische
Betrachtung verweisen wir an dieser Stelle unter anderem auf Berk (2005); Kail
(2004); DeMarie und Ferron (2003); Hasselhorn und Grube (2006); Meijs et al.
(2009); Schlagmüller und Schneider (2002); Schneider und Büttner (2002); Schneider, Hasselhorn und Körkel (2003) und Siegler, DeLoache und Eisenberg (2005).
13.4
Ziele
Anhand einer klinischen Stichprobe der Psychologischen Kinderambulanz der Universität Bremen und des Neurologischen Rehabilitationszentrums für Kinder und
Jugendliche Friedehorst, Bremen, sollten mit einer standardisierten Testbatterie
Untersuchungen zu Gedächtnisleistungen und differentialdiagnostischen Aspekten
vorgenommen werden. Ziel dieser Untersuchungen sind Erkenntnisse, die die Erstellung von bisher fehlenden diagnostischen Kriterien und Behandlungsindikationen für die Diagnose einer Gedächtnisstörung im Kindes- und Jugendalter ermöglichen. Dabei geht es vor allem um die Differenzierbarkeit von Syndromtypen mit
Hilfe von strukturentdeckenden statistischen Modellen.
Nur wenn ausreichend viele Studien zu neuropsychologischen Störungsbildern und
deren Behandlung vorliegen, besteht die Möglichkeit, dass diese in zukünftigen Diagnose- und Klassifikationssystemen Berücksichtigung finden. Bisher ist die klinische
Relevanz der Störungsbilder, hier am Beispiel der Gedächtnisstörungen, zwar in
klinischen Settings unbestritten, aber aufgrund der erforderlichen Kodierung nach
standardisierten Diagnosen nur unzureichend deklarierbar.
Die Erstellung entsprechender Kriterien ist ein wichtiger Beitrag zur Anerkennung
dieses Störungsbildes und damit ein erster Schritt, den betroffenen Kindern den
Zugang zu gezielten Behandlungsmaßnahmen zu ermöglichen.
103
Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen
In der Fortsetzung des explorierend angelegten Projekts sollen die erhobenen Daten
weiter systematisiert, vervollständigt und zur Veröffentlichungen aufbereitet werden.
13.5
Methodisches Vorgehen
Es handelt sich um eine explorierende Studie, die vor allem auch der Hypothesengenerierung für weitere Studien dienen soll. Geprüft werden soll die Differenzierbarkeit von Syndromtypen von Gedächtnisstörungen anhand von diagnostischen
Merkmalen auf verschiedenen Ebenen (krankheitsnahen Variablen, Variablen des
Verhaltens und Erlebens, Leistungsmerkmalen, etc.). Ziel ist auch, die Menge an
Prädiktoren bzw. Diagnosekriterien auf ein praktisch handhabbares Maß zu reduzieren.
Kinder in der Altersgruppe von neun bis 14 Jahren wurden in Kooperation mit dem
Neurologischen Rehabilitationszentrum Bremen Friedehorst standardisiert neuropsychologisch untersucht (siehe Tab. 1). Der angestrebte Stichprobenumfang betrug
150 für die klinische Gruppe und 50 für eine nicht klinische Vergleichsgruppe. Eine
Gleichverteilung von Geschlecht und Altersgruppen wurde angestrebt. Die Zuordnung erfolgte anhand folgender Kriterien:
Einschlusskriterien
•
•
•
Vorliegen oder Verdacht auf neuropsychologische Funktionsstörung im
Bereich der Gedächtnisleistungen.
Alter zwischen 9 und 14 Jahren;
freiwilliges Einverständnis, Einverständniserklärung der Erziehungsberechtigten;
Ausschlusskriterien
•
•
•
Geistige Behinderung oder massiver, mehrjähriger Entwicklungsrückstand;
bekanntes übergeordnetes Störungsbild (z.B. genetisches Syndrom);
aktueller Drogen- oder Substanzmissbrauch.
Die Untersuchung erfolgte mit einer speziell zusammengestellten neuropsychologischen Testbatterie bestehend aus Standardverfahren zu den Bereichen Gedächtnis,
Intelligenz und Aufmerksamkeit (Tab. 1). Die Antragstellerin erstellte für das Projekt
außerdem Selbst- und Fremdbeurteilungsfragebogen bezüglich der Gedächtnisleistungen, der zur Entwicklung einer Symptomcheckliste auf der Erlebensebene dienen soll. Das Projekt wurde mit einem Verlängerungsantrag seit dem 1.4.2011 fortgeführt und befindet sich derzeit planmäßig im Übergang zu Phase 5.
104
Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Tabelle 1: Neuropsychologische Testbatterie.
Funktionsbereich
Merk- und Lernfähigkeit
Testverfahren/
Unterskalen/-tests
BASIC-Merk- und
Lernfähigkeitstest
Intelligenz
Hamburg-WECHSLERIntelligenztest für Kinder
Aufmerksamkeit Untertests (UT) aus
der Testbatterie zur
Aufmerksamkeitsprüfung
13.6
Abkürzung/
Autoren
BASIC-MLT
Lepach & Petermann
(2008)
WISC
Petermann & Petermann
(2011)
TAP
Zimmermann & Fimm
(2002)
Alter
6;0 bis 16;11
Jahre
6;0 bis 16;11
Jahre
66-90 Jahre
(abhängig
vom UT)
Ergebnisse
Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen. Diverse Teilergebnisse des Projekts konnten jedoch bereits veröffentlicht werden.
13.7
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Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen
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107
Gedächtnisstörungen bei Kindern und Jugendlichen
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108
Entwicklungsdiagnostik und frühe Hilfen
14
Entwicklungsdiagnostik und frühe Hilfen - eine
bedarfsorientierte Frühförderung
14.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Ulrike Petermann
Mitarbeiterin
Dr. Ina Schreyer-Mehlhop
Zeitraum
01.10.2007 - 30.09.2010
Finanzierung
FNK-Mittel der Universität Bremen
14.2
Zusammenfassung
Das vorliegende Projekt beschäftigte sich mit dem Rahmenthema „Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern im Vorschulalter“. Hierzu wurden verschiedene diagnostische
Aspekte beleuchtet. Anschließend wurde der Zusammenhang von Verhaltensauffälligkeiten mit weiteren Risikofaktoren untersucht, wobei auch der Entwicklungsstand
der Kinder Berücksichtigung fand. Ebenfalls wurden das mütterliche Erziehungsverhalten und der Migrationsstatus der Kinder als Risikofaktoren in die Betrachtung mit
einbezogen. Abschließend wurden die Auswirkungen unterschiedlich stark ausgeprägter Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten auf die gesundheitsbezogene
Lebensqualität der Kinder untersucht. Ferner wurden der Einfluss des kindlichen
Migrationsstatus und des sozioökonomische Status auf die gesundheitsbezogene
Lebensqualität der Kinder betrachtet.
14.3
Stand der Forschung
Es liegt eine Vielzahl von Arbeiten vor, die sich mit Verhaltensauffälligkeiten bei
Kindern und Jugendlichen beschäftigt haben. Überschaubarer werden die Studien,
109
Entwicklungsdiagnostik und frühe Hilfen
wenn man sich speziell auf das Vorschulalter konzentriert. Betrachtet man den Forschungsstand für entwicklungsauffällige Kinder im Vorschulalter, liegen nur wenige
Studien vor. In den vorliegenden Untersuchungen wurde daneben zumeist nur ein
Entwicklungsbereich, wie zum Beispiel die motorische Entwicklung, beleuchtet. Im
deutschsprachigen Raum existieren vorwiegend Studien, die die Beziehung zwischen Verhaltensauffälligkeiten und elterlichem Erziehungsverhalten an älteren
Kindern untersuchten. Darüber hinaus liegen Studien zur Lebensqualität der Kinder
bisher nur für Verhaltensauffälligkeiten an zumeist älteren Kindern vor. Der Einfluss
von Entwicklungsauffälligkeiten blieb bislang unberücksichtigt. Im Unterschied zu
bisher vorliegenden Studien zielt die vorliegende Arbeit darauf ab, Verhaltensauffälligkeiten im Vorschulalter systematisch unter Einbezug des Entwicklungsstatus zu
untersuchen. Aufgrund der beträchtlichen Anzahl an Kindern mit einem Migrationshintergrund soll dabei der Einfluss des Migrationsstatus berücksichtigt werden, da
dies bislang in Studien vernachlässigt wurde. In einem weiteren Schritt soll die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Kinder untersucht werden. Hierbei sollen
neben dem Einfluss von Verhaltensauffälligkeiten auch der Einfluss von Entwicklungsauffälligkeiten sowie das komorbide Auftreten beleuchtet werden.
14.4
Ziele
Es sollten die folgenden Fragestellungen beantwortet werden:
1. Welchen Einfluss haben Entwicklungsauffälligkeiten und der Migrationsstatus
eines Kindes auf die Beurteilung von Verhaltensauffälligkeiten bei Eltern und Erzieherinnen?
2. Weisen Kinder mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Kindern ohne Migrationshintergrund vermehrt Verhaltensauffälligkeiten im Eltern- und Erzieherinnenurteil auf?
3. Welche Erziehungspraktiken von Müttern stehen mit welchen internalisierenden und externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten von Kindern im Vorschulalter in Zusammenhang und welche Erziehungspraktiken sind mit positivem Sozialverhalten der Kinder assoziiert? (Schreyer-Mehlhop & Petermann, 2011)
4. Welchen Einfluss haben das kindliche Geschlecht und der Migrationsstatus der
Kinder auf die Erziehungspraktiken der Mütter?
5. Wie wirkt sich das Vorhandensein von Entwicklungsauffälligkeiten und/oder
Verhaltensauffälligkeiten auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Kinder aus?
6. Unterscheidet sich die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Kindern im
Vorschulalter mit und ohne Migrationshintergrund?
110
Entwicklungsdiagnostik und frühe Hilfen
14.5
Methodisches Vorgehen
Die Fragestellungen dieser Arbeit wurden an Kindern zwischen 36 und 72 Monaten
getestet. Die Rekrutierung der Kinder erfolgte in Kindergärten in Bremen und dem
Bremer Umland. Es wurden Kindergärten aus verschiedenen Stadtteilen in Bremen
und dem Bremer Umland bei der Untersuchung berücksichtigt, so dass sowohl sozial bevorzugte, als auch sozial benachteiligte Stadtteile vertreten waren. Nach einem
telefonischen Erstkontakt bekamen die Leiter der Kindergärten ein Informationsschreiben über das Projekt zugeschickt und wurden im persönlichen Kontakt über
die genauen Ziele der Untersuchung aufgeklärt. Willigten die Leiter der Kindergärten ein, an der Untersuchung teilzunehmen, wurden die Eltern informiert. Alle Eltern wurden schriftlich ausführlich über das Forschungsvorhaben informiert und das
schriftliche Einverständnis der Eltern wurde vor Beginn der Testdurchführungen
eingeholt.
Um den Entwicklungsstatus der Kinder zu bestimmen, wurde mit den Kindern ein
Entwicklungstest (Petermann, Stein & Macha, 2008) durchgeführt. Wiesen die Kinder ein auffälliges Ergebnis im Entwicklungstest auf, wurden sie der Gruppe der
entwicklungsauffälligen Kinder zugeteilt. Dies bedeutete, dass die Kinder in mindestens drei Entwicklungsdimensionen ein Ergebnis erzielten, welches zwischen einer
und zwei Standardabweichungen unter der alters- und geschlechtsspezifischen
Norm lag oder sich mindestens zwei Entwicklungsdimensionen mehr als zwei Standardabweichungen unterhalb dieser Norm befanden. Die Eltern füllten einen Elternfragebogen aus, der prä-, peri- und postnatale Risiken sowie soziodemographische
Angaben erfasste. Daneben wurden den Eltern Fragen zum Erziehungsverhalten
und zu ihrer Lebensqualität gestellt. Auch die gesundheitsbezogene Lebensqualität
der Kinder wurde im Elternurteil erhoben. Verhaltensstärken und -schwächen der
Kinder wurden mittels des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ; Klasen,
Woerner, Rothenberger & Goodman, 2003; Koglin, Barquero, Mayer, Scheithauer &
Petermann, 2007) im Eltern- und Erzieherurteil erfasst. Die Erzieherinnen füllten
zusätzlich den Verhaltensbeurteilungsbogen für Vorschulkinder (VBV 3-6; Döpfner
et al., 1993) aus, mit dem ebenfalls Verhaltensauffälligkeiten erfasst werden können. Die Angaben zu Verhaltensauffälligkeiten wurden von den Eltern und den Erzieherinnen eingeholt, um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten und um potenzielle Abweichungen zwischen den Eltern und Erzieherinnen klassifizieren zu
können (vgl. Tab. 1).
111
Entwicklungsdiagnostik und frühe Hilfen
Tabelle 1: Übersicht über die Erhebungsinstrumente.
Erhebungsbereich
Instrument
Entwicklungsstand
Entwicklungstest sechs Monate bis sechs Jahre (ET 66; Petermann et al., 2008)
Verhaltensauffälligkeiten
Strengths and Difficulties Questionnaire in der El(Eltern- und Erzieherin- tern- und Erzieherversion (SDQ; Klasen et al. 2003;
nenangaben)
Koglin et al., 2007); Verhaltensbeurteilungsbogen für
Vorschulkinder in der Erzieherversion (VBV 3-6;
Döpfner et al., 1993)
Erziehungsverhalten
Modifizierte Fassung des Alabama Parenting
Questionnaire (APQ; Frick, 1991)
Lebensqualität
Fragebogen zur Erfassung der gesundheitsbezogenen
Lebensqualität der Kinder (Kiddy-Kindl-R; RavensSieberer & Bullinger, 2000); Fragebogen zur Erfassung der Lebensqualität der Eltern (EUROHIS-QOL;
The WHOQOL Group, 1998a; 1998b)
Migrationsstatus
Geburtsland des Kindes, Geburtsland beider Eltern,
zu Hause vorwiegend gesprochene Sprache
Soziodemografische Daten Fragebogen (Eigenentwicklung)
14.6
Ergebnisse
Einfluss von Entwicklungsauffälligkeiten und Migrationsstatus eines Kindes auf
die Beurteilung von Verhaltensauffälligkeiten bei Eltern und Erzieherinnen
Für die Gesamtstichprobe lagen die Korrelationen im Mittel bei .25. In der Untergruppe der entwicklungsunauffälligen Kinder lag der Mittelwert bei .29 und bei den
Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten bei .16. Hier zeigt sich, dass die Beurteilungen von Eltern und Erzieherinnen bei entwicklungsauffälligen Kindern weniger übereinstimmen als bei unauffälligen Kindern. Als signifikant erwiesen sich die Unterschiede in der Höhe der Korrelationen bei den Skalen „Verhaltensprobleme“ (Z =
2.91, p < .01) sowie „Gesamtproblemwert“ (Z = 2.33, p < .05). Ein tendenzieller Unterschied zeichnete sich auf der Skala „Hyperaktivität“ ab (Z = 1.68, p < .10). Es ist
davon auszugehen, dass es sowohl Eltern als auch Erzieherinnen schwerer fällt, aggressives Verhalten und hyperaktives Verhalten bei Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten übereinstimmend einzuschätzen im Vergleich zu Kindern ohne Entwicklungsauffälligkeiten. Für Kinder mit einem Migrationshintergrund ergab sich nur für
die Skala „Prosoziales Verhalten“ eine mittlere Übereinstimmung zwischen Eltern
112
Entwicklungsdiagnostik und frühe Hilfen
und Erzieherinnen (r = .39, p > .01), für alle anderen Skalen traten keine signifikanten Übereinstimmungen auf.
Verhaltensauffälligkeiten im Eltern- und Erzieherinnenurteil bei Kindern mit und
ohne Migrationshintergrund
Signifikante Effekte für das Erzieherurteil traten bei Kindern mit einem Migrationshintergrund auf den Skalen „Verhaltensprobleme“, „Hyperaktivität“ sowie „Prosoziales Verhalten“ des SDQ auf. Für Kinder mit einem Migrationshintergrund gaben die
Erzieherinnen signifikant höhere Werte für Verhaltensprobleme und Hyperaktivität
an als für Kinder ohne Migrationshintergrund. Für das prosoziale Verhalten gaben
die Erzieherinnen bei den Kindern mit Migrationshintergrund niedrigere Werte an
als bei den Kindern ohne Migrationshintergrund. Für das Elternurteil des SDQ konnten signifikante Effekte des Migrationshintergrunds für die Skalen „Verhaltensprobleme“ und „Probleme mit Gleichaltrigen“ belegt werden. Für Kinder mit einem
Migrationshintergrund gaben die Eltern auf beiden Skalen höhere Werte an als für
Kinder ohne Migrationshintergrund. Weiterhin ergab sich ein tendenzieller Unterschied für die Skala „Emotionale Probleme“. Auch hier schätzten Eltern die Kinder
mit einem Migrationshintergrund als stärker belastet ein.
Entwicklungsauffälligkeiten bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund
In der vorliegenden Arbeit konnte gezeigt werden, dass sich der Entwicklungsstatus
von Kindern mit einem Migrationshintergrund in einigen Bereichen vom Entwicklungsstatus von Kindern ohne Migrationshintergrund unterscheidet. Diese bislang in
dieser Form unveröffentlichten Ergebnisse sollen nachfolgend dargestellt werden.
Zur Beantwortung der Fragestellung, ob Kinder mit Migrationshintergrund im Vorschulalter mehr Entwicklungsauffälligkeiten aufweisen als Kinder ohne Migrationshintergrund wurden die Häufigkeiten für alle Entwicklungsbereiche des ET 6-6 verglichen. Für die Körper- und Handmotorik der Kinder ließen sich keine signifikanten
Zusammenhänge in den Häufigkeiten feststellen. Auch für die Entwicklungsbereiche
Gedächtnis, Handlungsstrategien sowie die soziale Entwicklung konnten keine Zusammenhänge nachgewiesen werden.
Für die nachfolgenden Entwicklungsbereiche zeigten sich signifikante Zusammenhänge mit dem Migrationshintergrund der Kinder: Körperbewusstsein, Zahlen nachsprechen, emotionale Entwicklung sowie Sprachentwicklung (rezeptive und expressive Sprachentwicklung). Ferner ließ sich ein tendenzieller Zusammenhang zu Kategorisieren feststellen. Das Risiko der Kinder mit Migrationshintergrund, ein auffälliges Ergebnis für den Entwicklungsbereich Körperbewusstsein zu erlangen, ist 2,78mal so hoch wie das der Kinder ohne Migrationshintergrund (RR=2.78, 95% KI =
1.86-4.15). Das Risiko der Kinder mit Migrationshintergrund, ein auffälliges Ergebnis
für den Entwicklungsbereich Zahlen nachsprechen zu erlangen, ist 1,97-mal so hoch
wie das der Kinder ohne Migrationshintergrund (RR=1.97, 95% KI = 1.22-3.17). Für
113
Entwicklungsdiagnostik und frühe Hilfen
die emotionale Entwicklung zeigte sich, dass das Risiko der Kinder mit Migrationshintergrund 2,38-mal so hoch ist, hier ein auffälliges Ergebnis zu erlangen (RR=2.38,
95% KI = 1.33-4.23). Für die expressive Sprachentwicklung ist das Risiko 3,03 mal so
hoch für Kinder mit Migrationshintergrund, ein auffälliges Ergebnis zu erhalten, wie
für Kinder ohne Migrationshintergrund (RR=3.03, 95% KI = 1.70-5.41). Für den Entwicklungsbereich „Kategorisieren“ zeigte sich, dass das Risiko der Kinder mit Migrationshintergrund, hier ein auffälliges Ergebnis zu erhalten, 2,09-mal so hoch ist, wie
dasjenige der Kinder ohne Migrationshintergrund (RR=2.09, 95% KI = .89-4.88).
Zusammenhang zwischen Erziehungspraktiken von Müttern und internalisierenden und externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten von Kindern im
Vorschulalter
Korrelationsanalysen zeigten, dass „Geringes Monitoring und inkonsistente Erziehungspraktiken“ sowie „Bestrafende Erziehungspraktiken“ signifikant positiv mit
den Skalen „Verhaltensprobleme“ und „Hyperaktivität“ korrelierten. Auch für „Geringes Monitoring und inkonsistente Erziehungspraktiken“ und „Emotionale Probleme“ ließ sich ein positiver Zusammenhang feststellen. Signifikante negative Zusammenhänge mit positiven Erziehungspraktiken ergaben sich für die Skalen „Emotionale Probleme“, „Hyperaktivität“ sowie „Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen“. Positive Erziehungspraktiken hingen signifikant positiv mit dem prosozialen
Verhalten der Kinder zusammen. Gaben die Mütter höhere Werte für positive Erziehungspraktiken an, berichteten sie auch für ihre Kinder höhere Werte auf der
Skala „Prosoziales Verhalten“. Erwartungsgemäß ergab sich ein negativer Zusammenhang zwischen negativen mütterlichen Erziehungspraktiken mit der Skala „Prosoziales Verhalten“. Abweichend von den bivariaten Analysen zeigten die regressionsanalytischen Ergebnisse, dass insbesondere „Geringes Monitoring und inkonsistente Erziehungspraktiken“ emotionale Probleme vorhersagten, während positive
Erziehungspraktiken nicht mehr signifikant wurden. Für die Skala „Hyperaktivität“
spezifizierten die regressionsanalytischen Ergebnisse die Korrelationsanalysen. Nur
noch die positiven Erziehungspraktiken hatten einen signifikanten Effekt in negativer Richtung. Die Skalen „Geringes Monitoring und inkonsistente Erziehungspraktiken“ sowie „Bestrafende Erziehungspraktiken“ wurden nicht mehr signifikant. Der
Effekt der Variable „Geschlecht“ erwies sich in negativer Richtung für „Hyperaktivität“ als signifikant. In Bezug auf die Skala „Prosoziales Verhalten“ wird in den Regressionsanalysen ersichtlich, dass im Vergleich zu den Korrelationen nur noch „Positive Erziehungspraktiken“ einen positiven Einfluss und „Bestrafende Erziehungspraktiken“ einen negativen Einfluss hatten, während der Effekt von „Geringem Monitoring und inkonsistenten Erziehungspraktiken“ nicht mehr als signifikant bewertet werden konnte.
114
Entwicklungsdiagnostik und frühe Hilfen
Einfluss des kindlichen Geschlechts und Migrationsstatus der Kinder auf die
Erziehungspraktiken der Mütter
In der multivariaten Varianzanalyse zeigte sich ein signifikanter Haupteffekt für das
kindliche Geschlecht (F(3,177) = 3.76, p < .05) und eine tendenzielle Interaktion zwischen dem Geschlecht und dem Migrationsstatus der Kinder (F(3,177) = 2.19, p <
.10). Für den Migrationsstatus ergab sich kein signifikanter Haupteffekt. In weitergehenden univariaten Analysen wurde deutlich, dass der Einfluss des kindlichen
Geschlechts und des Migrationsstatus besonders bei der Skala „Positive Erziehungspraktiken“ zum Tragen kam. Die Mütter von Jungen gaben niedrigere Werte für
positive Erziehungspraktiken an als die Mütter von Mädchen (MJungen = 67.80, SD
= 6.85; MMädchen= 69.99, SD = 5.12; F(1,179) = 10.82, p < .001). Die Mütter der
Kinder mit einem Migrationshintergrund gaben niedrigere Werte für positives Erziehungsverhalten an als die Mütter von Kindern ohne Migrationshintergrund
(Mmit Migrationshintergrund = 66.73, SD = 7.77; Mohne Migrationshintergrund =
69.44, SD = 5.48; F(1,179) =5.72, p < .05). Angeschlossene t-Tests zeigten für die
Interaktion, dass bei den Kindern mit Migrationshintergrund die Mütter von Jungen
weniger positive Erziehungspraktiken einsetzten als die Mütter von Mädchen (t (46)
= -2.70, p < .01), während sich bei den Müttern von Kindern ohne Migrationshintergrund kein geschlechtsspezifischer Effekt zeigte.
Auswirkungen der Entwicklungsauffälligkeiten und/oder Verhaltensauffälligkeiten
auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Kinder
In der multivariaten Varianzanalyse zeigte sich ein signifikanter Effekt für die Gruppen (F(18,537) = 2.33, p < .01) und auch die univariaten Analysen für den Faktor
„Gruppe“ zeigten für alle Skalen, bis auf die Skala „Familie“, signifikante Gruppeneffekte (vgl. Schreyer et al., 2011). Für das körperliche Wohlbefinden der Kinder traten signifikante Unterschiede zwischen der Kontrollgruppe und der Gruppe der verhaltensauffälligen Kinder auf (p < .01). Die Mütter der verhaltensauffälligen Kinder
gaben niedrigere Werte für das körperliche Wohlbefinden ihrer Kinder an als die
Mütter der gesunden Kontrollkinder. Die Kinder mit komorbiden Entwicklungs- und
Verhaltensauffälligkeiten erzielten signifikant niedrigere Werte für das körperliche
Wohlbefinden als die Kinder der gesunden Kontrollgruppe im Urteil ihrer Mütter (p
< .001). Ferner zeigte sich ein Unterschied zwischen der Gruppe der entwicklungsauffälligen Kindern und der Gruppe mit den komorbiden Auffälligkeiten (p < .05).
Kinder mit komorbiden Auffälligkeiten erhielten niedrigere Werte von ihren Müttern für das körperliche Wohlbefinden als die entwicklungsauffälligen Kinder.
Für das psychische Wohlbefinden der Kinder traten signifikante Unterschiede zwischen der Kontrollgruppe und der Gruppe der verhaltensauffälligen Kinder (p < .01)
auf. Die Mütter der verhaltensauffälligen Kinder gaben für das psychische Wohlbefinden ihrer Kinder signifikant niedrigere Werte an als die Mütter der gesunden
Kontrollgruppe. Auch die Kinder mit komorbiden Entwicklungs- und Verhaltensauf115
Entwicklungsdiagnostik und frühe Hilfen
fälligkeiten erhielten signifikant niedrigere Werte für das psychische Wohlbefinden
als die Kinder der gesunden Kontrollgruppe (p < .01). Für die Skala „Selbstwert“ des
Kiddy-KINDL-R berichteten die Mütter von entwicklungsauffälligen Kindern signifikant niedrigere Werte für das Selbstwertgefühl ihrer Kinder als Mütter unauffälliger
Kinder (p < .05). Gleichermaßen berichteten die Mütter von Kindern, bei denen sowohl Entwicklungs- als auch Verhaltensauffälligkeiten auftraten, signifikant niedrigere Werte für das Selbstwertgefühl ihrer Kinder als Mütter unauffälliger Kinder (p
< .001). Für die Skala „Familie“ erhielten die verhaltensauffälligen Kinder von ihren
Müttern niedrigere Werte als die unauffälligen Kinder (p < .05). Für die Skala
„Freunde“ zeigte sich, dass die Mütter der Gruppe der entwicklungsauffälligen Kinder auf dieser Skala signifikant höhere Werte für ihre Kinder angaben als die Mütter
der Kinder mit gleichzeitig bestehenden Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten
(p < .05). Für die letztgenannte Gruppe (EA+VA) traten daneben signifikant niedrigere Werte für die Lebensqualität im Bereich „Freunde“ (p < .001) und für die Skala
„Funktionsfähigkeit im Alltag (Kita)“ (p < .01) gegenüber der Kontrollgruppe auf.
Unterscheidet sich die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Kindern im Vorschulalter mit und ohne Migrationshintergrund? (Schreyer & Petermann, 2010).
Signifikante Effekte für den Migrationshintergrund traten auf den Subskalen „Psychisches Wohlbefinden“ und „Selbstwert“ des Kiddy-KINDL-R auf. Die Migrationsgruppe wurde von ihren Eltern hinsichtlich ihres psychischen Wohlbefindens
und ihres Selbstwertes niedriger eingeschätzt als die Kinder ohne Migrationshintergrund. Eine signifikante Wechselwirkung für „Migrationshintergrund x sozioökonomischer Status“ ergab sich für das körperliche Wohlbefinden (F(1,137) = 4.13, p <
.05). Im Einzelnen zeigte sich, dass die Eltern für Kinder ohne Migrationshintergrund
und mit hohem sozioökonomischen Status ein signifikant höheres körperliches
Wohlbefinden angaben als für Kinder mit Migrationshintergrund und hohem sozioökonomischen Status (t(145) = 2.70, p < .01). Weiterhin zeigte sich ein signifikanter
Interaktionseffekt für den Migrationshintergrund und das Geschlecht. Für Mädchen
ohne Migrationshintergrund gaben die Eltern signifikant höhere Werte für das familiäre Wohlbefinden an als für Mädchen mit Migrationshintergrund (t(88) = 2.41, p <
.05).
14.7
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117
Teil II: Klinische Psychologie
Teil II: Klinische Psychologie
In dieser Sektion sind elf Forschungsprojekte angesiedelt, die im Wesentlichen dem
Bereich der Klinischen Kinderpsychologie zugeordnet werden können. Drei Projekte
repräsentieren Fragestellungen der Klinischen Psychologie des Erwachsenenalters;
ein Projekt stellt eine Patientenschulungsstudie dar, die aus Mitteln der BMBF
(Schwerpunkt „Pflegeforschung“) finanziert wurde. Dieses Projekt stellt eine enge
inhaltliche Nähe zur medizinischen Rehabilitationsforschung dar, die in Teil III vorgestellt wird.
119
Depression im Jugendalter
1
Depression im Jugendalter
1.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
MitarbeiterInnen
Dipl.-Psych. Angelika Kullik
Dr. Julia Jaščenoka
Dipl.-Psych. Karin Rachuy
PD Dr. Falk Hoffmann, Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen
PD Dr. med. Christian J. Bachmann, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und psychotherapie Gießen und Marburg
Kooperationspartner
Prof. Dr. Gerd Glaeske, Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen
Prof. Dr. Cecilia A. Essau, Centre for Applied Research and Assessment in Child and
Adolescent Wellbeing (CARACAW), Roehampton University Whitelands
Prof. Dr. Ute Koglin, Universität Bremen
Zeitraum
01.07.2011 - 30.06.2012
Finanzierung
Stiftungsmittel
1.2
Zusammenfassung
Bereits vor einigen Jahren konnte die Bremer Jugendstudie bedeutsame Prävalenzzahlen psychischer Störungen aufzeigen (Essau, Karpinski, Petermann & Conradt,
1998). Derzeit mangelt es an Studien, die aktuelle Daten zur Verbreitung psychischer Störungen und deren Behandlung bei Jugendlichen liefern. Die vorliegende
Untersuchung untergliederte sich in zwei Teile. In Teil 1 wurden mit 333 Schülerinnen und Schülern zwischen 12 und 17 Jahren aus der Stadt Bremen vollstandardisierte, klinische Interviews zur Messung von Lebenszeitprävalenzen psychischer
121
Depression im Jugendalter
Störungen durchgeführt. Ferner wurden anhand eines Fragebogenkatalogs umfassende Angaben zu psychischen Belastungen der Jugendlichen erhoben. Die ersten
Ergebnisse zeigten, dass insgesamt 108 Jugendliche (32.4%) die Diagnosekriterien
einer psychischen Störung erfüllten. 44 Jugendliche (13.2%) wiesen eine Affektiven
Störungen auf. Diese Ergebnisse entsprechen Prävalenzschätzungen früherer Studien und betonen die Notwendigkeit einer frühzeitigen Prävention und Intervention. In Teil 2 wurden die Routinedaten der Gmünder ErsatzKasse (GEK) von Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren aus dem Jahr 2009 bezüglich der Häufigkeit und
Behandlung depressiver Störungen analysiert. Von 140563 erfassten Jugendlichen
wiesen 4295 Jugendliche (3.1%) 2009 mindestens eine Diagnose einer depressiven
Störung auf. 11.6% der Betroffenen erhielten Antidepressiva, 69.2% der betroffenen
Jugendlichen eine Psychotherapie. Derartige Zahlen liefern wichtige Implikationen
für zukünftige Medikation und Behandlungsansätze bei Depressionen im Jugendalter.
1.3
Stand der Forschung
Bereits Ende der 90er Jahre wurde die erste Bremer Jugendstudie (BJS; DFGFinanzierung) ins Leben gerufen, die sich mit den Belastungen und Herausforderungen des Jugendalters beschäftigt hat. Im Rahmen der Studie wurde eine umfangreiche Stichprobe von zwölf- bis 17-jährigen Bremer Jugendlichen (N = 1034) hinsichtlich der Häufigkeit sowie Komorbidität psychischer Störungen und psychosozialer
Begleiterscheinungen untersucht. Fast die Hälfte der Jugendlichen (41.9%) erfüllte
die Diagnosekriterien für mindestens eines der erfassten psychischen Störungsbilder. Dabei traten Angststörungen am häufigsten auf, dicht gefolgt von depressiven
Störungen (Essau et al., 1998). Mit den Ergebnissen lieferte die Bremer Jugendstudie bereits vor rund 15 Jahren entscheidende Erkenntnisse.
Das Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) veranschaulicht aktuell die Notwendigkeit für eine zeitgemäße Replikation der Prävalenzraten psychischer Störungen im Jugendalter. Bei über 14000 Kindern und Jugendlichen konnten hohe Anteile
emotionaler und verhaltensbezogener Probleme aufgedeckt werden (Hölling, Erhart, Ravens-Sieberer & Schlack, 2007). Allerdings wurden im Rahmen des KiGGS
keine klinischen Diagnosen nach den gängigen Klassifikationssystemen ICD-10 oder
DSM-IV gestellt, sondern lediglich Screeningverfahren herangezogen. Damit wurden
die Häufigkeiten verschiedener Problembereiche möglicherweise überschätzt. Einige weitere Untersuchungen und Statistiken deuten darauf hin, dass eine umfassende Untersuchung der psychischen Gesundheit von Jugendlichen aktuell gefordert
ist, wie etwa die bundesweit steigenden Krankheitskosten bei psychischen Störungen im Jugendalter (vgl. Statistisches Bundesamt, 2011).
Ein besonderes Augenmerk gilt es auf depressive Erkrankungen zu richten, die mit
122
Depression im Jugendalter
Beginn des Jugendalters (ab dem 12. Lebensjahr) merklich zunehmen (Avenevoli,
Knight, Kessler & Merikangas, 2008). Bereits Ende der 90er Jahre stellte die Bremer
Jugendstudie für die Zwölf- bis 17-Jährigen Häufigkeiten von bis zu 18% fest (Essau
et al., 1998). Die folgenden Gründe machen Angaben zur Verbreitung der Depressionen im Jugendalter besonders erforderlich:
•
•
•
•
1.4
Depressionen können chronisch verlaufen und die gesamte Lebensspanne umfassen. Sie gehen im Jugendalter mit einer deutlich erhöhten
Selbstmordtendenz einher und beeinträchtigen alle Lebensbereiche erheblich (Horowitz & Garber, 2006; Lasgaard, Goossens & Elklit, 2011;
Monnin et al., 2012).
Nach den Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird spätestens im Jahre 2020 die Depression zu den häufigsten und damit teuersten Krankheiten in der westlichen Welt gehören.
Eine Depression im Jugendalter besitzt eine besonders schlechte Prognose, kann aber durch früh einsetzende Präventionsmaßnahmen in ihrem
Verlauf günstig beeinflusst werden (Fonagy, Target, Cottrell, Phillips &
Kurtz, 2002).
Um Präventionsprogrammen planen zu können, die idealerweise im Kontext der Schule angeboten werden sollten, sind genauere, aktuelle Daten
zum erstmaligen Auftreten depressiver Symptome, zu deren Verlauf und
zu Angaben zur Symptomschwere nötig.
Ziele
Vor dem Hintergrund der wesentlichen Befunde der Bremer Jugendstudie sowie der
KiGGS möchte das vorliegende Projekt die Lücke der bis dato fehlenden aktuellen
Prävalenzraten zu psychischen Störungen und Problembereichen von Jugendlichen
schließen. Es sollen daher aktuelle Daten erhoben werden, um so einen genauen
Einblick in ihren psychischen Gesundheitszustand der Jugendlichen zu gewinnen, an
dem es bislang mangelt. Eine derartige Analyse lässt abschätzen, in welchen Bereichen besonders Probleme auftreten und welche Personengruppen speziell von psychischen Problemen betroffen sind (z. B. Geschlechter- oder Altersvergleich), um so
ferner eine gezielte Entwicklung und Durchführung von Präventions- und Interventionsprogrammen für Jugendliche zu unterstützen. Die gezielte Prävention einer
Chronifizierung psychischer Probleme von Jugendlichen ist wichtig, um damit auch
ein Risiko für weitere Beeinträchtigungen bis ins Erwachsenenalter gering zu halten
(Essau et al., 1998). Zusammenfassend verfolgt das Projekt folgende Ziele:
•
eine fundierte Diagnosestellung nach den Klassifikationssystemen ICD-10
und DSM-IV, die über grobe Schätzungen mittels Screeningverfahren hinausgeht (vgl. KiGGS) und fundierte Aussagen zu Prävalenzraten psychi123
Depression im Jugendalter
•
•
•
1.5
scher Probleme von Jugendlichen der Stadt Bremen ermöglicht,
die individuelle Erfassung grundlegender psychischer Belastungen der
Jugendlichen und
die Schaffung eines reliablen Ausgangspunkts für die Entwicklung und
Durchführung gezielter Präventions- und Interventionsmaßnahmen für
Jugendliche in Bremen.
Mit Hilfe eines großen Datensatzes einer gesetzlichen Krankenversicherung soll die Häufigkeit (Prävalenz) von Depressionen im ambulantärztlichen Bereich bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland ermittelt
und ein Überblick über die Versorgung der Erkrankten geschaffen werden.
Methodisches Vorgehen
Teil 1: Untersuchung von Jugendlichen in der Stadt Bremen. Ein Schwerpunkt dieser Studie besteht in der Erfassung von Informationen zum Umgang mit den unterschiedlichen Belastungen und Herausforderungen des Alltags. Es wird erfasst, welche Strategien und Lösungsversuche Jugendliche anwenden und mit welcher Art
von Problemen und Schwierigkeiten sie sich am häufigsten konfrontiert sehen. Auch
die Unterstützung durch Eltern und Freunde wird erfragt sowie das emotionale Erleben und Verhalten. Schließlich soll die seelische und körperliche Gesundheit der
Jugendlichen erfasst werden. Als Informationsquellen für die folgenden Informationen dienen die Jugendlichen selbst sowie deren Eltern/Erziehungsberechtigte:
•
•
•
•
•
•
•
demographische und sozioökonomische Hintergrundinformationen,
kritische Lebensereignisse,
Problemlöseverhalten und Umgang mit kritischen Lebensereignissen,
Beziehung zu Eltern und Freunden,
Emotionales Befinden und Verhalten,
Fähigkeiten zur Regulation von Emotionen und
Seelisches und körperliches Befinden.
Ein zweiter Schwerpunkt besteht in der Erfassung von psychischen Auffälligkeiten
und der Diagnose von möglichen Störungsbildern nach den Klassifikationssystemen
ICD-10 und DSM-IV. Folgende Informationen werden erfasst:
•
•
•
•
Prävalenz, Art und Ausmaß von psychischen Auffälligkeiten und Störungen,
Komorbiditätsmuster einzelner Störungsbilder,
Zusammenhänge von Art und Ausmaß einzelner Störungen mit psychosozialen Beeinträchtigungen und Ressourcen und
die Identifikation von Risiko- und Schutzfaktoren.
Teil 2: Analyse von Routinedaten einer Krankenkasse zu an Depression erkrankten
124
Depression im Jugendalter
Kindern und Jugendlichen. Routinedaten der Gmünder ErsatzKasse (GEK) aus dem
Jahr 2009 zur ambulant-ärztlichen Versorgung, zur Verordnung von Arzneimitteln
sowie zu demografischen Informationen schafften eine Grundlage für die Auswertung. Die GEK (im Januar 2010 mit der BARMER fusioniert) stellt eine bundesweit
tätige gesetzliche Krankenversicherung dar, in der etwa 2% der deutschen Wohnbevölkerung versichert waren (ca. 1.8 Millionen Menschen).
Routinedaten (sog. Sekundärdaten) der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
werden in den vergangenen Jahren zunehmend im Rahmen wissenschaftlicher Studien herangezogen (z. B. Bramesfeld, Grobe & Schwatz, 2010). Dabei handelt es sich
um umfangreiche, prozessproduzierte Informationssammlungen, die im Rahmen
von Verwaltung, Leistungserbringung bzw. Kostenerstattung vorliegen und elektronisch erfasst sind. Die Routinedaten zeichnen sich durch den Vorteil aus, dass die
unter Alltagsbedingungen ohne zusätzlichen Erhebungsaufwand miterhoben werden und damit die aktuelle Versorgungssituation widerspiegeln. Die Daten stehen
zeitnah und häufig in großen Patientenkollektiven zur Analyse zur Verfügung. In der
vorliegenden Studie sollte mindestens einmal im Jahr 2009 eine der folgenden Diagnosen im ambulant-ärztlichen Sektor gestellt worden sein:
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Postschizophrene Depression (F20.4),
Bipolare affektive Störung, gegenwärtig leichte oder mittelgradige depressive Episode (F31.3),
Bipolare affektive Störung, gegenwärtig schwere depressive Episode ohne
psychotische Symptome (F31.4),
Bipolare affektive Psychose, gegenwärtig schwere depressive Episode mit
psychotischen Symptomen (F31.5),
Depressive Episode (F32.-),
Rezidivierende depressive Störung (F33.-),
Angst und depressive Störung, gemischt (F41.2),
Anpassungsstörung (F43.2) oder
Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0).
Zudem werden die wesentlichen Kennzeichen aller Jugendlichen mit einer Diagnose
in 2009 erfasst:
•
•
•
•
•
Alter (12-18 Jahre), Wohnregion,
Anzahl Quartale mit einer Diagnose,
Kontakt zu: Allgemeinmedizinern/ hausärztlich tätigen Internisten, Kinderärzten, Psychiatern/ Neurologen, Kinder- und Jugendpsychiatern,
Verordnung von Antidepressiva,
Psychotherapie bzw. Antidepressiva und Psychotherapie.
48 Schulen in der Stadt Bremen wurden die Studieninhalte vorgestellt. Davon verneinten 37 Schulen eine Teilnahme an der Studie. An den elf teilnehmenden Schulen (ein Gymnasium; sieben Oberschulen mit noch teilweiser Untergliederung in
125
Depression im Jugendalter
gymnasiale-, Real-, Gesamt- sowie Hauptschulklassen; drei Berufsschulen) wurde
das Studienvorhaben in den siebten bis elften Jahrgangsstufen vorgestellt. Die Schülerinnen und Schüler erhielten zusätzlich eine Informationsbroschüre, der eine Einverständniserklärung zur Teilnahme beigefügt war. Die Jugendlichen bekamen zudem Informationsbroschüren und Einverständniserklärungen für ihre Eltern. In Absprache mit der jeweiligen Schulleitung wurden Interview- und Gruppenbefragungstermine vereinbart. Die Jugendlichen wurden ca. ein bis zwei Stunden in einem extra bereitgestellten Raum der Schule interviewt. Die Fragebögen wurden zu einem
gesonderten Termin in den Räumen der einzelnen Schulen im Gruppensetting von
max. 30 Jugendlichen in Einzelarbeit ausgefüllt. Diese Befragung wurde von mindestens zwei Mitarbeiterinnen des Projekts betreut. Zusätzlich bearbeiteten Eltern/Erziehungsberechtigte einen Fragebogen zuhause.
1.6
Ergebnisse
Teil 1: Untersuchung von Jugendlichen in der Stadt Bremen. Von den rund 1460
angesprochenen Jugendlichen stimmten 345 Jugendliche und deren Eltern der Teilnahme an der Studie zu. Neun Jugendliche konnten aufgrund von Krankheit oder
technischen Gründen nicht am Interview teilnehmen. Drei Jugendliche wollten nur
an der Fragebogenbefragung teilnehmen (vgl. Tab. 1).
Tabelle 1: Soziodemografische Information zur Stichprobe (N=333).
Alter (Jahre)
N
(%)
weiblich
(n) (%)
männlich
(n) (%)
Migrationshintergrund
12
13
27
54
(8.1)
(16.2)
14
24
(9.0)
(15.5)
13
30
(6.7)
(16.9)
Mädchen
14
15
80
81
(24.0) (24.3)
32
43
(20.6) (27.7)
48
38
(27.0) (21.3)
Jungen
16
17
56
35
(16.8) (10.5)
31
11
(20.0) (7.1)
25
24
(14.0) (13.5)
gesamt
gesamt
333
(100)
155
(46.5)
178
(53.5)
ja
nein
ja
nein
ja
nein
fehlend
geb. in Deutschland 123
10
130
13
255
24
2
(n) (%)
(90.4) (7.4)
(89.7) (9.0)
(90.7) (8.5)
(0.7)
Deutsch Mutterspra- 89
44
94
49
186
94
1
chea
(65.4) (32.4) (64.8) (33.8) (66.2) (33.5) (0.4)
(n) (%)
Deutsch zuhauseb
115
21
126
22
241
43
49
(n) (%)
(74.2) (13.5) (70.8) (12.4) (72.4) (12.9) (14.7)
Anmerkungen. aBerechnet für die Stichprobe der N = 281 Jugendlichen, die vollständige
Angaben zum Fragebogen gemacht und am Interview teilgenommen haben. bZum Interview
gestellte Frage „Sprichst du zuhause im Allgemeinen Deutsch?“ (N=333).
a
126
Depression im Jugendalter
44 Jugendliche (13.2%) besuchten zum Erhebungszeitpunkt das Gymnasium, 239
eine Oberschule (71.8%; davon 46 Gymnasium (13.8%), 35 Realschule (10.5%), 50
Gesamtschule (15.0%), 12 Hauptschule (3.6%) und 96 Oberschule ohne Gliederung
(28.8%) und 50 eine Berufsschule (15.0%). Insgesamt wurden in der Stichprobe der
333 Jugendlichen 44 Diagnosen (13.2%) einer Affektiven Störung gestellt. Bei sieben
Jugendlichen (2.1%) wurden zwei verschiedene Affektive Störungen diagnostiziert;
davon waren sechs Mädchen (85.7%) und ein Junge (14.3%) betroffen. Weitere Angaben zu gestellten Diagnosen sind Tabelle 2 zu entnehmen. Es gilt zu beachten,
dass Jugendliche von mehreren Diagnosen betroffen sein konnten. Die Diagnosen
von phobischen Störungen wurden auch mit gar keinem oder einem geringen
Schweregrad erfasst.
Tabelle 2. Diagnosen psychischer Störungen der Jugendlichen nach ICD-10.
ICD10
Code
F10.1 Alkoholmissbrauch
F10.2 Alkoholabhängigkeit
Affektive Störungen
F30.0 Hypomanie
F31.0 Bipolar II Störung mit letzter Episode hypoman
F31.11 Bipolar I Störung mit letzter Episode manisch, leicht
F32.0 Major Depression, einzelne Episode, leicht
F32.1 Major Depression, einzelne Episode, mittelschwer
F32.2 Major Depression, einzelne Episode, schwer,
ohne psychotische Merkmale
F33.0 Major Depression, rezidivierend, leicht
F33.1 Major Depression, rezidivierend, mittelschwer
F33.2 Major Depression, rezidivierend, schwer,
ohne psychotische Merkmale
F34.1 Dysthyme Störung
Angststörungen
F40.00 Agoraphobie ohne Panikattacke in Vorgeschichte
F40.01 Panikstörung mit Agoraphobie
F40.1 Soziale Phobie
F40.21 Spezifische Phobie Tiertypus
F40.22 Spezifische Phobie Umwelt-Typus
F40.23 Spezifische Phobie Blut-Spritzen-VerletzungsTypus
127
Gesamt
N (%)
Mädchen
n (%)
Jungen
n (%)
17 (5.1)
5 (1.5)
6 (1.8)
1 (.3)
11 (3.3)
4 (1.2)
3 (.9)
1 (.3)
1 (.3)
0
2 (.6)
1 (.3)
1 (.3)
0
1 (.3)
6 (1.8)
7 (2.1)
1 (.3)
5 (1.5)
5 (1.5)
2 (.6)
6 (1.8)
5 (1.5)
1 (.3)
4 (1.2)
1 (.3)
2 (.6)
1 (.3)
2 (.6)
0
4 (1.2)
3 (.9)
1 (.3)
18 (5.4)
13 (4.9)
5 (1.5)
2 (.6)
1 (.3)
0
3 (.9)
15 (4.5)
11 (3.3)
2 (.6)
2 (.6)
9 (2.7)
7 (2.1)
10 (3.0)
9 (2.7)
3 (.9)
2 (.6)
5 (1.5)
24 (7.2)
18 (5.4)
19 (5.7)
Depression im Jugendalter
Tabelle 2: Fortsetzung
F40.24 Spezifische Phobie Situativer-Typus
13 (3.9)
F40.25 Spezifische Phobie anderer Typus
2 (.6)
F40.9 Nicht näher bezeichnete Angststörung
1 (.3)
F41.0 Panikstörung ohne Agoraphobie
1 (.3)
F41.1 Generalisierte Angststörung
1 (.3)
Weitere Störungen
F42.8 Zwangsstörung
6 (1.8)
F43.1 Posttraumatische Belastungsstörung
1 (.3)
F44
Konversionsstörung
5 (1.5)
F44.5 Konversionsstörung mit Anfällen oder 1(.3)
Krämpfen
F44.6 Konversionsstörung mit sensorischen Sym- 4 (1.2)
ptomen oder Ausfällen
F50.0 Anorexia Nervosa
1 (.3)
F50.1 Untypische Anorexie
3 (.9)
F50.3 Untypische Bulimie
1 (.3)
7 (2.1)
1 (.3)
0
1 (.3)
1 (.3)
6 (1.8)
1 (.3)
1 (.3)
0
0
4 (1.2)
1(.3)
3 (.9)
0
2 (.6)
0
2 (.6)
1 (.3)
3 (.9)
1 (.3)
0
2 (.6)
1 (.3)
1 (.3)
1 (.3)
0
Teil 2: Analyse von Routinedaten einer Krankenkasse zu an Depression erkrankten
Kindern und Jugendlichen. Mindestens einen Tag in allen vier Quartalen des Jahres
2009 waren insgesamt 140563 Jugendliche im Alter zwischen zwölf und 18 Jahren
(M = 15.1 Jahre; SD = 2.0) versichert (48.9% Mädchen; 51.1% Jungen). Insgesamt
wiesen 821 (.6%) mindestens eine Verschreibung eines antidepressiven Medikaments in 2009 auf (insgesamt wurden 1357 Packungen Antidepressiva verschrieben), wobei der Anteil der Mädchen höher lag als bei den Jungen (.76% vs. .41%).
Die Gesamtanzahl der Jugendlichen, die mindestens eine Diagnose einer depressiven Störung erhielten, betrug 4295 (3.1%; vgl. Tab. 3). Davon waren 58.8% weiblich,
wobei das mittlere Alter bei den Mädchen niedriger war (15.1 vs. 15.8 Jahre). Die
Mädchen erhielten mit höherer Wahrscheinlichkeit die Diagnose einer depressiven
Episode (F32; 50.6% vs. 38.7%). Ca. acht bis neun von zehn Patienten besuchten
Allgemeinmediziner, ein Drittel Kinderärzte. Kinder- und Jugendpsychiater wurden
von rund 37.1% der Jungen sowie 24.6% der Mädchen aufgesucht.
Der Anteil die Patienten, die ein Antidepressivum verschrieben bekommen haben,
lag bei 11.6% (mit einer höheren Rate für die Mädchen). Bei der Mehrzahl der Medikamente handelte es sich um Seronotin Wiederaufnahmehemmer (SSRIs; 55.6%).
Trizyklische Antidepressiva (TCAs; 17.9%) und Fluoxetine, Citalopram sowie Mitrazapine machten die anderen 50% aus. 43.7% der Jugendlichen, die ein Antidepressivum verschrieben bekommen haben, erhielten nur eine Packung, 56.3% bekamen
zwei oder mehr Packungen. Insgesamt erhielten 69.2% der betroffenen Jugendlichen eine Psychotherapie, wobei hier kaum ein Geschlechtsunterschied zu beobachten war (Jungen 69.9%; Mädchen 69.0%). In Anbetracht der Tatsache, dass
Mädchen jedoch mehr Antidepressiva erhielten, zeigte sich hier ein höherer Anteil
128
Depression im Jugendalter
von Mädchen, die eine Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie bekamen. Mit zunehmendem Alter erhielten mehr Jugendliche eine solche Kombination.
Tabelle 3: Jugendliche mit der Diagnose einer depressiven Störung im Jahr 2009.
Alter (Jahre)
12-13
14-15
16-18
Diagnosen
Anpassungsstörung (F43.2)
Depressive Episode (F32)
Angst und depressive Störung, gemischt (F41.2)
Störung des Sozialverhaltens mit depressiver
Störung (F92.0)
Rezidivierende depressive Störung (F33)
Post-schizophrene Depression oder Bipolare
Affektive Störung mit Depression (F20.4, F31.3,
F31.4, F31.5)
Behandlung
Nur Psychotherapie
Psychotherapie und Antidepressiva
Nur Antidepressiva
Keine
1.7
Jungen
(%)
Mädchen
(%)
Gesamt
(%)
29.2
25.6
45.2
16.3
21.0
62.7
21.7
22.9
55.5
52.9
38.7
6.8
8.5
46.8
50.6
8.9
3.8
49.3
45.7
8.0
5.7
3.8
0.1
5.0
0.1
4.5
0.1
62.7
6.9
2.0
28.4
57.4
11.6
1.9
29.2
59.6
9.6
1.9
28.8
Literatur
Avenevoli, S., Knight, E., Kessler, R.C. & Merikangas, K.R. (2008). Epidemiology of
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und Entwicklung, 21, 208-217.
130
Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter
2
Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter:
Neuropsychologische Störungen im Langzeitverlauf
2.1
Allgemeine Angaben
Leitung
PD Dr. Monika Daseking
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiterinnen
Dipl.-Psych. Julia Knievel, Dipl. Psych. Antje Eikelmann, Dipl.-Psych Wiebke Schlagheck, Dipl.-Psych. Christin Fischer
Kooperationspartner
Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe, Gütersloh
Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Pädiatrische Hämatologie und
Onkologie, Münster
Gerinnungszentrum Rhein-Ruhr, Duisburg
Zeitraum
01.11.2005 - 30.09.2013
Finanzierung
Deutsche Schlaganfallhilfe (Gütersloh), Förderverein Schlaganfall und Thrombosen
im Kindesalter e.V. (Münster)
2.2
Zusammenfassung
Die langfristige Entwicklung nach kindlichem Schlaganfall zeigt, dass besonders nach
perinatalen Schlaganfällen vielfältige Beeinträchtigungen und Probleme zu erwarten
sind, die umfangreiche Therapiemaßnahmen nach sich ziehen. So weisen viele Kinder Beeinträchtigungen in den Bereichen Motorik, Sprachentwicklung, exekutive
Funktionen, Aufmerksamkeit und Sozialverhalten auf. Anhand von Fragebogendaten und der diagnostischen Untersuchung soll ein Überblick über störungsspezifische neurologische Symptome, kognitive Einschränkungen und Verhaltensprobleme
131
Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter
sowie die langfristige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nach einem
Schlaganfall gegeben werden.
2.3
Stand der Forschung
Die Diagnose Schlaganfall wird jedes Jahr bei 300 bis 500 Kindern und Jugendlichen
in Deutschland gestellt. In der Literatur lassen sich für die Anzahl der Neuerkrankungen unterschiedliche Zahlen finden. Einen Einfluss darauf haben zum Beispiel
die unterschiedlich definierten Diagnosekriterien oder Primärerkrankungen. Mallick
und O´Callaghan (2010) geben in ihrer Übersichtsarbeit zur Epidemiologie kindlicher
Schlaganfälle Inzidenzraten an, die von 1,3 bis 13 pro 100.000 Kindern reichen. Dabei handelt es sich um ein äußerst heterogenes Krankheitsbild, dessen ätiologische
Abklärung die Berücksichtigung vieler möglicher Ursachen und Risikofaktoren erfordert. Die durch den Insult entstehenden Läsionen des Hirngewebes führen wiederum zu einem breiten Spektrum an neurologischen und psychologischen Beeinträchtigungen und können daher den bevorstehenden Lebensweg des betroffenen Kindes bzw. Jugendlichen und deren Familien einschneidend verändern. Das Ausmaß
und die Art der Defizite nach einem kindlichen Schlaganfall sind von einer Vielzahl
an Faktoren abhängig. Dabei spielen das Alter zum Zeitpunkt des Schlaganfalls, die
Lokalisation und der Umfang des geschädigten Areals und das nachfolgende Auftreten von epileptischen Anfällen eine große Rolle, aber auch die Ausbildung einer
Hemiparese und wiederholte Schlaganfälle haben einen verstärkenden Effekt auf
die resultierenden Beeinträchtigungen.
Die neurologischen und psychologischen Beeinträchtigungen können zudem aber
auch sehr komplexe Verhaltens- und/oder psychosoziale Probleme für die Kinder
verursachen, die ein breites Spektrum an möglichen Verhaltensstörungen umfassen. Psychosoziale Konsequenzen können sich ebenfalls für die weiteren Familienmitglieder ergeben. Insbesondere das Zusammenspiel mit der körperlichen Behinderung (Hemiparese) kann für schlaganfallbetroffene Kinder und Jugendliche zu
Schwierigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen beitragen.
Eine Vielzahl an Studien hat gezeigt, dass Erwachsene nach Hirnschädigungen neben neurologischen und psychologischen Defiziten nicht selten emotionale bzw.
Verhaltensstörungen entwickeln (Lippert-Grunert, Kuchta, Hellmich & Klug, 2006).
Im Gegensatz dazu werden solche Zusammenhänge bei Kindern und Jugendlichen
nach Hirnschädigungen allgemein und insbesondere nach Schlaganfällen wenig untersucht und beschrieben. Studien, die sich der beschriebenen Thematik zugewendet haben, belegen, dass Kinder nach einem Schädel-Hirn-Trauma einem weitaus
höheren Risiko ausgesetzt sind, Verhaltensstörungen zu entwickeln, als gesunde
Kinder (Taylor et al., 2002). So fällt es Kindern mit Hirnschädigungen beispielsweise
schwerer, Gefühle anderer zu erkennen und selbst auszudrücken, was wiederum
132
Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter
zum Auftreten sozialer Probleme führen kann (Tonks, Williams, Frampton, Yates &
Slater, 2007). Auch bei Neugeborenen, die Erkrankungen oder Schädigungen des
Gehirns erleiden, treten deutlich häufiger eine ADHS-Symptomatik, impulsives Verhalten, Aggression und Angststörungen auf (von Handel, Swaab, de Vries & Jongmans, 2007). Landry und Mitarbeiter (2004) berichten von Störungen der fokussierten Aufmerksamkeit nach (früh-)kindlichen Hirnschädigungen. Langzeitstudien
konnten belegen, dass sich Störungen des Verhaltens und der schulischen Leistungen nach Hirnschädigungen meist als dauerhaft erweisen (Max et al., 2002).
2.4
Ziele
Für auf eine Teilhabe an gesellschaftlichen und sozialen Prozessen ist es notwendig,
nicht nur die kognitiven Fähigkeiten der Betroffenen zu fördern oder die Motorik zu
trainieren, sondern auch Verhaltensstörungen mit entsprechenden Interventionsund Präventionsstrategien zu begegnen. Das über zehn Jahre am ZKPR der Universität Bremen laufende Projekt „Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter: Neuropsychologische Störungen im Langzeitverlauf“ wurde zunächst mit dem Schwerpunkt
auf die kognitive Langzeitentwicklung nach kindlichem Schlaganfall durchgeführt
(vgl. dazu auch die im Rahmen des Projektes entstandenen Publikationen). Dabei
hat sich immer mehr herausgestellt, dass vor allem auch emotionale und Verhaltensstörungen zu hoher familiärer Belastung führen können (Daseking, Grochowski
& Petermann, 2012). Oft ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen, ob es sich um
schädigungsbedingte Defizite oder um reaktive, erlernte Verhaltensprobleme handelt. Die Verhaltensprobleme haben jedoch einerseits eine große Bedeutung für die
schulische Entwicklung der Kinder, andererseits beeinflussen sie die Wirksamkeit
von Interventionsmaßnahmen und das Familienklima (Werpup, Petermann & Daseking, 2011). Die aktuelle Zielstellung des Forschungsprojektes ist es, entsprechende Entwicklungsverläufe zu erfassen, Prognosen abzuleiten und schließlich die
betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen und deren Familien hinsichtlich effektiver
Förder- und Therapiestrategien zu beraten und zu unterstützen. Dafür ist es erforderlich, weitere Daten zu erheben, die differenziert Auskunft über mögliche emotionale und Verhaltensstörungen schlaganfallerkrankter Kinder geben und die gleichzeitig familiäre Risikofaktoren und Ressourcen erfassen.
2.5
Methodisches Vorgehen
Im Rahmen der Studie werden Daten zur kognitiven Entwicklung und zu emotionalen und Verhaltensproblemen von Kindern und Jugendlichen erhoben, die einen
Schlaganfall erlitten hatten. Die Durchführung der Untersuchung beinhaltet ein aus133
Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter
führliches Anamnesegespräch mit den Eltern betroffener Kinder, die Durchführung
psychometrischer Testverfahren, das Ausfüllen von Fragebögen sowie eine standardisierte Verhaltensbeobachtung. Die störungsspezifische Testbatterie deckt mittels
der in Klammern genannten Testverfahren folgende kognitive Bereiche ab:
•
•
•
•
•
•
•
•
allgemeine Intelligenz (WPPSI-III, WISC-IV, CPM bzw. SPM)
Aufmerksamkeit, insbesondere kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit
(TAP)
Gedächtnis (VLMT, DCS)
Sprache (SET 5-10)
Exekutivfunktionen (TLD)
Visuelle Wahrnehmung (FEW-2, FEW-JE)
Vorläuferfähigkeiten (BASIC-Preschool)
Schulleistungsdiagnostik.
Parallel zur Testdurchführung erfolgte eine Verhaltensbeobachtung, die unter anderem Arbeitsverhalten und Instruktionsverständnis erfassen sollte. Darüber hinaus
werden über Fragebögen (Selbst- und Fremdeinschätzung) verschiedene Aspekte
zur emotionalen und Verhaltensentwicklung erfasst.
2.6
Ergebnisse
Die ersten, grundlegenden Ergebnisse des bereits seit 2001 bestehenden Projektes
wurden 2005 in einer Dissertation veröffentlicht (Daseking, 2005). Inzwischen liegen
Daten von mehr als 200 schlaganfallerkrankten Kindern vor, für 60 Kinder und Jugendliche bereits zu mehreren Messzeitpunkten.
2.7
Literatur
Daseking, M. (2005). Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter: Die Abhängigkeit
neuropsychologischer und psychosozialer Remissionsverläufe vom Erkrankungsalter und von der Lokalisation. Dissertation. Norderstedt: BoD.
Landry, S.H., Swank, P., Stuebing, K., Prasad, M. & Ewing-Cobbs, L. (2004). Social
competence in young children with inflicted traumatic brain injury. Developmental Neuropsychology, 26, 707-733.
Lippert-Grunert, M., Kuchta, J., Hellmich, M. & Klug, N. (2006). Neurobehavioral
deficits after severe traumatic brain injury (TBI). Brain Injury, 20, 569-574.
Mallick, A.A. & O´Callaghan, F.J.K. (2010). The epidemiology of childhood stroke.
European Journal of Peadiatric Neurology, 14, 197-205.
Max, J.E., Fox, P.T., Lancaster, J.L., Kochunov, P., Mathews, K., Manes, F.F. et al.
134
Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter
(2002). Putamen lesions and the development of the attention-deficit/hyperactivity symptomatology. Journal of the American Academy of Child and
Adolescent Psychiatry, 41, 563-571.
Daseking, M., Grochowski, K. & Petermann, F. (2012). Psychosoziale Belastungen
nach Schlaganfall im Kindes- und Jugendalter. Aktuelle Neurologie, 39, 18-24.
Taylor, H.G., Yates, K.O., Wade, S.L., Drotar, D., Stancin, T. & Minich, N. (2002). A
prospective study of short- and long-term outcomes after traumatic brain injury
in children: behavior and achievement. Neuropsychology, 15, 15-27.
Tonks, J., Williams, W.H., Frampton, I., Yates, P. & Slater, A. (2007). Reading
emotions after child brain injury: A comparison between children with brain
injury and non-injured controls. Brain Injury, 21, 731-739.
von Handel, M., Swaab, H., de Vries, L.S. & Jongmans, M.J. (2007). Long-term
cognitive and behavioral consequences of neonatal encephalopathy following
perinatal asphyxia: a review. European Journal of Pediatrics, 166, 645-654.
Werpup, L., Petermann, F. & Daseking, M. (2011). Schlaganfall im Kindes- und Jugendalter: Klinisches Bild, Versorgungssituation und elterliche Beanspruchung.
Aktuelle Neurologie, 38, 68-74.
Publikationen
Daseking, M. (2005). Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter: Die Abhängigkeit
neuropsychologischer und psychosozialer Remissionsverläufe vom Erkrankungsalter und von der Lokalisation. Dissertation. Norderstedt: BoD.
Daseking, M. (2009). Schlaganfall. In F. Petermann & M. Daseking (Hrsg.), Fallbuch
HAWIK-IV (S. 195-214). Göttingen: Hogrefe.
Daseking, M., Grochowski, K. & Petermann, F. (2012). Psychosoziale Belastungen
nach Schlaganfall im Kindes- und Jugendalter. Aktuelle Neurologie, 39, 18-24.
Daseking, M., Heubrock, D. & Petermann, F. (2006). Sprachentwicklung nach perinatalen Schlaganfällen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendmedizin, 6, 374-380.
Daseking, M., Lemcke, J., Macha, T. & Petermann, F. (2007). Frühkindliche Schlaganfälle - Studie zur klinischen Validität des ET 6-6. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 35, 311-319.
Daseking, M. & Petermann, F. (2007). Schlaganfälle im Kindes- und JugendalterNeuropsychologische Aspekte. Kindheit und Entwicklung, 16, 27-39.
Daseking, M. & Petermann, F. (2010). Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern
mit Schlaganfall. In F. Petermann & G. Renner (Hrsg.), Fallbuch SON 2½ - 7 (S.
125-140). Göttingen: Hogrefe.
Daseking, M., & Petermann, F. (2011). Der Einfluss von Schlaganfällen im Kindesund Jugendalter auf die kognitive Entwicklung. Zeitschrift für Neuropsychologie,
22, 97-107.
Daseking, M., Petermann, F. & Simonis, A. (2008). Psychische Auffälligkeiten und
psychosoziale Folgen nach Schlaganfällen im Kindesalter. Fortschritte der Neurologie - Psychiatrie, 76, 662-671.
135
Schlaganfälle im Kindes- und Jugendalter
Daseking, M., Schlagheck, W. & Petermann, F. (2011). Perinatale und frühkindliche
Schlaganfälle: Kognitive Entwicklung im Kindergartenalter. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 59, 37-46.
Eikelmann, A., Petermann, F. & Daseking, M. (2008). Aufmerksamkeitsstörungen
nach Schlaganfällen im Kindesalter. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie, 36, 419-426.
Werpup, L., Petermann, F. & Daseking, M. (2011). Schlaganfall im Kindes- und Jugendalter: Klinisches Bild, Versorgungssituation und elterliche Beanspruchung.
Aktuelle Neurologie, 38, 68-74.
136
Therapeutische Hausaufgaben
3
Therapeutische Hausaufgaben
3.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Dr. Sylvia Helbig-Lang
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiterin
Dipl.-Psych. Sandra Cammin
Kooperationspartner
Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie, Bremen; Universitäten Greifswald, Dresden, Münster; Humboldt Universität Berlin; Charité Berlin; Universitätsklinikum Marburg, Münster.
Zeitraum
01.04.2011 - 30.06.2013
Finanzierung
BMBF
3.2
Zusammenfassung
Therapeutische Hausaufgaben sind ein Grundprinzip in der Kognitiven Verhaltenstherapie. Bislang wurde die Bedeutung der Hausaufgabenerledigung für das Therapieergebnis nur selten und mit kleineren Stichproben untersucht. Auf Basis von
N=369 Patientendaten der Multicenter Studie des PanikNetzes werden die Bedeutung der Hausaufgabenerledigung auf das Therapieergebnis sowie Einflussfaktoren
auf die Durchführung von Hausaufgaben untersucht.
3.3
Stand der Forschung
Kognitive Verhaltenstherapie betont als eines ihrer Grundprinzipien die Über137
Therapeutische Hausaufgaben
tragung der Therapieinhalte in den Alltag (z.B. Margraf & Lieb, 1995). Therapeutische Prozesse außerhalb des eigentlichen Therapiekontexts wurden bislang jedoch
nur selten systematisch in ihrer Bedeutung für den Therapieerfolg untersucht. Therapeutische Hausaufgaben werden dabei als die bedeutsamste Technik für den
Transfer der Therapie in den Alltag der Patienten angesehen. Dabei kann davon
ausgegangen werden, dass ein positiver Zusammenhang zwischen dem Einsatz von
Hausaufgaben durch den Therapeuten sowie der Erledigung von Hausaufgaben
durch den Patienten und dem Therapieerfolg besteht (Kazantzis, Deane & Ronan,
2000). Diesem positiven Befund stehen jedoch eine Reihe offener Fragen gegenüber, die eine effektive therapeutische Nutzung der Zeit zwischen den Sitzungen
hemmen. Dazu zählt unter anderem die Frage, was genau den Einsatz von Hausaufgaben wirksam macht. Neuere Studien lieferten Hinweise, dass der Einfluss von
Hausaufgaben nicht allein durch die reine Erledigung, sondern durch die Qualität
der Aktivitäten zwischen den Sitzungen bestimmt ist (Schmidt & Woolaway-Bickel,
2000), bzw. Hausaufgaben so gestaltet werden müssen, dass sie eine unmittelbare
Nützlichkeit im Hinblick auf die Zielsymptomatik aufweisen (Yovel & Safran, 2007).
Damit verbunden ist die Frage, inwieweit verschiedene Hausaufgabenvereinbarungen tatsächlich differenziell auf die Symptomatik wirken oder ob der positive Effekt
als eine unspezifische Wirkung im Sinne der Mobilisierung von Selbstwirksamkeitserwartungen und Ressourcen zu verstehen ist. Ebenfalls ungeklärt ist bislang, ob
zwischen Hausaufgaben und Therapieerfolg eine Dosis-Wirkungsbeziehung anzunehmen ist. Um Hausaufgaben als Mediator therapeutischer Veränderungen bezeichnen zu können, muss eine klare Dosis-Wirkungsbeziehung nachgewiesen werden (Nock, 2007). Diese Fragen müssen geklärt werden, bevor Empfehlungen für
eine therapeutische Gestaltung der Zeiträume zwischen den Sitzungen gegeben
werden können.
Ein Problem bisheriger Forschungen zu Prozessen außerhalb des Therapiekontexts
sind die häufig kleinen Stichprobenumfänge, die zu fehlender Teststärke beitragen
(Kazantzis, 2000). Darüber hinaus fehlen Follow-up-Studien, um die Langzeiteffekte
von Aktivitäten zwischen den Sitzungen zu determinieren. Einzelne Autoren bemängeln darüber hinaus, dass die Forschung sich zu stark auf therapeutische Vereinbarungen bezieht und Aktivitäten, die Patienten von sich aus unternehmen, nicht
auf ihren Beitrag für den Veränderungsprozess untersucht werden (Kazantzis &
Lampropoulos, 2002).
3.4
Ziele
Als Datenbasis dienen Behandlungsdaten der PanikNetz Multicenter Studie. Die
Datenbasis erlaubt die Untersuchung der oben angerissenen Fragestellungen unter
Aufhebung der wichtigsten methodischen Einschränkungen bisheriger Studien. Ne138
Therapeutische Hausaufgaben
ben einer ausreichend großen Stichprobe und der Erhebung eines 6-Monats-Followups, wurden im Rahmen der Studie auch Informationen über zusätzliche therapierelevante Aktivitäten der Patienten über vereinbarte Hausaufgaben hinaus gesammelt, die es jetzt erstmals erlauben, naturalistische Prozesse zwischen den Sitzungen in ihrer Bedeutsamkeit für die therapeutischen Veränderungen zu untersuchen.
Die Ergebnisse dieser Analysen sind direkt relevant für die klinische Praxis und tragen darüber hinaus zur laufenden Debatte über Wirkmechanismen in der Psychotherapie bei.
3.5
Methodisches Vorgehen
Aufklärung der Mechanismen therapeutischer Veränderungen
Hier soll die Beziehung zwischen Hausaufgaben-Compliance differenziert nach Qualität und Quantität der Erledigung und dem Therapieergebnis zum Zeitpunkt nach
der Therapie und im Follow-up untersucht werden. Es wird geprüft, ob eine DosisWirkungsbeziehung zwischen diesen Aspekten angenommen werden kann. Ein positives Ergebnis würde hier die Bedeutung therapeutischer Hausaufgaben als Mediator des Therapieerfolgs untermauern.
Aufklärung der Spezifität von Hausaufgaben
Es wird untersucht, inwieweit spezifische inhaltliche Aufgaben bzw. Aktivitäten zwischen den Sitzungen spezifische Effekte auf die Symptomatik (z.B. Reduktion des
Vermeidungsverhaltens) haben oder ob davon ausgegangen werden muss, dass
Hausaufgaben eher unspezifisch wirken. Dazu wird ein Nützlichkeitsgradient von
Hausaufgaben berechnet. Dazu werden die kontinuierlich über den Therapieverlauf
gesammelten Daten zu Angstniveau und Vermeidung genutzt.
Einflussfaktoren auf die Hausaufgabenerledigung
Hausaufgaben-Erledigung durch den Patienten ist ebenfalls mit Therapieerfolg assoziiert. Bislang konnten keine aussagekräftigen Prädiktoren für die Compliance nachgewiesen werden. Es soll untersucht werden, inwieweit insbesondere therapeutisch
beeinflussbare Variablen, wie wahrgenommene Sinnhaftigkeit von Aufgabenvereinbarungen oder Erfolgserleben in der Therapie einen Einfluss auf die HausaufgabenErledigung haben.
Datenaufbereitung und Erstellung des Analysedatensatzes
Zur Datenanalyse müssen zunächst zusätzlich gesammelte Daten über Aktivitäten
der Patienten zwischen den Sitzungen eingegeben werden. Dazu muss zunächst
139
Therapeutische Hausaufgaben
eine Datenmaske erstellt werden. Die Zusatzdaten müssen in den Gesamtdatensatz
integriert werden. Darüber hinaus müssen verschiedene Indices für Aspekte der
Hausaufgaben-Compliance sowie den Nützlichkeitsgradienten definiert und berechnet werden. Da Hausaufgaben-Compliance kontinuierlich in jeder Therapiesitzung
erhoben wurde, bedarf es der Berücksichtigung zeitlicher Abhängigkeiten der Daten.
Analysen zu Wirkmechanismen von Hausaufgaben
Der erste Auswertungsschwerpunkt bezieht sich auf die Untersuchung möglicher
Wirkmechanismen von Hausaufgaben. Hier wird zunächst mittels Strukturgleichungsmodellen untersucht, ob Aspekte der Hausaufgabenerledigung durch den
Patienten (Qualität vs. Quantität) differenziell auf den Therapieerfolg wirken. Die
Dosis-Wirkungsbeziehung wird mittels Probit- und Survival-Analysen getestet, die
zunächst Veränderungen in den Outcome-Maßen aller vier Therapiesitzungen modellieren. Die Häufigkeit von Expositionsübungen wird dabei als Dosis-Variable genutzt.
Analysen zur Spezifität von Hausaufgaben
Es wird ein Gradient der Hausaufgaben-Nützlichkeit verwendet, der aus der Compliance in einer Therapiewoche und der Verbesserung in panikrelevanten Maßen in
dieser Woche zusammengesetzt ist (Meilenstein 1). Der Gradient wird für verschiedene inhaltliche Aufgaben (Expositionshausaufgaben vs. kognitive Aufgaben) ermittelt und verglichen. In Abhängigkeit von der Aufgabe sollten sich Unterschiede in
der Hausaufgabennützlichkeit für Parameter wie agoraphobische Vermeidung ergeben, die für die Spezifität von Hausaufgabeneffekten sprechen.
Analysen zur Prädiktion der Hausaufgaben-Compliance
Es werden potentielle Prädiktoren der Hausaufgaben-Compliance ausgewählt und
in regressionsanalytischen Modellen auf ihre Vorhersagekraft geprüft. Dabei sind
vor allem Variablen von Interesse, die therapeutisch beeinflussbar sind, wie wahrgenommene Nützlichkeit der Aufgabe, Klarheit des Ziels der Aufgabe, wahrgenommener Erfolg bei vorangegangenen Aufgaben bzw. Erfolgserwartung im Hinblick auf
die Gesamttherapie. Mögliche Prädiktoren werden zunächst korrelativ auf einen
Zusammenhang mit dem Therapieerfolg geprüft und dann schrittweise in Regressionsgleichungen integriert.
3.6
Ergebnisse
Das Projekt befindet sich zurzeit in der Datenauswertungsphase. Die bisherigen Er140
Therapeutische Hausaufgaben
gebnisse deuten drauf hin, dass insbesondere die Durchführung von Expositionshausaufgaben für das Therapieergebnis relevant ist. Ferner liegen Hinweise vor,
dass die Qualität der Hausaufgabenerledigung von größerer Bedeutung ist als die
Quantität der Hausaufgabenerledigung.
3.7
Literatur
Kazantzis, N. (2000). Power to detect homework effects in psychotherapy outcome
research. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 68, 166-170.
Kazantzis, N., Deane, F.P. & Ronan, K.R. (2000). Homework assignments in cognitive
and behavioral therapy: a meta-analysis. Clinical Psychology, 7, 189-202.
Kazantzis, N., Lampropoulos, G.K. (2002). Reflecting on homework in
psychotherapy: what can we conclude from research and experience? Journal of
Clinical Psychology, 58, 577-585.
Margraf, J. & Lieb, R. (1995). Was ist Verhaltenstherapie? Versuch einer zukunftsoffenen Neucharakterisierung. Editorial. Zeitschrift für Klinische Psychologie, 24, 17.
Nock, M.K. (2007). Conceptual and design essentials for evaluating mechanisms of
change. Alcoholism - Clinical and Experimental Research, 31, 4-12.
Schmidt, N.B. & Woolaway-Bickel, K. (2000). The effects of treatment compliance
on outcome in cognitive-behavioral therapy for panic disorder: quality versus
quantity. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 68, 13-18.
Yovel, A. & Safran, S. (2007). Measuring homework utility in psychotherapy: cognitive-behavioral therapy for adult attention-deficit hyperactivity disorder as an
example. Cognitive Therapy Research, 31, 385-399.
141
Within- und Between-Session Prozesse
4
Within- u. Between-Session Prozesse bei Panikstörung
u. Agoraphobie
4.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Dipl.-Psych. Thomas Lang
Prof. Dr. Franz Petermann
MitarbeiterInnen
Dipl.-Psych. Christian Soltau, Dipl.-Psych. Juliane Kranzpiller, Dipl.-Psych. Sandra
Cammin, Dipl.-Psych. Anne Kordt, Dipl.-Psych. Kira Geisler, Dipl. Psych. Juliane Freitag
Kooperationspartner
Universität Münster (Klinische Psychologie), Universitätsklinikum Münster (Psychiatrie), Charité Berlin (Psychiatrische Klinik), Freie Universität Berlin (Klinische Psychologie), Universität Würzburg (Klinische Psychologie und Psychophysiologie), Universitätsklinikum Würzburg (Psychiatrie), Universität Marburg (Klinische Psychologie), Universitätsklinikum Marburg (Klinik für Psychiatrie), Universität Greifswald
(Klinische Psychologie und Psychophysiologie), Universität zu Köln (Klinische Psychologie), Technische Universität Dresden (Klinische Psychologie und Psychotherapie),
University of Utrecht (Department of Methods & Statistics).
Zeitraum
01.10.2009 - 30.06.2013
Finanzierung
BMBF
4.2
Zusammenfassung
Die Expositionsbehandlung ist eine der wirksamsten Methoden zur Reduktion von
Ängsten. Der Wirkmechanismus der Behandlung ist jedoch unklar. Das Forschungsprojekt untersucht die theoretisch angenommenen Mechanismen der Emotional
143
Within- und Between-Session Prozesse
Processing Theory, indem auf die Expositions- und Behandlungsdaten des BMBF
PanikNetzes zurückgegriffen werden (N=369).
4.3
Stand der Forschung
Nach Foa und Kozak (1986) wirkt die Expositionstherapie durch die Veränderung
von Angststnetzwerken im Gedächtnis. Diese Modifikationen werden erreicht durch
(a) Angstaktivierung, (b) Reduktion der Angst in der Expositionssituation (withinsession Habituation), (c) Reduktion der Angst zwischen den Expositionssituationen
(in-between session Habituation). Daher wird das Erleben sowie die Abnahme von
Angst in Expositionssituationen als essentiell für die Behandlung der Panikstörung
mit Agoraphobie angesehen. Allerdings sind die empirischen Belege für die einzelnen Annahmen zurzeit nicht einheitlich (Craske et al. 2007). Direkte Vergleiche der
Habituationseffekte mit dem Behandlungsoutcome in klinischen Studien fehlen bisher (Craske et al., 2007). Die Bedeutung der within- und in-between session Habituation ist eng mit der Rolle des Vermeidungsverhaltens verbunden. So liegen Hinweise vor, dass die Verwendung von Sicherheits- und Vermeidungsverhaltensweisen in
Expositionssituationen zu einer geringeren in-between-session Habituation führt.
Gleiches gilt für kognitive Vermeidungsstrategien (Sloan & Telch, 2002; Telch et al.,
2004). Ferner scheint subtiles Vermeidungsverhalten zu einem erhöhten Rückfallrisiko zu führen (Deacon & Maack, 2008). Im Rahmen der ersten Phase eines Multicenter-Therapie-Projektes wurden entsprechende Daten gesammelt, um zur Beantwortung dieser Fragestellungen einen entscheidenden Beitrag zu leisten. Es liegen Daten zur Angstaktivierung, zum Habituationsverlauf in und zwischen den Sitzungen sowie zum Einsatz von Vermeidungsstrategien vor. Die Datenbasis stellt
einen einzigartigen Pool da, der für jeden Patienten und jede Expositionssituation
sowohl die Selbstbeurteilung des Patienten - als auch eine Fremdbeurteilung des
Behandlers enthält. Diese Daten können mit den Outcomedaten der Therapiestudie
und mit den psychophysiologischen Daten, die im Rahmen des P5 Projektes erhoben wurden, in Verbindung gebracht werden.
4.4
Methodisches Vorgehen
Within- und in-between-session Habituation als notwendige Bedingungen des
Therapieerfolges
Hierzu werden auch die folgenden Fragestellungen untersucht:
•
Ist Angstaktivierung während der Exposition mit einem besseren Therapieoutcome assoziiert?
144
Within- und Between-Session Prozesse
•
•
Ist within-session Habituation während Expositionsübungen mit dem Therapie-Outcome assoziiert? Ist in-between-session Habituation mit dem Outcome assoziiert?
Welche Beziehungen bestehen zwischen within-session und in-betweensession Habituation?
Zusammenhang zwischen Vermeidungsverhalten während Expositionsübungen,
Habituationsmustern und Gesamt-Therapie-Outcome
Hierzu werden die folgenden Fragestellungen untersucht:
•
•
•
Ist Vermeidungsverhalten während der Expositionssitzung mit einer geringeren Angstaktivierung verbunden?
Wie wirkt Vermeidungsverhalten (und verschieden Arten von Vermeidungsverhalten) auf die within- und between-session Habituation und auf den
Therapie-Outcome?
Haben verschiedene Vermeidungsarten (z.B. kognitives vs. offenes Vermeidungsverhalten) unterschiedliche Auswirkungen auf den Therapie-Outcome?
Zusammenhang zwischen Habituationsmustern, Vermeidungsverhalten und
Outcome im 6-Monats-Follow-up
Es wird untersucht, ob geringe Raten von in-between-session Habituation während
der therapiebegleitenden Expositionen und persistierendes Vermeidungsverhalten
Prädiktoren für Rückfälle im Follow-up-Zeitraum darstellen. Gleichzeitig werden
Veränderungen in den Vermeidungsstrategien für das Auftreten von Rückfällen berücksichtigt.
Einfluss von Erwartungen der Patienten auf Behandlungsverlauf und Ergebnis
•
•
•
Wie ist die Erwartungsangst vor der Situation mit der in der Situation erlebten Angst assoziiert?
Sagt die Erwartungsangst vor der Situation den Einsatz von Vermeidungsverhaltensweisen in der Situation voraus?
Sind Abweichungen zwischen dem erwarteten und dem tatsächlichen Angstverlauf mit einem schlechteren Therapieerfolg assoziiert?
Einfluss der Dauer und Frequenz von Exposition auf das Therapie-Ergebnis
In Abhängigkeit von der Behandlungsbedingung (begleitet/unbegleitet) wird untersucht, inwieweit Häufigkeit und Dauer von selbst durchgeführten Expositionen den
Therapieerfolg begünstigen.
Das Arbeitsprogramm kann in verschiedene Meilensteine untergliedert werden: (1)
Zusammenstellung der Daten, (2) Kodierung und Dateneingaberegeln, (3) Datenein145
Within- und Between-Session Prozesse
gabe, (4) Kontrolle des Datensatzes, (5) Zusammenführung mit Hauptdatensatz, (6)
Entwicklung einer Analysestrategie, (7) Durchführung der Analysen, (8) Vorbereitung von Publikationen.
Zusammenstellung der benötigten Daten. Hier werden die Expositionsprotokolle,
die Rahmen der Therapiestudie von Patienten und Therapeuten ausgefüllt wurden,
gesichtet und zur Dateneingabe vorbereitet. Hierzu werden auch Grundtypen von
Habituationsmustern, die in graphischer Form vorliegen, gesichtet und gruppiert.
Zusätzlich wird eine Verlinkung mit den Daten des Hauptdatensatzes vorgenommen. Ferner werden noch nicht eingegebene Daten zum Vermeidungsverhalten der
Patienten zusammengestellt.
Entwicklung Kodierschema, Dateneingabemaske sowie Dateneingaberegeln. Nach
Bereitstellung der Daten wird ein geeignetes Kodierschema erstellt, das die Eingabe
der Patienten und Therapeutenprotokolle für alle Expositionsübungen, die im Rahmen der Behandlung durchgeführt wurden erlaubt. Auf Grundlage des Kodierschemas wird eine Dateneingabemaske erstellt sowie Regeln für die Dateneingabe erarbeitet.
Dateneingabe. Entsprechend der Dateneingaberegeln werden die Daten in die erstellte Maske eingetragen und auf Konsistenz geprüft.
Zusammenführung mit dem Hauptdatensatz. Nach Abschluss und Kontrolle der
Dateneingabe werden die Daten mit dem Hauptdatensatz zusammengeführt.
Datenanalyse. Zur Datenanalyse wird ein geeignetes statistisches Modell erstellt.
Die notwendigen Recherchen und Erprobungen zum Analysemodell sind vorzunehmen und das Modell ist gegen andere Modelle zu testen. Das Modell ist an die jeweiligen Fragestellungen des Projektes anzupassen. Nach Beendigung der Modellerstellung werden die Daten analysiert und die Analysen entsprechend dokumentiert und zur Veröffentlichung vorbereitet.
Publikationsvorbereitung und Einreichung. Die Ergebnisse der Datenanalyse werden zur Veröffentlichung in Artikelform und mit Bezug zum aktuellen Forschungsstand veröffentlicht. Dazu sind weiterführende Literaturanalysen notwendig. Die
erstellten Manuskripte werden bei entsprechenden internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht. Die Ergebnisse werden aber auch Behandlern in geeigneter Form
(Workshops, Vorträge, Artikel in deutschsprachigen Zeitschriften) zugänglich gemacht.
4.5
Ergebnisse
Die Arbeitsschritte 1 bis 6 wurden abgeschlossen. Es konnte ein Analysemodell für
die Daten erstellt werden. Die Datenauswertung wird zurzeit durchgeführt, die Pub146
Within- und Between-Session Prozesse
likationen befinden sich in der Vorbereitung. Die Datenauswertung weist darauf
hin, dass sowohl die Expositionshäufigkeit als auch Dauer einen direkten Einfluss auf
den Therapieerfolg in der Panik- und Agoraphobiebehandlung haben. Ferner konnten within- und between-Session Habituation nachgewiesen werden sowie deren
Zusammenhänge mit den Veränderungen in den Outcomemaßen.
4.6
Literatur
Craske, M.G., Kircanski, K., Zelikowsky, M., Mystkoski, J., Chowdhury, N. & Baker, A.
(2008). Optimizing inhibitory learning during exposure therapy. Behaviour
Research and Therapy, 46, 5-27.
Deacon, B. & Maack, D.J. (2008). The effects of safety behaviors on the fear of
contamination: An experimental investigation. Behaviour Research and Therapy,
46, 537-547.
Foa, E.B. & Kozak, M.J. (1986). Emotional processing of fear: Exposure to corrective
information. Psychological Bulletin, 99, 20-35.
Sloan, T. & Telch, M.J. (2002). The effects of safety-seeking behavior and guided
threat reappraisal on fear reduction during exposure: an experimental
investigation. Behaviour Research and Therapy, 40, 235-251.
Telch, M.J., Valentiner, D.P., Ilai, D., Young, P.R., Powers, M.B. & Smits, J.A.J. (2004).
Fear activation and distraction during the emotional processing of claustrophobic
fear. Journal of Behavior Therapy and Experimental Psychiatry, 35, 219-232.
Publikationen
Lang, T., Helbig-Lang, S., Gloster, A.T., Richter, J., Hamm, A.O., Fehm, L. et al. (2012).
Effekte therapeutenbegleiteter versus patientengeleiteter Exposition bei Panikstörung mit Agoraphobie. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 41, 114-124.
147
Aufmerksamkeitstraining bei Sozialer Phobie
5
Effekte eines Aufmerksamkeitstrainings bei Sozialer
Phobie auf verhaltensnahe Variablen
5.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Dr. Silvia Helbig-Lang
Mitarbeiterin
Dipl. Psych. Maxie von Auer
Kooperationspartner
Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie, Institut Bremen
Zeitraum
01.10.2010 - 31.07.2012
Finanzierung
FNK der Universität Bremen, Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie,
Institut Bremen
5.2
Zusammenfassung
Insgesamt wurden 70 Personen mit Sozialer Phobie untersucht. Die Hälfte der Personen sollte mit Hilfe eines computerbasierten Trainings lernen, gezielt die Aufmerksamkeit von sozialbedrohlichen Hinweisreizen wegzulenken. Die Kontrollgruppe bearbeitete Aufgaben am Computer ohne Modifikation der Aufmerksamkeitsprozesse. Neben der Symptombelastung sowie dem Diagnosestatus wurden typisch
sozialphobische Kognitionen über Fragebögen sowie verhaltensrelevante Maße in
Form von Verhaltenstests und elektronischen Tagebüchern erfasst. Es wurden zwischen möglichen Subgruppen (z.B. Patienten mit vs. ohne Aufmerksamkeitsbias)
differenziert um Aussagen über die selektive Indikation des Trainings für verschiedene Patientengruppen ableiten zu können. Die Studie wurde als Kooperationsprojekt in zwei Zentren (Bremen und Münster) durchgeführt.
149
Aufmerksamkeitstraining bei Sozialer Phobie
5.3
Stand der Forschung
Präferentielle Aufmerksamkeit für sozial bedrohliche Informationen wurde bei Personen mit Sozialer Phobie wiederholt nachgewiesen. Zwei aktuelle randomisiertkontrollierte Behandlungsstudien weisen auf das Potenzial von computerbasierten
Trainings zur Modifikation dieser Aufmerksamkeitsverzerrung hin (Amir, Beard, Taylor, Klumpp, Elias, Burns & Chen, 2009; Schmidt, Richey, Buckner & Timpano; 2009).
Durch das Training konnte nicht nur die Zahl der Symptome reduziert werden, es
erfüllten nach dem Training auch signifikant weniger Patienten die Diagnosekriterien für Soziale Phobie nach DSM-IV. Diese Effekte blieben über einen viermonatigen Follow-up-Zeitraum hinweg stabil.
5.4
Ziele
Übergeordnetes Ziel des vorliegenden Projekts war die Evaluation eines computerbasierten Aufmerksamkeitstrainings bei Frauen und Männern mit Sozialer Phobie,
mit Schwerpunkt auf der Untersuchung der Verhaltensrelevanz der Effekte. Der
randomisierten, multizentrischen Doppelblind-Studie lag das Untersuchungsparadigma von Schmidt, Richey, Buckner und Timpano (2009) sowie Amir, Beard, Taylor,
Klumpp, Elias und Burns (2009) zugrunde. Erstes Ziel der Untersuchung war dabei
die Replikation der Effekte des dort verwendeten Aufmerksamkeitstrainings (AT) in
einer deutschsprachigen klinischen Stichprobe. Zweites Ziel war die Überprüfung
der Verhaltensrelevanz der Intervention, welche im Rahmen einer Dissertation erfolgt. Hierzu wurden neben Fragebögen standardisierte Verhaltenstests sowie ein
elektronisches Tagebuch eingesetzt. Des Weiteren sollten neben einer Kontrolle
aller Analysen auf mögliche Geschlechtseffekte explizit mehrere Fragestellungen zu
Geschlechtseffekten (Inanspruchnahmeverhalten, Symptomatik und Trainingseffekte) untersucht werden.
5.5
Methodisches Vorgehen
In einer randomisiert-kontrollierten Behandlungsstudie sollen die bisherigen Befunde an einer deutschsprachigen Stichprobe repliziert werden. Zusätzlich soll das
computerbasierte Training (Schmidt et al., 2009) hinsichtlich der Veränderungsprozesse, der Verhaltensrelevanz sowie der differentiellen Wirksamkeit in verschiedenen Subgruppen von Patienten mit Sozialer Phobie untersucht werden.
Bereits im Vorjahr des Förderzeitraums wurden sämtliche Vorbereitungsmaßnahmen zur Durchführung der Studie umgesetzt (Erstellung eines Operationshandbuches für die Studiendurchführung, Bereitstellung und Anpassung aller benötigten
150
Aufmerksamkeitstraining bei Sozialer Phobie
Erhebungsmaterialien inklusive technischer Geräte für ambulante Assessmentmethoden, Auswahl und Training der Studienmitarbeiter), so dass im Berichtszeitraum die Rekrutierung der Studienteilnehmer sowie die Durchführung und Auswertung der Datenerhebung erfolgen konnte.
Rekrutierung der Studienteilnehmer und Durchführung der Datenerhebung
Die Rekrutierung der Studienteilnehmer erfolgte im Zeitraum von Oktober 2010 bis
April 2011 über Zeitungsannoncen, Hinweise auf den universitären Internetseiten
sowie Informationen auf der Internetseite www.angstinfo.org. Dabei wurde ein kostenloses Training zur Überwindung sozialer Ängste im Rahmen einer Studie angeboten. Explizit wurden dabei Frauen und Männer mit sozialer Angst gesucht. Die Einschlusskriterien umfassten: Alter zwischen 18 und 65 Jahren, DSM-IV-Diagnose einer Sozialen Phobie, Zugang zu einem Computer mit Internetanschluss sowie keine
Medikamenteneinnahme oder unveränderte Dosierung seit mindestens 12 Wochen. Ausschlussgründe waren akute Suizidalität, die Diagnose einer Schizophrenie
oder Bipolaren Störung, Suchterkrankungen im letzten Jahr (mit Ausnahme von Tabak), das Vorliegen organisch bedingter psychischer Störungen oder neurologischer
Erkrankungen sowie eine aktuelle Psychotherapie.
Auf die Rekrutierungsmaßnahmen meldeten sich in den beiden Studienzentren
Bremen und Münster insgesamt 365 Personen, von denen nach 201 initialen Telefonscreenings 86 Personen zu den eingangsdiagnostischen Untersuchungen eingeladen wurden. 59 von ihnen erfüllten die Einschlusskriterien und wurden in die Studie aufgenommen, wobei drei Personen aufgrund von zeitlichen Problemen ihre
Einwilligung zur Teilnahme zurück zogen. Somit können die Daten von 56 Studienteilnehmern berichtet werden (vgl. Abb. 1).
Studienablauf. Der Studienablauf erfolgte gestuft: Nach einem Telefonscreening
inklusive Fragen zum Umgang mit dem Internet wurden die Teilnehmer zunächst
einzeln zu einem Termin zur Aufklärung über Inhalt und Ablauf der Studie eingeladen. Dort wurden sie mündlich und schriftlich über Ziele und Ablauf der Studie aufgeklärt und um ein schriftliches Einverständnis zur Teilnahme gebeten. Bei Vorliegen der Einverständniserklärung wurde zur diagnostischen Abklärung das Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV (SKID-I; Wittchen, Wunderlich, Gruschwitz &
Zaudig, 1997) durchgeführt. Wenn die Einschlusskriterien erfüllt waren, wurden die
Teilnehmer randomisiert einer von zwei Untersuchungsbedingungen zugewiesen:
einem Aufmerksamkeitstraining oder einer Placebo-Kontroll-Bedingung.
151
Aufmerksamkeitstraining bei Sozialer Phobie
Abbildung: 1: Patientenfluss im Gesamtprojekt.
Im Rahmen eines zweiten Termins zur Prä-Messung (T1) beantworteten die Teilnehmer darauffolgend online am Computer über das Programm Unipark verschiedene Symptomfragebögen (siehe „Erhebungsverfahren“). Darüber hinaus wurden
zu diesem Termin zwei Verhaltenstests durchgeführt. Die Prä-Messung dauerte insgesamt ca. 4 Stunden. Allen Teilnehmern wurde dann ein elektronisches Tagebuch
(Ecological Momentary Assessment; EMA) ausgehändigt und sie wurden in die
Handhabung des Geräts eingeführt. Das Tagebuch wurde in den folgenden sieben
Tagen zur Informationsgewinnung bzgl. des sozialphobischen Verhaltens im Alltag
eingesetzt. Nach Beendigung dieses Erhebungszeitraumes folgte für beide Bedingungen die experimentelle Intervention mit 9 Sitzungen (je 10-15 Minuten, davon 1
Sitzung zu diagnostischen Zwecken) über 4,5 Wochen hinweg, wobei sich die Teilnehmer eigenverantwortlich zwei Mal wöchentlich zu Hause zum Training bzw. Placebo-Training einloggten. Die korrekte Ausführung des Trainings wurde über die
Einlog-Daten online überprüft, so dass die Teilnehmer ggf. kontaktiert und an die
Durchführung des Trainings erinnert werden konnten. Die Sitzung 5 (T2) diente der
152
Aufmerksamkeitstraining bei Sozialer Phobie
Zwischenmessung der Aufmerksamkeitsverzerrung sowie der sozialphobischen und
depressiven Symptomatik. Insgesamt wurden letztlich acht Sitzungen Aufmerksamkeitstraining bzw. Pseudo-Training durchgeführt. Eine Woche (Post-Erhebung, T3)
sowie vier Monate (Follow-up-Termin, T4) nach der letzten Trainingssitzung füllten
die Teilnehmer die identischen Fragebögen wie bei der Prä-Erhebung am Computer
aus. Zur Überprüfung des diagnostischen Status wurden darüber hinaus die relevanten Sektionen des SKIDs sowie die beiden Verhaltenstests wiederholt. Im Anschluss
an diese Termine erfolgte jeweils eine weitere siebentägige EMA-Erhebung. Beim
Follow-up-Termin wurden die Teilnehmer letztlich über ihre Gruppenzugehörigkeit
aufgeklärt. Diejenigen, die der KG angehörten, wurden gefragt, ob sie eine Teilnahme am AT wünschten. Bei ungenügender Symptombesserung wurde eine Weiterversorgung durch die teilnehmenden psychotherapeutischen Ambulanzen gewährleistet.
Erhebungsverfahren
Tabelle 1 zeigt die verwendeten Erhebungsverfahren. Alle Fremdeinschätzungen
wurden von Diplompsychologinnen durchgeführt, die für die Gruppenzuweisung
verblindet waren.
Tabelle 1: Erhebungsverfahren.
Variablen
Demografische Variablen
Diagnose psychischer
Störungen
Ausmaß sozialphobischer
Symptomatik
Verfahren
Demografischer Fragebogen
SKID-I (dt.: Wittchen et al., 1997)
Social Phobia Scale (SPS) und Social Interaction
Anxiety Inventory (SIAS; dt.: Stangier et al.,
1999), Social Phobia and Anxiety Inventory
(SPAI; dt.: Fydrich, Scheurich & Kasten, 1995)
Depressivität
Beck Depressionsinventar (dt.: Hautzinger, Bailer, Worall & Keller, 1994)
Vermeidungsverhalten
Liebowitz Social Anxiety Scale (LSAS; dt.: Stangier & Heidenreich, 2005)
Sicherheitsverhalten
Fragebogen zu sozialphobischem Verhalten
(SPV; dt.: Stangier, Liefke & Heidenreich, 2003)
Selbstaufmerksamkeit
Fragebogen zur Dysfunktionalen und Funktionalen Selbstaufmerksamkeit (DFS; Hoyer, 2000)
Performanz in sozialen Verhaltenstests (BAT; Selbst- und Fremdrating)
Situationen
Häufigkeit, Dauer und Ecological Momentary Assessment (EMA) - eArt sozialer Kontakte
lektronisches Tagebuch
153
Messzeitpunkt
(T)
1 2 3 4
x
x
x x
x x x x
x x x x
x
x x
x
x x
x
x x
x
x x
x
x x
Aufmerksamkeitstraining bei Sozialer Phobie
Als Verhaltensprobe wurden zwei sozialphobisch relevante Situationen simuliert,
welche die Teilnehmer bewältigen sollten. Dabei handelte es sich um ein Interaktions- und ein Leistungsparadigma. In Anlehnung an die Paradigmen von Fydrich,
Chambless, Perry, Bürgener und Beazley (1998) sowie Beidel, Turner, Jacob und
Cooley (1989) wurde zunächst die Aufgabe gestellt, ein Gespräch mit einer fremden
Person zu initiieren und für drei Minuten aufrecht zu erhalten. Die vorab geschulten
Interaktionspartner (verschiedene zu den drei Messzeitpunkten) und die Teilnehmer selbst schätzten anschließend die Angst und Performanz in der Situation ein.
Zur Simulation einer Leistungssituation wurden die Teilnehmer aufgefordert, nach
kurzer Vorbereitung von drei Minuten eine freie Rede vor Publikum zu halten. Auch
hier erfolgte eine Beurteilung der Angst und der Performanz der Teilnehmer durch
diese selbst und die Beobachter. Im Falle eines unzureichenden Informationsgehalts
der globalen Ratings sind weiterführende Analysen der Videos auf Mikroprozessebene anhand der Ratingskala für Soziale Kompetenz (RSK; Fydrich et al., 1998) geplant.
Für die Erfassung sozialphobischen Verhaltens im Alltag (elektronische Tagebücher) wurden Handhelds der Marke Blackberry verwendet, die mit einem speziellen
Tagebuchprogramm ausgestattet wurden. Die Programmierung sah eine ereigniskontingente Sampling-Strategie vor, wobei nach jeder sozialen Interaktion, in der
die Angst der Person so groß gewesen ist, dass sie sich dadurch beeinträchtigt gefühlt hat, ein Fragebogen zu Aspekten wie Art der Interaktion (beruflich vs. privat,
selbstinitiiert vs. fremdinitiiert), Anzahl und Art der Gesprächspartner (fremde vs.
bekannte), Inhalte der Interaktion, Dauer des Verbleibs in der Situation, Ausmaß der
Angst und Einsatz von Sicherheitsverhaltensweisen initiiert werden sollte. Zusätzlich
erfolgte zeitkontingent dreimal im Verlauf des Tages und einmal an jedem Abend
eine Erhebung, bei der eine Einschätzung des Zeitraums seit der letzten Eingabe
bzw. ein verallgemeinertes Urteil zu den erlebten sozialen Interaktionen an dem
jeweiligen Tag abgefragt wurde. Der Erhebungszeitraum betrug sieben Tage.
Intervention
Das Aufmerksamkeitstraining (AT) basierte auf der erprobten dot probeMethodologie (vgl. MacLeod, Koster & Fox, 2009). Ziel des AT war die Aufmerksamkeitsabwendung der Probanden von sozial bedrohlichen Stimuli zu fördern, in diesem Fall von negativen Signalen in Gesichtsausdrücken. Zu diesem Zweck wurden
die Probanden aufgefordert, die Buchstaben Y und V, welche an Position eines von
zwei vorab präsentierten Gesichtern mit unterschiedlichem Ausdruck (sich ekelnd
vs. neutral) erschienen, möglichst schnell korrekt per Tastendruck zu identifizieren.
AT-Bedingung: Der Stimulus erschien in 80% der Fälle an Position des neutralen
Gesichts. Implizit lernten die Studienteilnehmer dadurch, die Aufmerksamkeit hin zu
neutralen Gesichtern zu lenken.
154
Aufmerksamkeitstraining bei Sozialer Phobie
Placebo-Bedingung: Der Stimulus wurde gleich häufig nach dem neutralen und nach
dem sich ekelnden Gesicht präsentiert, so dass der Gesichtsausdruck keinerlei Vorhersagewert für die Position des Stimulus besaß
Attention Bias - Messung: Das Training wurde wie in der Placebo-Bedingung dargeboten, jedoch waren die erscheinenden Gesichter voll randomisiert. Anhand der
Reaktionszeit-Differenz wurde das Ausmaß des AB ermittelt.
5.6
Ergebnisse
Es zeigte sich, dass das Aufmerksamkeitstraining keinerlei differenziellen Effekte in
der Trainings- und der Kontrollgruppe hervorbrachte, das heißt es erwies sich als
nicht wirksam. Die Studie stellt somit die Anwendung internetbasierter Aufmerksamkeitstrainings für Soziale Phobie in Frage und weist auf Lücken im bisherigen
Forschungsstand hin. Zu den Nebenfragestellungen wie der Verhaltensrelevanz der
Effekte und den Gender-Fragen liegen zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Ergebnisse
vor, die entsprechenden Analysen sind jedoch in Vorbereitung und sollen zeitnah
erfolgen. Die Geschlechterverteilung in den Untersuchungsgruppen belief sich auf
57% Frauen in der Trainingsgruppe und 75% Frauen in der Kontrollgruppe. Dieser
Unterschied stellte sich als statistisch nicht signifikant heraus.
5.7
Literatur
Amir, N., Beard, C., Taylor, C.T., Klumpp, H., Elias, J. & Burns, M. (2009). Attention
training with Generalized Social Phobia: A randomized controlled trial. Journal of
Consulting and Clinical Psychology, 77, 961-973.
Beidel, D.C., Turner, S.M., Jacob, R.G. & Cooley, M.R. (1989). Assessment of Social
Phobia: Reliability of an Impromptu Speech Task. Journal of Anxiety Disorder, 3,
149-158.
Fydrich, T., Chambless, D.L., Perry, K.J., Buergener, F. & Beazley, M.B. (1998).
Behavioral assessment of social performance: a rating system for social phobia.
Behaviour Research and Therapy, 36, 995-1010.
Fydrich, T., Scheurich, A. & Kasten, E. (1995). Fragebogen zur Sozialen Angst. Deutsche Bearbeitung des Social Phobia and Anxiety Inventory (SPAI) von Turner und
Beidel. Heidelberg: Psychologisches Institut der Universität.
Hautzinger, M., Bailer, M., Worall, H. & Keller, F. (1994). Beck-Depressions-Inventar
(BDI). Bearbeitung der deutschen Ausgabe. Testhandbuch. Bern: Huber.
Hoyer, J. (2000). Der Fragebogen zur Dysfunktionalen und Funktionalen Selbstaufmerksamkeit (DFS): Theoretisches Konzept und Befunde zur Reliabilität und Validität. Diagnostica, 46, 140-148.
155
Aufmerksamkeitstraining bei Sozialer Phobie
Schmidt, N.B., Richey, J.A., Buckner, J.D. & Timpano, K.R. (2009). Attention training
for Generalized Social Anxiety Disorder. Journal of Abnormal Psychology, 118, 514.
Stangier, U. & Heidenreich, T. (2005). Die Liebowitz Soziale Angst-Skala (LSAS). In
Collegium Internationale Psychiatriae Scalarum CIPS (Hrsg.), Internationale Skalen für Psychiatrie. Göttingen: Beltz.
Stangier, U., Heidenreich, T., Berardi, A., Golbs, U. & Hoyer, J. (1999). Die Erfassung
sozialer Phobie durch die Social Interaction Anxiety Scale (SIAS) und die Social
Phobia Scale (SPS). Zeitschrift für Klinische Psychologie, 28, 28-36.
Stangier, U., Liefke, S. & Heidenreich, T. (2003). Fragebogen zu sozialphobischem
Verhalten. In: J. Hoyer & J. Margraf (Hrsg.), Angstdiagnostik - Grundlagen und
Testverfahren (S. 255-258). Berlin: Springer.
Wittchen, H.-U., Wunderlich, U., Gruschwitz, S. & Zaudig, M. (1997). SKID-I. Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV. Achse I: Psychische Störungen. Interviewheft. Göttingen: Hogrefe.
Publikationen
Von Auer, M., Neubauer, K., Murray, E., Petermann, F., Gerlach, A. L. & Helbig-Lang,
S. (2011). Alles eine Frage der Aufmerksamkeit? Übersicht zu Effekten der computergestützten Modifikation von Aufmerksamkeitsverzerrungen auf Ängstlichkeit und Angststörungen. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 59, 213-225.
156
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
6
Vorstudie zum Langzeitverlauf der ADHS im
Kindesalter
6.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. med. Edeltraut Garbe (hauptverantwortlich), Institut für Epidemiologie und
Präventionsforschung GmbH, Prof. Dr. Ulrike Petermann, Prof. Dr. Dr. Tobias Banaschewski, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, Prof. Dr. Franz Petermann
MitarbeiterInnen
Christine Kersting, Dr. Ina Schreyer-Mehlhop, Dipl.-Psych. Lars Tischler
Zeitraum
01.10.2008 - 31.03.2012
Finanzierung
BMBF
6.2
Zusammenfassung
Ziel des Projekts „Pilot Study of the German Population Based Long Term Follow-up
of ADHD (GEPOLO-ADHD)“ war die Vorbereitung einer großen Kohortenstudie, die
den Langzeitverlauf der Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (AHDS)
untersucht. Im Rahmen dieser Pilotstudie wurden folgende drei Fragestellungen
behandelt:
In der Datenbankpilotkohortenstudie sollten Prädiktoren des Krankheitsverlaufs
anhand von Krankenkassenabrechnungsdaten ermittelt werden. Ein Schwerpunkt
lag auf der Auswertung der Häufigkeit von Verletzungen und der Inanspruchnahme
des Gesundheitssystems. Dabei wurden verschiedene Prädiktoren wie z.B. Geschlecht, Wohnregion, Alter oder Sozialstatus der Eltern in den Analysen berücksichtigt. Die zweite Teilstudie untersuchte die Fragestellung, ob eine medikamentöse Versorgung von Kindern mit ADHS das Verletzungsrisiko beeinflusst. Die dritte
Studie (Feldstudie) prüfte die Möglichkeit, Versicherte aus der Krankenversichertenprobe für die Teilnahme an einer Studie zu ADHS zu rekrutieren. Hierbei wurden
157
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
neben einer bundesweiten Stichprobe auch Versicherte aus Bremen und Mannheim
für zwei regionale Stichproben rekrutiert. Ein Ziel der Studie war es, die Güte der
ADHS-Diagnose in Abrechnungsdaten zu bestimmen. Des Weiteren wurde die Eignung verschiedener Instrumente für die Telefonbefragung getestet.
6.3
Stand der Forschung
ADHS ist eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen des Kindes und Jugendalters weltweit und in Deutschland. Nach einer Meta-Analyse aus dem Jahr 2007
wird von einer weltweiten Prävalenz von 5,29% bei den unter 18-Jährigen ausgegangen, mit einer erheblichen Variation zwischen den einzelnen Studien (Polanczyk,
de Lima, Horta, Biederman & Rohde, 2007). Die bisherigen Studien mit Primärdaten
beschäftigen sich hauptsächlich mit der Diagnosestellung oder Behandlung von
ADHS (Becker et al., 2006; Preuss et al., 2006). Hingegen fehlen in der aktuellen Forschung Längsschnittstudien, die z.B. die Persistenz von ADHS in das Erwachsenenalter zu untersuchen erlauben. Populationsbasierte repräsentative Studien zu ADHS
und dessen Verlauf sind bisher nicht bekannt.
Der Zusammenhang zwischen ADHS und einem erhöhtem Unfallrisiko ist in mehreren Studien belegt und wurde in die Erklärung der Definition von ADHS nach der
ICD-10 aufgenommen. Merrill und Kollegen (2009) untersuchten in einer retrospektiven Kohortenstudie, basierend auf Krankenversicherungsdaten, den Zusammenhang zwischen ADHS und einer erhöhten Unfallgefahr. Sie benutzten dazu Daten
der Jahre 1998 bis 2005 aller Versicherten im Alter von 0 bis 64 Jahren. Verletzungen wurden anhand der Oberkategorien des ICD-9800 - 957.00 Diagnosen abgebildet. Nach Adjustierung für Alter, Geschlecht und Einkommen war das Risiko für
ADHS-Erkrankte um das 1,5-fache erhöht im Vergleich zu Nicht-Betroffenen. Zudem
sahen sie eine Altersabhängigkeit: Verglichen zu den ADHS Nicht-Erkrankten wurde
in der Gruppe der 0- bis 4-Jährigen sowie der 20- bis 64-jährigen Patienten mit
ADHS ein höheres Risiko, eine Verletzung zu erleiden, gefunden. ADHS zeigte die
stärkste Risikoerhöhung für intrakraniale Verletzungen, gefolgt von Verletzungen
der Blutgefäße, Spätfolgen von Verletzungen, Vergiftungen und toxischen Effekten
und inneren Verletzungen des Thorax, Abdomens und des Beckens. Ebenso war der
Schweregrad der Verletzungen positiv assoziiert mit einer ADHS-Diagnose. Schwere
Verletzungen, definiert als Verletzungen des Schädels, inklusive Frakturen und Verletzungen des Rückenmarks, waren 3-mal häufiger in ADHS-betroffenen Versicherten als in nicht-betroffenen Versicherten. Frühere Studien konnten insbesondere
ein Zusammenhang zwischen Verbrennungen, Verletzungen des Kopfes und Vergiftungen zeigen. Brehaut und Kollegen (2003) berichteten in einer populationsbasierten Kohortenstudie auf Grundlage von Abrechnungsdaten, welche Kinder im Alter
von 0 bis 19 Jahren eingeschlossen hat, von einer 1,7-fach erhöhten Chance von
158
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
Kindern und Jugendlichen mit ADHS eine Verletzung zu erleiden. Vergiftungen und
toxische Wirkungen zeigten den stärksten Zusammenhang mit ADHS mit einem
Odds Ratio (OR) von 2,67, gefolgt von Verbrennungen und offenen Wunden. In einer häufig zitierten Studie aus dem Jahre 1998 des Autorenteams DiScala et al.
(1998) basierend auf Traumaregisterdaten hatten Kinder und Jugendliche im Alter
von 5 bis 14 Jahren mit ADHS ein 10-fach höheres Risiko aufgrund einer selbst herbei geführten Verletzung in das Krankenhaus eingeliefert zu werden als Kinder und
Jugendliche ohne ADHS. Kopfverletzungen traten signifikant häufiger (52.9% versus
41.1%) bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS auf; ebenso waren die aufgetretenen Verletzungen schwerer, führten zu längeren Krankenhausaufenthalten.
6.4
Ziele
Auf Grundlage von GePaRD wird es möglich sein, mit einer ausreichend großen
Stichprobengröße das Krankheitsbild ADHS und seine Prädiktoren zu erforschen. Im
Rahmen der Pilotkohorte wird abweichend von dem ursprünglichen Langantrag
zunächst nicht der Schwerpunkt auf der Analyse des Verlaufs von ADHS liegen, sondern auf vorbereitenden Arbeiten, obwohl exemplarisch werden einzelne Fragestellungen der zukünftigen Kohorte untersucht. Der relativ beschränkte Zeitraum (max.
vier Jahre ab Erstdiagnose) limitiert die Möglichkeiten der Aussage zum Langzeitverlauf von ADHS. Im Rahmen von eigenfinanzierten Arbeiten werden solche Auswertungen fortgeführt. Die Genehmigung der Studie erstreckt sich auf die Jahre bis
2018. Mit Hilfe des längeren Follow-Ups werden wir die Versorgung von Kindern mit
ADHS am Übergang in der Volljährigkeit besser erfassen können.
6.5
Methodisches Vorgehen
Datenbankpilotkohortenstudie
Im Rahmen der Datenbankstudie wurden die Inanspruchnahme der Versorgung
sowie das Risiko für Hospitalisierungen aufgrund von Verletzungen und die Persistenz der ADHS-Diagnose in einem Zeitraum von vier Jahren analysiert. Grundlage
der Datenbankstudie waren die Daten der am Projekt teilnehmenden Kassen, die
zum Zeitpunkt der Ziehung in GePaRD zur Verfügung standen. Die Zusammenstellung der Kohorte erfolgte im Design einer 1:1 gematchten Kohortenstudie. Zunächst
wurden potentielle Studienteilnehmer identifiziert, die im Rekrutierungszeitraum
die Einschlusskriterien erfüllten. Unter diesen wurden Kinder mit inzidentem ADHS
identifiziert. Diesen wurden 1:1-gematchte Kontrollen zugewiesen (nach Geschlecht, Alter (bei Rekrutierung), Wohnregion (Kreis), Krankenversicherung). Diese
gematchten Paare bildeten dann die Studienkohorte. Das Eintrittsdatum in die Ko159
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
horte (=Rekrutierungszeitpunkt) eines gematchten Paares wurde durch das Indexdatum des ADHS-Falles bestimmt.
Die Inanspruchnahme von ambulanter Versorgung wurde auf Basis von Quartalsabrechnungen je Fall und Arzt, die von stationärer Versorgung auf der Basis von Daten
zu Hospitalisierungen, untersucht. Die Rate der Hospitalisierungen bzw. ambulanter
Arztbesuche wurde jeweils mittels multivariabler Poisson Regression analysiert und
Rate Ratios (RR) der betrachteten Ereignisse mit zugehörigen 95% Konfidenzintervallen (KI) bestimmt. Jegliche Hospitalisierung einer Person, deren Einweisungsdatum innerhalb des individuellen Follow-up lag, wurde unabhängig von den vorliegenden Diagnosen als Ereignis berücksichtigt. Bei der ambulanten Versorgung wurden die Arztbesuche je Arzt (identifiziert über eine pseudonymisierte Arzt-ID) quartalsweise gezählt. Anschließend wurden die Raten der Hospitalisierung und der ambulanten Arztbesuche bestimmt.
In den Regressionsmodellen wurden die Faktoren ADHS-Status, Geschlecht, aktuelles Alter, Wohnregion und Kalenderjahr sowie Wechselwirkungen des ADHS-Status
mit jeweils Geschlecht berücksichtigt. Alle zu diesen Hospitalisierungen kodierten
Haupt-und Nebendiagnosen wurden entsprechend der Injury Mortality Diagnostic
(IMD) Matrix (Fingerhut & Warner, 2006) nach Körperregion bzw. Art der Verletzung kategorisiert. Mithilfe einer multivariablen Cox-Regression wurde jeweils die
Zeit vom Eintritt in die Kohorte bis zur ersten Krankenhausaufnahme mit einer Verletzungsdiagnose analysiert. Im Regressionsmodell wurden die Einflussgrößen
ADHS-Status, Geschlecht, aktuelles Alter und die Wechselwirkung zwischen Geschlecht und ADHS-Status betrachtet. Die Regressionsergebnisse wurden als Hazard
Ratios (HR) mit zugehörigen 95% KI angegeben.
Die Persistenz wurde als das Vorhandensein von ambulanten und stationären Diagnosen von ADHS bzw. ADHS-typischer Medikation operationalisiert. Dazu wurde für
jedes Kalenderjahr bestimmt, ob mindestens eine der Diagnosen F90.0, F90.1 oder
F90.9 ambulant oder stationär berichtet wurden oder ob mindestens eine Verschreibung von ATX oder MPH auftrat (=1) oder nicht (=0). Anhand der Abfolge von
Jahren mit Diagnosen haben wir vier Muster definiert: durchgehende Diagnosen in
allen fünf Jahren (bezeichnet als Muster 11111), Diagnose nur im ersten Jahr und
danach keine weitere Diagnose (Muster 10000), Diagnosen in den ersten zwei Jahren und danach keine weiteren Diagnosen (Muster 11000) und alle restlichen Muster (Muster „andere“). In einer multinomialen logistischen Regressionsanalyse wurde der Einfluss von Geschlecht, Alter bei Diagnose, Bildung des Hauptversicherten,
psychiatrischer Komorbidität und ADHS-Typ auf die jeweiligen Persistenzmuster
untersucht. Die Bestimmung der psychiatrischen Komorbidität basierte auf den Diagnosen der Gruppen F80-89 und F91-99 im Quartal der ADHS-Erstdiagnose und in
den 3 Quartalen davor. Die Ergebnisse der multinomialen logistischen Regression
wurden als Odds Ratios (OR) mit zugehörigen 95% KI angegeben. Die Analysen
erfolgten im Case-Crossover (CCO) und Self-Controlled Case-Series (SCCS) Design.
160
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
Case-Only Studien
Für die Case-Only Studien wurden ADHS-Fälle aus der Datenbankstudie in den Jahren 2005 und 2006 ausgewählt. Zusätzlich musste bei diesen Fällen im gesamten
Follow-up zumindest eine stationäre Aufnahme mit einer Verletzungsdiagnose vorliegen. Im nächsten Schritt wurden zu diesen Fällen alle Verschreibungen von MPH
und ATX extrahiert. Ein Patient galt als unter Therapie an einem bestimmten Tag,
wenn die letzte Verschreibung weniger Tage als die Anzahl der verschriebenen Tabletten zurücklag. Damit wurde implizit angenommen, dass nur eine Tablette eine
Tagesdosis bedeutet. Im Rahmen von Sensitivitätsanalysen erfolgte neben der Auswertung von allen Verletzungsdiagnosen auch eine Einschränkung auf nur die stationären Aufnahmen wegen Hirnverletzungsdiagnosen (Studienpopulation 2). Weiterhin wurde das Altersspektrum in einer weiteren Analyse auf die 9-bis 10-jährigen
eingeschränkt, um die Gruppe homogener zu machen. Alle Analysen wurden jeweils
mit beiden Methoden (CCO und SCCS) durchgeführt.
Feldstudie
Kinder mit und ohne ADHS wurden in der Datenbank identifiziert und die von den
Krankenkassen gelieferten pseudonymisierten IDs dieser Kinder an die Krankenkassen rückübermittelt. Die angebotenen Studienelemente: Telefoninterviews, das
Ausfüllen von Fragebögen und eine Speichelprobe des Kindes (nur für AOK Versicherte) konnten einzeln gewählt werden.
Im Vorfeld der Studie wurde ein umfangreicher Fragebogen für das erste Telefoninterview (als Computer Assisted Telephone Interview (CATI)) durch das BIPS entwickelt. Die Eltern wurden im Interview gebeten, Fragen zur Familien-und Schulsituation, zum Medienkonsum, zu Schlafgewohnheiten und Fragen zur ADHS-Diagnose
und Therapie ihres Kindes zu beantworten. Zusätzlich erfragt wurde der Fremdbeurteilungsbogen für Eltern, Lehrer und Erzieher (FBB-ADHS) zu Symptomkriterien nach
ICD-10, der „Strengths and Difficulties Questionnaire“ (SDQ) zu emotionalem Verhalten, Verhaltensproblemen und Hyperaktivität und die „Wender Utah Rating Scale“ (WURS-K) zur retrospektiven Erfassung kindlicher ADHS-Phänomene und zu
Symptomen des Kindesalters. Der SDQ wurde bei der Hälfte der Teilnehmer telefonisch und bei einem anderen schriftlich abgefragt, um die Gleichwertigkeit beider
Befragungsmodi zu überprüfen. Zudem wurde jedem Studienteilnehmer der Child
Health Questionnaire (CHQ) zugeschickt. Die Teilnehmer-/innen der AOK Krankenkasse erhielten außerdem ein Speichelkit, das Oragene® DNA Selbstabgabe-Test-Kit,
zusammen mit einer detaillierten Beschreibung zur Handhabung. Das Röhrchen mit
der Speichelprobe versendeten die Eltern in einem voradressierten und frankierten
Rückumschlag direkt an das Labor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in
Mannheim zur genetischen Analyse.
Einschlusskriterien. Eingeschlossen wurden Fälle und nach Alter, Geschlecht und
161
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
Krankenkasse gematchte Kontrollen, die zum Zeitpunkt der Diagnosestellung fünf
bis neun Jahre alt waren. Die Alterseinschränkung wurde auf Wunsch der Kooperationspartner, die die kinderpsychologische Untersuchung bei diesen Kindern durchgeführt haben (ZKPR Bremen und ZI Mannheim), vorgenommen und war darin begründet, dass für einige der verwendeten Instrumente die Kinder zum Zeitpunkt der
Datenerhebung nicht älter als 13 Jahre sein durften.
Datenbankstudie
In dem Rekrutierungszeitraum von 2005 bis 2007 wurden 75.300 Kinder und Jugendliche in die Kohorte aufgenommen. Davon waren 75,42% (N=56.794) männlich.
Bei Studieneintritt war die Mehrheit der eingeschlossenen Versicherten sowohl bei
Mädchen als auch bei Jungen 8 Jahre alt. Die Altersverteilung war bei den Mädchen
leicht zum höheren Alter hin verschoben. Die Studienpopulation wurde aus dem
gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gezogen, dementsprechend waren die bevölkerungsstarken Bundesländer am stärksten vertreten. Insgesamt konnten 254.985,63 (192.189 Jungen und 62.796,08 Mädchen) Personenjahre in die Betrachtung eingeschlossen werden. Die meisten Personenjahre (98.710 Personenjahre) entfielen auf die Gruppe der 9 -<12-jährigen, gefolgt von der Altersgruppe der
12 -<15-jährigen (62.002 Personenjahre). In der jüngsten (3 -<6) und ältesten Altersgruppe (18+) gab es die wenigsten Personenjahre.
In dem Zeitraum von 2005 bis 2009 wurden insgesamt 1.643.678 ambulante Arztbesuche in der Kohorte identifiziert. Jungen gingen dabei mehr als doppelt so häufig
zum Arzt wie Mädchen. Betrachtet man die Arztkontakte in den einzelnen Altersgruppen, so zeigte sich die höchste Kontaktdichte in der Altersgruppe der 9 bis 12Jährigen. Während Kinder ohne ADHS 632.149 Arztkontakte zeigten, konnten für
Kinder mit ADHS 1.011.529 Arztkontakte ermittelt werden. In jeder Altersgruppe
war die Häufigkeit für die Kinder mit ADHS um 1/3 erhöht im Vergleich zu Kindern
ohne ADHS. Die Rate der Arztbesuche für die gesamte Kohorte nahm in dem Studienzeitraum von 2005 bis 2009 ab und zeigte zwischen den Bundesländern nur
geringfügige Unterschiede. Hingegen unterschied sich die Anzahl der Arztbesuche
zwischen Mädchen und Jungen in Abhängigkeit vom Alter. Während bei Mädchen
nach einer Abnahme der Arztbesuche bis zum 12. Lebensjahr die Anzahl mit steigendem Alter wieder zunahm, und die Kurve eine U-Form annahm, war bei Jungen
eine kontinuierliche Abnahme der Arztbesuche zu sehen. Sowohl bei Jungen als
auch bei Mädchen wurde die Rate Ratio der Arztbesuche signifikant durch das Vorliegen von ADHS beeinflusst. Dieses zeigte sich für alle Altersgruppen, wobei die
jüngeren Altersgruppen der 6-< 9 und 9-<12-jährigen in einem höherem Ausmaß
beeinflusst waren als die älteren Altersgruppen der 15-<18 und über 18-jährigen
Kinder und Jugendlichen.
Insgesamt wurden 30.041 Hospitalisierungen in der Kohorte identifiziert. Kinder und
Jugendliche mit ADHS wurden fast doppelt so häufig stationär aufgenommen wie
162
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
Kinder und Jugendliche ohne ADHS (19.603 versus 10.438). Entsprechend der Geschlechtsverteilung der Kohorte unterschied sich in der Gruppe der Kinder mit als
auch ohne ADHS die Anzahl der Hospitalisierungen zwischen den Geschlechtern um
den Faktor 3 (Kinder mit ADHS: 14.192 Aufnahmen bei Jungen versus 5.111 bei
Mädchen; Kinder ohne ADHS: 7.970 Aufnahmen bei Jungen versus 2.468 bei Mädchen). Diese Unterschiede wurden auch beim Vergleich der Altersgruppen sichtbar.
Geringere Unterschiede zwischen Kindern mit ADHS und ohne ADHS wurden in den
mittleren Alterskategorien der 9-< 12und 12-< 15-jährigen beobachtet, während
sich in den Altersgruppen der 3-bis 6-Jährigen Unterschiede bis zu Faktor 3 zeigten.
In allen Altersgruppen zeigte sich eine deutliche Risikoerhöhung durch ADHS. Besonders erhöht war das Risiko in der Altersgruppe der 3 - 6-jährigen Kinder.
Es wurden 3.479 Hospitalisierungen mit einer Verletzungsdiagnose aus der IMD
Matrix identifiziert. Sowohl bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS als auch bei
solchen ohne ADHS gab es mehr stationäre Aufnahmen bei Jungen als bei Mädchen.
Kinder und Jugendliche mit ADHS hatten generell ein höheres Risiko aufgrund einer
Verletzung stationär ins Krankenhaus aufgenommen zu werden als Kinder und Jugendliche ohne ADHS. Frakturen, innere Organverletzungen, offene Wunden und
Prellungen waren dabei die häufigsten Arten der Verletzungen, die zu einer Aufnahme ins Krankenhaus führten. Jungen mit ADHS zeigten jeweils die höchsten Risiken für die meisten Verletzungen.
Bei Mädchen und Jungen zeigten die bei Diagnose 3- bis bis 5-jährigen und 6- bis 8jährigen Kinder ein höheres Risiko für lange ADHS-Persistenz als Kinder, die bei der
Erstdiagnose von ADHS schon älter waren. Das geringste Risiko für eine über 5 Jahre
durchgängige ADHS-Persistenz zeigten die bei Diagnose 15-bis 17-Jährigen. Ähnlich
verhielt es sich mit dem Risiko für Lücken in der ADHS-Persistenz. Ein Risikogradient
mit steigendem Bildungsniveau der Eltern für lange oder für lückenhafte ADHSPersistenz war weder bei Jungen noch bei Mädchen zu beobachten. Jungen mit einer F90.1 Diagnose im Jahr nach ADHS-Erstdiagnose zeigten eine klare Tendenz zu
längeren ADHS-Persistenzen gegenüber Kindern ohne eine solche F90.1 Diagnose.
Bei Mädchen trat die gleiche Tendenz auf, war aber weniger stark ausgeprägt. Im
Vergleich zu Jungen ohne psychiatrische Komorbiditäten aus den Gruppen F80-89
und F91-99 zeigten diejenigen Jungen, die aus beiden Gruppen mindestens eine
Diagnose aufwiesen, ein erhöhtes Risiko für eine längere ADHS-Persistenz (11111)
oder andere Persistenzmuster außer 10000 und 11000). Bei Mädchen konnte dieser
Effekt nicht beobachtet werden. In einer gemeinsamen Analyse von beiden Geschlechtern wiesen Mädchen gegenüber Jungen ein geringeres Risiko für eine längere ADHS-Persistenz (=Persistenzmuster 11111) bzw. zeitliche Lücken (alle Persistenzmuster außer 11111, 10000 und 11000) in der ADHS-Persistenz auf.
Case-Only Studie
Am stärksten vertreten waren die Altersgruppen 7 bis 11 Jahre in beiden Studien163
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
populationen; jeweils ein Fünftel waren Mädchen. Beide Auswertungsdesigns (CCO,
SCCS) zeigten tendenziell eine Risikoreduktion aufgrund der Medikamenteneinnahme, in den meisten Fällen waren die Ergebnisse jedoch nicht auf dem 5%Signifikanzniveau signifikant. Lediglich bei den Hirnverletzungen zeigte sich ein klarer protektiver Effekt im SCCS Design, während ein derartiger Medikamenteneffekt
im CCO Design nicht zu beobachten war. Interessanterweise verschwand dieser
schützende Effekt im SCCS Design in der Analyse, die auf nur 9- bis 10-jährige beschränkt war. Angesichts des deutlich breiteren KI in dieser Untergruppe bedeutet
dies jedoch nicht notwendigerweise, dass der protektive Effekt nicht vorhanden ist.
Zwar wurde die zusätzliche Analyse durchgeführt, um besser das typische SCCS Design abzubilden, wonach alle Teilnehmer über eine in etwa gleiche Altersperiode
betrachtet werden, dieses konservative Kriterium schränkte die Studienteilnehmerzahl aber so erheblich an, dass eine präzise Aussage zum Risiko nicht mehr möglich
war.
Feldstudie
Insgesamt willigten 211 Personen ein, an der Studie teilzunehmen. Mit 195 Eltern
wurden Telefoninterviews durchgeführt, davon 22 mit AOK Versicherten und 173
mit TK Versicherten. Von den TK-Versicherten haben sieben Teilnehmende, die
nicht bereit waren, ein telefonisches Interview zu führen, den Fragebogen nach Zusendung schriftlich ausgefüllt. In der AOK-Stichprobe lag der Rücklauf bei 13%, nach
zweimaligem Anschreiben und telefonischer Nachfassaktion. Von den 168 angeschriebenen Versicherten haben 22 Personen an der Studie teilgenommen. In der
TK-Stichprobe betrug der Rücklauf 16%. Von 1120 angeschriebenen Versicherten
(es war eine Nachziehung erfolgt) nahmen 180 an der Studie teil. Insgesamt nahmen 15,7% aller angeschriebenen AOK-und TK-Versicherten an der Studie teil. Die
Bereitschaft, die selbst auszufüllenden Fragebögen zusätzlich zu dem durchgeführten Telefoninterview zurückzuschicken, war insgesamt sehr hoch, von den versendeten 195 Fragebögen kamen 192 zurück. Mit der kinderpsychologischen Untersuchung in Bremen waren 21 Versicherte der AOK Bremen/Bremerhaven und 20 Versicherte der TK Bremen einverstanden. Der kinderpsychologischen Untersuchung in
Mannheim haben 44 Versicherte der TK Mannheim zugestimmt. Insgesamt wurden
im Rahmen der Feldstudie 138 Kinder untersucht. 107 davon in oder von Mannheim
aus und 34 in Bremen. Es gab insgesamt drei unterschiedliche Untersuchungsgruppen, die zuerst nach geplanter Untersuchungsdurchführung eingeteilt wurden (Variante A, B und C):
•
•
•
Variante A (1. Face-to-Face Interview, 2. Telefoninterview),
Variante B (1. Telefoninterview, 2. Face-to-Face Interview) und
Variante C (Telefoninterview)
In einem zweiten Schritt, der als Grundlage der vorliegenden statistischen Berechnungen dient, erfolgte eine Gruppeneinteilung nach tatsächlich durchgeführten
164
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
Untersuchungen. Die Probanden, die Face-to-Face interviewt wurden, waren in
zwei Gruppen aufgeteilt, um Effekte der Reihenfolge bei der Telefon-versus Face-toFace-Vorgabe des K-SADS-PL zu kontrollieren. Zusätzlich wurden Probanden ausschließlich am Telefon interviewt.
Aus Mannheim liegen 24 vollständige Fälle vor, bei denen sowohl das Face-to-Faceals auch das Telefoninterview durchgeführt wurden. Zehn Telefoninterviews mit
Patienten, die zuerst Face-to-Face interviewt wurden, konnten nicht durchgeführt
werden, da die Probanden zu einem erneuten Interview nicht bereit waren. Des
Weiteren wurden 73 Patienten bundesweit telefonisch interviewt. Es lagen noch
Kontaktdaten für ca. 45 weitere Familien vor. Diese Probanden waren zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme entweder nicht erreichbar oder zu einer Teilnahme
nicht mehr bereit.
Stichprobenbeschreibung Mannheim. Von den 107 teilnehmenden Kindern waren
60,7 % männlich (N = 65) und 39,3 % weiblich (N = 42). Die Kinder waren im Durchschnitt 11,51 (SD=1,48) Jahre als. Das jüngste Kind war 7 Jahre, das älteste Kind 15
Jahre alt.
Eingesetzte Instrumente
Als Diagnoseinstrument wurde die deutsche Forschungsversion des Kiddie-SadsPresent and Lifetime Version (K-SADS-PL) eingesetzt (Delmo, Weiffenbach, Gabriel,
Stadler & Poustka, 2000). Das KSADS-PL stellt ein semistrukturiertes diagnostisches
Interview dar, welches zur Erfassung gegenwärtiger und zurückliegender Episoden
von psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt wird. In der
testpsychologischen Untersuchung bearbeiteten die Kinder jeweils die Wechsler
Intelligence Scale for Children (WISC-IV) (Petermann & Petermann, 2011) sowie
ausgewählte Subtests der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) (Zimmermann & Zimm, 2009). Des Weiteren durchlief jedes Kind die Testbatterie zur
Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) von Zimmermann und Fimm (2009). Dieses computergestützte Verfahren wird zur neuropsychologischen Erhebung der Aufmerksamkeitsleistung genutzt. Es wird die Aufmerksamkeitsteuerung (Reizunterdrückung,
Aufmerksamkeitsteilung, Reaktionswechsel) und die Aufmerksamkeitskraft (Aktivierungsbereitschaft, Daueraufmerksamkeit, Vigilanz) bestimmt. In der Studie wurden
fünf (in Mannheim) bzw. sechs (in Bremen) Untertests eingesetzt, welche Reliabilitäten über .90 (Split-Half-Reliabilität) haben.
6.6
Ergebnisse
Über alle 138 Studienteilnehmer wurde auf der Grundlage des K-SADS-PL im Faceto-Face-Interview in 25,8% die Diagnose F90 „Hyperkinetische Störung“ (ICD-10)
165
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
vergeben. Von den Probanden die ausschließlich am Telefon interviewt wurden,
erhielten 23,3% die Diagnose F90 „Hyperkinetische Störung“ (ICD-10). Die Diagnose
F91 „Störung die Sozialverhaltens“ (ICD-10) wurde insgesamt nur drei Mal überhaupt vergeben, so dass eine statistische Auswertung nicht sinnvoll ist. Die Ergebnisse im WISC-IV liegen mit einem Mittelwert von M = 104,52 (SD = 15,74) über alle
Studienteilnehmer hinweg im durchschnittlichen Bereich. Die erreichten Ergebnisse
in der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung (TAP) sind ebenfalls für alle ausgewerteten Kennwerte durchschnittlich.
Übereinstimmung der Diagnosen nach Krankenkassendaten und Kiddie-Sads. Es
zeigt sich, dass 36,8% der positiven ADHS-Diagnosen mit den Ergebnissen des Faceto-Face-Interviews übereinstimmen. In 63,2% der ADHS-Fälle nach Krankenkasse
ergab das K-SADS-Interview keine Diagnosestellung. Umgekehrt blieb die K-SADSDiagnose in 90,9% der Kontrollkinder leer. Lediglich zwei Kontrollkinder (9,1%) wurden im Interview als ADHS-Patienten identifiziert. In der Gruppe der Telefoninterviews stimmte die Diagnose einer ADHS in 36,1% der Fälle überein. In 63,9% der
Fälle wurde die Diagnose der Krankenkasse durch das Interview nicht bestätigt. Von
den Kontrollkindern wurden im Telefoninterview 96,6% als unauffällig im Hinblick
auf eine ADHS-Diagnose eingeschätzt. Mittelwertsvergleiche der Ergebnisse im
WISC-IV zwischen ADHS-und Kontrollgruppe ergaben keine Unterschiede von statistischer Bedeutsamkeit (alle p > 0,05). Das heißt die Leistungen der beiden Gruppen
hinsichtlich ihrer Intelligenz differieren nicht bis nur marginal.
Gruppenunterschiede in der TAP (Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung. Die
Probanden aus ADHS-und Kontrollgruppe unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer
Ergebnisse in den Subtests der TAP. T-Tests ergaben keine statistisch signifikanten
Differenzen (ps > 0,05). Die Gruppe der ADHS-Patienten stellt hinsichtlich ihrer
Symptomatik keine homogene Stichprobe dar. Vielmehr zeigen ADHS-Patienten je
nach Alter, komorbiden Störungen und Subtypisierung sehr unterschiedliche Leistungsprofile und keine einheitlichen Defizite. Auch bei der hier untersuchten Stichprobe ist von einem heterogenen Symptombild auszugehen, was zumindest teilweise die fehlenden Leistungsunterschiede zwischen ADHS- und Kontrollgruppe erklären könnte. Des Weiteren gilt zu beachten, dass einige der Kinder zum Untersuchungszeitpunkt mediziert waren, was ihre Leistungen in beiden testpsychologischen Untersuchungen positiv beeinflusst. Die TAP stellt zudem ebenso wie der
WISC-IV kein eindeutiges Diagnoseinstrument zur Identifizierung einer ADHSProblematik dar, sondern untermauert im Einzelfall die klinisch beobachtbare und
anamnestisch erfragte Symptomatik.
Die Berechnung der positiv und negativ prädiktiven Werte erfolgte auf der Grundlage einer ADHS-Prävalenzschätzung von 5,3% (Polanczyk et al., 2007) für das Auftreten von ADHS. Der positiv prädiktive Wert als ein Maß für die Wahrscheinlichkeit,
mit der Personen, die mittels eines bestimmten Testverfahrens als krank eingestuft
wurden, auch tatsächlich krank sind fällt mit einem Wert von P=0,1088 (Telefonin166
Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
terview) bzw. P=0,0823 (Face-to-Face-Interview) gering aus. Der negativ prädiktive
Wert wird beschrieben als die Wahrscheinlichkeit, dass gesunde Personen auch
aufgrund des jeweiligen Diagnoseinstrumentes als gesund eingestuft werden. Die
Werte von P=0,9930 (Telefoninterview) bzw. P=0,9849 (Face-to-Face-Interview)
können als hoch eingestuft werden, das heißt die Wahrscheinlichkeit tatsächlich
gesunde Personen auch als solche zu erkennen ist nahezu 100%.
Genetische Tests. Dieser Studienteil sollte prüfen, inwieweit es in einem derartigen
Studienansatz möglich ist, genetisches Material der Studienteilnehmer für Studienzwecke zu gewinnen. Leider konnte dies nur bei der AOK Bremen getestet werden,
da beide großen Krankenkassen (DAK und TK) nicht an diesem Studienteil teilnahmen. Es wurde außerdem geprüft, ob das von den Studienteilnehmern als Speichelprobe gewonnene Material (mittels Oragene DNA Kits) in der Menge ausreichend
und nach dem Versand geeignet ist für genetische Analysen.
Im Rahmen dieses Forschungsprojekts wurden drei Studien mit unterschiedlichem
Studiendesign durchgeführt. Die Datenbankstudie zeigte eine ähnliche Inzidenz und
Prävalenz von ADHS wie frühere Studien in Deutschland, ermittelte ein höheres
Unfallrisiko bei ADHS-Kindern im Vergleich zu gemachten Kontrollkindern ohne
ADHS und zeigte, dass eine Diagnose von F90.1 sowie vorbestehende psychiatrische
Komorbidität wichtige Prädiktoren des weiteren Erkrankungsverlaufes sind, nicht
allerdings der Bildungsstand des Hauptversicherten. Die auf den Krankenkassendaten durchgeführte Case-Only Studie liefert Hinweise für einen protektiven Effekt der
ADHS-Medikation, das erhöhte Unfallrisiko bei ADHS-Kindern zu reduzieren. Die
Feldstudie hatte zum Ziel, die Machbarkeit einer Rekrutierung von Studienteilnehmern mit und ohne ADHS über die Krankenkassendaten zu ermitteln.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Datenbankstudien viele interessante
Einzelergebnisse zum Krankheits- und Therapieverlauf von ADHS und den Effekten
der medikamentösen Therapie in diesem Forschungsvorhaben bereit gestellt haben
und sich für weitere Untersuchungen als aussichtsreich erwiesen haben. Die Datenbankstudie hatte mit fünf Jahren ein längeres Follow-up als im Forschungsantrag
vorgesehen. Gleichwohl ist das Follow-up immer noch gering, um den Verlauf von
ADHS in das Erwachsenenalter zu beurteilen. Hierfür ist eine eigenfinanzierte Fortführung der Datenbankstudie bis zum Jahr 2018 vorgesehen, die bereits von den
Krankenkassen und Behörden genehmigt ist.
6.7
Literatur
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Langzeitverlauf der ADHS im Kindesalter
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168
Projet Prima!r
7
Luxemburger Modell zur Prävention aggressiven
Verhaltens in der Spiel- und Primarschule „Projet
Prima!r“
7.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiterinnen
Dipl.-Psych. Heike Natzke
Prof. Dr. Ute Koglin
Dr. Nandoli von Marées
KoordinatorInnen
Dipl.-Psych. Mireille Thill (Luxemburg)
Dr. phil. Heike Jacobsen (Luxemburg)
Zeitraum
1.09.2004 - 31.01.2007
Finanzierung
Service de Coordination de la Recherche et de l'Innovation Pédagogiques et
Technologiques (SCRIPT), Ministère de l'Education Nationale, de la Formation
Professionnelle et des Sports (MENFP), Luxembourg, Ville de Luxembourg, Service
de l‘Enseignement
7.2
Zusammenfassung
In einer komparativen Evaluationsstudie sollen unmittelbare und längerfristige Effekte eines Programms zur Prävention aggressiven Verhaltens von Vor- und Grundschülern in Luxemburg-City untersucht werden. Die eher bedarfsorientierte Studie
sieht die Entwicklung und Durchführung multimodaler Präventionsmaßnahmen für
Vorschüler, Erstklässler und Drittklässler vor, die systematisch aufeinander abgestimmt werden. Die universelle Komponente des Programms umfasst im Wesentli169
Projet Prima!r
chen Trainings für die gesamten Klassenverbände aller Kohorten, Schulungen und
Supervision für die Klassenlehrer, für Hort- und Heimerzieher sowie Elterntrainings.
Flankierend werden Fortbildungen und Supervisionen für Pädagogen und Behandler
bereits selektierter und in einer „classe speciale“ zusammengefasster verhaltensauffälliger Primarschüler angeboten. Es sollen insgesamt acht ortsansässige
Primarschulen beteiligt werden. Die Erhebung der Daten zu den Maßnahmen für die
Vorschul- und Erstklässler-Kohorte soll anhand von Befragungen der Schüler, Lehrer
und Eltern mit unterschiedlichen Methoden (Interview, Fragebogen) zu drei verschiedenen Messzeitpunkten (Prätest, Posttest, Follow Up nach 12 Monaten) im
Rahmen eines Kontrollgruppendesigns erfolgen. Für die Maßnahmen der Drittklässler ist eine Machbarkeitsanalyse vorgesehen. Die Einschätzung der verhaltensauffälligen „classe speciale“-Schüler“ erfolgt in Einzelfallanalysen.
7.3
Stand der Forschung
Aggressives Verhalten stellt eine der häufigsten Formen auffälligen Sozialverhaltens
bei Kindern und Jugendlichen dar, wobei das Auftreten aggressiv geprägter Verhaltensstörungen (nach ICD-10: Störungen des Sozialverhaltens) mit zunehmendem
Alter steigt. Studien zum Verlauf belegen zudem, dass aggressives Verhalten als
sehr stabil bezeichnet werden muss und sich von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter fortsetzen kann. Kinder mit aggressiv/oppositionellem Verhalten weisen ein
erhöhtes Risiko für ein dissoziales und delinquentes Verhalten im Jugendalter auf.
Webster-Stratton und Taylor (2001) machen darauf aufmerksam, dass die bedeutsamsten risikoerhöhenden Faktoren für das Auftreten aggressiv-dissozialer Verhaltensstörungen im Jugendalter
1. ein frühes Auftreten der Symptomatik,
2. Beziehungen zu massiv auffälligen Gleichaltrigen,
3. überstrenges und inkonsistentes Erziehungsverhalten der Eltern sowie mangelnde elterliche Aufsicht kindlicher Aktivitäten,
4. Schulversagen sowie mangelnde Einbindung der Schüler in die Schule sind.
Als Auslöser für aggressives Verhalten aus mikroanalytischer Perspektive werden
zudem kognitive und emotionale Faktoren diskutiert. In einer Reihe von Studien
konnte nachgewiesen werden, dass dysfunktionale Wahrnehmungs-, Interpretations- und Attributionsprozesse bei der kognitiven Verarbeitung sozialer Situationen
die Auftretensrate aggressiver Handlungen erhöhen können (Crick & Dodge, 1994;
Dodge & Schwartz, 1997). Lemerise und Arsenio (2000) betonen die bedeutsame
Rolle von Emotionen bei der Strukturierung von gedanklichen Prozessen. Da Emotionen als verstärkende oder bestrafende Handlungskonsequenzen wirken, haben sie
zusätzlich einen beträchtlichen Einfluss auf Handlungsmotivation und -auswahl. Der
Einfluss emotionaler Faktoren auf aggressives Verhalten wird durch Befunde ge170
Projet Prima!r
stützt, die bei Vorschulkindern mit externalisierenden Verhaltensausfälligkeiten
häufiger Defizite in emotionalen Kompetenzen nachweisen als bei unauffälligen
Kindern (vgl. im Überblick Petermann & Wiedebusch, 2008). Im Rahmen der Präventionsforschung zu aggressiv-dissozialen Verhaltensstörungen werden möglichst
frühzeitig einsetzende Maßnahmen gefordert (z.B. Tremblay, LeMarquand & Vitaro,
1999; Webster-Stratton & Taylor, 2001). In unterschiedlichen Studien wird darauf
hingewiesen, dass gewalttätige Jugendliche mit einer Wahrscheinlichkeit von nahezu 50% bereits im Alter von sechs Jahren und jünger identifiziert werden können
(Loeber et al., 1993; Tremblay et al. 1999).
Die Durchführung von Präventionsmaßnahmen erweist sich insbesondere kurz vor
oder kurz nach Entwicklungsübergängen (z.B. Kindergarten, Einschulung) als sinnvoll, weil die Kinder und ihre Familien während dieser Phasen erhöhter Anforderungen vermehrt Stressbelastungen ausgesetzt sind und damit einem höheren Störungsrisiko unterliegen. Insbesondere die Schuleingangsphase konnte als günstiger
Zeitpunkt identifiziert werden, um den weiteren Entwicklungsverlauf eines Kindes
frühzeitig positiv zu beeinflussen (vgl. Reid, 1993). Entwicklungspsychopathologische Befunde legen nahe, gezielte Interventionen bereits im Kindergarten durchzuführen, um ungünstigen Entwicklungen so früh wie möglich entgegen zu wirken
(Webster-Stratton & Taylor, 2001).
Es liegen eine Anzahl von schulischen Trainingsprogrammen vor, die sich entweder
auf die Veränderung von Kontextfaktoren (z.B. das Lehrerverhalten) oder von personengebundenen Faktoren (z.B. die sozialen Fertigkeiten des Kindes) stützen, um
der Entwicklung von Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten und des Sozialverhaltens vorzubeugen. Wirksame Programme mit systematisch aufeinander abgestimmten Modulen für Vorschüler, Schulanfänger und Grundschüler, wie etwa
Drittklässlern, die kontextuelle und personzentrierte Ansätze vereinigen, um zu stabilen Erfolgen zu kommen, sind im deutschen Sprachraum nur spärlich vertreten.
Die langfristige Wirksamkeit singulärer Präventionsprogramme, die entweder ausschließlich universell oder selektiv/indiziert ausgerichtet sind, ist begrenzt (z.B.
Tremblay et al., 1999). Metaanalytische Befunde sprechen daher für MehrebenenProgramme, die universelle Fördermaßnahmen für alle Kinder mit selektiven Interventionen für Risikokinder kombinieren und zudem unterschiedliche Erfahrungsbereiche (z.B. die Schule, das Elternhaus und Peer-Groups) mit einbinden (Conduct
Problems Prevention Research Group [CPPRG], 1999a, b; Horne, 2004; Tremblay et
al., 1999).
Nach Angaben Luxemburger Experten ist seit Beginn des Jahres 2004 eine signifikante Zunahme aggressiven Verhaltens bei Kindern im Primarschulalter in Luxemburg-City zu beobachten. Die steigende Häufigkeit aggressiver Handlungen zeige
sich besonders in den Schulen, sei aber auch in Luxemburger Kinderhorten, die von
ca. 40% aller Schüler in Luxemburg-City frequentiert werden, zu verzeichnen. Die
generelle Tendenz habe sich demnach besonders in einem mittelständischen Stadt171
Projet Prima!r
teil verdichtet, in dem ein Kinderheim sowie ein Internat angesiedelt sind. In dem
Kinderheim leben vor allem Kinder mit problematischem familiärem Hintergrund.
Das Internat beherbergt unter anderem Flüchtlinge aus Kriegsgebieten.
7.4
Ziele
Im Abgleich mit dem aktuellen Forschungsstand zur Prävention aggressiven Verhaltens bei Vor- und Grundschülern soll ein bedarfsgerechtes Präventionsvorhaben
gestaltet werden, das unauffällige und bereits verhaltensauffällige Kinder des Vorschul- und Grundschulbereichs in unterschiedlichen Lebensumfeldern (Vorschule,
Primarschule, Familie/familienanaloges Bezugsfeld) mithilfe kindzentrierter und
kontextorientierter Präventionsmaßnahmen erreicht, um das Auftreten aggressiven
Schülerverhaltens kurz-, mittel- und langfristig abzubauen. Die Schüler der in Luxemburg obligatorischen Vorschul- (Kindergarten), der 1. und der 3. Klassen sollen
durch universelle und altersangemessene Mediatorentrainings zur gezielten Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen angeleitet werden. Unter Berücksichtigung von bereits evaluierten effektiven Präventionsprogrammen des Zentrums für
Klinische Psychologie und Rehabilitation, wie etwa des Verhaltenstrainings für
Schulanfänger (Petermann, Natzke, Gerken & Walter, 2013), sollen aufeinander
abgestimmte Maßnahmen gestaltet bzw. weiterentwickelt werden.
7.5
Methodisches Vorgehen
Als Studiendesign ist ein Vergleich von Interventions- und Kontrollgruppen zu drei
Messzeitpunkten vorgesehen: Während die Interventionsgruppen mit den oben
genannten Präventionsmaßnahmen erhalten, durchlaufen die Kontrollgruppen das
schulische Curriculum ohne zusätzliche Interventionen. Die zur Wirksamkeitsüberprüfung notwendigen Datenerhebungen sollen direkt vor Beginn der Präventionsmaßnahmen (Prätest), direkt nach Abschluss der Maßnahmen (Posttest) und nach
einem Zeitraum von einem Jahr. Aus organisatorischen Gründen können die Maßnahmen für die Schüler der 3. Klasse erst im Frühjahr 2006 beginnen. Die Überprüfung der Maßnahmen für die 3. Klassen erfolgt im Rahmen einer Machbarkeitsanalyse, in der die Klassenlehrer insbesondere das Training für die Schüler hinsichtlich
seiner Akzeptanz und Realisierbarkeit einschätzen.
Rekrutierung und Schulung der Interviewer. Um eine professionelle Befragung der
Kinder zu drei Messzeitpunkten in verschiedenen Sprachen zu gewährleisten, wurden Interviewer/-innen rekrutiert. Diese Aufgabe wurde weitestgehend vom MENFP
in Luxemburg übernommen, da es sich bei den Interviewer um Personen mit
Sprachkenntnissen in Luxemburgisch, Französisch und Portugiesisch handeln muss172
Projet Prima!r
te. Bei den Interviewern handelte es sich um Psychologen, Studenten der Psychologie im Hauptstudium sowie um eine portugiesische Mitarbeiterin des MENFP. In der
Follow up Befragung wurden ferner drei portugiesische und in Luxemburg lebende
Berufsschüler/-innen an der Befragung beteiligt. Die videogestützte Interviewerschulung wurde von Mitarbeitern des ZKPR entwickelt und durchgeführt.
Durchführung von Pretest, Posttest und Follow Up. Die Befragungen des Pretests
wurden im Januar, Februar und März 2005, die des Posttests im Juli und August
2005 und die des Follow Up ab Ende Juni und im Juli 2006 absolviert. Die Interviews
mit den Kindern wurden für den Pretest im Zeitraum von Februar bis März 2005
(Nacherhebung in einem Stadtteil) durchgeführt. Die Kinderinterviews für den Posttest fanden im Zeitraum von Juli bis August 2005 statt. Die Kinderbefragungen des
Follow Up erfolgten Ende Juni bis Juli 2006.
Fortbildungen, Kurse und Supervisionen. Der Kinderkurs für die Spielschüler wurde
von Frau Prof. U. Koglin und Prof. F. Petermann neu entwickelt. Den Rahmen des
Kinderkurses für die ersten Klassen bildete das bereits publizierte „Verhaltenstraining für Schulanfänger“ (Petermann et al., 2006). Der Kinderkurs für die dritte Klasse sowie die Fortbildungen für die Lehrer und Erzieher wurden von Mitarbeitern des
ZKPR neu entwickelt und fertiggestellt. Die viertägige Fortbildung der neun Lehrer
der Interventionsgruppe erfolgte im Februar 2005. Die Fortbildungen für die zwei
Lehrer der dritten Klassen fanden im Januar 2006 im Centre des Langues (SCRIPT)
statt. An den eintätigen Fortbildungen im Februar 2005 sowie Januar 2006 im Centre des Langues (SCRIPT) nahmen Leiter, Vertreter und Mitarbeiter der verschiedenen Foyers der Stadt Luxemburg teil. Die Kinderkurse begleitende Supervisionen für
die Lehrer der Interventionsgruppe im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitstudie
fanden im Centre des Langues (SCRIPT) statt. Die Durchführung der Kinderkurse im
Rahmen der wissenschaftlichen Begleitstudie (Vorschule; erste Klassen) erfolgte
zwischen März und Juli 2006. Die Entwicklung und Durchführung der Kurse erfolgte
durch das ZKPR in deutscher, französischer und portugiesischer Sprache.
Wissenschaftliche Begleitstudie. Die Überprüfung der Wirksamkeit erfolgte als externe Evaluation mittels eines kontrollierten prospektiven 2x3 Designs, das die Entwicklung einer Interventions- und Kontrollgruppe zu je drei Messzeitpunkten kontrastierte. Die Interventionsgruppe setzte sich aus den Kindern, die an einem schulbasierten Kinderkurs teilnahmen, zusammen. Die Kontrollgruppe bildeten vergleichbare Luxemburger Kinder, die keine Projet Prima!r-Angebote erhielten. Zur
besseren Verständlichkeit werden sie im Folgenden als „Kursgruppe“ und „Vergleichsgruppe“ bezeichnet. Die Veränderungsmessungen erfolgten anhand von Befragungen der Lehrer, der Eltern und der Kinder mit Hilfe von Fragebögen. Die Kinder wurden einzeln durch geschulte Interviewer befragt. Die Befragungen der Kinder erfolgten nach Vorankündigung und mit schriftlichem Einverständnis der Eltern
in den jeweiligen Schulen während der Unterrichtszeit. Die Befragung eines Kindes
dauerte maximal 30 Minuten. Die Befragungen wurden direkt vor den Interventio173
Projet Prima!r
nen (MZP 1), direkt nach den Interventionen (MZP 2) sowie 12 Monate nach den
Interventionen durchgeführt (MZP 3).
Interventionen. Der schulbasierte Kurs für Spielschüler ist ein kompetenzorientiertes Programm zur Prävention aggressiven Verhaltens und Förderung von Kindern
zwischen vier und sechs Jahren, das eigens für das Projet Prima!r vom ZKPR entwickelt wurde. Es besteht aus 25 Einheiten, die durchschnittlich zweimal pro Woche in
der Spielschule von den Klassenlehrern durchgeführt wurden. Das bereits publizierte Präventionsprogramm (Petermann et al., 2013) wurde mit den gesamten Klassenverbänden vom Klassenlehrer ab Frühjahr 2005 durchgeführt. Das Training besteht aus 26 Sitzungen mit einer Frequenz von zwei Sitzungen pro Woche. Zur Stärkung der Erziehungskompetenzen der Eltern wurden parallel zu den Kinderkursen
Elternkurse in den Schulen angeboten. Die standardisierten und vom ZKPR entwickelten Kurse umfassten vier Sitzungen à 90 Minuten und wurden nach Bedarf in
deutscher, französischer und portugiesischer Sprache zum Teil mit Kinderbetreuung
abgehalten.
Datenerhebung. Die Befragung der Eltern, Lehrer und Erzieher zum Verhalten der
Kinder erfolgte mit einer Zusammenstellung aus anerkannten Messinstrumenten.
Die Befragung der Schüler erfolgte aufgrund des Alters der Kinder und deren damit
verbundenen eingeschränkten Fertigkeiten im Lesen- und Schreiben mittels eines
Interviews. Einen Überblick über die verwendeten Befragungsinstrumente gibt Tabelle 1.
Tabelle 1: Befragungsinstrumente.
Erhebungsinstrument
Modifizierte Version des Tests zur komparativen Sprachentwicklungs- und Förderdiagnostik (TKS, Krampen et al., 1999)
Coloured Progressive Matrices (CPM, Raven, Bulheller & Häcker, 2002)
Kinderinterview für soziale Situationen (KISS, Petermann, Koglin, Natzke & von
Marées, 2004)
10 Items zu negativen und positiven Erziehungspraktiken; angelehnt an den APQ
Fragebogen zu Stärken und Schwächen (Strengths and Difficulties Questionnaire,
SDQ, Goodman, 1997)
FEEK-Skala (Koglin, Brüggemann & Petermann, 2004)
Skala zu aggressivem Verhalten (SAV; Koglin & Petermann, 2004)
Social Competence Scale (SCS; CPPRG, 2003)
Antisocial Process Screening Device (APSD, Frick & Hare, 2001)
Alabama Parenting Questionnaire (APQ; Shelton, Frick & Wootton)
7.6
Ergebnisse
174
Projet Prima!r
Insgesamt nahmen 17 Klassen aus dem Stadtgebiet Luxemburg an dem Projekt teil.
Insgesamt wurden 183 Familien mit Ihren Kindern für das Projet gewonnen. Zum
ersten Untersuchungszeitpunkt lagen aus diesen Familien 172 Angaben von Müttern vor und 124 Angaben von Vätern vor. Für alle teilnehmenden Kinder (N = 183)
lagen Fragebögen der Lehrer vor. Zum zweiten Messzeitpunkt sank die Teilnahmequote bei den Eltern erheblich ab. Hier lagen 119 Fragebögen von Müttern und 102
Fragebögen von Vätern vor. Von den Lehrern lagen 183 Fragebögen vor. Zum dritten Messzeitpunkt gingen noch 110 Fragebögen von Müttern, 82 von Vätern und
165 der Lehrer ein. Der Ausfall entstand überwiegend durch Umzug der Eltern oder
eine schlechte Erreichbarkeit der Eltern durch das Bremer Forscherteam. Die Dropout-Quote bei den Eltern beträgt damit vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt
30,81 bzw. 17,74% und vom zweiten zum dritten Messzeitpunkt 7,56 bzw. 19,61%
für die Mütter und Väter. Die absolute Mehrheit der Kinder lebte zum ersten Messzeitpunkt bei den leiblichen Eltern. Ca. 12% der Kinder lebte bei geschiedenen oder
getrennt lebenden, 6% bei ledigen Eltern. Nahezu 50% der Kinder hatte eine portugiesische, nur ein Viertel der Kinder besaß die luxemburgische Staatsbürgerschaft.
Am Bildungsniveau der Eltern wird deutlich, dass es sich bei der Stichprobe nicht um
einen repräsentativen Ausschnitt der Bevölkerung handelt. Mehr als 50% aller Eltern konnte einen Bildungsabschluss im Sinne eines Abiturs oder eines Hochschulabschlusses vorweisen.
Entwicklungsbeschreibende Ergebnisse. Der SDQ ermöglicht eine Einteilung der
Kinder nach dem Ausmaß der berichteten Probleme in die Kategorien „unauffällig“,
„grenzwertig“ und „auffällig“ (Cut-off-Werte). Im Sinne eines Screenings können so
Kinder identifiziert werden, die ein besonderes Risiko für klinisch bedeutsame Verhaltensprobleme aufweisen und damit über den „Cut-off-Werten liegen. Die Mütter
schätzen die prosozialen Fertigkeiten ihrer Kinder gut ein. Lediglich 3,5% bzw. 5,5%
der Mütter berichten davon, dass ihre Kinder Schwierigkeiten haben, auf andere
Kinder helfend zuzugehen. Die Mütter in dieser Stichprobe berichten damit von
deutlich weniger Kindern mit Defiziten prosozialer Fertigkeiten im Vergleich zu den
Normierungsstudien, nach denen jeweils ca. 10% mit den erreichten Werten in den
Kategorien „grenzwertig“ bzw. „auffällig“ liegen. Umso deutlicher berichten die
Mütter jedoch von externalisierenden Verhaltensproblemen (wie häufige Wutanfälle und trotziges Verhalten) oder und Problemen mit Gleichaltrigen. In diesen Bereichen haben nach den mütterlichen Angaben rund ein Drittel der Kinder deutliche
Schwierigkeiten. Dabei berichten die Mütter besonders über die Jungen vermehrt
aggressives Verhalten, motorische Unruhe und Unaufmerksamkeit (p <. 05). Bei den
Defiziten im prosozialen Verhalten, emotionalen Problemen oder Problemen mit
Gleichaltrigen gibt es hingegen keinen signifikanten Unterschied zwischen Jungen
und Mädchen. Entsprechend erreichen auch mehr Jungen als Mädchen mit dem
Gesamtproblemwert ein Ergebnis, das über den Grenzwerten liegt.
Die Lehrereinschätzungen zu den Verhaltensstärken und -schwächen zeigen, dass
die Lehrer die Kinder insgesamt weniger verhaltensschwierig einschätzen als die
175
Projet Prima!r
Mütter. In Übereinstimmung mit den Müttern berichten die Lehrer am häufigsten
über externalisierende Verhaltensprobleme der Kinder. Im Unterschied zu den Müttern, die am zweithäufigsten besonders Probleme mit Gleichaltrigen angaben, stehen für die Lehrer Probleme durch unaufmerksames und hyperaktives Verhalten an
zweiter Stelle. Danach berichten Lehrer von Defiziten im prosozialen Verhalten,
während Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen am seltensten angeben werden.
Beim Vergleich der Vorschulkinder mit den Erstklässlern zeigen sich typische Alterseffekte. Das Verhalten der älteren Kinder wird signifikant prosozialer beurteilt (t= 2.61, p<.01). Dazu weisen sie deutlich mehr emotionale Probleme auf (t= -2.53,
p<.05). Externalisierende Verhaltensprobleme treten bei den Vorschülern deskriptiv
häufiger auf; dieser Unterschied ist jedoch nicht signifikant. Die häufigeren Probleme der Vorschulkinder im Umgang mit Gleichaltrigen erweisen sich als tendenziell
signifikant (t= 1.73, p<.10).
Die Auswertungen zeigen, dass die ermittelten IQ-Werte der Kinder deutlich über
den erwarteten Mittelwert von 100 liegen. Die Kinder erreichen einen durchschnittlichen Wert von 114 IQ-Punkten mit einer Standardabweichung von SD = 18. Jungen
und Mädchen unterscheiden sich nicht signifikant in den erreichten IQ-Werten (t =
0,002; p >.05). Es kann jedoch ein negativer Zusammenhang mit dem Alter der Kinder festgestellt werden (r = -.16; p < .05). Demnach erreichen ältere Kinder einen
geringeren IQ im Vergleich zu den jüngeren Kindern.
Kinderinterview zu sozialen Situationen (KISS). Das Interview ermöglicht die Erfassung emotionaler und sozial-kognitiver Kompetenzen der Kinder, die im Allgemeinen mit der sozialen Entwicklung der Kinder im Zusammenhang stehen. Die Kinder
können die Emotion Trauer am häufigsten korrekt benennen (74.9 %), gefolgt von
Wut (51.4 %), Freude (41.7 %) und zuletzt Angst (29.1 %), die nur noch von einem
Drittel der Kinder richtig benannt werden kann. Für die Emotion Wut kennen die
Kinder am häufigsten richtige Begründungen (93.1%). Darauf folgen die Emotionen
Freude (87.4%), Trauer (86.2 %) und Angst, für die die Kinder prozentual am seltensten die richtige Ursache angeben können (83.3 %). Insgesamt wird deutlich, dass
mehr Kinder in der Lage sind, die richtigen Ursachen für die Emotionen zu nennen
anstatt die richtigen Emotionswörter anzugeben.
Sozialverhalten der Kinder vor und nach dem Kurs (MZP1 zu MZP2). Es zeigt sich
eine signifikante Reduktion des Problemverhaltens. Das prosoziale Verhalten der
Kinder hat in beiden Gruppen über den Kurszeitraum tendenziell abgenommen. Ein
Kurseffekt kann hier nicht beobachtet werden und auch nicht für die Skala externalisierende Verhaltensprobleme. Emotionale Probleme der Kinder haben sich in der
Kursgruppe hingegen signifikant reduziert. Das gleiche trifft auf Probleme durch
hyperaktives Verhalten zu. Sehr deutlich haben sich Probleme mit Gleichaltrigen
verringert, das heißt, bei den Kindern der Kursgruppe wird nach dem Kurs seltener
gehänselt oder schikaniert und die Kinder spielen besser miteinander. Den signifikanten Verbesserungen auf den Einzelskalen entspricht der Effekt des Gesamtprob176
Projet Prima!r
lemwertes: es liegt ein deutlicher Abbau des Problemverhaltens in der Kursgruppe
vor. Für die Skala prosozial-kommunikatives Verhalten der Social Competence Scale
zeigt sich ein signifikanter Zeiteffekt (F (df = 1,88) = 10,80, p < .001), aber keine signifikanten Effekte für die Gruppe, oder die Interaktion zwischen den Faktoren Gruppe
und Zeit. Die Emotionsregulationsstrategien haben sich während der Zeit in beiden
Gruppen verbessert (F (df = 1,88) = 13,42, p < .001) und der Faktor Gruppe ist signifikant (F (df = 1,88) = 4,03, p < .05). Zudem liegt eine ordinale Interaktion der Faktoren
Gruppe und Zeit vor, das bedeutet, die Kinder der Kursgruppe weisen über die Zeit
einen stärkeren Anstieg der Emotionsregulationsstrategien auf (F (df = 1,88) = 5,79, p <
.05). Werden die Ausgangswerte der Kinder bei der Auswertung berücksichtigt,
zeigt sich, dass besonders die Kinder mit Problemwerten über dem Cut-Off von dem
Kurs profitierten. Die Kinder der Kursgruppe, die zum ersten Messzeitpunkt auffällige Werte im SDQ-Gesamtwert erreichten (M = 17, 90, SD = 6,07), werden zum zweiten Messzeitpunkt als deutlich weniger auffällig beurteilt (M = 13, 45; SD = 6,96; d =
0.68). Die Werte sinken aus dem Bereich „klinisch auffällig“ zurück in den Bereich
„grenzwertig“. Die Werte der Vergleichsgruppe steigen im Durchschnitt sogar noch
leicht an von M1 = 17.00 (SD = 2,00) auf M2 = 18.00 (SD = 3,10) (vgl. Abb. 1).
20
16
K-unauffällig
12
K- auffällig
V- unauffällig
8
V - auffällig
4
0
MZP 1
MZP2
K = Kursgruppe; V = Vergleichsgruppe
Abbildung 1: Gesamtproblemwert in der Kurs- und der Vergleichsgruppe zu MZP1
und MZP2 nach Ausgangswert ( < Cut-Off bzw. über dem Cut-Off).
Die schulischen Fähigkeiten der Kinder in den beiden Gruppen unterscheiden sich
ebenfalls. Es lässt sich ein signifikanter Interaktionseffekt zeigen (F (df = 1,88) = 4,59, p
< .05), aber keine Effekte der Faktoren Gruppe. Die positiven Effekte der Einzelskalen zeigen sich auch in einem signifikanten Interaktionseffekt des Gesamtwertes
sozialer Kompetenzen des SCS (F (df = 1,88) = 4,10, p < .05). Der Faktor Gruppe zeigt
keine Unterschiede. Für trotzig-aggressives Verhalten nach Einschätzung der Lehrer
zeigen sich vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt keine signifikanten Veränderungen. Auf der Skala „Emotionale Kompetenz“ bilden sich hingegen für den Kurs posi177
Projet Prima!r
tive Effekte ab: Gruppe: F (df = 1,88) = 2,67, p = ns; Zeit: F (df = 1,88) = 65,73, p <.001; Interaktion: F (df = 1,88) = 6,80, p < .01). Zusammenfassend zeigt der Vergleich der Verhaltenseinschätzungen der Lehrer vor und nach dem Training eine Reduktion problematischen Verhaltens und einen Anstieg sozialer Kompetenzen bei den Kindern
der Kursgruppe. Die Verhaltensprobleme gingen in den Bereichen emotionale Probleme, Hyperaktivität und Probleme mit Gleichaltrigen zurück.
Ergebnisse aus dem Kinderinterview. Die erste Hälfte des Kurses zielt besonders
darauf ab, emotionale Kompetenzen der Kinder zu fördern. Daher ist zu erwarten,
dass die Kinder im Anschluss an dem Kurs die Emotionen im Kinderinterview auch
besser erkennen und benennen können. Dazu wurde die Mittelwerte der KISSEinzelangaben (Block 1: Emotionen Erkennen und Benennen) in der Kurs- und in der
Vergleichsgruppe vor und nach dem Kurs verglichen. Die Kurskinder profitieren sehr
deutlich und können signifikant ihr Emotionswissen durch den Kurs verbessern. Ein
Vergleich des Sozialverhaltens der Kinder zum ersten und zweiten Messzeitpunkt
mit denen der Kinder, deren Daten vollständig vorhanden sind zeigt, dass diese sich
auf der SDQ-Gesamtskala nicht signifikant unterscheiden. Für die Skala „Probleme
im Umgang mit Gleichaltrigen“ verlaufen die Werte in der Kursgruppe ebenfalls vförmig, während sie in der Vergleichsgruppe kontinuierlich ansteigen. Zum letzten
Messzeitpunkt werden in beiden Gruppen durchschnittlich gleich viele Probleme
mit anderen Kindern berichtet. Der signifikante Interaktionseffekt geht besonders
damit einher, dass die Kinder in der Kursgruppe zum ersten Messzeitpunkt auch in
diesem Bereich ein höheres Ausgangsniveau hatten. Nach dem Kurs wurden die
Probleme von den Lehrern deutlich niedriger eingeschätzt. Für die Skala „Hyperaktivität“, für die im Prä-Post-Test-Vergleich ein signifikanter Kurseffekt abgebildet
werden konnte, liegt dieser ein Jahr nach dem Kursende nicht mehr vor. Deutlich ist
jedoch, dass die Kinder der Vergleichsgruppe aus der Sicht der Lehrer über die Zeit
konstant mehr Probleme aufweisen als die der Kursgruppe. Die emotionalen Kompetenzen (FEEK) der Kinder steigen in beiden Gruppen über den Beobachtungszeitraum von eineinhalb Jahren an. Die Kinder der Kursgruppe liegen dabei immer über
dem Niveau der Vergleichsgruppe. Das aggressive Verhalten entwickelt sich in beiden Gruppen gegenläufig. Während es in der Vergleichsgruppe zunimmt, sinkt es in
der Kursgruppe. Insgesamt zeigen sich damit auch ein Jahr nach dem Kursende einige Ergebnisse, die die Wirksamkeit des Trainings bestätigen. Die Kinder weisen weniger emotionale Probleme auf und die Lehrer berichten über deutlich weniger Konflikte mit Gleichaltrigen. Insgesamt nimmt die Problembelastung der Kinder ab. Das
aggressive Verhalten der Kinder reduziert sich ebenfalls, wobei dieser Trend erst
über die drei Messzeitpunkte sichtbar wird. In Bezug auf positives Sozialverhalten
und sozial-emotionale Kompetenzen nach Einschätzung der Lehrer legen die Ergebnisse nahe, dass der Kurs zu einer Beschleunigung in diesen Entwicklungsbereichen
geführt hatte, die Kinder der Vergleichsgruppe nach dem Ende des Kurses jedoch
wieder aufholen konnten. Dieses Ergebnismuster legt nahe, dass entweder in regelmäßigen Abständen Auffrischungstermine stattfinden sollten oder aber den Kin178
Projet Prima!r
dern weitere regelmäßige Angebote gemacht werden sollten.
Effekte der Kinderkurse in der ersten Klasse. In der Skala prosoziales Verhalten der
SCS zeigt sich bei einem Vergleich der Mittelwerte, dass beide Gruppen zum zweiten Messzeitpunkt zunächst ihr Niveau halten. Nach einem Jahr werden jedoch signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen sichtbar. Während für die Kursgruppe eine Zunahme sozialer Kompetenzen angegeben wird, sinken die Mittelwerte
der Vergleichsgruppe leicht ab. Hier ist ein signifikanter Haupteffekt Gruppe sowie
ein signifikanter Interaktionseffekt zu beobachten. (Gruppe: F (df = 1,70) = 4.84, p < .05;
Zeit: F (df = 1,70) = .059, p = ns; Interaktion: F (df = 1,70= .015, p < .05). Die Lehrer schätzten die prosozialen Verhaltensweisen der Kinder der Kursgruppe demnach bereits
vor Beginn der Maßnahmen des Projet Prima!r statistisch bedeutsam höher ein als
die der Vergleichsgruppe. Im SDQ zeigen die Gruppen im Prinzip eine ähnliche Tendenz. Die Kursgruppe wurde bereits vor Beginn der Studie deutlich sozial kompetenter eingeschätzt als die Vergleichsgruppe. Es ergibt sich mit dem Messinstrument
SDQ jedoch kein signifikanter Interaktionseffekt. Beide Gruppen stabilisieren sich im
Prinzip auf ihrem Anfangsniveau. Der Vergleich der Mittelwerte beider Gruppen
über alle drei Messzeitpunkte verdeutlicht erwartungsgemäß, dass es sowohl in der
Kurs- als auch in der Vergleichsgruppe mit zunehmendem Alter zu einer deutlich
signifikanten Ausweitung ihrer sozial-kognitiven Kompetenzen kommt. Der Zugewinn an sozial-kognitiven Kompetenzen fällt jedoch für die Kursgruppe signifikant
höher aus als für die Vergleichsgruppe. Wenngleich der Mittelwert der Kursgruppe
bis zum dritten Messzeitpunkt nicht stabil gehalten werden kann, so bleibt der Interaktionseffekt dennoch signifikant.
Die Fähigkeit zur Regulation von Gefühlen wurde mit der Skala Emotionsregulation
der Social Competence Scale (SCS) gemessen. Ähnlich wie auf dem Gebiet sozialer
Kompetenzen wird die Kursgruppe bereits vor Kursbeginn als erheblich kompetenter eingeschätzt als die Vergleichsgruppe. Während die Mittelwerte der Kursgruppe
zum zweiten und vor allem dritten Messzeitpunkt signifikant ansteigen, bleiben sie
bei der Vergleichsgruppe auf der Ausgangsniveau. Zusätzlich zum SCS wurde die
Entwicklung der emotionalen Kompetenzen bei den Kindern der Stichprobe mit einer FEEK-Skala gemessen. Dabei zeigen sich gravierende Unterschiede zwischen den
Gruppen bereits vor Beginn der Intervention des Projet Prima!r. Die Kinder der
Kursgruppe werden wieder erheblich kompetenter eingeschätzt als die Schüler/inner der Vergleichsgruppe. Emotionale Probleme wurden in der vorliegenden Studie mit der Skala „Emotionale Probleme“ des Fragebogens zu Stärken und Schwächen (Strengths and Difficulties Questionnaire SDQ) eingeschätzt. Beide Gruppen
hatten vor Beginn der Interventionen ein ähnliches Ausgangsniveau. Während die
Vergleichsgruppe sich über die Messzeitpunkte auf ihrem Ausgangsniveau stabilisiert, kommt es bei der Kursgruppe zu einem leichten Rückgang emotionaler Probleme, der jedoch knapp die statistische Bedeutsamkeit verfehlt.
Da der Abbau externalisierender Verhaltensprobleme in der Schule eines der Kern179
Projet Prima!r
ziele darstellte, wurde der Bereich aggressives Verhalten zusätzlich mit der Skala
Aggressiven Verhaltens (SAV, Koglin & Petermann, 2004) erfasst. Beide Gruppen
sind vor Beginn der Interventionen im Hinblick auf das Ausmaß trotzig aggressiven
Verhaltens auf einem ähnlichen Niveau anzusiedeln, wobei sich auch im SAV andeutet, dass die Lehrer die Kursgruppe hier etwas problembelasteter einschätzen, als
die Vergleichsgruppe. Während es bei der Kursgruppe zum dritten Messzeitpunkt zu
einem deutlichen Rückgang aggressiven Verhaltens kommt, nimmt das aggressive
Verhalten der Kinder der Vergleichsgruppe im Mittelwert deutlich zu. Der Trend im
Hinblick auf den Abbau aggressiven Verhaltens bei der Kursgruppe bestätigt sich im
SAV; der Interaktionseffekt wird hier hochsignifikant.
Es wurde versucht, Verhaltensmerkmale bei Kindern herauszufiltern, die bei einem
weiteren ungünstigen Entwicklungsverlauf das Risiko für das spätere Auftreten dissozialen Verhaltens erhöhen. Bislang wurden drei kritische Verhaltensmerkmale
identifiziert: gefühlloses Verhalten, selbstbezogenes Verhalten sowie Impulsivität.
Im Bereich des gefühllosen Verhaltens kommt es in beiden Gruppen über alle drei
Messzeitpunkte zu einem hochsignifikanten Rückgang gefühllosen Verhaltens. Während es in der Vergleichsgruppe zum dritten Messzeitpunkt jedoch zu einem erneuten Zuwachs an Problemverhalten kommt, nimmt der Mittelwert der Kursgruppe
weiter kontinuierlich ab. Es kommt daher zu einem signifikanten Interaktionseffekt,
der positive Wirkungen des Kinderkurses nahe legt. Im Bereich selbstbezogenen
Verhaltens kommt es zu keinen signifikanten Effekten im Hinblick auf die Faktoren
Gruppe, Zeit oder Zeit x Gruppe. In der Tendenz kommt es zum dritten Messzeitpunkt in der Kursgruppe zwar zu einem leichten Rückgang des Mittelwerts, der unter das Niveau des ersten Messzeitpunkts absinkt, während bei der Vergleichsgruppe ein Mittelwertsanstieg zu beobachten ist. Beide Gruppen unterscheiden sich
jedoch nicht signifikant. Im Bereich impulsiven Verhaltens kommt es bei der Kursgruppe im Kontrast zur Vergleichsgruppe zu einem deutlich signifikanten Rückgang
des Gruppenmittelwerts, während das ungünstige Verhalten in der Vergleichsgruppe leicht zunimmt.
Auswertungen zum Elternkurs. In der vorliegenden Stichprobe variieren die Korrelationen zwischen dem Erziehungsverhalten der Mütter und den Verhaltensproblemen der Kinder zwischen r = -.13 und r = -.31. Getrennt nach dem Geschlecht ist
ersichtlich, dass die Richtung der Beziehung bei Jungen und Mädchen ähnlich ist,
das Erziehungsverhalten für die Mädchen jedoch bedeutsamer ist. Besonders ein
geringes Engagement der Mutter, inkonsistente Disziplin und wenig verantwortungsbewusstes Erziehungsverhalten geht bei den Mädchen mit vermehrten Verhaltensproblemen einher. Wird das Erziehungsverhalten im Zusammenhang mit prosozialem Verhalten betrachtet, finden sich etwas weniger signifikante, aber ähnlich
starke Beziehungen. Jedoch scheint das Erziehungsverhalten für den Erwerb prosozialen Verhaltens bei den Jungen bedeutsamer zu sein, als bei den Mädchen. Bei
beiden Geschlechtern gehen hohe Werte auf der Skala „Involvement“ mit prosozialem Verhalten einher. Bei den Jungen spielt darüber hinaus noch das verantwor180
Projet Prima!r
tungsbewusste Erziehungsverhalten eine Rolle. Bei vier von fünf APQ-Skalen zeigen
sich keinen signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Lediglich in
Bezug auf die Skala „Geringes Monitoring“ zeigt sich, dass die Eltern der Treatmentgruppe angaben, besser über die Aktivitäten ihres Kindes Bescheid zu wissen.
Für die Skala Involvement zeigt sich lediglich ein signifikanter Gruppeneffekt. Dieses
Ergebnismuster wiederholt sich für die Skala Positives Erziehungsverhalte und für
die Skala Verantwortungsbewusstes Erziehungsverhalten. Für die Skala „Geringes
Monitoring“ ist zu beobachten, dass die Eltern, die nur unregelmäßig an dem Elternkurs teilgenommen haben, nach dem Kurs höhere Werte aufweisen als zu Beginn des Kurses. Die Werte in den anderen beiden Gruppen verändern sich hingegen nicht.
Ergebnisse der Selbsteinschätzungen der Lehrer. Die teilnehmenden Lehrer waren
zum ersten Messzeitpunkt im Durchschnitt 38 Jahre alt (SD = 8,98; Min = 24 Jahre;
Max = 54) und arbeiteten durchschnittlich bereits 14 Jahre (SD= 9.99) in ihrem Beruf. Die meisten gaben an, mit ihrer beruflichen Situation eher oder sehr zufrieden
zu sein (82,4%) und nur 17,6% berichteten, eher oder sehr unzufrieden damit zu
sein. Dennoch berichteten die meisten Lehrer, dass sie sich auch in ihrer Freizeit mit
schulischen Problemen beschäftigten. 53% der Lehrer gaben an, dass dies manchmal vorkomme und rund 30%, dass dies oft oder immer zutreffe.
7.7
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183
Wirksamkeit von Jugendhilfe-Maßnahmen
8
Wirksamkeit von Jugendhilfe-Maßnahmen
8.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
PD Dr. Peter Büttner
Prof. Dr. Ulrike Petermann
Mitarbeiter
Dr. Stefan Rücker
Kooperationspartner
Projekt PETRA, Schlüchtern
Zeitraum
01.10.2007 - 31.01.2010
Finanzierung
Projekt PETRA und Planungsgruppe PETRA, Schlüchtern
8.2
Zusammenfassung
Bei Kindern und Jugendlichen in teilstationären Erziehungshilfen wurden Ressourcen, Symptome und die elterliche Erziehungskompetenz erhoben. 36 Monate nach
Abschluss der Jugendhilfe-Maßnahme zeigten sich eine verminderte Symptombelastung und eine Verbesserung der Ressourcen und Erziehungskompetenz. In der
Katamnese berichten die Eltern zwar familiäre Belastungen, die Kinder und Jugendlichen erreichen in Screening-Verfahren zur Erfassung von Verhaltens- und emotionalen Problemen jedoch unauffällige Werte. Dies verweist auf eine hohe Effektivität
sowie Effektstabilität der Erziehungshilfen.
185
Wirksamkeit von Jugendhilfe-Maßnahmen
8.3
Stand der Forschung
Die empirische Forschung steht in der deutschen Jugendhilfe noch am Anfang (vgl.
auch Harnach-Beck, 2000). Nur wenige Studien haben bislang Fragen zu Wirkungen
und Effekten erzieherischer Hilfen aufgegriffen. Dabei handelt es sich überwiegend
um kasuistische Einzelfallbetrachtungen oder qualitative Studien mit geringen
Stichprobengrößen und Schwächen im Bereich der Reliabilität und Validität (siehe
hierzu Gabriel, Keller & Studer, 2007). Das aus methodischer und inhaltlicher Sicht
anspruchsvollste Forschungsprojekt stellt die Jugendhilfe-Effekte-Studie (Schmidt et
al., 2002) dar. In einem prospektiven Längsschnittdesign wurden über einen Zeitraum von fünf Jahren 233 Hilfeverläufe in fünf unterschiedlichen Hilfearten untersucht. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass bei Kindern und Jugendlichen Symptome um 37% reduziert, und Kompetenzen um 29% gesteigert werden konnten.
Belastungen im Umfeld der Kinder und Jugendlichen reduzierten sich im Hilfeverlauf
um 24%. Ein Jahr nach dem Hilfeende nahmen lediglich die im Umfeld der Kinder
und Jugendlichen wirkenden Belastungen wieder zu. Im Gegensatz dazu reduzierten
sich die Auffälligkeiten der Kinder und Jugendlichen selbst nach Abschluss der Maßnahme weiter. Auch das Funktionsniveau stieg nach dem Hilfeende nochmals an.
8.4
Ziele
In diesem Forschungsprojekt wird die empirische Absicherung der pädagogischtherapeutischen Konzepte aus der Fachpraxis angestrebt. Konkret sollen die Forschungsergebnisse dazu beitragen, emotionale Probleme, Verhaltensauffälligkeiten
sowie Lern- und Leistungsprobleme im Kontext schulischer Anforderungen effektiv
abzubauen. Eltern werden in der Entwicklung eines konsistenten Erziehungsstils
intensiv unterstützt.
8.5
Methodisches Vorgehen
Zur Erfassung der Wirksamkeit teilstationärer Erziehungshilfen wird in der beteiligten Jugendhilfe-Einrichtung eine Vollerhebung durchgeführt. In einem Prä-PostFollow-up-Eingruppendesign werden Fall-Akten zur Datengewinnung herangezogen.
Die Akten werden von der Jugendhilfe-Einrichtung geführt und enthalten Angaben
von Fachkräften, vom Jugendamt und von niedergelassenen Kinderärzten und Kinderkliniken/sozialpädiatrischen Zentren. Am Hilfebeginn und -ende erfolgen die
Auswertungen zunächst mittels qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring, 2008). Im Anschluss wird das studienrelevante Material systematisch und theoriegeleitet kategorisiert. Bei diesem Schritt werden die inhaltsanalytisch gewonnenen qualitativen
186
Wirksamkeit von Jugendhilfe-Maßnahmen
Informationen den Achsen I, II und V, Multiaxiales Klassifikationsschema (ICD-10;
Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2006) zugeordnet. Die Achsen erlauben eine qualitative Abstufung der Merkmalsausprägungen von 0 bis 2, wobei ein höherer Wert
eine höhere Ausprägung des betreffenden Merkmals bedeutet. Die auf diesem Wege quantifizierten Daten werden anschließend mittels multivariater Verfahren analysiert und mit Fragebogen-Ergebnisse verknüpft. Diese werden drei Jahre nach Abschluss der Maßnahme den Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern vorgelegt. Die
Bögen erfassen Lebensqualität (Inventar zur Erfassung der Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen, ILK; Mattejat & Remschmidt, 2006), Stärken und Schwächen
im Sozialverhalten (Strengths and Difficulties Questionnaire, SDQ; Goodman, 1997),
Erziehungskompetenz (Deutsche erweiterte Version des Alabama Parenting Questionnaire für Grundschulkinder, DEAPQ-EL-GS; Reichle & Franiek, 2009), familiäre
Belastungen (Family Adversity Index, FAI; Rutter, 1977) sowie Probleme im Umgang
mit Alkohol und Drogen (CRAFFT; Knight, Sherritt, Shrier, Harris & Chang, 2002).
8.6
Ergebnisse
Die Analysen weisen auf eine generelle Wirksamkeit teilstationärer JugendhilfeMaßnahmen in der beteiligten Einrichtung. Im Prä-Post-Vergleich kommt es zu signifikanten Belastungsabnahmen im Bereich expansiver Verhaltensprobleme. Lernund Leistungsprobleme sowie ein Mangel an Ressourcen vermindern sich ebenfalls
signifikant. Die Erziehungskompetenz der Eltern lässt sich im Hilfeverlauf deutlich
steigern. Die Hilfen wirken jedoch nicht auf alle Familien gleich. Ein Gruppenvergleich zeigt, dass Einelternfamilien im Vergleich zu traditionellen Familien die Maßnahmen mit einem geringeren Erfolg beenden. Dies trifft insbesondere auf die
Symptomreduktion sowie auf Erziehungskompetenz zu. Kompetenzzuwächse der
Kinder und Jugendlichen unterscheiden sich am Hilfeende jedoch nicht signifikant,
hier bleibt die Familienform ohne Einfluss. Langfristig (in der 36-MonatsKatamnese) weisen die ehemals betreuten Kinder und Jugendlichen in ScreeningVerfahren unauffällige Werte für verhaltensbezogene und emotionale Probleme
auf. Ein Großteil konnte einen Schulabschluss erreichen und sich in den Arbeitsmarkt integrieren. Der Konsum von Alkohol unterscheidet sich drei Jahre nach Abschluss der Maßnahme nicht von dem in der Allgemeinbevölkerung. Eltern berichten jedoch in rund 50% der Fälle starke familiäre Belastungen.
Aufgrund ethischer und rechtlicher Grenzen können im Feld der Jugendhilfe kontrollierte Studien kaum durchgeführt werden. Auch im vorliegenden Forschungsprojekt war der Einbezug einer Kontrollgruppe nicht möglich. Die positiven Entwicklungen bei den Kindern, Jugendlichen und Eltern können daher zumindest aus methodischen Gründen nicht auf die Maßnahmen zurückgeführt werden. Derart günstige
Ergebnisse jedoch konnten in einer Hochrisiko-Gruppe, wie der hier vorliegenden
187
Wirksamkeit von Jugendhilfe-Maßnahmen
Stichprobe, nicht ohne systematischen Einfluss erwartet werden. Es wird vermutet,
dass die pädagogisch-therapeutische Jugendhilfe-Maßnahme in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion einnimmt.
8.7
Literatur
Gabriel, T., Keller, S. & Studer, T. (2007). Wirkungen erzieherischer Hilfen - Metaanalyse ausgewählter Studien. In Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Wirkungsorientierte Jugendhilfe 3 (S. 4-35). Berlin:
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188
Wirksamkeit von Jugendhilfe-Maßnahmen
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Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 37, 551-558.
189
JobFit-Training
9
JobFit-Training
9.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Ulrike Petermann
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiter
Dipl.-Psych. Jan Schultheiß
Dipl.-Psych. Philipp Heffter
Kooperationspartner
Sekundarschulen aus Bremen und der näheren Umgebung
Zeitraum
01.01 2008 - 31.08.2013
Finanzierung
Drittmittel von verschiedenen Stiftungen (u.a. Robert-Bosch-Stiftung, Stuttgart)
9.2
Zusammenfassung
Das JobFit-Training für Jugendliche ist ein schulbasiertes Präventionsprogramm zur
Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen, das aus dem „Training mit Jugendlichen“ von Petermann und Petermann (2010) hervorgegangen und in der aktuellen Auflage dieses Buches auch erstmals veröffentlicht worden ist. Es richtet
sich an Schülerinnen und Schüler ab der achten Klasse, die kurz vor dem Eintritt ins
Berufsleben oder vor den ersten Betriebspraktika stehen und dient dem Aufbau von
Arbeits- und Sozialverhalten. Das aktuelle Projekt verbreitet das Training in seiner
Anwendung und evaluiert parallel dazu seine Wirksamkeit. Ebenso sollen die Überarbeitung und Weiterentwicklung des Trainings mit den gewonnenen Erfahrungen
ermöglicht werden. Das Projekt ist mit der Vorbereitung der Pilotstudie 2012 gestartet und läuft bis Ende des Schuljahres 2012/2013.
191
JobFit-Training
9.3
Stand der Forschung
Das Jugendalter gilt als kritischer Entwicklungsabschnitt der Identitätsfindung, in
dem sich viele Probleme kumulieren (vgl. z.B. Fuhrer, 2008; Hackauf & Ohlbrecht,
2010). Der in diesem Lebensabschnitt bevorstehende Übergang von der Schule ins
Berufsleben zählt zu den Entwicklungsaufgaben des Jugendalters (Hurrelmann,
2007). Viele Jugendliche sind jedoch durch die Schule auf die Realität der Ausbildungs- und Arbeitswelt nur unzureichend vorbereitet, weswegen sie trotz ausreichender offizieller Qualifikationen noch nicht als „ausbildungsfähig“ bezeichnet
werden können. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung von Präventionsmaßnahmen (vgl. Heinrichs, Döpfner & Petermann, 2008) ist es daher sinnvoll,
Jugendlichen in diesem wichtigen Entwicklungsübergang zu unterstützen. Eine hohe
Erreichbarkeit ist für die erfolgreiche Umsetzung eines Präventionsprogramms entscheidend (Petermann & Petermann, 2011), weshalb ein schulbasiertes Präventionsprogramm aufgrund der Schulpflicht in Deutschland besonders viele Jugendliche
erreichen kann. Obwohl für das Kindesalter eine Vielzahl von manualisierten Präventionsprogrammen existieren, ist die Versorgungslage für das Jugendalter diesbezüglich immer noch unzureichend (vgl. Petermann, 2007). Insbesondere im Bereich
der Berufsvorbereitung finden sich keine evidenzbasierten manualisierten Präventionsprogramme, obwohl eine manualisierte Vorgehensweise und vorgegebene Materialien die Wirksamkeit von Programm erhöhen (Forman & Barakat, 2011). Vor
diesem Hintergrund wurde seit 2005 das „Training mit Jugendlichen“ auf das Schulsetting adaptiert (vgl. Roos, 2006; Roos & Petermann, 2005). Im Laufe verschiedener Projekte entstand hieraus das JobFit-Training, das bereits während seiner Entwicklung in Vorläuferversionen ersten Wirksamkeitsstudien unterzogen wurde
(Koglin, Petermann, Heffter & Petermann, 2010; Petermann, Koglin, Petermann &
Heffter, 2010). Im laufenden Projekt soll das Training nun an größeren Stichproben
auf seine Wirksamkeit hin überprüft und in diesem Rahmen optimiert werden.
9.4
Ziele
Ziel des JobFit-Trainings ist die Förderung von Arbeits- und Sozialverhalten im Schulsetting. In dem Projekt wird einer großen Zahl von Schülern die Teilnahme am JobFit-Training ermöglicht. Parallel wird das Training mit den Schülern, deren Eltern ihr
Einverständnis hierfür gegeben haben, evaluiert, um es auf seine Wirksamkeit hin
zu überprüfen. Die gewonnenen Daten werden auf verschiedene Fragestellungen
(Wirksamkeit bei Migrationshintergrund, geschlechtsspezifische Wirksamkeit, langfristige Wirksamkeit, Zusammenhang zwischen sozialen Kompetenzen und Verhaltensauffälligkeiten etc.) hin analysiert. Die in der großflächigen Anwendung des
Trainings gewonnenen Erfahrungen sollen dazu dienen, das Training zu revidieren
und für die Praxis zu optimieren.
192
JobFit-Training
9.5
Methodisches Vorgehen
Eine Pilotstudie zu dem JobFit-Training fand von Dezember 2010 bis Juni 2011 in
sechs Klassen einer Bremer Oberschule statt. Nach erfolgreichem Abschluss der
Pilotstudie wurden studentische Hilfskräfte (Masterstudenten des Faches „Klinische
Psychologie“ oder Bachelorstudenten der Psychologie, die kurz vor ihrem Abschluss
standen) für die weiteren Studien rekrutiert. Im Anschluss wurde mit Hilfe von Pressemitteilungen und persönlichen Kontakten sowie mit Hilfe der Bildungsbehörde für
das Projekt geworben, sodass im ersten Schulhalbjahr 2011/2012 insgesamt 18
Klassen am JobFit-Training teilnehmen konnten. Im zweiten Schulhalbjahr
2011/2012 nahmen 15 Klassen an dem Training teil. Im ersten Schulhalbjahr
2012/2013 konnte diese Zahl auf 25 Klassen steigen. Auch für das zweite Schulhalbjahr liegen bereits zahlreiche Anmeldungen interessierter Schulen bzw. Klassen vor.
Voraussichtlich werden bis Abschluss des Projektes fast 1000 Schüler an dem Programm teilnehmen können.
Durchführung des Trainings
Das JobFit-Training (Petermann & Petermann, 2010) erstreckt sich über zehn Einheiten, die wöchentlich jeweils in einer Unterrichtsdoppelstunde durchgeführt werden.
Die Durchführung erfolgt im Tandem durch einen Lehrer der Schule, der die Klasse
bereits kennt, und eine studentische Hilfskraft, die vom Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) der Universität Bremen gestellt wird. Die Hilfskräfte erhalten eine intensive zweitägige Schulung, in der sie auf den Einsatz des
Trainings in der Unterrichtssituation vorbereitet werden. Um die reibungslose Zusammenarbeit zwischen studentischen Trainern und den Lehrkräften der Schulen zu
gewährleisten, erhalten die Lehrer ebenfalls eine eintägige Schulung, in der sie mit
den Inhalten des Trainings vertraut gemacht werden und in der alle teilnehmenden
Lehrer ein Exemplar des Trainingsmanuals zur Verfügung gestellt bekommen. Für
die Trainer besteht ein permanentes Supervisionsangebot, darüber hinaus finden
zur Qualitätssicherung auch Hospitationen im Unterricht durch Mitarbeiter des
ZKPR statt.
Evaluation des Trainings
Zur Evaluation des Trainings wird ein Eigenwarte-Kontrollgruppendesign verwendet.
Die Schülerinnen und Schüler erhalten zwei bis drei Monate vor Trainingsbeginn
sowie direkt vor Trainingsbeginn Fragebogenmappen, womit also zwei Prämessungen vorliegen. Nach Trainingsende sowie sechs Monate nach Trainingsabschluss
erhalten die Schülerinnen und Schüler erneut Fragebogenmappen. Die Ergebnisse
zwischen den beiden Prämessungen werden mit den Ergebnissen zwischen den
Prämessungen und den Postmessungen verglichen.
Für die Befragung der Schüler und die wissenschaftliche Verwendung des Datenma193
JobFit-Training
terials wurde das Einverständnis der Eltern eingeholt. Die Befragungen erfolgen vor
Ort in schriftlicher Form im Klassenverband und werden von Projektmitarbeitern
durchgeführt. Die Fragebogenmappen beinhalten die Schülereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten (SSL; Behrends & Föhrigen, 2010), das Screening für Psychische Störungen im Jugendalter (SPS-J; Hampel & Petermann, 2005) sowie den
Strengths and Difficulties Questionnaire in der deutschen Version (SDQ; Goodman,
1997). Darüber hinaus wurden von den Schülern Alter, Geschlecht, Schulform und
Klasse sowie soziodemographische Angaben erfragt.
9.6
Ergebnisse
Da die Studien zum JobFit-Training noch nicht abgeschlossen sind und damit auch
noch nicht umfassend ausgewertet werden konnten, liegen bisher nur Ergebnisse
der Pilotstudie und Teilergebnisse des ersten Schulhalbjahres 2011/2012 vor. In der
Pilotstudie ließen sich signifikante Verbesserungen durch das Training in verschiedenen Bereichen des Sozialverhaltens nachweisen (Schultheiß, Petermann & Petermann, 2012). Die Analysen der Daten des ersten Schulhalbjahres 2011/2012 führen zu denselben Ergebnissen (Laakmann, 2012). Eine qualitative Auswertung der
anonymen schriftlichen Rückmeldungen der Schülerinnen und Schüler sowie der
Lehrer zeigte eine große Akzeptanz des Trainings im Anwendungsalltag.
9.7
Literatur
Behrends, A.-K. & Föhrigen, K. (2010). Die Schülereinschätzliste für Sozial- und Lernverhalten (SSL) - Entwicklung und psychometrische Überprüfung eines ressourcenorientierten Selbstbeurteilungsverfahrens für Jugendliche. Unveröffentlichte
Diplomarbeit, Universität Bremen.
Forman, S.G. & Barakat, A.M. (2011). Cognitive-behavioral therapy in the schools:
Bringing research to practice through effective implementation. Psychology in
the Schools, 48, 283-296.
Fuhrer, U. (2008). Jugendalter: Entwicklungsrisiken und Entwicklungsabweichungen.
In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (6., vollst. überarb. Aufl., S. 99-113). Göttingen: Hogrefe.
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In H. Hackauf & H. Ohlbrecht (Hrsg.), Jugend und Gesundheit. Ein Forschungsüberblick (S. 9-18). Weinheim: Juventa.
Hampel, P. & Petermann, F. (2005). Screening psychischer Störungen im Jugendalter
194
JobFit-Training
(SPS-J). Bern: Huber.
Heinrichs, N., Döpfner, M. & Petermann, F. (2008). Prävention psychischer Störungen. In F. Petermann (Hrsg.), Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (6.,
vollst. überarb. Aufl., S. 643-659). Göttingen: Hogrefe.
Hurrelmann, K. (2007). Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung (9. Aufl.). Weinheim: Juventa.
Koglin, U., Petermann, F., Heffter, P. & Petermann, U. (2010). Längerfristige Effekte
des JobFit-Trainings für Jugendliche. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und
Psychotherapie, 58, 235-241.
Laakmann, M. (2012). Zur Wirksamkeit des JobFit-Trainings: Ein Vergleich zwischen
Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Unveröffentlichte Masterarbeit im Fach Klinische Psychologie, Universität Bremen.
Petermann, F. (2007). Klinische Jugendpsychologie. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 55, 141-143.
Petermann, F. & Petermann, U. (2010). Training mit Jugendlichen (9., überarb. u.
erw. Aufl.). Göttingen: Hogrefe
Petermann, F. & Petermann, U. (2011). Prävention. Kindheit und Entwicklung, 20,
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Petermann, U., Koglin, U., Petermann, F. & Heffter, P. (2010). Kompetenzaufbau
durch das JobFit-Training für Schulklassen. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 57, 144-152.
Roos, S. (2006). Evaluation des „Trainings mit Jugendlichen“ im Rahmen schulischer
Berufsvorbereitung. Frankfurt: Lang.
Roos, S. & Petermann, U. (2005). Zur Wirksamkeit des „Trainings mit Jugendlichen“
im schulischen Kontext. Zeitschrift für Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, 53, 262-282.
Schultheiß, J., Petermann, F. & Petermann, U. (2012). Zur Wirksamkeit des JobFitTrainings für Jugendliche. Zeitschrift für Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, 60, 145-151.
Publikationen
Koglin, U., Petermann, F., Heffter, P. & Petermann, U. (2010). Längerfristige Effekte
des JobFit-Trainings für Jugendliche. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und
Psychotherapie, 58, 235-241.
Petermann, F. & Petermann, U. (2010). Training mit Jugendlichen (9., überarb. u.
erw. Aufl.). Göttingen: Hogrefe
Schultheiß, J., Petermann, F. & Petermann, U. (2012). Zur Wirksamkeit des JobFitTrainings für Jugendliche. Zeitschrift für Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, 60, 145-151.
195
Bildungs- und Entwicklungsförderung junger Kinder
10
Bildungs- und Entwicklungsförderung junger Kinder
zwischen 18 und 48 Monaten (BilKi)
10.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Prof. Dr. Ulrike Petermann
Prof. Dr. Ute Koglin
Mitarbeiterinnen
Dr. Johanna Helmsen
Dipl.-Päd. Gerlinde Knisel-Scheuring
Zeitraum
01.09.2006 - 31.01.2008
Finanzierung
Jugendamt, Stadt Mannheim, Roche Diagnostics
10.2
Zusammenfassung
Das Projekt Bildung junger Kinder im Alter von 18 bis 48 Monaten („BilKi“) ist ein
Kooperationsprojekt der Stadt Mannheim, Roche Diagnostics und dem Zentrum für
Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) der Universität Bremen. An dem
Projekt nahmen zwölf Kindertageseinrichtungen aus dem Norden der Stadt Mannheim teil und eine durch Elterninitiative getragene Kinderkrippe. Es zielte darauf ab,
die Bildungs- und Erziehungskompetenzen von pädagogischen Fachkräften junger
Kinder zu verbessern, denn eine hohe Bildungs- und Erziehungskompetenz ist die
Grundlage für eine umfassende und ganzheitliche Bildung der Kinder.
10.3
Stand der Forschung
Der Früherkennung von Verhaltens- und Entwicklungsaufgaben muss in der Frühpädagogik einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Nur dadurch ist gewährleistet,
197
Bildungs- und Entwicklungsförderung junger Kinder
dass Kinder gezielte Unterstützung bekommen und längerfristige negative Entwicklungsverläufe verhindert werden. Der negative Effekt früher Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten ist besonders nachhaltig, da die Entwicklungsbereiche miteinander vernetzt sind und sie kaskadenartig die Entwicklung in anderen Bereichen
hemmen können oder ebenfalls in eine negative Richtung drängen können.
Verschiedene epidemiologische Studien zeigen auf, dass Erlebens- und Verhaltensauffälligkeiten sowie Entwicklungsstörungen zu den häufigsten Gesundheitsgefährdungen der Kindheit zählen (Tröster & Reineke, 2007). Die Verhaltensauffälligkeiten, die im Vorschulalter am häufigsten vorliegen, sind Auffälligkeiten im aggressiv-oppositionellen Bereich, Aufmerksamkeitsprobleme und emotionale Auffälligkeiten. Aus längsschnittlichen Studien ist zudem bekannt, dass besonders früh auftretende Verhaltensprobleme einen ungünstigen Verlauf zeigen (Broidy et al., 2003;
Kokko & Pulkkinen, 2005). Im Unterschied zu Verhaltensauffälligkeiten liegen wenige Studien zur Prävalenz von Entwicklungsauffälligkeiten im Vorschulalter vor
(Skovgaard et al. 2007). Die meisten Angaben und auch die höchsten Prävalenzraten
finden sich in Bezug auf die Sprachentwicklung (Tröster & Reineke, 2007; Sachse,
2005). Aber auch motorische Entwicklungsstörungen, Auffälligkeiten in der kognitiven Entwicklung sowie im Sozialverhalten wurden im Vorschulalter häufig festgestellt (Karch, 2002; Tröster & Reineke, 2007; von Suchodoletz, 2005). Um die Kinder
frühzeitig fördern zu können und Chancengleichheit anzustreben, ist es wichtig die
Kinder, die von frühen Auffälligkeiten betroffen sind, zuverlässig zu identifizieren,
sie gezielt zu unterstützen und ihnen ggf. Hilfe durch andere Fachkräfte zuzuführen.
10.4
Ziele
Das Projekt „Bildung- und Entwicklungsförderung junger Kinder zwischen 18 und 48
Monaten (BilKi)“ zielte darauf ab, die Bildungs- und Erziehungskompetenzen von
pädagogischen Fachkräften junger Kinder zu verbessern. Damit wurde ein wichtiger
Schwerpunkt des Projekts auf die Professionalisierung des Fachpersonals gelegt, die
als „zentrale(s) Instrumente der Qualitätssicherung im System der Tageseinrichtungen für Kinder“ bezeichnet werden kann (BMfFSFJ, 2003). Neben der Qualifizierung
der MitarbeiterInnen in Kindertageseinrichtungen sollten durch das Projekt ebenfalls die Entwicklungs- und Lernbedingungen der Kinder in den Einrichtungen erfasst
werden.
Der zweite Schwerpunkt des Projektes wurde auf die Bedeutung sozial-emotionaler
Kompetenzen der Kinder gelegt. Eine Förderung in diesen Bereichen schafft erst die
Basis dafür, Kinder in spezifischen Entwicklungsbereichen (wie Sprache, Motorik)
optimal fördern zu können. Durch diesen Schwerpunkt hebt sich dieses Projekt
deutlich von anderen Initiativen ab, die nicht primär die sogenannten soft-skills in
den Mittelpunkt der Förderung stellen.
198
Bildungs- und Entwicklungsförderung junger Kinder
Eine dritte Säule in dem Projekt bildeten Fortbildungen zum Thema Erziehungs- und
Beziehungsqualität. Nach dem aktuellen Bildungsverständnis kommt den Interaktionen der Kinder mit ihrer Umwelt eine entscheidende Rolle zu. Nur durch diese
Wechselwirkungen kommt es zum Lernen und Wissensaufbau und damit zur weiteren Entwicklung. Im Rahmen des Projektes wurde daher ein Instrument zur Erfassung der Beziehungs- und Erziehungsqualität pädagogischer Fachkräfte entwickelt
und es wurde ein Fortbildungsmodul zur Förderung der Erziehungs- und Beziehungsqualität pädagogischer Fachkräfte junger Kinder entwickelt und eingesetzt.
Neben der Identifikation von Kindern mit erhöhten Entwicklungsrisiken, bietet das
System zur Entwicklungsdokumentation (Petermann, Petermann & Koglin, 2012)
auch eine Basis für die Professionalisierung der Elternarbeit. Im Rahmen einer
Dienstleistung, aber auch im Rahmen einer gemeinsamen Erziehung eines Kindes,
müssen die pädagogischen Fachkräfte Eltern unterstützen und auch anleiten können. Die Daten aus der Entwicklungsdokumentation können dazu genutzt werden,
den Eltern einen systematischen Überblick über die Entwicklung ihres Kindes zu
geben. Zudem können die Eltern angeregt werden, Aufgaben aus der Entwicklungsdokumentation zu Hause mit ihren Kindern zu üben. Durch die Einführung der Entwicklungsdokumentation wird die pädagogische Kompetenz der Fachkräfte gegenüber den Eltern gestärkt. Des Weiteren kann das System zur Entwicklungsdokumentation für die Planung, Konzept- und Qualitätsentwicklung in den Einrichtungen
verwendet werden. Die damit gewonnenen Informationen geben Auskunft darüber,
welchen besonderen Bedarf die Kinder in der Einrichtung haben. Zudem kann die
Zielerreichung damit überprüft werden.
10.5
Methodisches Vorgehen
Es nahmen insgesamt 36 Erzieherinnen und 336 Kinder an dem Projekt teil. Die
Fachkräfte erhielten eine Aufwandsentschädigung für ihre Teilnahme an den Fortbildungen, die Bearbeitung der Fragebögen und die Durchführung der Entwicklungsdokumentation. Die Eltern wurden von der pädagogischen Fachkraft ihres Kindes über das Projekt informiert und um Einverständnis zur Teilnahme gebeten. Nur
jene Kinder wurden in das Projekt aufgenommen, deren Eltern zuvor die Einverständniserklärung unterzeichnet hatten.
Die pädagogischen Fachkräfte erhielten Fortbildungen zur Durchführung der Entwicklungsdokumentation und zur Förderung der sozial-emotionalen Entwicklung
von Kindern. Zudem wurden Fortbildungen zum Thema „Erziehungs- und Beziehungsqualität“ durchgeführt. Dazu wurden die Einrichtungen zu Beginn des Projekts
in zwei Gruppen eingeteilt. Eine Intensivgruppe, die diese zusätzliche Schulung erhielt und eine weitere Gruppe, die nur an den zwei ersten Fortbildungen teilnahm.
Es wurde entsprechend ein quasi-experimentelles Design verwendet, das heißt, die
199
Bildungs- und Entwicklungsförderung junger Kinder
Hälfte der Einrichtungen wurde der Intensivgruppe zugeordnet, die diese Fortbildungen erhielt. Es wurden drei Supervisionstermine im Verlauf des Projekts angeboten, an denen die Projektleitung in Mannheim mit den pädagogischen Fachkräften der Intensivgruppe die Fortbildungsinhalte aufgriff, die Übungen vertiefte und
Aufgaben für die Fachkräfte vergab. Zu den Inhalten der Fortbildungen liegt eine
Dokumentation vor.
Vor und nach Abschluss der Fortbildungen wurden die pädagogischen Fachkräfte
mit einem standardisierten Beobachtungsverfahren in Bezug auf die Erziehungsund Beziehungsqualität beurteilt, so dass ein Verlauf über zwei Messzeitpunkte abbildbar ist. Damit sollte überprüft werden, ob die Inhalte der Fortbildungen auch
tatsächlich zu einer verbesserten Erziehungs- und Beziehungsqualität führen.
Des Weiteren wurden alle Einrichtungen hinsichtlich qualitativer Merkmale beurteilt. Zu zwei Zeitpunkten machten die Fachkräfte Angaben zur pädagogischen Arbeit, zur Selbstwirksamkeit, zum Erziehungsverhalten und zu Verhaltensauffälligkeiten der Kinder. Zur Feststellung der pädagogisch-psychologischen Qualität wurde
auf Informationen von verschiedenen Informanten und zu verschiedenen Bereichen
zurückgegriffen. Dies ist damit begründet, dass die Qualitätsbeurteilung aus Sicht
der Projektleitungen nicht ausschließlich über eine externe Begutachtung anhand
eines Kriterienkatalogs beurteilt werden kann. Insgesamt wurden die Daten durch
folgende Informanten erhoben:
•
•
•
•
•
10.6
Externe Beurteilungen durch Mitarbeiter des ZKPR,
Entwicklungsbeurteilung der Kinder durch die pädagogischen Fachkräfte,
Selbstbeurteilungsbögen für pädagogische Fachkräfte,
Fragebogen für Eltern und
Hintergrundinformationen durch das Stadtjugendamt Mannheim.
Ergebnisse
Mit dem Projekt konnten neue Inhalte und Methoden für Bildung und Erziehung
junger Kinder entwickelt werden. Dazu wurde besonderer Wert auf eine wissenschaftlich orientierte und systematische Erfassung der Entwicklung der Kinder gelegt. Des Weiteren standen die Förderung der sozial-emotionalen Entwicklung der
Kinder und die Verbesserung der Erziehungs- und Beziehungsqualität der pädagogischen Fachkräfte im Mittelpunkt. Ohne die bisher geleistete Arbeit der pädagogischen Fachkräfte grundsätzlich in Frage zu stellen, kann geschlussfolgert werden,
dass die erzielten Ergebnisse deutlich aufzeigen, dass zur Erreichung einer durchgehend hohen Bildungs- und Erziehungsarbeit in den Einrichtungen noch Handlungsbedarf besteht. Es wurde deutlich, dass der Bildungshintergrund und der Migrationshintergrund der Kinder sich im Entwicklungsergebnis widerspiegeln. Der Rück200
Bildungs- und Entwicklungsförderung junger Kinder
stand der Kinder mit Migrationshintergrund zu Kindern aus bildungsnahen Familien
wird im Verlauf der Entwicklung eher größer als geringer. Umso ermutigender ist es,
dass die pädagogischen Fachkräfte mit einer hohen Erziehungs- und Beziehungsqualität zu einer positiven kindlichen Entwicklung beitragen können. Die pädagogischen
Fachkräfte bieten damit besonders den benachteiligten Kindern eine Chance, die
zukünftig noch stärker genutzt werden sollte. Die pädagogische Fachkraft und ihr
Team haben sich in dem Projekt als Ressource für eine hohe Qualität der Bildungsund Erziehungsarbeit erwiesen. Professionalität, Teamgeist und fachlicher Austausch, ein gutes Arbeitsklima, berufliche Zufriedenheit und persönliche Selbstwirksamkeit der Fachkräfte sind Kriterien der pädagogischen Qualität in den Einrichtungen, die gefördert werden müssen.
10.7
Literatur
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201
Bildungs- und Entwicklungsförderung junger Kinder
Göttingen: Hogrefe.
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Frühe Bildung, 1, 1-7.
202
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue
11
Entwicklung und Evaluation einer Patientenschulung
bei tumorbedingter Fatigue
11.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Stefan Görres, Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität
Bremen
Prof. Dr. Franz Petermann
MitarbeiterInnen
Dr. Ulrike de Vries
Prof. Dr. Karl Reif
Kooperationspartner
Bremer Krebsgesellschaft, Altmark-Klinikum, Salzwedel, Bayerische Krebsgesellschaft, Beratungsstelle Hof, Brandenburgische Krebsgesellschaft, Charité Universitätsmedizin, Elbeklinikum Stade-Buxtehude, Klinik für Tumorbiologie, Freiburg, Klinikum Brandenburg/Havel, Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Klinikum
Hanau GmbH, Ludmillenstift, Meppen, Ostalbklinikum, Aalen, Praxis Phoenix, Neustadt a. Rbge., Universitätsklinikum Greifswald
Zeitraum
01.04.2007 - 31.12.2010
Finanzierung
BMBF
11.2
Zusammenfassung
Objective: To evaluate the patient education program FIBS (Fatigue individuell
bewältigen - ein Selbstmanagementprogramm für Krebspatienten) that aims at
reducing perceived fatigue in cancer survivors. Methods: In ten German centres,
261 patients with cancer-related fatigue were randomly assigned to a patient
203
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue
education program consisting of 6 sessions à 90 minutes or standard care. The
primary outcome measure was cancer-related fatigue (CRF). Secondary outcomes
included quality of life, general self-efficacy, physical activity, self-efficacy for
physical activity, anxiety, depression, and fatigue knowledge. Satisfaction with the
program was evaluated directly after the intervention. Data were analyzed using
analysis of variance (ANOVA) with repeated measures. Results: Patients in the
education group showed statistically significant reduction in cancer-related fatigue
(F=76.510, p<0.001, η2=0.248). Secondary outcomes also showed statistically
significant improvements in all measures including quality of life (F=29.607,
p<0.001, η2=0.113), general self-efficacy (F=27.680, p<0.001, η2=0.107), exercise
self-efficacy (F=49.230, p<0.001, η2=0.175), physical activity (F=8.036, p<0.001,
η2=0.033), anxiety (F=33.194, p<0.001, η2=0.125), depression (F=24.604, p<0.001,
η2=0.096), and fatigue knowledge (F=55.157, p<0.001, η2=0.192). Satisfaction with
the program was generally high (mean=9.68 of 12 possible points, SD=1.66).
Conclusion: The FIBS program was effective in reducing perceived fatigue, anxiety,
and depression as well as improving quality of life, self-efficacy, physical activity,
and fatigue knowledge. Patients were highly satisfied with the program. Practice
Implications: The FIBS program can be applied effectively in cancer survivors.
11.3
Stand der Forschung
Cancer-related fatigue (CRF) is defined as a distressing persistent sense of tiredness
or exhaustion related to cancer that is not proportional to recent activity and
interferes with usual functioning (National Comprehensive Cancer Network, 2011).
CRF is seen as a multidimensional symptom as it encompasses physical, mental and
emotional aspects (Glaus, Crow & Hammond, 1996). CRF is highly prevalent across
the cancer continuum from diagnosis and treatment through survivorship and end
of life. The prevalence of cancer-related fatigue ranged from 4% to 91%, depending
on the population studied and the methods of assessment (Lawrence, Kupelnick,
Miller, Devine & Lau, 2004). Advances in diagnosis and treatment of malignancies
have resulted in a growth of the number of cancer survivors. Thus, clinicians are
being faced with a growing number of patients with CRF, even years after
treatment. There is a wide range of treatment options for CRF which can be
classified into pharmacologic and nonpharmacologic interventions. Drug therapy for
CRF is not well established yet. Hemopoietic growth factors have been suggested to
treat CRF but can no longer be recommended due to safety issues (Minton,
Richardson, Sharpe, Hotopf & Stone, 2010). There is evidence for the use of
psychostimulants to treat CRF (Minton, Richardson, Sharpe, Hotopf & Stone, 2011).
However, large scale trials to confirm these results are required. Nonpharmacologic
interventions focus on exercise and psychosocial interventions. In a meta-analysis,
these interventions achieved an overall effect size of -0.341 (p<0.001) (Kangas,
204
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue
Bovbjerg & Montgomery, 2008), with negative indices indicating less fatigue postintervention. Exercise has been studied extensively, yielding an effect size in
survivors of 0.31 (Brown et al., 2011). Psychosocial interventions may comprise
psychoeducation, psychotherapy or social support; in a meta-analysis the pooled
effect size was -0.313 (Kangas et al., 2008), whereas single trials resulted in effect
sizes from 0.17 to 1.07 (Goedendorp, Gielissen, Verhagen & Bleijenberg, 2009).
11.4
Ziele
Psychoeducation is common in psychosocial interventions and is recommended as a
key strategy in CRF management (National Comprehensive Cancer Network , 2011).
However, the efficacy of psychoeducational interventions in cancer survivors has
not been established. Therefore, a patient education program was developed by
multidisciplinary collaboration using formative evaluation methods. The program is
named FIBS, “Fatigue individuell bewältigen - ein Selbstmanagementprogramm für
Krebspatienten” (Coping with fatigue individually - a self-management program for
cancer patients). In this study, the aim was to determine whether FIBS could
improve the patients’ CRF management.
11.5
Methodisches Vorgehen
A multi-centre randomised two-group waiting-list controlled intervention trial was
carried out. Our main hypothesis was: Participation in the patient education
program significantly changes the level of CRF in disease-free cancer survivors with
a follow-up period of 6 months. The study was approved by the Ethics Committee of
the University of Bremen. Participants: Patients were eligible if they were 18 years
or older and diagnosed with malignant tumors. They had to be in a stable condition
(ECOG Performance Status 0-2 (Oken et al., 1982) at any time point following active
treatment and remission of acute toxic side effects. The patients’ CRF level had to
be rated as moderate (4-6) or severe (7-10) on a scale from 0-10 (National
Comprehensive Cancer Network, 2011). Patients were excluded if their life
expectancy was less than 12 months, if they had brain tumours or brain metastases,
cognitive disorders or psychiatric conditions. Patients with depression were not
excluded. Crucial inclusion factors were a sufficient level of functioning and
motivation to be able to participate in a multi-part seminar. Patients were recruited
by their physicians who checked the inclusion and exclusion criteria from July 2008
to March 2010 in 10 German centres covering urban and rural areas. All participants
received personal and written information about the study and gave written
informed consent. Procedures: Computer-generated randomization lists were used
205
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue
for concealed allocation by central telephone calls. Data collection was scheduled at
baseline (t0), post-treatment (t1) and at a follow-up of 6 months (t2). Baseline
measures (t0) were obtained prior to randomization. Although the data entry and
analysis was performed by blinded researchers, patients and tutors could not be
blinded to treatment allocation for practical reasons. Intervention: The intervention
was a structured patient education program consisting of six weekly sessions à 90
minutes designed for groups of 8 cancer survivors. The topics and methods of each
session are presented in table 1.
Table 1: Topics and methods of FIBS sessions (each 90 min.).
Session
1
2
3
4
5
6
Title of
session
Topics
Dimensions
of fatigue
Differentiate between the physical,
cognitive and emotional dimensions of
fatigue.
Etiology and Information about etiology of fatigue,
treatment of treatment options, subjective theories of
fatigue
disease. Establish an exercise program.
Time and
Review of daily routines, structure activities
energy
according to energy levels, utilizing a
management patient diary.
Healthy sleep Information about rules of sleep hygiene,
and
establish healthy sleep-wake rhythms.
enjoyment
Training of positive self-reinforcement
techniques.
Coping with
Learn strategies to overcome depressive
emotions
periods. Negative experiences in everyday
life are reviewed and strategies to activate
positive emotions are trained.
Implementin Patients discuss the use of resources to
g new
overcome barriers that may occur when
strategies
implementing new strategies into everyday
life.
Methods
SL, MG
SL, MG,
HE
SL, MG,
IT, BT,
HE
SL,MG,
IT, BT,
HE
SL,MG,
IT, BT,
HE
SL, MG
SL=Short lectures, MG=moderated group discussions, I=individual tasks, BT=behavioral
training, HE= home exercises.
FIBS aims at impacting on health-related self-efficacy as it is known that knowledge
by itself hasn't proved to achieve behaviour modifications. This was realized by
implementing a training of problem solving, including goal setting and evaluation,
and other cognitive techniques into the program. We utilized behaviour therapyoriented strategies and techniques and designed the program to be effective in the
cognitive, emotional, and behavioural aspect. The structure of the sessions was
206
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue
scheduled so that short periods of lecture activity by the trainer and longer periods
of controlled participant activity alternated. In that way all patients could express
their thoughts and feelings on any topic and the individual needs of patients could
be taken into account. Also, the subject matter could be easier kept in mind as it
was worked out by the patients themselves.
Between sessions, the patients were encouraged to keep a diary, perform exercises
and implement lifestyle changes. Two additional meetings after 3 and 6 months
were offered to patients to share their experiences in daily life. The program was
administered by nurses and psychologists but can also be carried out by other
health care professionals. The manual is published in German (de Vries, Reif,
Petermann & Görres, 2011). Patients in the intervention group (IG) were highly
satisfied with the program (Reif, de Vries, Petermann & Görres, 2010). The trainers
were mostly nurses, but also psychologists worked as trainers. All trainers attended
a specialized train-the-trainer workshop held by the authors to ensure that the
program is conducted in each centre in the same way. Patients in the control group
(CG) were put on a waiting-list. They participated in the program after the IG had
completed their follow-up. All patients received standard information on fatigue as
a lecture. For all patients medical care, e. g. routine follow-up, continued as usual
and no additional intervention was provided.
Outcome measures. CRF was measured by the Fatigue Assessment Questionnaire
(FAQ). The scale consists of 20 items: 11 items represent physical, 5 items affective
and 3 cognitive fatigue; one item is about insomnia. In addition, there are three
visual analogue scales about fatigue intensity and burden. Cronbach’s alpha of the
total scale was 0.90, physical subscale 0.95, affective subscale 0.83 and cognitive
subscale 0.86 (Glaus & Müller, 2001). Quality of life was measured with the EORTC
QLQ-C30 questionnaire. It is a 30-item questionnaire that reflects the
multidimensionality of the construct. It includes 5 functional scales, 3 symptom
scales and a global health status scale. 6 single item side effects scales are added.
The questionnaire showed satisfactory psychometric properties and was found to
be useful for detecting changes over time (Aaronson et al., 1993). The reliability
coefficients for the multi-item scales in a German population ranged from 0.65-0.89
(Schwarz & Hinz, 2001). For this study, the questionnaire was adapted to the
survivor’s conditions and thus reduced to 21 items, omitting acute disease specific
items like dyspnea and nausea/vomiting. General self-efficacy was assessed by
using the General Self-Efficacy Scale (Schwarzer & Jerusalem, 1995). It is a 10-item
questionnaire designed to assess optimistic self-belief that one can perform on
novel or difficult tasks or cope with adversity in various domains of functioning. The
scale has proved reliable and valid. Cronbach’s alpha ranged from 0.76 to 0.90.
Criterion-related validity is documented in numerous correlation studies (Scholz,
Gutiérrez-Doña, Sud & Schwarzer, 2002). Exercise self-efficacy was measured with
the Physical Exercise Self-Efficacy Scale. This 20-item instrument was developed to
assess efficacy beliefs in initiating and maintaining a regular program of physical
207
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue
exercise even under unfavorable circumstances. Cronbach’s alpha was 0.89 (Fuchs
& Schwarzer, 1994). The instrument was positively correlated with generalized selfefficacy. Further evidence of validity is provided by the correlation between the
scale and the intention towards physical exercise (Fuchs & Schwarzer, 1994).
Physical activity was measured by the Freiburg Questionnaire on Physical Activity
(FFKA) (Frey, Berg, Grathwohl & Keul, 1999). Originally, the questionnaire consisted
of 12 items. In consultation with the authors those 4 items which measure the
quality of sleep were omitted. An estimate of energy expenditure was derived by
multiplying hours of reported activity by the average intensity expressed in
metabolic equivalent values for activities (MET) (Ainsworth et al., 2000). The scale
has satisfactory psychometric properties and allows a calculation of weighted MET
hours per week. The test-retest-reliability of subscales ranged between 0.751 and
0.998. Maximum oxygen uptake correlated with sport activities, thus showing a
good validity (Frey et al., 1999). Anxiety and depression were measured by the
German version of the Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D) (Hinz &
Schwarz, 2002), consisting of 7 items on both subscales. Cronbach’s alpha varied
from 0.67 to 0.90 (Bjelland, Dahl, Haug & Neckelmann, 2002). The sensitivity and
specificity was approximately 0.80. Correlations between HADS and other
commonly used questionnaires ranged from 0.49 to 0.83 (Bjelland et al., 2002; Hinz
& Schwarz, 2002). Since there were no scales for measuring CRF knowledge the
Fatigue Knowledge Test (F-WT) was developed. The concepts were drawn from
clinical recommendations with emphasis on self-care. The items are based on a
systematic review (de Vries, Reif, Stuhldreher, Petermann & Görres, 2009). The FWT is a 34-item instrument with true/false questions containing 9 items about
etiology and signs of CRF, 6 items about treatment, 3 items about exercise, 6 items
about exercise motivation, 5 items about scheduling daily activities and 5 items
about improvement of the sleep-wake rhythm. Cronbach’s alpha calculated from
our study was 0.82. A questionnaire to measure the patients' satisfaction was
developed, the “Fatigue education satisfaction scale’’, based on a scale for asthma
education. The original scale contained 28 items. Cronbach’s alpha for the total
scale was 0.92 and ranged from 0.47 to 0.91 for subscales (de Vries, Mühlig,
Waldmann & Petermann, 2008). This questionnaire was modified for use in FIBS.
Statistical analysis. The sample size estimation was based on the FAQ. To detect a
clinically relevant difference of 4 points in the mean with 80% power and a twosided 0.05 significance, 120 patients were needed in each group. Data for the
sample size estimation was determined by research (Geinitz et al., 2004). We
anticipated an attrition of 20%, giving a total n of 150 per group or n of 120 per
group being analysed at t2. We used a group-by-time two-way analysis of variance
(ANOVA) statistics with time as the repeated factor. Group-by-time effects on
changes in patients’ outcomes and partial eta-squared (η2) values were calculated.
The primary outcome measure was CRF, all other outcomes were secondary. We
considered results to be statistically significant if the two-sided p-values were less
208
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue
than 0.05. All patients who completed the questionnaires were included in the
analyses regardless of their participation in the sessions (intention-to-treat
analysis). No interim analyses for efficacy or futility were carried out, no stopping
rules applied. All statistical analyses were carried out using SPSS for Windows
Release 18.
11.6
Ergebnisse
327 patients were assessed for eligibility; 261 were randomized, 129 allocated to
the IG and 132 to the CG. 120 patients attended the program. All of these and 114
patients in the CG were analyzed at follow-up. 27 patients couldn’t be analyzed as
there were no data available. No patient discontinued the intervention, but some
didn’t attend all modules for different reasons (e.g. illness or scheduling conflicts).
The mean participation rate was 4.3 modules (n = 104). Table 2 displays the
baseline characteristics of the patients. There were no significant differences
between groups on any of the demographic/clinical variables at baseline. All
characteristics were similar between groups. The patients were predominantly
women caused by numerous participation of certified Breast Units at hospitals. This
also explains the high prevalence of breast cancer patients. However, in total
patients with 29 tumor entities participated in the study. The most prevalent
comorbidity was depression. Most patients had already taken measures against CRF
like information or sports.
Primary outcome measure. The study population was highly fatigued at baseline,
scoring 42.42 (SD = 9.17) in the IG and 41.68 (10.13) in the CG on the FAQ scale
ranging from 0-60. Likewise, the mean visual analogue subscale values 8.03 (1.57) in
the IG and 8.09 (1.34) in the CG on a scale of 0-9 indicate severe subjective CRF
burden. The values of the fatigue subscale of the QLQ-C30 confirm these results;
they show a fatigue burden of 75.37 (19.39) in the IG and 73.29 (22.01) in the CG on
a scale of 0-100.
In the IG, CRF was reduced to 22.85 (15.73) at t2. The CG showed almost no change
in CRF levels over time. In the repeated measures ANOVA, this difference was
statistically significant for the group by time interaction (F = 76.51, p<0.001). The
partial η2 of 0.248 indicates a large effect. All subscales of the FAQ achieved
statistically significant effects with partial η2 ranging from 0.09 (the smallest effect
in insomnia) to 0.238 (the largest effect in physical fatigue) (figure 1).
Secondary outcome measures. The changes in the quality of life questionnaire
QLQ-C30 indicate a significant improvement in the global health status in the IG
compared to the CG. All functional and symptom scale values as well as single items
values increased significantly. The largest effect could be seen in the fatigue
subscale: the IG showed a reduction from 75.37 (19.39) to 40.74 (30.60) while the
209
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue
values in the CG remained about the same (F = 57.837, partial η2 = 0.2, p < 0.001).
This finding confirms the results of the FAQ.
Self-efficacy was improved significantly by the intervention, in the general scale as
well as in the physical exercise scale. However, physical exercise self-efficacy
declined in the CG over time, in the total scale as well as in all subscales. A similar
effect was found in the changes in physical activity. Total activity improved in the IG
but declined in the CG. The group difference indicated a small effect (F = 8.036,
partial η2 = 0.033, p < 0.001). All subscales of the FFKA showed significant
improvements. The largest effect could be seen in leisure activities, whereas sports
showed the smallest effect. The decline in self-efficacy and physical activity in the
CG might be explained by a lack of expectations that may have occurred in the CG
while waiting for the intervention.
Table 2: Demographic and clinical characteristics of patients in intervention group
(IG) and wait-list control group (CG). All data in „n (%)“ unless otherwise stated.
Sex
Age
Marital status
Education
(school leaving
certificate)
Female
Mean (SD)
Unmarried
Married
Divorced / separated
Widowed
Secondary school
Polytechnic secondary school
Adv. technical college certificate
A-level-exam
Most prevalent
initial diagnoses
Most prevalent
comorbidities
Duration of
fatigue
Depression
Hypertension
Diabetes
< 6 Months
> 6 Months
Other
210
IG n=120
97 (80.8%)
57.78 (10.32)
10 (8.3%)
86 (71.7%)
14 (11.7%)
10 (8.3%)
71 (59.2%)
9 (7.5%)
14 (11.7%)
24 (20.0%)
Breast cancer
76 (63.3%)
Colon cancer
8 (6.7%)
Prostate cancer
5 (4.2%)
34 (28.3%)
12 (10.0%)
8 (6.7%)
8 (6.7%)
112 (93.3%)
2 (1.7%)
CG n=114
90 (78.9%)
57.52 (11.90)
11 (9.6%)
71 (62.3%)
23 (20.2%)
9 (7.9%)
61 (53.5%)
10 (8.8%)
14 (12.3%)
29 (25.4%)
Breast cancer
61 (53.5%)
Leukemia
6 (5.3%)
Lymphoma
6 (5.3%)
33 (28.9%)
30 (26.3%)
4 (3.5%)
4 (3.5%)
107 (93.9%)
4 (3.5%)
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue
Figure 1: Primary outcome cancer-related fatigue: change in FAQ total score.
Anxiety and depression could be reduced significantly in the IG while these
parameters decreased in the CG. (table 3).
Table 3: Changes in Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS) (range 0 - 21).
Group
Anxiety
IG
CG
Depression
IG
CG
Preintervention
Mean
(SD)
9.16
(3.92)
9.51
(3.98)
8.32
(3.85)
8.71
(3.58)
Postintervention
Mean
(SD)
6.73
(4.40)
9.47
(3.94)
6.09
(4.72)
8.77
(3.88)
211
Followup
Mean
(SD)
5.32
(4.39)
9.81
(4.43)
5.04
(4.71)
8.86
(4.01)
group x time
Partial etasquared
F
p
group x
time
33.194
<0.001
0.125
24.604
<0.001
0.096
Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue
The total score of the Fatigue Knowledge Test showed an improvement in the IG
from t0 to t1 and remained roughly on this position until t2, whereas the knowledge
gain in the CG remained minimal, indicating a significant difference.
Conclusion
This trial introduces an education program for fatigued cancer patients following
therapy completion. In the evaluation, the newly developed program FIBS proved
superior to standard information and care for patients on a wait-list. At baseline,
participating patients were suffering from severe symptom burden, and the
majority of patients had already made multiple attempts to combat fatigue.
Our study adds a patient education program for cancer survivors. The efficacy of the
program can be explained by multiple factors.
•
FIBS was designed to reduce CRF in cancer patients. In studies identified by a
Cochrane review (Goedendorp et al., 2009), specific interventions for CRF
had a higher probability of being effective compared to interventions not
specific for CRF.
•
FIBS was composed of CRF specific strategies that were assumed effective as
mentioned in the NCCN guideline (National Comprehensive Cancer Network,
2011) and in recommendations from the Oncology Nursing Society (Mitchell
et al., 2007).
•
Advice on social support and support from other patients can be a helpful
component of effective interventions for CRF (Fors et al., 2010) and was
therefore included in the FIBS program. The sessions were designed so that
patients could learn from each other.
•
As depression is a major factor frequently associated with CRF (Jacobsen,
Donovan & Weitzner, 2003), advice on strategies to overcome depressive
periods may have helped to ameliorate depressive symptoms as well as
affective fatigue.
Our education program designed for cancer survivors after treatment had a positive
impact on perceived fatigue and other secondary variables. The effect could be
maintained 6 months following participation.
11.7
Literatur
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214
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Stuhldreher, N., Reif, K., de Vries, U., Petermann, F. & Görres, S. (2008). Entwicklung
und Evaluation einer Patientenschulung bei tumorbedingter Fatigue. IPP info, 06,
10.
215
Teil III: Rehabilitation
Teil III: Rehabilitation
In den folgenden Kapiteln werden zehn Projekte vorgestellt, die im Wesentlichen
von der Deutschen Rentenversicherung finanziert werden. Hier waren unsere Partner u.a. die DRV Bund, DRV Oldenburg-Bremen, DRV Braunschweig-Hannover und
DRV Nord für den Bereich Kinderrehabilitation und Rehabilitation von Erwachsenen.
Besondere Bedeutung erlangte seit 2005 die psychosomatische Rehabilitation, die
eine wichtige Verbindung zum Fach „Klinische Psychologie“ repräsentiert. Die psychosomatische Rehabilitation stellt ein aus sozialmedizinischer und gesundheitsökonomischer Sicht bedeutendes Behandlungsverfahren dar. Sie bildet den drittgrößten Anteil an allen Rehabilitationsverfahren. Wie bei anderen Indikationsbereichen zielt auch die psychosomatische Rehabilitation auf die Besserung bzw. Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit sowie auf die Wiederherstellung der Leistungs-,
Funktions- und Beziehungsfähigkeit im Alltag und im Berufsleben. Nur stehen hier
die psychischen Probleme als Ursache der Einschränkungen einer Teilhabe an Aktivitäten und sozialer Integration ganz im Mittelpunkt. Bei den Behandlungsverfahren
kommt der psychotherapeutischen Behandlung ein zentraler Stellenwert zu.
Die Zuweisung zur psychosomatischen Rehabilitation zwingt den Patienten, sich mit
seinen Gesundheitszielen, mit seinen Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit,
mit organisatorischen Fragen im Zusammenhang mit dem bevorstehenden stationären Aufenthalt und eventuell auch mit bestehenden motivationalen Barrieren auseinanderzusetzen. Bisher liegen keine systematischen Studien vor, die diese Situation der Patienten in der prästationären Phase genauer untersuchen. Maßnahmen
zur prästationären Einzel- oder Gruppenberatung werden nur von einem kleinen
Teil der psychosomatischen Rehabilitationskliniken angeboten. Um so wichtiger ist
daher die Entwicklung und Evaluation von manualgestützter Vorbereitung der Patienten auf die psychosomatische Rehabilitation, die in einigen der folgenden Projekte realisiert wurde.
217
Rehabilitation bei chronischem Rückenschmerz
1
Depression als Prädiktor für den Misserfolg der
Rehabilitation von chronischem Rückenschmerz
1.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Petra Hampel, Stiftungsprofessur Rehabilitationspsychologie
Mitarbeiterinnen
Dipl.-Psych. Beate Mohr
Dipl.-Psych. Monika Thomsen
Dipl.-Psych. Lisa Tlach
Kooperationspartner
Dr. Gräf, Montanus-Klinik, Bad Schwalbach
Dr. Krohn-Grimberghe, Rheumaklinik Bad Wildungen
Zeitraum
01.01.2005 - 30.06.2009
Finanzierung
Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen und Universität Bremen
1.2
Zusammenfassung
Hintergrund und Fragestellung. Bei der Chronifizierung von Rückenschmerzen haben sich psychosoziale Beeinträchtigungen, insbesondere depressive Symptome, als
wesentliche Risikofaktoren im Chronifizierungsprozess erwiesen. Demzufolge weisen Patienten mit komorbider Depressivität einen erhöhten Bedarf an psychologischen Interventionen auf. Das Projekt untergliederte sich in zwei Phasen: In der
ersten Phase sollte der Einfluss der Depressivität und des Geschlechts auf den Rehabilitationserfolg bestimmt werden. In Phase 2 sollte die langfristige Effektivität
einer stationären orthopädischen Rehabilitation in Abhängigkeit von der experimentellen Bedingung und vom Geschlecht auf psychosoziale Kennwerte untersucht
werden. Es wurde der Frage nachgegangen, ob Patienten mit erhöhter Depressivität
219
Rehabilitation bei chronischem Rückenschmerz
langfristig von einer störungsspezifischen kognitiv-behavioralen Intervention profitieren. Methode. In der ersten Phase wurden 116 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen vor, direkt nach, 3 und 6 Monate nach der Rehabilitation untersucht, die neben der Standardrehabilitation ein vierstündiges Schmerzbewältigungstraining enthielt. In der zweiten Phase wurden 153 Patienten mit chronisch unspezifischen Rückenschmerzen zu Rehabilitationsbeginn, Rehabilitationsende, nach
sechs, 12 und 24 Monaten untersucht. Veränderungen unmittelbar nach der Rehabilitation wurden als kurzfristige, nach sechs Monaten als mittelfristige und nach 12
und 24 Monaten als langfristige Rehabilitationseffekte betrachtet. Ergebnisse. In
Phase 1 ergab sich, dass kurzfristig alle Rehabilitandinnen und Rehabilitanden von
der Rehabilitation profitierten. In Phase 2 zeigten sich ebenfalls alle Rehabilitandinnen und Rehabilitanden unmittelbar nach der Rehabilitation signifikant verbessert.
Mittel- und langfristig konnten jedoch nur die Patienten mit mittlerer und hoher
Depressivität in der Depressivität und Angst profitieren, die zusätzlich zum
Schmerzbewältigungstraining ein kognitiv-behaviorales Depressionsbewältigungstraining erhielten. Schlussfolgerung. Die varianzanalytischen Befunde für Phase 1
legen nahe, dass die Standardmaßnahme eine kurzfristige Wirksamkeit aufweist. Im
Langzeitverlauf konnten in Phase 2 günstige Effekte der kombinierten Rehabilitationsmaßnahme mit einem kognitiv-behaviorales Depressionsbewältigungstraining
für die Patienten mit mittlerer und hoher Depressivität in psychologischen Parametern nachgewiesen werden. Es kann demnach angenommen werden, dass das Training zur Depressionsbewältigung dem zusätzlichen psychologischen Behandlungsbedarf von Patienten mit chronisch unspezifischen Rückenschmerzen mit komorbider Depressivität gerecht wird, langfristig den Rehabilitationserfolg verbessert und
somit einer weiteren Chronifizierung entgegenwirkt.
1.3
Stand der Forschung
Rückenschmerzen verursachen Gesamtausgaben von 49 Milliarden Euro jährlich,
was etwa 2.2% des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland entspricht (Wenig,
Schmidt, Kohlmann & Schweikert, 2009). Hierbei setzen sich die Gesamtkosten jeweils zur Hälfte aus den direkten Behandlungskosten und den indirekten Kosten
aufgrund von Frühberentungen und Arbeitsunfähigkeitstagen zusammen. Kohlmann (2003) nimmt an, dass es bei 5 bis 8% der Betroffenen zu einem chronischen
Verlauf kommt. Hierbei haben sich insbesondere emotionale Beeinträchtigungen,
wie Distress, Angst und insbesondere Depressivität, als bedeutsame Risikofaktoren
für eine Chronifizierung erwiesen (z.B. Hasenbring & Pfingsten, 2007; Linton, 2000).
Bereits 2000 zog Härter aus den erhöhten Prävalenzen für komorbide Depression
bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen das Fazit, dass sowohl eine frühzeitige Diagnostik als auch eine spezifische Behandlung von komorbiden psychischen Störungen bei der Rehabilitation von chronisch unspezifischen Rücken220
Rehabilitation bei chronischem Rückenschmerz
schmerzen angezeigt ist. Allerdings wurden komorbide psychische Störungen in der
orthopädischen Rehabilitation von chronischen Rückenschmerzen bislang nicht ausreichend diagnostiziert und behandelt (Irle, Worringen, Korsukéwitz, Klosterhuis &
Grünbeck, 2002; Reuter, Woll, Stadelmann, Bengel & Härter, 2002). So lagen noch
keine störungsspezifischen Behandlungsmaßnahmen vor.
1.4
Ziele
Die erste Phase verfolgte zwei Ziele: 1) Es sollte der Einfluss der Depressivität und
des Geschlechts auf den Rehabilitationserfolg bestimmt werden. 2) Die Prädiktoren
des Rehabilitationsmisserfolges, wie z.B. Alter, Geschlecht oder Depressionsstatus,
sollten an einer repräsentativen Stichprobe für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen prospektiv ermittelt werden. In Phase 2 wurde das Ziel verfolgt, zusätzlich zu den 1-Jahresverläufen noch die nachhaltigen Rehabilitationseffekte zwei Jahre nach der Rehabilitation zu beleuchten. So wurden die Effekte einer stationären
orthopädischen Rehabilitation in Abhängigkeit von der experimentellen Bedingung
und vom Geschlecht auf schmerzbezogene und psychologische Kennwerte untersucht.
1.5
Methodisches Vorgehen
In Phase 1 wurde von Januar 2005 bis Mai 2005 die Studie geplant und vorbereitet
sowie die Kooperationen aufgebaut. Juni 2005 wurde das Klinikpersonal geschult.
Die Datenerhebung erstreckte sich von Juli 2005 (prä) bis September 2006 (6Monatskatamnese). Die Datenaufbereitung und -publikation erfolgten von Oktober
2006 bis Januar 2007. In Phase 2 fand von Mai 2008 bis Februar 2009 die Datenerhebung statt. Die Daten wurden bis April 2009 aufbereitet und bis Juni 2009 wurden
der Abschlussbericht und weitere Publikationen erstellt.
In der ersten Phase wurden N=116 Patienten der orthopädischen Rehabilitationskliniken Rheumaklinik Bad Wildungen und Montanus-Klinik in Bad Schwalbach mit
chronischen Rückenschmerzen im Verlauf der stationären orthopädischen Rehabilitation untersucht. Es wurde insbesondere der Einfluss des Geschlechts und des Depressionsgrades auf medizinische, psychosoziale und sozialmedizinische Kennwerte
zu Rehabilitationsbeginn, Rehabilitationsende, 3 und 6 Monate nach der Rehabilitation mit einem Schmerzbewältigungstraining analysiert.
In der zweiten Phase wurde an einer konsekutiven Stichprobe von N=153 Patienten
mit chronisch unspezifischen Rückenschmerzen (84 Männer, 69 Frauen; Alter:
M=50.5 J.; SD=6.1; ICD-10 Diagnose: M54.4, M54.5) aus den beiden stationären
orthopädischen Rehabilitationskliniken der Einfluss der experimentellen Bedingung
221
Rehabilitation bei chronischem Rückenschmerz
und des Geschlechts auf psychologische und schmerzbezogene Kennwerte zu Rehabilitationsbeginn, Rehabilitationsende, nach sechs, 12 und 24 Monaten untersucht.
Ein Standardrehabilitationsprogramm mit einem vierstündigen Schmerzbewältigungstraining wurde mit Patienten mit niedriger Depressivität (KG) und mit Patienten mit mittlerer und hoher Depressivität (KGdepr) durchgeführt. Eine dritte Gruppe
von Patienten mit mittlerer und hoher Depressivität erhielt zusätzlich ein fünfstündiges kognitiv-behaviorales Modul zur Depressionsbewältigung (IGdepr).
1.6
Ergebnisse
Insgesamt zeigten die varianzanalytischen Befunde für Phase 1, dass kurzfristig alle
Rehabilitanden von der Rehabilitation profitierten. Mittelfristig konnte jedoch ein
Rehabilitationserfolg eher nur für die Frauen festgestellt werden. In den Schmerzbewältigungsstrategien konnten lediglich niedrig, jedoch nicht mittel und hoch depressive Rehabilitanden profitieren. Insbesondere hoch depressive Männer erreichten wieder die Ausgangswerte zur 6-Monatskatamnese und wiesen sogar den Trend
zu mittelfristigen Verschlechterungen auf. Die Verteilungen zu Rehabilitationsbeginn und zur 6-Monatskatamnese über alle Rehabilitanden verdeutlichen, dass mittelfristig eher keine Veränderungen zu beobachten waren. Negative Trends konnten
mehr abgefangen werden. Mittlere Effektstärken für mittelfristige Verbesserungen
ergaben sich für die Schmerzintensitäten und die schmerzbedingte Funktionsbeeinträchtigung. Eine erhöhte Depressivität erwies sich mit einer geringeren schmerzbezogenen Handlungsplanung und niedrigeren körperlichen Lebensqualität als Prädiktor für eine niedrigere Funktionskapazität zur 6-Monatskatamnese. Der Erwerbsverlauf war eher stabil, wies jedoch auch deutlich negative Trends auf. Die Erwerbstätigkeit zur 6-Monatskatamnese konnte durch eine Arbeitsunfähigkeit mehr als 14
Tage in den letzten 3 Monaten vorhergesagt werden.
In Phase 2 profitierten insgesamt ebenfalls alle Studienteilnehmer kurzfristig von
der Rehabilitation. In den schmerzbezogenen Kennwerten bildete sich dieser Effekt
jedoch mittel- oder langfristig zurück. Demgegenüber zeigten sich im psychischen
Befinden Rehabilitationseffekte in Abhängigkeit der experimentellen Bedingung: Die
KGdepr zeigte in der Depressivität einen kurzfristigen Rehabilitationserfolg, während
bei den Patienten der IGdepr noch 24 Monate nach Rehabilitationsende reduzierte
Depressivitätswerte zu beobachten waren. In der Angst profitierten Patienten in der
KGdepr und der IGdepr auch noch 12 Monate nach der Rehabilitation, wobei eine Stabilität dieses Effektes über zwei Jahre lediglich in der IGdepr erzielt werden konnte. In
der psychischen Lebensqualität konnte in der KGdepr nach der Rehabilitation eine
kurzfristige Verbesserung beobachtet werden. Die Patienten der Interventionsgruppe (IGdepr) zeigten auch noch sechs Monate nach der Maßnahme eine bedeutsam
gesteigerte psychische Lebensqualität (ES=.78), eine reduzierte schmerzbedingte
222
Rehabilitation bei chronischem Rückenschmerz
Hilflosigkeit und Depression (ES=.53) sowie verminderte schmerzbedingte Angst
(ES=.56). Diese Effekte waren jedoch nicht langfristig stabil.
Allerdings sollten die bei allen Patienten lediglich kurzfristigen Rehabilitationseffekte auf körperlicher Ebene über Nachsorgemaßnahmen stabilisiert werden. Zudem
ist zu erwarten, dass die günstigen Rehabilitationseffekte des neuen Depressionsbewältigungstrainings auf die psychische Lebensqualität und die schmerzbezogene
psychische Beeinträchtigung durch Nachsorgemaßnahmen ausgebaut werden könnten.
1.7
Literatur
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223
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inpatient rehabilitation of chronic low back pain: A 2-year follow-up. European
Spine Journal, 20, 2143-2151.
224
Implementation von Patientenschulung
2
Evaluation der modellhaften Einführung von
Patientenschulungsprogrammen für die
pneumologische Rehabilitation
2.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Dr. Inge Ehlebracht-König, Rehazentrum Bad Eilsen
Priv. Doz. Dr. Christian Krauth, Medizinische Hochschule Hannover
Mitarbeiterinnen
Dr. Ulrike de Vries
Dr. Iris Brandes
Kooperationspartner
Teutoburger-Wald-Klinik, Bad Rothenfelde
Nordseeklinik Borkum, Borkum
Klinik Norddeich, Norden-Norddeich
Zeitraum
01.02.2005 - 31.07.2007
Finanzierung
BMBF
2.2
Zusammenfassung
Patientenschulung bei Asthma bronchiale stellt einen wichtigen Therapiebaustein
im Rahmen stationärer pneumologischer Rehabilitation dar. Der flächendeckende
Einsatz in pneumologischen Rehabilitationskliniken gilt bislang als unbefriedigend.
Der Prozess der Einführung eines evaluierten Asthma-Schulungsprogramms in RehaKliniken wird analysiert. Untersucht wurde der Implementierungsprozess sowie die
routinemäßige Durchführung des Programms hinsichtlich des zeitlichen und sonstigen Aufwandes sowie möglicher Schwierigkeiten und Hindernisse in drei Kliniken.
225
Implementation von Patientenschulung
Aus gesundheitsökonomischer Sicht wurden die wahrgenommenen strukturellen,
organisatorischen und externen Rahmenbedingungen sowie die daraus entstandenen Hemmnisse und Hürden bei der Implementierung in ihren Auswirkungen auf
die Kosten analysiert. Die Zufriedenheit der Mitarbeiter und Patienten mit der Implementierung wurde ebenfalls berücksichtigt, auch wenn diese nicht monetär bewertet wurde.
Die Erfassung des Implementierungsprozesses erfolgte mittels qualitativer Methoden wie strukturierter Interviews und Dokumentationsbögen. Die gesundheitsökonomische Evaluation bezog sich auf die Kosten aus dem Zeitaufwand. Die Einführung des Schulungsprogramms wurde in den beteiligten Kliniken vorwiegend durch
eine nicht ausreichende Personaldecke (zu wenig Ärzte, Psychologen zur Bildung
eines Schulungsteams) und Anlaufschwierigkeiten in der Therapieplangestaltung,
z.B. Umplanung freier Zeitschienen für die Schulung, erschwert. Die Akzeptanz bei
den Mitarbeitern und Patienten kann jedoch mit gut bis sehr gut bewertet werden.
Insgesamt verursachte das Schulungsprogramm Kosten in Höhe von 97 € pro Patient, wobei die Kosten der Probephase mit 60 € höher ausfielen als die der Routinephase (37 € pro Patient).
2.3
Stand der Forschung
Patientenschulungen sind zentrale Elemente der medizinischen Rehabilitation. Ziel
dieser Maßnahmen ist es, den Patienten darin zu unterstützen, mit den täglichen
Anforderungen seiner Erkrankung umgehen zu lernen. Durch gezielte Förderung des
Krankheitsverständnisses, des Selbstmanagements und des Empowerments soll
Patientenschulung langfristig die Lebensqualität der Patienten erhalten oder verbessern und den Therapieerfolg sichern. Unter Patientenschulung wird nach moderner Definition eine Maßnahme verstanden, „die Patienten darin unterstützen
soll, ihr Verhalten so zu verändern, dass Einschränkungen minimiert oder besser
bewältigbar werden“ (Faller et al., 2005, S. 278; Übersicht zur Definition von Patientenschulung anhand von Zielen, Methoden und Komponenten vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund [DRV Bund], 2007; Faller et al., 2005; Petermann, 1997;
Ströbl et al., 2007). Auf Basis der wachsenden empirischen Evidenz zur Effektivität
von Asthmaschulungen wurden mittlerweile standardisierte Programme sowie
Empfehlungen zur Qualitätssicherung der Schulungsangebote in der stationären
medizinischen Rehabilitation entwickelt.
Nach Empfehlungen führender Fachgesellschaften und Konsensusgruppen kann
Patientenschulung nur dann effizient realisiert werden, wenn sie sich auf standardisierte und wissenschaftlich geprüfte Programme stützt (Mühlig, 2001), wobei die
Standardisierung eine dauerhafte Qualitätssicherung gewährleistet. Das Vorliegen
eines standardisierten Curriculums/Manuals als Grundlage für die Patientenschu226
Implementation von Patientenschulung
lung hat folgende Vorteile:
•
es kann sichergestellt werden, dass das Programm in systematischer Weise
vermittelt wird (z.B. Material, Methodik, Didaktik),
• von den Schulenden in homogener Weise umgesetzt wird und damit reproduzierbar ist,
• mit zumutbarem Aufwand in anderen Kliniken implementiert werden kann
(Praktikabilität und Anwendungsökonomie),
• klinikintern auf seine Qualität überprüft und klinikübergreifend wissenschaftlich evaluiert werden kann (Überprüfbarkeit)
Der Aufbau und die Inhalte des Schulungsprogramms sollten folgenden Mindestanforderungen genügen:
•
•
•
•
•
curricularer Aufbau
Vorliegen von Manual und Arbeitsmaterialien
interdisziplinär/multiprofessionell
Einbezug mehrerer Ebenen (Kognition, Emotion, Motivation, Verhalten)
unterschiedliche Vermittlungsmethoden: u.a. frontale und aktivierende Methoden
• aktivierende Methoden in jeder Einheit
• Elemente, die den Alltagstransfer fördern
Darüber hinaus kommt dem Manual im Rahmen der Qualitätssicherung eine zentrale Rolle zu. Qualitätssicherung bezeichnet das Bemühen, die Versorgungsrealität im
Hinblick auf definierte Qualitätsanforderungen zu verbessern. Die Qualitätsanforderungen können aus dem Manual abgeleitet werden, deren Einhaltung auch im Routinebetrieb überprüft werden sollte. Zu Qualität und Qualitätssicherung in der Patientenschulung siehe Vogel (2007) und BfA (2005). Letztlich fordern die Kostenträger
zunehmend die Durchführung standardisierter Schulungen, die u.a. durch ein Manual hinterlegt sein müssen (DRV Bund, 2007).
In der Praxis sind jedoch sind strukturelle Versorgungsdefizite im Bereich Patientenschulung festzustellen (Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, 2000/2001). Nach einer Untersuchung von Petro (1997) wurden in weniger als 20% der befragten pneumologischen Einrichtungen evaluierte Schulungsprogramme eingesetzt, während die überwiegende Mehrheit der Schuler Materialien der Pharmaindustrie oder selbst entwickelte Schulungen benutzte, deren Effektivität wissenschaftlich nicht belegt ist. 90,8% der befragten Klinken gaben in einer
Studie von Mühlig et al. (2002) an, sich bezüglich der Schulungsdurchführung an
Expertenempfehlungen zu orientieren, bei genauerer Betrachtung bestanden jedoch deutliche Defizite bei der Umsetzung dieser Qualitätsstandards. Evaluierte
Schulungsprogramme wurden in 50% der befragten Kliniken eingesetzt, während
die andere Hälfte der Einrichtungen wissenschaftlich nicht geprüfte Schulungen
durchführte (insbesondere Eigenentwicklungen); lediglich in 19% der Fälle wurden
227
Implementation von Patientenschulung
Schulungen entsprechend der jeweiligen Programminstruktionen praktiziert
(Treatment-Integrität).
2.4
Ziele
Vor dem Hintergrund der notwendigen flächendeckenden Umsetzung strukturierter
und in ihrer Effektivität geprüfter Patientenschulungsmaßnahmen in Rehabilitationskliniken hatte das vorliegende Projekt das Ziel, den Prozess der Einführung eines
evaluierten Asthma-Schulungsprogramms in Reha-Kliniken exemplarisch zu dokumentieren. Dazu sollten drei pneumologischen Rehabilitationskliniken ausgewählt
werden, in denen Asthma-Patientenschulung bislang nicht oder anhand nichtevaluierter, selbstentwickelter Schulungsmaterialien durchgeführt wurde. Anhand
von Strukturanalysen vor und am Ende der Implementierung wurden die Bedingungen ermittelt, die für eine Einführung des Schulungsprogramms maßgebend sind.
Hierunter fallen das bisherige psychoedukative Angebot der Klinik, die personelle
Ausstattung und organisatorische Abläufe. Mit Unterstützung eines Leitfadens zur
Implementierung des Schulungsprogramms sollten die Schulungsdurchläufe realisiert werden. Dieser Prozess wurde kontinuierlich begleitet und der durch die Implementierung verursachte Aufwand mittels strukturierter Interviews dokumentiert.
Als Ergebnis wird eine Dokumentation des Prozesses der Implementierung und daraus ableitend Leitfäden für die Einführung von Patientenschulungsprogrammen in
Kliniken bereitgestellt. Langfristig wird erwartet, dass durch die Ergebnisse die Einführung standardisierter Schulungsprogramme in der stationären Versorgung von
Asthmapatienten begünstigt wird.
2.5
Methodisches Vorgehen
Als Kooperationspartner wurden drei pneumologischen Rehabilitationskliniken gewählt, in denen Asthma-Patientenschulung bislang nicht oder anhand nicht-evaluierter, selbstentwickelter Schulungsmaterialien durchgeführt wurde. Anhand von
Strukturanalysen vor und am Ende der Implementierung wurden die Bedingungen
ermittelt, die für eine Einführung des Schulungsprogramms maßgebend sind. Hierunter fallen das bisherige psychoedukative Angebot der Klinik, die personelle Ausstattung und organisatorische Abläufe. In den Kliniken sollten feste Schulungsteams
gebildet werden, die an einem Trainer-Seminar teilnehmen, um eine möglichst einheitliche Umsetzung der Schulung zu gewährleisten. Mit zusätzlicher Unterstützung
eines Leitfadens zur Implementierung des Schulungsprogramms sollten die Schulungsdurchläufe dann realisiert werden. Dieser Prozess wurde kontinuierlich begleitet und der durch die Implementierung verursachte Aufwand mittels strukturierter
228
Implementation von Patientenschulung
Interviews dokumentiert. Nach Eingang in die Routineversorgung des Schulungsprogramms wurden die an der Schulung teilnehmenden Patienten zur Akzeptanz
und Zufriedenheit mit dem Schulungsprogramm befragt. Die Erfassung des Implementierungsprozesses erfolgte mittels Fragebögen, strukturierter Interviews und
Dokumentationsbögen. Die Erhebungen fanden im Anschluss an eine dreimonatige
Probephase und nach Abschluss einer 12-monatigen Routinephase statt.
Die konzeptuelle Grundlage der zu implementierenden Asthmaschulung (Training
für Erwachsene mit Asthma bronchiale - TEA) bildet das in Deutschland breit etablierte stationäre Schulungsprogramm Bad Reichenhaller Modell (Schultz,
Schwiersch, Petro, Mühlig & Petermann, 2000). Die zu vermittelnden Inhalte des
zwischenzeitlich bereits mehrfach modifizierten und evaluierten Schulungsprogramms (de Vries, 2004; de Vries, Mühlig, Bergmann, Petermann, 2005; Mellert et
al., 2003) entsprechen den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und der Deutschen Atemwegsliga. Mit einem Stundenumfang von 4 x 90 Minuten (in einer Klinik modifiziert auf 6 x 60 min.) bei einer Gruppengröße von zehn
bis 15 Personen werden die zu vermittelnden Schulungsinhalte mit Hilfe von Overheadfolien und Demonstrationsmaterial im erarbeitenden Gespräch mit den Patienten unter Einbeziehung von Verhaltensübungen vermittelt (Tab. 1).
Tabelle 1: Inhalte des Schulungsprogramms TEA (jeweils 4 x 90 bzw. 6 x 60 min.).
Modul Themen
1
2
3
4
Einleitung, Stundenplan; warum Patientenschulung; Grundlagen Anatomie der Atmungsorgane, Krankheitslehre: Asthma bronchiale
Medikamente: Wirkstoffgruppen, Wirkungsweise, Einnahmeformen
Selbstkontrolle und Selbstmanagement: Peak-Flow-Meter, Asthmatagebuch, Ampelschema, Infekte, Atemnotanfall,
Inhalative Medikamente: Applikationssysteme, nicht-medikamentöse
Maßnahmen, Leben mit der Erkrankung
Um ein standardisiertes und klinikübergreifend einheitliches Vorgehen während der
Schulungsdurchführung zu erreichen, wurden pro Klinik aus den schulenden Mitarbeitern Schulungsteams gebildet (mindestens ein vollständiges Team, idealerweise
zur Vertretung bei Krankheit/Urlaub ein zweites Team, jeweils mindestens ein Arzt
und ein Psychologe).
2.6
Ergebnisse
Nach Festlegung der drei zu beteiligenden Kliniken fanden im Frühjahr 2005 Arbeitstreffen mit den Vertretern der drei Projektbereiche (Pneumologie, Rheumatologie und Gesundheitsökonomie) statt. Hierbei wurde das inhaltliche und strukturel229
Implementation von Patientenschulung
le Vorgehen geplant und Arbeitsroutinen entwickelt (z.B. Planung der Klinikbesuche,
Erhebung der Strukturanalyse). Nach den ersten Gesprächen mit den Kliniken
zeichnete sich ein grundlegender Unterschied zwischen den pneumologischen und
den rheumatologischen Kliniken ab, der sich im Verlauf der Projektdurchführung als
bedeutsam herausstellen sollte: Alle pneumologischen Kliniken verfügten über Erfahrungen mit (wie auch immer gestalteten) Asthmaschulungen. Häufig gab es in
den Kliniken Mitarbeiter, die bereits Asthmaschulungen in anderen Kliniken durchführten. Grundsätzlich konnte jedoch, aufgrund der vorgefundenen Heterogenität
der Schulungsqualität, davon ausgegangen werden, dass das zu implementierende
Schulungsprogramm für alle Kliniken eine strukturell wie inhaltliche Verbesserung
ihrer Schulungstätigkeit darstellen würde.
Parallel zu den Informationsveranstaltungen in den Kliniken wurde eine Erhebung
des Ist-Zustandes durchgeführt (Strukturanalyse), in der folgende Parameter erfragt
wurden:
•
Personal: In welcher Anzahl sind die für die Durchführung der Schulung zu
beteiligenden Berufsgruppen vorhanden?
• Personal: Welche Vorerfahrungen mit Schulungsprogrammen bzw. geschlossenen Gruppen haben die Mitarbeiter? Sind Trainerqualifikationen erworben worden?
• Behandlungsangebote: Welche psychoedukativen Behandlungsangebote
(z.B. Vorträge, Informationsveranstaltungen, nicht standardisierte Schulungen, Einzelgespräche) werden bereits routinemäßig vorgehalten?
• Patientenstruktur: Wie viele Patienten mit der Diagnose Asthma werden im
Durchschnitt aufgenommen? Wie ist der Anreiserhythmus und welche Möglichkeiten der blockweisen Einbestellung sind gegeben?
• Räume und Ausstattung: Sind geeignete Räumlichkeiten und eine angemessene technische Ausstattung für die Durchführung von Schulungen vorhanden?
• Terminierung: Besteht die Möglichkeit, die Schulungsprogramme in die bestehende Therapieplanung zu integrieren?
• Zeitaufwand: Wie groß ist der Zeitaufwand für die Erstellung und Veränderung der Personal-, Raum- und Therapiepläne?
In die Erhebung der Daten zur Strukturanalyse wurden auch die Mitarbeiter der
Verwaltung einbezogen. Die Strukturanalyse in den Kliniken ergab ein heterogenes
Bild hinsichtlich personeller, organisatorischer und struktureller Faktoren. Es wurden folgende fünf Problembereiche ermittelt:
Raum- und Zeitplanung. Probleme mit der Bereitstellung freier Zeitschienen,
Schwierigkeiten mit Raumplanung (Bereitstellung geeigneter Seminarräume).
Anzahl (zugewiesener) Patienten. Es reisen zu wenige Patienten an, um ein kontinuierliches aber indikationsspezifisches Gruppenangebot realisieren zu können.
230
Implementation von Patientenschulung
Interne Absprachen / Teambesprechungen. Bislang finden zwar Mitarbeiterbesprechungen statt, schulungsspezifische Besprechungen jedoch nicht.
Realisierung indikationsbezogener Schulung. Die getrennte Asthma- und COPDSchulung ist problematisch, da für die COPD-Patienten kein Extra-Schulungsangebot
vorhanden ist.
Nicht ausreichende Personaldecke. Insbesondere fehlen Psychologen aufgrund von
Kündigungen und ausbleibender Neubesetzung der Stellen.
Modifizierung des Schulungsprogramms. Um die Treatment-Integrität des neuen
Schulungsprogramms nicht zu gefährden, wurde angestrebt, dass sämtliche durch
das Curriculum festgelegte Schulungsinhalte wie vorgegeben vermittelt werden
sollten. Von dieser Absicht musste jedoch nach Durchführung der krankheitsspezifischen Train-the-Trainer-Seminare abgewichen werden. Sofern Änderungen am
Schulungsprogramm eher struktureller Art waren, wurden sie weitgehend realisiert
(hier: Änderung von 4 x 90min. auf 6 x 60min.). Bei inhaltlichen Änderungen des
Schulungsprogramms galt es, mit den Schulern eine weitgehende Abstimmung zu
vereinbaren. Ein völliges „Verbot“ jeglicher Änderungen war nicht einzuhalten und
hätte u.U. zur völligen Ablehnung des Programms geführt.
Die vorgeschlagenen Änderungen des Schulungsprogramms umfassten:
•
•
•
•
die Aufteilung der Schulungsfolien unter Beibehaltung der Inhalte: statt 4
x 90 werden 6 x 60 Minuten geschult,
einige Termini: Statt „Termin“ wird „Stunde“ bevorzugt, der Begriff
„Controller“ (für das Kortison) wird durch „Schützer“ ersetzt (Passung
mit dem Sprachgebrauch der Klinik),
zusätzliche Inhalte: zum Bereich Sport soll eine neue Folie eingeführt
werden (Beschreibung Trainingspuls) sowie
den Austausch von Folien zur Pathophysiologie (ca. 8 Folien) durch eigene Materialien.
Evaluation der Routinephase. Zum Ende der Routinephase, in der sichergestellt
werden konnte, dass die Schulung regelmäßig mit ausreichender Gruppengröße
durchgeführt wurde, wurde eine schriftliche Befragung der Patienten zur Akzeptanz
des Seminars sowie eine Befragung der Fachtrainer durchgeführt, um mögliche Barrieren und Vorbehalte gegenüber dem Schulungsangebot identifizieren zu können.
Neben einigen wenigen soziodemographischen und medizinischen Daten (Arztfragebogen) wurden die Bewertung der einzelnen Seminarmodule sowie die Gesamtbewertung der Schulung bei den Schulungsteilnehmern erhoben. Die Akzeptanzbefragung umfasste insgesamt 85 Patienten aus den drei Kliniken. Zusätzlich zu den
medizinischen Daten wurden weitere schulungsrelevante Aspekte von den behandelnden Ärzten erfragt. Die Motivation zur Teilnahme an der Schulung („Wie sehr ist
der Patient Ihrer Meinung nach zur Patientenschulung motiviert?“) konnte auf einer
Skala von 1 (gar nicht) bis 5 (außerordentlich) beurteilt werden. 5,9% der Patienten
wurden demnach als kaum, 3,5% als außerordentlich motiviert klassifiziert. Der
231
Implementation von Patientenschulung
größte Teil der Patienten war mittelmäßig (48,2%) bis ziemlich (41,2%) motiviert.
Eine ablehnende Haltung gegenüber der Teilnahme an der Schulung wurde für
92,9% der Patienten verneint. Die Patienten wurden anschließend über ihre Einstellung gegenüber der bevorstehenden Schulungsteilnahme befragt bzw. darüber, in
welchem Ausmaß sie vorinformiert wurden. Die Vorbereitung auf die Schulung ist
als sehr wichtig einzustufen, da viele Patienten wenige bis keine Erfahrungen mit
Gruppenschulungen haben und u. U. mit falschen Erwartungen oder Vorbehalten /
Ängsten in die Schulung gehen. Diese Situation kann einen Schulungserfolg beeinträchtigen. Mehr als die Hälfte der Patienten gab an, dass noch mehr Information
über die Schulung notwendig gewesen wäre. Die Patienten in den drei Kliniken
wurden im Rahmen des Anamnese- bzw. Aufnahmegesprächs über die Schulung
informiert. Fraglich ist, ob die häufig sehr geringe Zeit, die dafür zur Verfügung
steht, ausreicht, um den Patienten angemessen auf die Schulung vorzubereiten.
Daher ist in jedem Fall die Möglichkeit eines spezifischen Vorgespräches, wie in unserem Schulungsmodell empfohlen, in Erwägung zu ziehen.
Akzeptanzbefragung der Trainer. Bis zum Ende der Routinephase konnte Klinik A
insgesamt neun, Klinik B und C jeweils sieben Schulungszyklen vollständig durchführen. Geschult wurden insgesamt 191 Patienten (Klinik A 75, B 71 und C 48). Die
durchschnittliche Teilnehmerzahl pro Schulung betrug in Klinik A 8, in Klinik B 10
und in Klinik C 8 Patienten. Die minimale und maximale Teilnehmerzahl umfasste in
Klinik A 5 bis 11, in Klinik B 9 bis 12 und in Klinik C 2 bis 10 Patienten. Die Fachtrainer wurden zum Ende des jeweiligen Schulungsmoduls um eine Beurteilung der
Stunde gebeten. Dabei wurden Angaben zu folgenden Aspekten gemacht:
Einhaltung der Modullänge: In Klinik A, in der die Modullänge auf 60 Minuten festgelegt wurde, (in Klinik B und C auf 90 Min.), konnte dies in 72% der Kursstunden
eingehalten werden. 26% der Kurse dauerten weniger als 60, 2% mehr als 90 Minuten. In Klinik B dauerten 4% weniger als 60 Min., 21% genau 60 Min., 11% länger als
90 Min. In 64% der Stunden dauerte das Modul wie vorgesehen 90 Minuten. In Klinik C war die Modulzeit auffällig kurz. Statt der vorgesehenen 90 Minuten wurden
92% der Kurse in weniger (meist 45) Minuten abgehalten. Entsprechend gaben die
Trainer dieser Klinik an, dass die Zeit für die Vermittlung der Inhalte pro Modul nicht
ausreicht. Die Patienten dieser Klinik zeigten sich mehrheitlich unzufrieden mit dem
Zeitbudget, das zur Verfügung stand („Schuler wirkt gehetzt“, „es war zu wenig Zeit“
etc.).
Die Gründe für eine vorzeitige Beendigung der Stunde waren vorwiegend organisatorische, etwa dass Patienten früher zu einem nächsten Termin aufbrechen mussten. Für die systematische Unterschreitung der Modulzeit in Klinik C wurden, wie
auch in der abschließenden Strukturanalyse deutlich wurde, als Begründung noch
bestehende Probleme mit der Therapieplanung angegeben. Insgesamt konnten 60%
der Schulungsstunden ohne organisatorische Probleme abgehalten werden. In den
Fällen mit Problemen betraf dies größtenteils Raumprobleme, das heißt der ge232
Implementation von Patientenschulung
buchte Seminarraum war wider Erwarten nicht frei. Alle Trainer konnten in dieser
Situation auf einen anderen Raum ausweichen, wobei es zwar kurze zeitliche Verzögerungen der Schulung gab, die Schulung jedoch nicht ausfallen musste. In fünf Kursen standen die benötigten Medien (Overheadprojektor) nicht zur Verfügung bzw.
waren defekt. In mehreren Fällen ist der zuständige Trainer durch Krankheit ausgefallen. Hierfür konnten die Kliniken jedoch in jedem Fall eine Vertretungsregelung
finden. In 19 Kursstunden kamen Patienten zu spät oder gingen vorzeitig.
Die Trainer beurteilten die Seminarstunden wie folgt: Insgesamt wurde jede Gruppe
als besonders aufgeschlossen und interessiert beurteilt. Nur vereinzelt gab es Gruppenkonstellationen, in denen einige Teilnehmer extrem still (nicht uninteressiert)
oder sehr dominant waren. Beide Situationen wurden von den Trainern nicht als
nachteilig für die Gruppenarbeit bewertet. Es gelang relativ gut, sich auf diese Patienten einzustellen und sie jeweils angemessen in den Gruppenprozess einzubinden.
Bei der Lösung insbesondere von schwierigen Problemen mit der Teilnehmergruppe
konnten die Trainer auf die Inhalte des Trainer-Seminares zurückgreifen. Die meisten Trainer gaben an, dass das Trainer-Seminar ihnen sehr geholfen habe, auch mit
„schwierigen“ Patienten bzw. Gruppenkonstellationen umgehen zu können. Die
Trainer zeigten sich insgesamt überwiegend zufrieden mit der Information, die sie
vor der Schulung über die Patienten erhielten. Die Trainer konnten sich in den
Teambesprechungen vor der Schulung bereits über die Patienten informieren. In
13% der Fälle war diese Information für die Trainer offenbar jedoch nicht ausreichend.
Akzeptanzbefragung der Patienten: Modulebene. Die Schulungsteilnehmer wurden
zum Ende jeder Sitzung und nach Abschluss der gesamten Schulung schriftlich um
eine Beurteilung des Seminars gebeten. Auf einer Skala von 1 (=beste Bewertung)
bis 6 (=schlechteste Bewertung) gaben die Patienten für jedes Modul ihre Bewertung bzgl. der Wichtigkeit des behandelten Themas, der Verständlichkeit der Darstellung, der Nützlichkeit für die eigene Situation, des Gruppengefühls und der Vorinformiertheit ab.
Die Wichtigkeit aller Module wurde insgesamt als sehr hoch eingeschätzt. Insbesondere das Modul 6 (Nicht-medikamentöse Maßnahmen, Leben mit der Erkrankung) erscheint den Teilnehmern als sehr wichtig. Die Schulungsthemen und die
Darstellung waren für den größten Teil der Patienten verständlich. Insgesamt bewerteten die Teilnehmer die Nützlichkeit des behandelten Schulungsthemas als
hilfreich für ihre persönliche Situation. Besonders profitierten die Patienten auch
hier von Modul 6. Die Teilnehmer fühlten sich offenbar in der Gruppe sehr wohl.
Das Gruppengefühl verbesserte sich sogar mit zunehmender Schulungsdauer. In
den Fällen, in denen weniger Wohlbefinden dokumentiert wurde, haben die betreffenden Patienten dies in der abschließenden Bewertung begründet (persönliche
Probleme in Gruppen, soziale Ängstlichkeit). Obwohl die meisten Teilnehmer die
Schulungsthemen als wichtig und nützlich für ihre eigene Situation bewerteten,
233
Implementation von Patientenschulung
wurden die Informationen nicht als völlig neu bewertet.
Die Teilnehmer wurden weiterhin nach jedem Modul gefragt, welche Aspekte an
der Schulung besonders gefallen oder nicht gefallen hatten. Besonders positiv bewertet wurden: die Präsentation der Inhalte, z.B. „Alles sehr gut verständlich erklärt, keine Fremdworte, kein Arztlatein, sehr anschauliche Beispiele aus dem Leben, Dr. X hat alles ruhig und langsam erklärt, die Bilder waren sehr anschaulich,
habe endlich verstanden, was Asthma ist“). Weiterhin wurde die Gruppenatmosphäre (Gruppendynamik) positiv eingeschätzt, z.B. „Gut war die feste Gruppe, wir
konnten uns auch außerhalb der Schulung austauschen, konnte schnell Vertrauen
aufbauen, die anderen Patienten haben mir gute Tipps gegeben, jede einzelne Person durfte seine Probleme erzählen, auf jeden wurde eingegangen, alle haben zugehört“). Ebenso wurde der Informationszuwachs als positiv hervorgehoben, z.B.
„Kortison ist gar nicht so schlimm, wie ich dachte, ich achte jetzt mehr auf mich,
weil ich verstanden habe, wie wichtig das ist, ich habe sehr viel Neues erfahren, das
praktische Üben hat mir viel gebracht, so hat mir das noch keiner erklärt“).
Die Teilnehmer, die sich negativ über die Schulung äußerten, brachten vorwiegend
organisatorische Probleme vor, etwa den Termindruck in Einzelfällen, in denen der
Arzt zu einem Notfall gerufen und früher gehen musste, Sitzgelegenheiten zu unbequem, Raum zu klein, schlecht belüftet, Lichtverhältnisse schlecht (Projektionsfläche
zu hell), die Terminwahl (Schulung direkt vor dem Mittagessen, dadurch Stress).
Akzeptanzbefragung - Teilnehmer: Gesamtbewertung. Die Schulungsteilnehmer
gaben eine Gesamtbewertung des Seminars zum Abschluss. Dabei sollten die räumlichen, organisatorischen und inhaltlichen Aspekte bewertet werden. Die Teilnehmer waren überwiegend zufrieden mit der Gruppengröße, die in den Kliniken gemäß den Empfehlungen (8-12 Teilnehmer) eingehalten werden konnte (95% „Gruppengröße genau richtig“). Die Teilnehmer zeigten sich mit der Auswahl des Schulungsraumes überwiegend zufrieden. Die Länge der einzelnen Kursstunden wurde
größtenteils als „genau richtig“ (84,7%) beurteilt. Darüber hinaus wurden sie eher
als „zu lang“ als „zu kurz“ beschrieben. Die Patienten, die die Sitzungen als zu kurz
beurteilten (6,0%), gaben an, dass sie sich gerne noch mehr Zeit gewünscht hätten,
um Fragen stellen zu können. Auf einer Skala von 1 (sehr verständlich) bis 6 (unverständlich) gaben die Teilnehmer ihre Einschätzung darüber ab, wie verständlich die
erhaltene Information insgesamt aufbereitet war. Für mehr als 90% der Teilnehmer
war die Informationsvermittlung ausreichend verständlich (1: 54,7%, 2: 36,0%, 3:
8%). Diese Beurteilung zeichnete sich bereits nach jedem Modul ab. Besonders hervorgehoben wurden die verständliche Sprache der Trainer und das anschauliche
Folienmaterial. Darüber hinaus äußerten die Patienten, dass besonders die Möglichkeit, Fragen zu stellen und der Austausch unter den Patienten, sie unterstützt
hätte.
Die Informationsaufnahme konnte durch ausreichende Fragemöglichkeiten gefördert werden. Hier gaben 95,7% der Patienten für sie ausreichende Fragemöglichkei234
Implementation von Patientenschulung
ten gehabt zu haben. Besonders positiv wurde insgesamt die Unterstützung und der
Austausch innerhalb der Gruppen beurteilt („Erfahrungsaustausch sehr hilfreich (1)
42,3%, (2) 29,5%, (3) 16,1%). Der größte Teil der Patientenkommentare bezieht sich
auf diesen Aspekt. Die Durchführung der Schulung in einer festen Gruppe hatte bei
den meisten Patienten eine große Bedeutung, da die Gruppe als Referenzpunkt
auch außerhalb der Schulung wahrgenommen wurde. Dabei war der Austausch mit
anderen Patienten in gleicher Situation (etwa gleicher Krankheitsschweregrad, ähnliche Medikamente) ebenso gewinnbringend wie das Erleben von Mitpatienten, die
erheblich schwerer erkrankt waren oder eine längere Krankheitsdauer aufwiesen.
Ein Teil der Patienten äußerte hierzu, dass der Austausch mit diesen Mitpatienten
besonders im Hinblick auf den Abbau von Prognoseängsten günstig war. Insgesamt
würde der größte Teil der Teilnehmer die Schulung weiterempfehlen (97,9%). Am
häufigsten wurde in diesem Zusammenhang beklagt, dass das Angebot an Asthmaschulungen zu „unbekannt“ sei. Einige Patienten äußerten dass „viel mehr“ („alle“)
Patienten mit Asthma eine derartige Schulung erhalten müssten.
Zeitaufwand und Kosten. Der Zeitaufwand für die Implementierung des Schulungsprogramms bzw. für die Probe- und Routinephase (je 3 bzw. 12 Monate) wurde insgesamt sowie aufgeschlüsselt nach den Faktoren: Zeit für Teambesprechungen
(Trainer), Anpassung der Therapieplanung (Verwaltung), Vorbereitung der Kurse
(Materialien bereitstellen, Schulungsraum vorbereiten, Schulungsthemen durchgehen) sowie für die externe Beratung/Betreuung der Trainer durch das Projektteam
erhoben (Tab. 2).
Tabelle 2: Durchschnittlicher Zeitaufwand der Probephase (3 Monate) und der Routinephase (12 Monate).
Probephase (3 Monate)
Gesamt
Pro Kurs
Pro
Pat.
Routinephase (12 Monate)
Gesamt
Pro
Kurs
Pro
Pat.
Anzahl Kurse
5,0
20,3
Anzahl Patienten
41
167,3
8,3
Therapieplan
16,0 Std.
192 Min.
23 Min.
55,8 Std.
165
Min.
20
Min.
Absprachen
31,3 Std.
376 Min.
46 Min.
24,4 Std.
72 Min.
9 Min.
Kursvorbereitung
11,5 Std.
138 Min.
17 Min.
24,3 Std.
72 Min.
9 Min.
Schulung
30,0 Std.
360 Min.
44 Min.
122,0 Std.
360
Min.
44
Min.
Betreuung Schuler
0,5 Std.
6 Min.
0,7 Min.
-
-
-
Summe
89,3 Std.
17,9 Std.
2,2 Std.
226,5 Std.
11,1
Std.
1,4
Std.
235
Implementation von Patientenschulung
Die Implementierung des Schulungsprogramms nahm insgesamt durchschnittlich
59,3 Personenstunden in Anspruch. Diese setzten sich zusammen aus 31,3 Stunden
für Besprechungen und Absprachen, 13,0 Stunden für die Anpassung der Therapieplanung, 11,5 Stunden für die Vorbereitung der Kurse und 0,5 Stunden für die externe Betreuung der Schuler durch das Projektteam. In der dreimonatigen Probephase wurden im Durchschnitt fünf Schulungszyklen durchgeführt. Hierfür ergab
sich ein Zeitaufwand von insgesamt 30,0 Stunden pro Klinik. Bezogen auf einen Kurs
betrug der Zeitaufwand durchschnittlich 17,9 Personenstunden. In der 12monatigen Routinephase wurden durchschnittlich 20,3 Schulungszyklen durchgeführt. Hier ergab sich ein Zeitaufwand von insgesamt 122 Stunden.
Sachkosten fielen in den Kliniken nicht an, da Folien und weitere Unterlagen für die
Schulungsseminare im Rahmen der Studie zur Verfügung gestellt wurden. Anschaffungen speziell für die Schulung sind nicht getätigt worden. Bei der Berechnung der
Kosten wurde die Nutzung der Räume und Ausstattung im Rahmen der Schulung
über den Gemeinkostenzuschlag in Höhe von 30% angesetzt. Die Ermittlung der
Personalkosten basiert auf dem Ansatz des Bruttomonatsverdienstes nach TVöD
(2007) je Berufsgruppe. Damit ergeben sich im Durchschnitt der drei Kliniken Gesamtkosten von 492 € für die Probe- und 307 € für die Routinephase. Nicht mitberechnet sind die Kosten für die Teilnahme an den Train-the-Trainer-Seminaren. Kosteneinsparpotenziale konnten nicht ermittelt werden. Zwar wurden Zeiten für Einzelgespräche im Rahmen psychologischer Betreuung oder Visiten in die Schulungsgruppen verlegt, jedoch entstand daraus keine nennenswerte Zeitersparnis. Allerdings fand in den beibehaltenen Einzelgesprächen oftmals eine - als sehr angenehm
empfundene - Vertiefung der Inhalte statt, da die Patienten bereits durch die Schulung über mehr Informationen verfügten. Durch die Implementierung der Schulung
konnten bisherige edukative Angebote in den Kliniken (vorwiegend Vorträge) eingestellt werden. In den Fällen, in denen diese Angebote gleichermaßen von Patienten
mit anderen Indikationen genutzt wurden (etwa eine gemeinsame „Sprayunterweisung“ für Asthma- und COPD-Patienten), wurden diese Angebote beibehalten. Somit hat das Schulungsprogramm das Angebot der Klinik eher ergänzt als ersetzt.
2.7
Literatur
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Medizinischen
Rehabilitation.
Indikationsbezogene
Curricula.
Online:
http://www.deutsche-rentenversicherung.de, Pfad: Sozialmedizin und Forschung
à Konzepte und Systemfragen à Konzepte à Gesundheitsbildung.
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de Vries, U., Mühlig, S., Bergmann, K.-Ch. & Petermann, F. (2005). Ambulante und
236
Implementation von Patientenschulung
stationäre Rehabilitation bei erwachsenen Asthmatikern: Effekte von Patientenschulung. In. F. Petermann (Hrsg.), Prädiktion, Verfahrensoptimierung und Kosten
in der medizinischen Rehabilitation (2. Aufl., S. 145-195). Regensburg: Roderer.
Deutsche Rentenversicherung Bund. (2007). KTL. Klassifikation therapeutischer Leistungen in der medizinischen Rehabilitation (5. Aufl.). Berlin: Deutsche Rentenversicherung.
Faller, H., Reusch, A., Vogel, H., Ehlebracht-König, I. & Petermann, F. (2005). Patientenschulung. Die Rehabilitation, 44, 277-286.
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Mühlig, S. (2001). Asthmaschulung - Möglichkeiten und Grenzen des Transfers zwischen Forschung und Praxis. Praxis klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation, 54, 115-119.
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bundesweite Bestandsaufnahme. Pneumologie, 56, 167-175.
Petermann, F. (Hrsg.) (1997). Patientenschulung und Patientenberatung - Ein Lehrbuch (2. vollst. überarb. u. erw. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
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Dustri.
Schultz, K., Schwiersch, M., Petro, W., Mühlig, S. & Petermann, F. (2000). Individualisiertes, modular strukturiertes Patientenverhaltenstraining bei obstruktiven Atemwegserkrankungen. Pneumologie, 54, 296-305.
Ströbl, V., Friedl-Huber, A., Küffner, R., Reusch, A., Vogel, H. & Faller, H. (2007). Beschreibungs- und Bewertungskriterien für Patientenschulungen. Praxis Klinische
Verhaltensmedizin und Rehabilitation, 75, 11-14.
Vogel, H. (2007). Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung der Patientenschulung - ein Rahmenkonzept. Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation,
75, 5-10.
Publikationen
Bönisch, A., Brandes, I., de Vries, U., Ehlebracht-König, I., Krauth, C. & Petermann, F.
(2007). Herausforderungen und Hindernisse bei der Implementierung von rheumatologischen Patientenschulungsprogrammen in Rehabilitationskliniken. DRVSchriften, 72, 40-41.
Brandes, I., Bönisch, A., de Vries, U., Krauth, C., Ehlebracht-König, I. & Petermann, F.
(2007). Evaluation der modellhaften Einführung von Patientenschulungspro237
Implementation von Patientenschulung
grammen für die rheumatologische und pneumologische Rehabilitation. In H.E.
Wichmann, D. Nowak & A. Zapf (Hrsg.), Kongress Medizin und Gesellschaft 2007 Abstractband (S. 37-38). Mönchengladbach: Rheinware Verlag.
Brandes, I., Bönisch, A., de Vries, U., Krauth, C., Ehlebracht-König, I. & Petermann, F.
(2008). Implementierung von Patientenschulungsprogrammen aus gesundheitsökonomischer Perspektive. DRV-Schriften, 77, 195-197.
de Vries, U., Bönisch, A., Brandes, I., Ehlebracht-König, I., Krauth, C. & Petermann, F.
(2007). Evaluation der modellhaften Einführung von Patientenschulungsprogrammen in die pneumologische Rehabilitation. DRV-Schriften, 72, 41-43.
de Vries, U., Brandes, I., Krauth, C. & Petermann, F. (2008). Patientenschulungsprogramme in der pneumologischen Rehabilitation: Ergebnisse einer Implementationsstudie. Das Gesundheitswesen, 70, 572-581.
238
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
3
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
3.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiterinnen
Dipl. Psych. Meike Holtz
Dr. Meike Lange
Kooperationspartner
Dr. Bernhard Krohn-Grimberghe, Rheumaklinik Bad Wildungen
Zeitraum
01.06.2007 - 30.06.2010
Finanzierung
Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen
3.2
Zusammenfassung
Das Fibromyalgiesyndrom stellt eine große Herausforderung für die medizinische
Rehabilitation dar. Durch den meist chronischen Verlauf ist die Lebensqualität der
Patienten stark eingeschränkt und das Gesundheitssystem belastet. Um die verhaltensmedizinische Betreuung der Patienten zu verbessern, wurde eine Patientenschulung entwickelt, die Module zur Schmerz- und Stressbewältigung sowie Verhaltensübungen zu einem günstigen Lebensstil beinhaltet. Ziel der Studie war die Prüfung der Wirksamkeit der verhaltensmedizinischen Betreuung der Fibromyalgiesyndrom-Patienten. Es wurde davon ausgegangen, dass die neu entwickelte Patientenschulung der Behandlung vor Optimierung in ihrer Effektivität überlegen ist. Dazu wurden die Daten von drei Gruppen (stationäre Patienten vor Optimierung, stationäre Patienten nach Optimierung und unbehandelte ambulante Patienten) miteinander verglichen.
239
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
3.3
Stand der Forschung
Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) ist durch langanhaltende, wiederkehrende Muskelschmerzen gekennzeichnet, die sich häufig zunächst monolokulär entwickeln und
erst im Laufe eines längeren Zeitraums in eine generalisierte Schmerzerkrankung
übergehen. Zusätzlich entstehen unterschiedliche vegetative und funktionelle Begleiterscheinungen wie Schlafstörungen, Depressivität, vermehrte Erschöpfung oder
funktionelle Organbeschwerden. Die Erkrankung betrifft vorwiegend Frauen (Verhältnis 9:1) ab dem 35. Lebensjahr.
Beim FMS lässt sich eine erhöhte Komorbidität mit psychischen Beeinträchtigungen
wie Angst und Depression nachweisen. Je nach Art der Diagnose zeigen 20 bis 80%
der Fibromyalgiesyndrom-Patienten depressive Symptome und 13 bis 63,8% Ängstlichkeit (Fietta, Fietta & Manganelli, 2007). Eine komorbide Depression beim Fibromyalgiesyndrom geht mit einer erhöhten Belastung der Patienten einher. Insbesondere zeigen depressive Fibromyalgiesyndrom-Patienten ein deutlich schlechteres
körperliches Funktionsniveau (Korszun et al., 2002; Okifuji, Turk & Sherman, 2000).
Zudem wirken sich depressive Symptome negativ auf die kognitive Bewertung von
Symptomen aus und es zeigte sich ein Zusammenhang zwischen der Depressionsausprägung und dem Grad der Katastrophisierung (Graceley et al., 2004). Zusätzlich
erschwert eine komorbide Depression die Krankheitsbewältigung. So setzten depressive Fibromyalgiesyndrom-Patienten eher passive Copingstrategien ein (z.B.
Einnahme von Schmerzmedikamenten, Herabsetzung des Funktionsniveaus) (Nicassio, Radojevic, Schoenfeld-Schmith & Dwyer, 1995) und sind weniger motiviert an
einer Rehabilitation aktiv teilzunehmen (Lange, Krohn-Grimberghe & Petermann,
2009; Rau, Ehlebracht-König & Petermann, 2008). Der ungünstige Einfluss von Depression auf das Fibromyalgiesyndrom spiegelt sich im Rehabilitationsverlauf wider.
Studien belegen, dass die Symptome des Fibromyalgiesyndroms bei einer zusätzlichen Depression bedeutsam weniger reduziert werden konnten als bei Patienten
ohne depressive Symptome (Finset, Wigers & Götestam, 2004; Lange et al., 2009).
Zur Behandlung des Fibromyalgiesyndroms existiert lediglich eine symptomorientierte, keine kausale Therapie, die von den Patienten eine besondere Anforderung
abverlangt, eine solche Erkrankung zu bewältigen. In Hinblick auf verhaltensmedizinische Interventionen konnte ein hoher Evidenzgrad belegt werden. Durch eine
verhaltenspsychologisch begründete Patientenschulung werden eine Steigerung der
Selbstwirksamkeitserwartung, Schlafqualität, Lebensqualität sowie eine Reduzierung des Erschöpfungszustandes erreicht (Goldenberg, Burckhardt & Crofford,
2004). Die interdisziplinären Leitlinien empfehlen zur Langzeitbetreuung eine psychosomatische Grundversorgung. Hierbei hat sich eine multimodale Therapie aus
Patientenschulung, Verhaltenstherapie, aerobem Ausdauertraining und ggf. Medikamenteneinnahme sowie eine Therapie der körperlichen und psychischen Komorbidität bewährt (Themenheft, 2008). Im Rahmen einer Metaanalyse zur Effektivität
von multimodalen Behandlungen beim Fibromyalgiesyndrom wurden neun rando240
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
misierte kontrollierte Studien analysiert. Es zeigte sich eine Verbesserung der
Schlüsselsymptome, somit wurde eine Schmerzreduktion mit einer standardisierten
mittleren Differenz (SMD) von -0,37 erreicht. Depressive Symptome verringerten
sich (SMD -0,67), die Selbstwirksamkeit und die körperliche Fitness verzeichneten
eine Erhöhung (SMD 0,54 bzw. 0,30) (Häuser, Bernardy, Arnold, Offenbächer &
Schiltenwolf, 2009). Mit einer Schulung, die Gruppendiskussionen zu den Themen
Schmerzbewältigung, Stress- und Aktivitätsmanagement umfasste, konnten positive
Effekte im Bereich der Lebensqualität und der Selbstwirksamkeitsüberzeugung erreicht werden (Burckhardt, Mannerkopi, Hedenberg & Bjelle, 1994). Ebenso konnten in einer 1-Jahres-Katamnese positive Ergebnisse in Bezug auf die Hoffnungslosigkeit nachgewiesen werden (Oliver, Cronan, Walen & Tomita, 2001). Indessen
zeigten zwei weitere Studien zur Wirksamkeit der Patientenschulung als alleinige
Maßnahme keine positiven Effekte (King, Wessel, Bhambhani, Sholter & Masksymowych, 2002; Soares & Grossi, 2002). Jedoch wurde der Effekt einer Patientenschulung als Bestandteil eines multimodalen Therapiekonzeptes in vielen Studien
belegt (Fürst, 2007; Themenheft, 2008).
3.4
Ziele
Ziel des Projektes ist die Optimierung und Standardisierung der verhaltensmedizinischen Betreuung und Schulung von Fibromyalgiesyndrom-Patienten. Bislang nahmen die Patienten an einer psychoedukativen Schulung über vier Sitzungen à 45
Minuten teil. Das Projekt gliederte sich in drei Phasen: Zunächst wurde der aktuelle
Stand der verhaltensmedizinischen Behandlung dokumentiert und anschließend
erfolgte eine Optimierung. In diesem Zusammenhang wurde vor dem Hintergrund
des aktuellen, evidenzbasierten Forschungsstands eine standardisierte Patientenschulung entwickelt. Die anschließende Evaluationsphase soll die Wirksamkeit der
neuen verhaltensmedizinischen Intervention belegen. Es sollte bei dieser Studie der
Frage nachgegangen werden, ob eine standardisierte Patientenschulung die Krankheitsbewältigung von Fibromyalgiesyndrom-Patienten positiv beeinflussen kann. Es
wurde erwartet, dass der psychische und physische Gesundheitszustand mit den
einhergehenden Beeinträchtigungen der Fibromyalgiesyndrom-Patienten durch die
multimodale Rehabilitation mit integrierter manualisierter Patientenschulung bedeutsam verbessert werden kann. Dazu wurden die Daten von drei Patientengruppen miteinander verglichen. Kontrollgruppe 1 (KG I): Patienten der stationären Rehabilitation, die vor der Optimierung an einer Schulung teilnehmen. Kontrollgruppe
2 (KG II): ambulante Fibromyalgiesyndrom-Patienten, die aus Arztpraxen und
Selbsthilfegruppen in und um Bremen sowie Göttingen rekrutiert wurden. Interventionsgruppe (IG): Patienten der stationären Rehabilitation, die nach der Optimierung ihre stationäre Rehabilitation durchführen.
241
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
3.5
Methodisches Vorgehen
Um die Behandlung von Fibromyalgiesyndrom-Patienten zu verbessern, entwickelte
das Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZPKR) der Universität
Bremen in Kooperation mit der Rheumaklinik Bad Wildungen eine Patientenschulung. Diese enthält verhaltenstherapeutische, psychoedukative und trainierende
Anteile. Sie unterscheidet sich von bisherigen Patientenschulungen in ihrer Anwendung von kognitiv-verhaltenstherapeutischen Methoden wie Schmerz- und Stressmanagement, kognitiver Umstrukturierung und eines Genusstrainings zur Wahrnehmungsumlenkung bei Schmerzzuständen (vgl. Brückle et al., 2005). Die Patientenschulung verfolgt als übergeordnetes Ziel eine Verbesserung des Selbstmanagements im alltäglichen Umgang mit der Erkrankung. Im Einzelnen beinhaltete die
Schulung:
•
edukative Elemente zum Krankheitsbild und Behandlungsmöglichkeiten und
Schmerzphysiologie,
• kognitive verhaltenstherapeutische Strategien wie Schmerz- und Stressmanagement zur Beeinflussung einer günstigen Krankheitsbewältigung. Ebenso
sollten die Patienten auslösende und aufrechterhaltende Faktoren erkennen, die individuell mit einem Schmerztagebuch evaluiert werden sowie
• kognitive Umstrukturierung mittels ABC-Technik nach Beck und Ellis.
Die Schulung ist ein fester Bestandteil der multimodalen stationären Rehabilitation
und wird in geschlossenen Kleingruppen von 10 bis 12 FibromyalgiesyndromPatienten durchgeführt. Die sechs aufeinander aufbauenden Module umfassen jeweils 90 Minuten, im Anschluss an jede Sitzung erhalten die Patienten eine kurze
schriftliche Zusammenfassung der wichtigsten Inhalte.
Die Rekrutierung der Patienten der KG I und der IG erfolgte während einer stationären medizinischen Rehabilitationsmaßnahme. Zusätzlich wurde eine externe Patientengruppe als KG II über Informationsveranstaltungen zum Thema Fibromyalgiesyndrom geworben. Die geplante Stichprobengröße aller Gruppen betrug 80 Patienten zum Katamnesezeitpunkt. Die Datenerhebung erfolgt zu drei Messzeitpunkten
(Prä-Post und 6-Monatskatamnese).
Alle Patienten der stationären Rehabilitation (KG I & IG) erhielten eine komplexe
antirheumatische Therapie: medikamentöse Behandlung, Bewegungstherapie (physiotherapeutische Einzel- und Gruppenbehandlung), Entspannungstraining (progressive Muskelentspannung nach Jacobson in der Gruppe: 5-mal 50 min.) sowie
physikalische Anwendungen (Massage, Wärme- und Kälteanwendungen). Die Patienten der KG I nahmen zusätzlich an einer psychoedukativen Schulung zum Fibromyalgiesyndrom teil. Die IG erhielt eine psychologische Schmerzbewältigung in
Form einer Patientenschulung.
Die bisherige Schulung der Fibromyalgiesyndrom-Patienten erfolgte an fünf Termi242
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
nen à 45 Minuten, in geschlossenen Gruppen von 3 bis 12 Patienten. Inhaltlich wurde zunächst ein Überblick über die Geschichte der Erkrankung und eine Definition
gegeben. Anschließend wurde auf die häufig komorbid auftretende Depression eingegangen. Dabei stand die Abgrenzung der Symptomatik des Fibromyalgiesyndroms
und der Depression sowie eine Vermittlung des Sinn und Zwecks der Verordnung
von Antidepressiva aus schmerztherapeutischer Sicht im Vordergrund. In den folgenden Stunden erfolgten Diskussionen zum Symptommuster, Leitsymptome und
funktionale Symptome. Zudem wurden gängige Theorien zur Entstehung des Fibromyalgiesyndroms und das Schmerzgedächtnis besprochen. In weiteren Diskussionen wurde der sekundäre Krankheitsgewinn bearbeitet und die Patienten über ambulante und stationäre Behandlungsansätze aufgeklärt.
Zur optimierten Patientenschulung wurde der Klinik ein Schulungsmanual bestehend aus Schulungsfolien bzw. Powerpoint-Präsentation, Arbeitsblättern, Handouts,
Schmerztagebüchern, Hintergrundinformationen und Hinweisen zur didaktischen
Gestaltung der Schulungssitzungen zur Verfügung gestellt. Die optimierte Patientenschulung setzte sich aus 6 Modulen à 90 Minuten zusammen. Die Schulung wurde ebenfalls in geschlossenen Gruppen von fünf bis zwölf FibromyalgiesyndromPatienten durchgeführt. Zur didaktischen Vermittlung wurden die Inhalte mit Hilfe
einer Präsentation dargestellt. Diese wurden an Alltagsbeispielen vertieft und über
praktische Übungen bearbeitet. In Gesprächen erhielten die Patienten die Möglichkeit, Rückfragen zu stellen und von ihren persönlichen Erfahrungen zu berichten.
Die wichtigsten Informationen wurden als Handout nach jeder Sitzung zur Verfügung gestellt. Zudem wurden die Patienten angeleitet, ein Schmerztagebuch zu führen, um auslösende Faktoren der Schmerzen identifizieren zu können. Zu Beginn
stand die Wissensvermittlung zum Krankheitsbild des Fibromyalgiesyndroms im
Vordergrund. Den Patienten wurden Informationen zum Krankheitsbild und Behandlungsmöglichkeiten vermittelt. Um Einflussmöglichkeiten auf die Schmerzwahrnehmung über körperliche und psychische Ebene zu erklären, wurde der
Schmerzkreis eingeführt. Darauf aufbauend wurde der Zusammenhang von Stress
und Schmerzen genauer betrachtet. Dabei wurde auf die Wechselwirkung der
Stressreaktionen auf den Ebenen Verhalten, körperliche Reaktion, Gefühl und Gedanken eingegangen. Im weiteren Verlauf wurde der Zusammenhang zwischen dysfunktionalen Gedanken und der Schmerzwahrnehmung bearbeitet. Dabei stand die
kognitive Umstrukturierung im Mittelpunkt. Den Abschluss der Patientenschulung
bildete ein Genusstraining zur Wahrnehmungsumlenkung bei Schmerzzuständen.
Dabei wurde zunächst der Unterschied zwischen erholsamen und belastenden Aktivitäten besprochen. Anschließend wurde das „Genießen“ unter Anleitung von Genussregeln (z.B. Nimm dir Zeit zum Genießen!) mit allen Sinnen praktisch erprobt.
Die schriftliche Befragung der Patienten erfolgte zu drei Messzeitpunkten: T1: bei
Reha-Beginn (nach Aufnahme in der Klinik), T2: bei Reha-Ende (vor Abreise aus der
Klinik) sowie T3: postalische Nachbefragung 6 Monate nach Reha-Ende.
243
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
Alle Patienten der Indikationsgruppe Fibromyalgiesyndrom der Rheumaklinik Bad
Wildungen wurden zu Beginn ihrer stationären Behandlung über die Studie aufgeklärt und konnten auf freiwilliger Basis den Fragebogen ausfüllen. Unabhängig davon, ob die Patienten an der Studie teilnahmen oder nicht erhielten die Patienten
die o.g. Maßnahmen. Alle rekrutierten Patienten der Studie, bei denen zu T1 und T2
Fragebögen vorlagen, wurden in die postalische Nachbefragung einbezogen. Die
Fragebögen, inklusive frankiertem Rückumschlag, wurden mit einem persönlichen
Anschreiben ca. 5 bis 7 Tage vor dem Stichtag über die Klinik verschickt. Um die
Rücklaufquote zu erhöhen, konnten die Teilnehmer durch die Rücksendung des
ausgefüllten T3-Fragebogens eine Zusammenfassung der Studienergebnisse anfordern.
Die Patienten der KG II wurden während einer Informationsveranstaltung rekrutiert.
Einige Tage nach der Veranstaltung wurde den Patienten postalisch der erste Fragebogen mit einem frankierten Rückumschlag und persönlichem Anschreiben zugesandt. Um sicherzustellen, dass die Patienten der KG II an dem Fibromyalgiesyndrom erkrankt waren, wurden sie gebeten, eine Bescheinigung ihres Arztes über
ihre Diagnose dem Fragebogen beizufügen. Ein entsprechender Vordruck wurde
den Patienten zugeschickt. Alternativ wurden auch ärztliche Gutachten aus denen
eindeutig die Diagnose Fibromyalgiesyndrom hervorging, für den entsprechenden
Patienten angenommen. Ging der Fragebogen bzw. die Bescheinigung nicht innerhalb von drei Wochen nach Versand ein, wurden die Patienten telefonisch kontaktiert, um sie zur weiteren Teilnahme an der Studie zu motivieren.
Erhebungsinstrumente. Neben soziodemographischen Daten wurden die Schlüsselsymptome des Fibromyalgiesyndrom wie Schmerzen, Ängstlichkeit und Depressivität erfasst. Zudem interessierten die körperliche Funktionsfähigkeit und erlebte
Beeinträchtigungen. Da die Motivation und die Schmerzverarbeitung für den langfristigen Reha-Erfolg entscheidend sind, gingen diese Parameter ebenfalls in die
Datenerhebung ein.
Zur Erfassung dieses Merkmalsbereichs wurde auf einzelne Fragen aus dem Deutschen Schmerzfragebogen (DSF) der Deutschen Gesellschaft zum Studium des
Schmerzes (DGSS) (Nagel, Gerbershagen, Lindena & Pfingsten, 2002) zurückgegriffen. Die Patienten sollten ihre durchschnittliche, größte, geringste und momentane
Schmerzstärke auf einer elfstufigen Skala der letzten vier Wochen angeben. Zudem
wurde die erträglichste Schmerzstärke abgefragt. Der Pain Disability Index (PDI;
Dillmann, Nilges, Saile & Gerbershagen, 1994) misst die subjektiv erlebte Beeinträchtigung durch Schmerzen in sieben Bereichen der Alltagsaktivitäten. Der ASES-D
geht auf ein Instrument zurück, das im Original von Lorig et al. (1989) zur Erfassung
der Selbstwirksamkeit bei Patienten mit Arthritis entwickelt wurde. In dieser Originalversion besteht das Instrument aus drei Subskalen: „Selbstwirksamkeit
Schmerz“, „Selbstwirksamkeit Funktion“, „Selbstwirksamkeit andere Symptome“.
Die motivationale Bereitschaft wurde mit dem Freiburger Fragebogen – Stadien der
244
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
Bewältigung chronischer Schmerzen (FF-STABS; Maurischat, Härter & Bengel, 2006)
erhoben. Der Fragebogen zur Erfassung der Schmerzverarbeitung (FESV; Geissner,
1990) wurde eingesetzt um das gesamte Schmerzgeschehen, die Form der
Schmerzbewältigung und die schmerzbedingten psychischen Belastungen zu erfassen. Der Fragebogen umfasst 9 Subskalen. Zur Untersuchung der Schmerzangst
wurden zwei Skalen der Pain Anxiety Symptom Scale (PASS-D; Quint, 2007) ausgewählt: die „schmerzbezogene Angst auf der kognitiven Ebene“ und „Vermeidungsverhalten“. Diese umfassen 13 Items mit einer siebenstufigen Antwortskalierung.
Die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D; Hermann-Lingen, Buss &
Snaith, 2005) wurde unter anderem zur Erfassung von psychischen Beeinträchtigungen bei Patienten mit funktionell bedingten körperlichen Beschwerden entwickelt. Mit der Kurzform des IRES-Patientenfragebogens (IRES-24; Wirtz et al., 2005)
kann die Indikation des Rehabilitationsstatus erhoben werden. Zur Beurteilung des
Wissensstands über das Fibromyalgiesyndrom wurden den Patienten sieben Aussagen über Ursachen, Begleitsymptome und Behandlung präsentiert, die sie mit „richtig“ oder „falsch“ beurteilen sollten. Zum Ende der Rehabilitation wurden den Patienten Fragen zur Beurteilung der Patientenschulung vorgelegt.
3.6
Ergebnisse
Stichprobenbeschreibung. Eine detaillierte Beschreibung kann Tabelle 1 entnommen werden.
Schmerzdaten. In den schmerzbezogenen Kennwerten zeigen sich zum ersten
Messzeitpunkt zwischen den Gruppen bedeutsame Unterschiede. Dabei differieren
die Ausprägungen signifikant zu den Ausprägungen jeder Gruppe. Die „durchschnittliche Schmerzstärke“ ist bei der KG I am geringsten ausgeprägt, gefolgt von der KG
II. Die Patienten der IG geben bei der größten Schmerzstärke die stärkste Ausprägung an. Bei der Frage nach ihren geringsten Schmerzen geben diese Patienten die
geringste Ausprägung an. Folglich variieren die Schmerzen der IG am deutlichsten.
Auf der Skala „momentane Schmerzstärke“ und „erträglichsten Schmerzstärke“
konnten keine Unterschiede zwischen den Gruppen ausgemacht werden. Die Patienten der KG II gaben die längste bestehende Schmerzdauer (18,55 Jahre) an. Die
Werte der KG I und IG unterschieden sich nicht bedeutsam von einander (KG
I=11,18 Jahre; IG=9,88 Jahre). Auch in der Schmerzhäufigkeit zeigte sich kein bedeutsamer Unterschied zwischen den Gruppen. Die Motivationslage der KG II und
IG unterschieden sich zum ersten Messzeitpunkt.
In der Schmerzverarbeitung gab die KG II höhere Mittelwerte auf den Skalen „Kognitive Umstrukturierung“, „Kompetenzerleben“ und „Ruhe- und Entspannungstechniken“ an als die Patienten der IG. Die schmerzbezogenen Ausgangswerte der drei
Stichproben unterscheiden sich hinsichtlich ihrer durchschnittlichen, größten, ge245
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
ringsten Schmerzstärke sowie in ihrer Schmerzdauer. Die IG zeigt zum Zeitpunkt des
Reha-Beginns die größte durchschnittliche Schmerzstärke auf. Auffallend ist, dass
die KG II die längste Schmerzdauer von mehr als 18 Jahren aufweist, allerdings sind
diese Patienten bedeutsam älter als die Patienten der KG I und der IG. Dementsprechend zeigten sich in der KG II auch mehr verwitwete Patienten und mehr die eine
Altersrente bezogen, weniger Patienten waren erwerbstätig.
Tabelle 1: Stichprobenbeschreibung.
Geschlecht
weiblich %
M
Alter
(SD)
ledig
verheiratet
Familiengeschieden/stand
getrennt lebend
verwitwet
keinen
Hauptschule
SchulabRealschule
schluss
höhere Schule
anderer
Anmerkungen: M=Mittelwert;
*p<0.05; **p<0.001
Gesamt
n= 414
93.5 %
51.44
(7.94)
9.4 %
63.8 %
22.2 %
KG I
n=160
94.4%
49.74
(7.20)
10 %
57.5%
29.4 %
KG II
n=59
94.9 %
57.89
(9.48)
6.8 %
67.8 %
15.3 %
IG
n=195
92.3 %
50.9
(7.15)
9.7 %
67.7 %
18.5 %
T/Chi
4.57
21.07**
17.71*
3.4 %
1.9 %
10.2 %
2.6 %
1.2 %
1.9 %
0%
1.0
41.1 %
43.1 %
44.1 %
38.5 %
6.52
37.0 %
35.6 %
42.4 %
36.4 %
9.7%
17.6 %
6.8 %
9.0 %
8.5 %
0.6 %
5.1 %
11.1 %
SD=Standardabweichung; T/Chi=statistische Prüfgröße;
Die Motivation zur Bewältigung chronischer Schmerzen zeigte, dass die Patienten
der KG II eher bereit sind, ihr Verhalten in Richtung Schmerzbewältigung zu verändern als die Patienten der IG. Ebenso setzt die KG II kognitive und behaviorale
Schmerzverarbeitungstechniken eher ein als die Patienten der IG.
Durchschnittliche Schmerzstärke (DSF). Die durchschnittliche Schmerzstärke der IG
konnte im Vergleich zur KG II bedeutsam gesenkt werden (F=15,793; p< 0,001;
π2=0,1179) diese Effekt war zum Katamnesezeitpunkt weiterhin nachweisbar. Beim
Vergleich der durchschnittlichen Schmerzstärke der IG und der KG I zeigte sich, dass
die Patienten der KG I schon mit einer geringeren Schmerzstärke in die Rehabilitation aufgenommen wurden. Zum Reha-Ende lag ihre Schmerzintensität deutlich unter
der Schmerzstärke der IG, obwohl diese Patienten ebenfalls ihre Schmerzen signifikant verringerten. Zum Katamnesezeitpunkt stiegen die Schmerzen der KG I über
die Schmerzstärke der IG an. Sodass die optimierte Patientenschulung in der langfristigen Effektivität der Rehabilitation vor Optimierung deutlich überlegen war.
Selbstwirksamkeit (ASES-D). Die krankheitsbezogene Selbstwirksamkeit der IG
konnte innerhalb der Rehabilitation im Vergleich zur KG II bedeutsam verbessert
246
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
werden (F=3,693; p=0,026; π2=0,023). Zur Katamnese konnte dieser Effekt jedoch
nicht weiter gesteigert werden. Ein Interaktionseffekt zwischen Zeit und Gruppe (F
2,967; p=0,054; π2=0,037) wurde nicht festgestellt. Für die IG und KG I erbrachte
die Varianzanalyse zur Selbstwirksamkeit einen signifikanten Effekt der Zeit (F=
5,726; p=0,004; π2=0,048) mit einer kleinen Effektstärke nach Bortz und Döring
(1995) bzw. Cohen (1988). Eine Interaktion zwischen der Zeit und Gruppe (F=1,438;
p=0,220; π2=0,012) konnte nicht festgestellt werden. Somit lässt sich feststellen,
dass durch die Rehabilitation die krankheitsbezogene Selbstwirksamkeit der Patienten (KG I, IG) signifikant gesteigert werden konnte und dieser Effekt auch langfristig
festzustellen ist.
Motivation zur Bewältigung chronischer Schmerzen (FF-STABS). Beim Vergleich der
IG und KG II zeigte sich auf der multivariaten Ebene ein signifikanter Haupteffekt
der Zeit mit einer hohen Effektstärke (F=10,223, p<0,001; π2=0,350). Außerdem
konnte ein bedeutsamer Interaktionseffekt zwischen Zeit und Gruppe mit einer hohen Effektstärke (F=5,818; p<0,001; π2=0,234) festgestellt werden. Auf der univariaten Ebene zeigte sich auf der Skala „Sorglosigkeit“ eine bedeutsame Senkung der
Mittelwerte in der IG, der sich kurz- und langfristig nachweisen ließ. Ebenso fielen
die Mittelwerte der Skala „Vorbereitung“ in der IG zwischen dem zweiten und dritten Messzeitpunkt bedeutsam ab. Auf der Skala „Handlung“ konnten die Mittelwerte der IG durch die Rehabilitation bedeutsam gesteigert werden. Dieser Effekt war
auch zur 6-Monatskatamnese nachweisbar. Auf der Skala „Aufrechterhaltung“ zeigte sich kurz- und langfristig in der IG ein bedeutsamer Anstieg der Mittelwerte. Beim
Vergleich der IG mit der KG I zeigte sich auf der multivariaten Ebene ein signifikanter Haupteffekt der Zeit mit einer hohen Effektstärke (F=39,331; p<0,001;
π2=0,632). Ein Interaktionseffekt zwischen Zeit und Gruppe konnte nicht festgestellt
werden (F=0,771; p=0,628; π2=0,033). Auf der univariaten Ebene ergab sich durch
die Rehabilitation eine signifikante Senkung der Mittelwerte auf der Skala „Sorglosigkeit“ für beide Gruppen. In der KG I stiegen im Vergleich zur IG diese Mittelwerte
zum Katamnesezeitpunkt wieder bedeutsam an. Auf der Skala „Vorbereitung“ zeigten beide Gruppen einen ähnlichen Verlauf. So sanken die Mittelwerte zwischen
dem zweiten und dritten Messzeitpunkt bedeutsam ab. Gleiche Verläufe der beiden
Gruppen ergaben sich auch auf den Skalen „Handlung“ und „Aufrechterhaltung“.
Die Mittelwerte konnten kurz- und langfristig bedeutsam gesteigert werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Motivation zur Bewältigung chronischer Schmerzen durch die Rehabilitation bedeutsam gesteigert werden konnte. Die
optimierte Patientenschulung (IG) zeigte im Vergleich zur Patientenschulung vor
Optimierung (KG I) einen langfristigen Effekt auf der Skala „Sorglosigkeit“. Die Ausprägung der Absichtslosigkeit, das Verhalten zu verändern, stieg bei der KG I im
Vergleich zur IG zwischen dem zweiten und dritten Messzeitpunkt wieder bedeutsam an.
Schmerzverarbeitung (FESV). Auf der multivariaten Ebene zeigte die Varianzanalyse
der IG und KG II einen Haupteffekt der Zeit (F=2,546; p=0,001; π2=0,249) und einen
247
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
Interaktionseffekt zwischen Zeit und Gruppe (F=2,119; p=0,008; π2=0,217). Auf der
univariaten Ebene konnten im Bereich der kognitiven Schmerzverarbeitung die Mittelwerte der IG, im Vergleich zur KG II, auf den Skalen „Handlungsplanungskompetenz“, „Kognitive Umstrukturierung“ und „Kompetenzerleben“ kurz- und langfristig
bedeutsam gesteigert werden. Im Bereich der behavioralen Schmerzverarbeitung
konnten die Mittelwerte der IG, im Vergleich zur KG II, auf der Skala „Mentale Ablenkung“ durch die Rehabilitation bedeutsam gesteigert werden. Zum Katamnesezeitpunkt fielen die Mittelwerte wieder signifikant ab, wobei sie jedoch über der
Ausgangslage blieben. Auf der Skala „Ruhe- und Entspannungstechniken“ nahmen
die Mittelwerte der IG, im Vergleich zur KG II, kurz- und langfristig bedeutsam zu.
Die psychische Belastung konnte auf den Skalen „Hilflosigkeit und Depression“,
„schmerzbedingte Angst“ und „schmerzbedingter Ärger“, bei der IG im Vergleich zur
KG II, kurz- und langfristig bedeutsam gesenkt werden. Die Befunde der Varianzanalyse ergaben auf der multivariaten Ebene für die IG und KG I einen Haupteffekt der
Zeit mit einer hohen Effektstärke (F=5,602; p<0,001; π2=0,385). Ein Interaktionseffekt zwischen Zeit und Gruppe konnte nicht festgestellt werden (F=0,531; p=0,940;
π2=0,056). Auf der univariaten Ebene konnten die Mittelwerte der kognitiven
Schmerzverarbeitung (Handlungsplanungskompetenz, Kognitive Umstrukturierung,
Kompetenzerleben) beider Gruppen durch die Rehabilitation bedeutsam gesteigert
werden. Jedoch zeigten sich in der KG I die Effekte nur kurzfristig, im Vergleich zur
IG, die auch zur Katamnese eine deutliche Steigerung ihrer kognitiven Schmerzverarbeitung aufwies. Im Bereich der behavioralen Schmerzverarbeitung ergab sich auf
den Skalen „Mentale Ablenkung“ in beiden Gruppen eine kurzfristige Steigerung der
Mittelwerte. Die Mittelwerte der Skala „Ruhe- und Entspannungstechniken“ konnten in beiden Gruppen kurz- und langfristig signifikant verbessert werden. Die
schmerzbedingten psychischen Beeinträchtigungen zeigten auf der Skala „Hilflosigkeit und Depression“ in beiden Gruppen kurz- und langfristig eine bedeutsame Besserung. Die schmerzbezogene Angst konnte in der KG I kurzfristig gemindert werden. In der IG zeigte sich dieser Effekt sowohl nach der Rehabilitation als auch zur 6Monatskatamnese. Die Mittelwerte der Skala „schmerzbezogener Ärger“ konnten in
der KG I im Vergleich zur IG nicht verbessert werden. Durch die Rehabilitation konnte die Schmerzverarbeitung der Patienten verbessert werden. Die Patientenschulung nach Optimierung (IG) zeigte im Vergleich zur Schulung vor Optimierung (KG I)
langfristige Effekte im Bereich der „Kognitiven Umstrukturierung“ und „Kompetenzerleben“.
Subjektive Beeinträchtigung durch die Schmerzen (PDI). Die Befunde der Varianzanalyse der IG und KG II ergaben einen signifikanten Effekt der Zeit mit einer kleinen
Effektstärke (F=3,955; p=0,021; π2=0,049) sowie einen Interaktionseffekt zwischen
Zeit und Gruppe mit einer mittleren Effektstärke (F=4,915; p=0,009; π2=0,060). Die
Beeinträchtigung durch die Schmerzen konnte in der IG, im Vergleich zur KG II, kurzund langfristig bedeutsam gesenkt werden. Die Varianzanalyse der IG und KG I zeigte einen bedeutsamen Effekt der Zeit mit einer hohen Effektstärke (F=16,880;
248
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
p<0,001; π2=0,150). Eine Interaktion zwischen Zeit und Gruppe konnte nicht festgestellt werden (F=1,217; p=0,298; π2=0,013). Beide Gruppen gaben zum zweiten
Messzeitpunkt deutlich geringer Mittelwerte der Beeinträchtigung an. Dieser Effekt
konnte in der KG I, im Vergleich zur IG, nicht langfristig beibehalten werden.
Angst und Depressivität (HADS-D). Die Befunde der Varianzanalyse der IG und KG II
zeigten auf der multivariaten Ebene eine Haupteffekt der Zeit mit einer hohen Effektstärke (F=1,065; p<0,001; π2=0,168) und einen Interaktionseffekt zwischen Zeit
und Gruppe mit einer hohen Effektstärke (F=6,597; p<0,001; π2=0,141). Auf der
univariaten Ebene ergab sich für die IG, im Vergleich zur KG II, eine kurz- und langfristige Besserung der Ängstlichkeit und Depressivität. Die Varianzanalyse der IG
und KG I zeigten einen Haupteffekt der Zeit mit einer hohen Effektstärke (F=21,577;
p<0,001; π2=0,311). Ein Interaktionseffekt zwischen Zeit und Gruppe konnte nicht
festgestellt werden (F=0,606; p=0,659; π2= 0,013). Auf der univariaten Ebene zeigte
sich für beide Gruppen eine kurz- und langfristige Besserung auf den Skalen „Angst“
und „Depression“. Somit kann festgestellt werden, dass die Rehabilitation, sowohl
vor als auch nach der Optimierung der Patientenschulung, die psychische Beeinträchtigung der Fibromyalgiesyndrom-Patienten bedeutsam senkt.
Reha-Status (IRES-24). Die multivariate Varianzanalyse der IG und KG II zeigte einen
Haupteffekt der Zeit mit einer hohen Effektstärke (F=6,013; p<0,001; π2=0,247) und
einen Interaktionseffekt zwischen Zeit und Gruppe ebenfalls mit einer hohen Effektstärke (F=4,904; p<0,001; π2=0,211). Die IG konnte im Vergleich zur KG II die Mittelwerte von allem vier Skalen und der Gesamtbewertung des Reha-Status des IRES24 langfristig verbessern. Die Werte der Skalen „somatische Gesundheit“, „Funktionsfähigkeit im Alltag“ und „psychisches Befinden“ fielen zwischen dem zweiten
und dritten Messzeitpunkt bedeutsam ab, wobei die Ausgangslage nicht erreicht
wurde. Bei der varianzanalytischen Untersuchung der IG und der KG I konnte auf
der multivariaten Ebene ein Haupteffekt der Zeit mit einer hohen Effektstärke (F=
21,162; p< 0,001; π2= 0,482) festgestellt werden. Ein Interaktionseffekt zwischen
Zeit und Gruppe konnte nicht bestätig werden. Die Befunde der univariaten Varianzanalyse ergaben bei der IG kurz- und langfristige Verbesserungen aller Skalen
des IRES-24. Die KG I konnte die Mittelwerte auf den Skalen „psychisches Befinden“,
„Schmerzen“ und „Reha-Status“ verbessern, auf den Skalen „somatische Gesundheit“ und „Funktionsfähigkeit im Alltag“ hielt die Verbesserung bei dieser Patientengruppe nur bis zum Reha-Ende.
Schmerzangst (PASS-D). Die Varianzanalyse der IG und KG II ergab auf multivariater
Ebene einen Haupteffekt der Zeit mit einer kleinen Effektstärke (F=4,406; p=0,002;
π2=0,101) und einen Interaktionseffekt zwischen Zeit und Gruppe mit einer kleinen
Effektstärke (F=2,516; p=0,044; π2=0,060). Auf der univariaten Ebene ergaben sich
für die IG eine signifikante kurz- und langfristige Minderung der kognitiven Angst
und des Vermeidungsverhaltens im Vergleich zur KG II. Die Varianzanalyse der IG
und KG I zeigte auf der multivariaten Ebene einen Haupteffekt der Zeit mit einer
249
Patientenschulung bei Fibromyalgiesyndrom
mittleren Effektstärke (F=7,629; p<0,001; π2=0,135). Ein Interaktionseffekt zwischen Zeit und Gruppe konnte nicht festgestellt werden. Die Befunde der univariaten Varianzanalyse zeigten auf der Skala „kognitive Angst“ für beide Gruppen eine
langfristige bedeutsame Verminderung der Mittelwerte. Auf der Skala „Vermeidungsverhalten“ verzeichnete nur die IG eine bedeutsame Reduzierung der Mittelwerte.
Wissenstand. Bei der univariaten Varianzanalyse der IG und KG II ergab sich kein
signifikanter Unterschied mit der Zeit (F=1,578; p=0,214; π2=0,047) und kein signifikanter Interaktionseffekt zwischen Zeit und Gruppe (F=2,000; p=0,144; π2=0,059).
Beim Vergleich der IG mit der KG I ergaben sich ähnliche Ergebnisse, bei der Analyse
der Zeit (F=1,432; p=0,244; π2= 0,028) und Zeit*Gruppe (F=0,662; p=0,518;
π2=0,013) konnte keine bedeutsamen Unterschiede festgestellt werden.
Patienteneinschätzung der Schulung. Bei der Beurteilung der verschiedenen Themen der Patientenschulung bewerteten die Patienten der KG I und IG alle abgefragten Bereiche als wichtig bis sehr wichtig (Mittelwert: 3,45). Ein bedeutsamer Unterschied zwischen den beiden Gruppen hinsichtlich der Bewertung zeigte sich im Bereich der Krankheitslehre und der Krankheitsbewältigung. Beide Themen erachteten
die Patienten der KG I wichtiger als die IG. Die Schulung und ihre Rahmenbedingungen wurden von beiden Gruppen insgesamt als gut bewertet. Jedoch bewerteten
die IG den Schulungsumfang, die Auswahl der Themen, das Schulungsmaterial, die
Verständlichkeit, die Möglichkeit Fragen zu stellen und das schriftliche Unterrichtsmaterial bedeutsam besser als die KG I. Lediglich die Gruppengröße schätzten die
Patienten der KG I besser ein als die IG. Der persönliche Gewinn durch die Schulung
wurde von beiden Gruppen als gut eingeschätzt. Die Patienten gaben an, „einiges“
bis „viel“ über ihre Erkrankung und Behandlungsmöglichkeiten gelernt zu haben.
Unterschiede zwischen den Gruppen konnten nicht festgestellt werden. Insgesamt
hat den Patienten die Schulung „gut“ bis „sehr gut“ gefallen und sie schätzen den
persönlichen Gewinn als groß bzw. sehr groß ein.
3.7
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252
Internetbasierte Erhebung von Patientendaten
4
Internetbasierte Erhebung von Patientendaten
4.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
PD Dr. Axel Kobelt
Mitarbeiter
Dr. Norbert Karpinski
Kooperationspartner
Verein zur Förderung der Rehabilitation in Niedersachsen und Bremen e. V. (VFRNB)
Zeitraum
01.01.2007 - 31.12.2008
Finanzierung
Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover
4.2
Zusammenfassung
Im Rahmen dieses Pilotprojekts zur Optimierung der medizinischen Rehabilitation
durch eine standardmäßig durchgeführte Diagnostik und Verlaufskontrolle wurde
ein System zur internetbasierten Diagnostik und Verlaufskontrolle von ambulant
durchgeführten Rehabilitationsmaßnahmen entwickelt und erprobt. Zusätzlich
wurde die PC-Erfahrung von 189 Reha-Patienten aus sechs ambulanten RehaKliniken erfragt und ihre Akzeptanz eines internetbasierten Assessments untersucht.
4.3
Stand der Forschung
Seit der Einführung des Internets im Jahr 1994 führten die Vorteile dieses Medium
zu einer schnell ansteigenden Nutzung in der Markt- und der Sozialforschung (Fi253
Internetbasierte Erhebung von Patientendaten
scher, 2005). Aber auch bei der psychosozialen Versorgung werden immer häufiger
die mit dem Internet verbundenen Möglichkeiten genutzt (Barak, Hen, BonielNissim & Shapira, 2008). Im Mittelpunkt des Interesses einer internetbasierten Forschung steht vor allem die schriftliche Befragung (reaktive Datenerhebung) bzw. die
nicht-reaktive Beobachtung von möglichst großen Populationen bzw. spezifischen
Zielgruppen (Batinic, 1997). Untersuchungen zum Einsatz des Internets bei Diagnostik und Verlaufskontrolle im Rahmen von Rehabilitationsmaßnahmen, bei der die
Patienten die entsprechenden diagnostischen Assessments über das Internet beantworten, lagen bis zu dieser Pilotstudie nicht vor.
Auf der Patientenseite sind zusätzlich zwei Aspekte der Umsetzbarkeit internetbasierter Assessments zu berücksichtigen:
•
Die Akzeptanz der elektronischen Bearbeitung (Liebert, Archer & Munson,
2006) und
• die grundsätzliche Verfügbarkeit von privaten/dienstlichen Computern, Internetzugang und die damit verbundene Vorerfahrung mit diesen Medien
(Ebert et al., 2009; Gerhards & Mende, 2008).
Es muss zusätzlich berücksichtigt werden, dass die Altersgruppe der über 60Jährigen zu 73,6% das Internet verweigert und die meisten „Nichtnutzer“ (53,3%)
des Internets einen Volks- oder Hauptschulabschluss aufweisen (Gerhards & Mende, 2008).
4.4
Ziele
Das Projekt verfolgte das Ziel, einen Beitrag zur Optimierung der Rehabilitation
durch eine verbesserte Diagnostik zu leisten. Diese Zielsetzung soll durch folgende
Punkte erreicht werden:
•
•
direkte internetbasierte Erhebung der Fragebogendaten,
zeitnahe Rückmeldung individueller Testergebnisse zum Reha-Beginn an die
Klinik und
• zeitnahe Rückmeldung der individuellen Veränderung der Testwerte zum
Reha-Ende.
Dabei sollte gleichzeitig die Akzeptanz der Patienten für ein solches Verfahren überprüft werden.
4.5
Methodisches Vorgehen
Während eine internetbasierte Datenerhebung zum jetzigen Stand der Technologie
254
Internetbasierte Erhebung von Patientendaten
keine besonders große Anforderung darstellt, da hier auf bestehende Technologie
zurückgegriffen werden kann, beinhaltet die Zielsetzung einer möglichst zeitnahen
Rückmeldung von Testergebnissen und Veränderungswerten eine logistische und
technische Herausforderung. Dies ist vor allem durch die in der Diagnostik eingesetzten Verfahren begründet, da die Komplexität der notwendigen Berechnungsschritte zur Skalenbildung bei einigen diagnostischen Verfahren den Funktionsumfang von Datenbanken übersteigt. Insofern benötigt die Umsetzung der gestellten
Ziele des Projektes, neben Modulen zur Datenerhebung/-Rückmeldung und einer
Datenbank, ein „Interpreter-Modul“ das die notwendigen Berechnungsschritte zu
Skalenbildung und Interpretation der Veränderungswerte vornimmt (vgl. Abb. 1).
EingabeModul
InterpreterModul
Datenbank
AusgabeModul
InterpreterModul
Abbildung 1: Schematische Darstellung der notwendigen Module zur internetbasierten Datenerfassung und Ergebnis-Rückmeldung.
Der kontinuierliche zeitliche Fluss von Patientendaten muss beim Ausgabemodul
berücksichtigt werden. Das Projekt erfordert eine dynamische und interaktive Gestaltung des Ausgabemoduls, bei dem gezielt die Informationen zu einem bestimmten Patienten abrufbar sind.
Die Projektrealisation und Organisation erfolgte arbeitsteilig durch die DRV (A. Kobelt, Akquise von teilnehmenden Kliniken, Erstellung der Internet-Fragebögen mit
„egrade“) und dem ZKPR (Erstellung der Datenbanken, Erstellung der SPSS-Syntax
zur Auswertung und Portierung in die Datenbanken und EXCEL-Dateien, Konzeption
und Erstellung der Datenbanken und der EXCEL-Datei zur Rückmeldung, fortlaufender Versand der Rückmeldungen an die Kliniken).
4.6
Ergebnisse
Zur Analyse der Akzeptanz des gewählten Vorgehens liegen die Bewertungen der
Zufriedenheit mit der internetbasierten Fragebogenerhebung von 189 Patienten (75
weiblich) vor. Das Alter der Patienten umfasst einen Bereich von 18 bis 64 Jahre. Im
255
Internetbasierte Erhebung von Patientendaten
Mittel sind die Patienten 44,66 (Std. Abw. = 10,26) Jahre alt. Der am häufigsten angegebene Schulabschluss ist die Mittlere Reife (n=89), als zweithäufigster Schulabschluss wird Hauptschule (n=65) genannt. Abitur bzw. Hochschulreife haben 17 und
Fachhochschulreife 16 der befragten Patienten angegeben. Nur zwei der befragten
Patienten haben keinen Schulabschluss angegeben.
Umsetzungs- und Durchführungsprobleme bei der Implementation in den Kliniken. Die praktische Umsetzung und Durchführung der Projekt-Zielsetzung wurde im
Projektverlauf durch Probleme auf unterschiedlichsten Ebenen beeinträchtigt, die
bei der Planung kaum oder nur bedingt vorausgesehen werden konnten. Grundsätzlich können hier folgende Ebenen unterschieden werden:
•
Organisation, Anpassung und Bereitstellung der nötigen technischen und
verwaltungstechnischen Strukturen bei den kooperierenden Reha-Zentren,
• Funktionsumfang und Handhabbarkeit der eingesetzten Software,
• nichtvorhersehbare Fehler durch die Vorbereitung und Nutzung der Softwareumgebung seitens der Reha-Zentren und der Patienten sowie
• Erwartungen und Anforderungen von Seiten der Kooperationspartner
Ergebnisse zur Einschätzung der internetbasierten Fragebogenerhebung. Beim
Bereich „Akzeptanz der internetbasierten Fragebogenerhebung“ überwiegen die
positiven Nennungen. Die Ergebnisse der chi-Quadrat-Testung belegen in allen Bereichen überzufällige Nennungen der zustimmenden Antwortkategorien („trifft eher
zu“ und trifft genau zu“), während die ablehnenden Antwortkategorien unter den
erwarteten Häufigkeiten liegen. Die chi-Quadrat-Werte der Häufigkeitsanalysen der
Antwortkategorien der bewerteten Fragen liegen für alle Fragen in einem Bereich
von 139,74 bis 324,12 und sind alle statistisch signifikant.
Die Analyse der Bereiche „Verständlichkeit“ und „Akzeptanz“ anhand der durchgeführten Varianzanalysen ergeben sich keine statistischen Unterschiede zwischen
dem Grad der Schulbildung, dem Geschlecht und dem Alter der Patienten. Für den
Bereich „Verständlichkeit“ ergibt bei der Schulbildung ein F-Wert von 1,60 (p=0,19),
beim Alter ist der F-Wert = 1,38 (p=0,25) und es liegt kein Geschlechtseffekt vor. Für
den Bereich „Akzeptanz“ ergibt sich für die Schulbildung ein F-Wert von 0,37
(p=0,78). Es liegt kein Alters- und Geschlechtseffekt vor.
Zusammenfassend kann anhand dieser Ergebnisse gefolgert werden, dass eine internetbasierte Patientenbefragung erfolgreich durchgeführt werden kann und von
den Patienten positiv aufgenommen wird. Dabei ist festzuhalten, dass die meisten
Patienten die internetbasierte Erhebung einem herkömmlichen Papierfragebogen
vorziehen.
Literatur
Barak, A., Hen, L., Boniel-Nissim, M. & Shapira, N. (2008). A comprehensive review
256
Internetbasierte Erhebung von Patientendaten
and a meta-analysis of the effectiveness of internet-based psychotherapeutic
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Mental Health Counseling, 28, 69-84.
Publikationen
Kobelt, A., Karpinski, N. & Petermann, F. (2010). Internetbasierte Datenerhebung
und Diagnostik: Akzeptanz durch Patienten der medizinischen Rehabilitation.
Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin, 20, 316-321.
257
Chronisch kranke Jugendliche in der stationären Rehabilitation
5
Jugendliche mit chronischer Grunderkrankung in der
stationären Rehabilitation
5.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Dr. Rainer Stachow
Dipl. Päd. Uwe Tiedjen
Mitarbeiterinnen
Dr. Christiane Baldus, Dr. Stephanie Ender, Dipl.-Päd. Pia Dewald, Dipl.-Päd. Birthe
Hinrichsen, Dipl.-Psych. Bernadette Rietzler, Dipl.-Psych. Laura Wintjen,
Kooperationspartner
Fachklinik Sylt für Kinder und Jugendliche, Westerland; Rehaforschung Fachklinik
Sylt e.V.
Zeitraum
01.01.2005 - 31.12.2011
Finanzierung
Deutsche Rentenversicherung Nord, Verein zur Förderung der Rehaforschung Fachklinik Sylt e.V.
5.2
Zusammenfassung
Zwischen der Fachklinik für Kinder und Jugendliche Sylt (Westerland) und dem Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) der Universität Bremen bestand von 2005 bis 2011 eine Forschungskooperation im Rahmen des gemeinsamen
„Jugendprojekts“. Ausgehend von empirischen Arbeiten, die zeigen konnten, dass
stationäre Rehabilitationsmaßnahmen bei chronisch kranken Jugendlichen (z.B. mit
Asthma, Neurodermitis, Psoriasis, Adipositas und Diabetes) weniger starke und weniger langfristige Effekte zeigen, setzt sich das Projekt zur Aufgabe (1) mehr über die
Realität der betroffenen Jugendlichen in ihrem Alltag zu Hause und in der Rehabili259
Chronisch kranke Jugendliche in der stationären Rehabilitation
tation in Erfahrung zu bringen und (2) diese Ergebnisse zu nutzen, um Ansatzpunkte
dafür zu finden, die Konzepte für stationäre Rehabilitationsmaßnahmen in Zukunft
für Jugendliche zu verbessern. Die aus der querschnittlichen Erhebung (Vorstudie:
2005 bis 2007) resultierenden Ergebnisse werden dem zweiten Teil des Projektes
(Hauptstudie: 2007 bis 2010; kostenneutrale Verlängerung bis 2011) zugrunde gelegt, um sowohl die Rahmenbedingungen der Rehabilitation als auch inhaltliche
Aspekte besser an die Bedürfnisse der Jugendlichen anzupassen und die Effekte
dieser Anpassung zu untersuchen (Kontrollgruppendesign). Die Studie konnte aufzeigen, dass die Jugendlichen, die die neu entwickelte jugendspezifische RehaMaßnahme erhalten haben, wesentlich zufriedener mit der stationären Rehabilitation waren, was sich auch in der Verbesserung einiger Parameter widerspiegelte.
5.3
Stand der Forschung
Ausgangspunkt für das Projekt war die Erkenntnis, dass Jugendliche in Deutschland
gesundheitlich schlechter versorgt sind als andere Altersgruppen (Hurrelmann, Klocke, Melzer & Ravens-Sieberer, 2003), als Zielgruppe konzeptueller und empirischer
Arbeit des Rehabilitationswesens jedoch eine untergeordnete Rolle spielen. Zudem
zeigen Studienergebnisse die mangelnde Akzeptanz von Interventionen und eine
geringere langfristige Wirksamkeit von Interventionseffekten im Jugendalter (Petermann, 2003). Zur Reha-Zufriedenheit, die sich in den letzten Jahren als wesentlicher Bestandteil in der Qualitätssicherung stationärer Rehabilitation etabliert hat,
wurden chronisch kranke Jugendliche nur selten befragt; viel zu oft wurden solche
Anfragen an die Eltern gerichtet. Dabei sind es die Jugendlichen, die von nun an den
Umgang mit ihrer Erkrankung selbstverantwortlich gestalten sollen. Insbesondere
wenn bei der Therapie von Patienten auf Einstellungs- und Verhaltensänderungen
hingewirkt werden soll, zeigt sich, dass zufriedenere Patienten eher zur Mitwirkung
an ihrer Behandlung bereit sind und die Anweisungen der Ärzte und des medizinischen Personals genauer beachten. Diese Erkenntnisse führen dazu, dass die Bedeutung der Zufriedenheit als Outcome-Parameter teilweise genauso hoch angesehen wird wie die der Effektivität oder die Effizienz einer Behandlung (Bührlen, Maier-Riehle & Jäckel, 2000).
5.4
Ziele
Das Ziel des Projektes war die Entwicklung, Implementierung und Evaluation eines
auf Jugendliche zugeschnittenen Reha-Konzeptes. Als Hypothese wurde angenommen, dass Jugendliche, die nach dem neuen Rehabilitationskonzept behandelt wurden, nach der Rehabilitation zum einen zufriedener und zum anderen einen ver260
Chronisch kranke Jugendliche in der stationären Rehabilitation
gleichsweise stärkeren und länger anhaltenden Anstieg in ihrer Selbstwirksamkeit,
sozialen Kompetenz, Selbstvertrauen und Lebensqualität aufweisen als Jugendliche,
die mit dem bisherigen Konzept behandelt wurden. Stellt sich dieser Vorteil des
Rehabilitationskonzepts ein, so können die im Projekt geleisteten konzeptuellen
Maßnahmen (Klinikleitbild, -organisation, Mitarbeiterschulung, soziales Kompetenztraining) auf andere Rehabilitationskliniken übertragen werden und damit einen
nachhaltigen Beitrag zur Rehabilitation von chronisch kranken Jugendlichen leisten.
5.5
Methodisches Vorgehen
Vorstudie. 179 chronisch erkrankte Jugendliche und ein Großteil des Klinikpersonals
nahmen an der Befragung in der Vorstudie teil. Außerdem wurden 126 Fragebögen
an Berufskammern und -verbände, Berufsschulen, Berufsberater und mittelständische Unternehmen in Hamburg und Schleswig-Holstein verschickt, von denen jedoch nur 25 zurückgeschickt wurden. Die erhobenen Daten enthielten Hinweise auf
die Reha-Zufriedenheit, psychische Befindlichkeit und Compliance der Jugendlichen
sowie auf die Zufriedenheit der Mitarbeiter mit den Klinikstrukturen und dem Klinikalltag. Hieraus wurden Verbesserungsvorschläge gewonnen, die die Grundlage
für geplante Veränderungen des Klinikkonzeptes waren.
Hauptstudie. Aus den Ergebnissen der Vorstudie wurde ein altersentsprechendes
Reha-Konzept für Jugendliche entwickelt, dessen Wirksamkeit anhand eines Kontrollgruppendesign überprüft wurde. Dem neuen Reha-Konzept wurde zunächst ein
Leitbild zugrunde gelegt, das die konsequente Umsetzung von interdisziplinärer
Kooperation, Ressourcenorientierung, Salutogenese und Empowerment anstrebt.
Es folgten strukturelle und bauliche Maßnahmen in der Klinik, die bspw. zu einer
verbesserten Unterbringung für die Jugendlichen und verkleinerten und homogeneren Gruppen führten. Außerdem wurden die Klinikregeln an das Alter der Jugendlichen angepasst und die Interventionen in Pflicht-, Wahlpflichtmaßnahme und Freiwilligenangebot eingeteilt. Der neue Maßnahmenkatalog umfasste folgende Interventionen: Patientenschulung für die Hauptdiagnose auf neun Einheiten erhöht,
Schulung für die Nebendiagnose (3 bis 4 Einheiten), neu entwickeltes soziales Kompetenztraining (JuKo-Treff), Entspannungstraining als Regelangebot, strukturierte
pädagogische Angebote mit therapeutischer Ausrichtung, Einrichtung von SportAG’s, Berufsfindung und Raucherentwöhnung. Für alle Mitarbeiter wurde eine spezielle Fortbildung „Wir und Jugendliche“ mit vier Modulen und 12 Unterrichtsstunden entwickelt und durchgeführt.
Die Wirksamkeit dieser Konzeptänderung wurde in einer prospektiven, kontrollierten, nicht randomisierten Studie evaluiert. Eingeschlossen wurden Jugendliche ab
dem 14. Lebensjahr mit Atemwegserkrankungen, Hauterkrankungen, Adipositas
oder Diabetes mellitus. Es wurden Datenerhebungen zu Beginn, am Ende und ein
261
Chronisch kranke Jugendliche in der stationären Rehabilitation
Jahr nach der Rehabilitation durchgeführt. Die Kontrollgruppe umfasste 146 Jugendliche des Reha-Jahrgangs 2007, die Experimentalgruppe umfasste 166 Jugendliche
des Reha-Jahrgangs 2008. Die Untersuchung bezog sich auf Parameter der RehaZufriedenheit, des Selbstwertes, der Selbstwirksamkeit, der Lebensqualität, des
Krankheitsmanagements sowie klinische Parameter.
5.6
Ergebnisse
Die neuen Klinikstrukturen und räumlichen Ausstattungen wurden von den Jugendlichen der Experimentalgruppe signifikant besser beurteilt. Ebenso war die Zufriedenheit der Rehabilitanden der Experimentalgruppe in Bezug auf die Berufsorientierung signifikant (< 0,001) besser. Sie fühlten sich besser vorbereitet auf die anstehende Berufswahl. Die beiden Gruppen unterschieden sich nicht in ihrer Zufriedenheit bei den therapeutischen Angebote und dem Verhalten der Mitarbeiter bzw.
Therapeuten. In Bezug auf die untersuchten Hauptvariablen (Selbstwert, soziale
Selbstwirksamkeit, gesundheits- und krankheitsbezogene Lebensqualität, Krankheitsmanagement) ergaben sich teilweise Verbesserungen der Effekte zugunsten
der Experimentalgruppe. Bei den Untersuchungen der Skalen des KINDL-R zeigte
sich die Experimentalgruppe signifikant verbessert auf der Skala Körper und Psyche.
Beim Krankheitsmanagement - gemessen vom Beginn bis zum Ende der Rehabilitation - ergaben sich signifikante Verbesserungen bei Patienten mit Adipositas und
Neurodermitis.
Eine altersentsprechende Anpassung des Rehabilitationsprozesses an die Bedürfnisse von Jugendlichen ist aufwendig, aber notwendig. Gerade in Zeiten steigender
Prävalenz von chronischen Erkrankungen müssen effektive Konzepte für das Jugendalter entwickelt und evaluiert werden, da die im Jugendalter gemachten Lernerfahrungen im Umgang mit der Erkrankung das Gesundheitsverhalten im Erwachsenenalter prägen. Das Projekt konnte aufzeigen, dass Jugendliche mit einem auf
sie zugeschnittenen und interdisziplinären Konzept besser erreicht werden können
Die Messung von Verbesserungseffekten durch eine solche Konzeptumstellung gestaltet sich allerdings schwierig; auch dies hat das Projekt gezeigt.
5.7
Literatur
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Chronisch kranke Jugendliche in der stationären Rehabilitation
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Chronisch kranke Jugendliche in der stationären Rehabilitation
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264
Elterntraining in der stationären Kinderrehabilitation
6
Modularisiertes Elterntraining für Eltern
entwicklungsauffälliger Kinder in der stationären
Rehabilitation
6.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. F. Petermann, Prof. Dr. U. Petermann
Dr. H. Mayer, Dr. S. Springer (Klinik Hochried)
Mitarbeiterinnen
Dr. Julia Jaščenoka
Dipl.-Psych. Julia-Katharina Rißling
Dr. Macha Hecking (Klinik Hochried)
Kooperationspartner
Klinik Hochried (Murnau)
Zeitraum
01.05.2009 - 31.08.2012
Finanzierung
Deutsche Rentenversicherung Bund
6.2
Zusammenfassung
Im Rahmen des Projektes wurde in Kooperation mit der Klinik Hochried (Murnau)
ein modularisiertes Elterntraining (ETEK) für Eltern entwicklungsauffälliger Kinder in
der stationären Rehabilitation entwickelt. Untersuchungen zum kurz- und langfristigen Erfolg des Elterntrainings zeigen, dass das ETEK den Rehabilitationserfolg bei
Eltern entwicklungsretardierter Kinder sowie den Kindern deutlich verbessert.
265
Elterntraining in der stationären Kinderrehabilitation
6.3
Stand der Forschung
Eltern entwicklungsauffälliger Kinder sind aufgrund des höheren Betreuungs- und
Förderbedarfs häufig stark belastet (Cina & Bodenmann, 2009; Gerdes et al., 2007;
Schauning et al., 2004). Elterliche Kompetenzdefizite wirken sich einschränkend auf
die erzieherische Praxis und das Förderklima im familiären Umfeld aus. Hierdurch
können Entwicklungsfortschritte der Kinder behindert und deren soziale Benachteiligung verstärkt werden (Petermann, Petermann & Franz, 2010). Dieses ungünstige
Wirkungsgefüge kann durch gezielte Herbeiführung und Stärkung elterlicher Kompetenzen durchbrochen werden. Dabei sollten Eltern als Co-Therapeuten geschult
und in die Lage versetzt werden, ihre Ressourcen als Erziehende zu erkennen und
langfristig einzusetzen. Elterntrainings gelten hier als besonders geeignete Methode, um einer dauerhaften Manifestation der kindlichen Probleme zu begegnen (vgl.
Briesmeister & Schaefer, 2007).
Der aktuelle Forschungsstand lässt darauf schließen, dass Eltern entwicklungsverzögerter Kinder ein speziell auf ihrer Bedürfnisse zugeschnittenes Programm benötigen, welches die Besonderheiten der verschiedenen Störungsbilder thematisiert
und den Eltern einen sensiblen Umgang mit ihrem beeinträchtigten Kind vermitteln.
Aufgrund der häufigen Kombination von Defiziten in den Bereichen Sprache, Motorik, Kognition und sozial-emotionale Entwicklung erscheint eine Schulung der Eltern
in allen vier Bereichen als sinnvoll (Kastner et al., 2011).
6.4
Ziele
Ziel des Projektes ist eine Optimierung und Standardisierung der elterlichen Betreuung entwicklungsretardierter Vorschulkinder während der stationären Rehabilitation. Hierfür wurden im Rahmen des Projekts standardisierte Förder- und Therapiemodule für die elternbezogene Förderung von entwicklungsauffälligen Vorschulkindern erarbeitet und evaluiert. Durch das überarbeitete Elterntraining ETEK sollten
die dazu Eltern befähigt werden, Therapiemaßnahmen mit dem Kind nach Abschluss der Reha-Maßnahme zu Hause eigenständig durchzuführen.
6.5
Methodisches Vorgehen
Die in Fragestellungen der Studie wurden mittels eines kontrollierten, prospektiven
Designs untersucht. Die Rekrutierung der Probanden der Kontroll- und Interventionsgruppe erfolgte zu Beginn der stationären Rehabilitationsmaßnahme in der Klinik Hochried. Die geplante Stichprobengröße beider Gruppen betrug jeweils 80 bis
100 Patienten. Die Datenerhebungen erfolgten zu drei Messzeitpunkten (Prä- und
266
Elterntraining in der stationären Kinderrehabilitation
Posterhebung sowie 1-Jahreskatamnese), wobei die Evaluation des neuen Elternschulungskonzeptes längsschnittlich anhand der Verlaufskontrolle der elterlichen
Erziehungskompetenz, des elterlichen Stresserlebens und der elterlichen Selbstwirksamkeit sowie anhand kindlicher Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale erfolgt. Es ist somit die multivariate Hypothese einer differenziellen Veränderung eltern- und kindbezogener Merkmale zugunsten der Interventionsgruppe zu prüfen.
Dies schließt als Einzelvergleiche insbesondere die Überprüfung der Prä-TestÄquivalenz sowie die Überprüfung der Post-Test-Differenzen zu T2 und T3 ein.
Kindzentrierte Interventionsmaßnahmen. Die Kinder werden aufgrund ihrer Vordiagnosen, ihres Alter sowie des berichteten Entwicklungsstandes bereits vor Beginn
der stationären Rehabilitationsmaßnahme einer therapeutischen Gruppe zugewiesen. Dieser so genannte „Indikationsorientierte Therapie Stützpunkt“ (IST) ermöglicht aufgrund seiner Zeitintensität und Homogenität eine intensive Entwicklungsförderung, die sich an den individuellen Förderbedürfnissen eines Kindes orientiert.
Ein ITS setzt sich aus acht bis zehn Kindern zusammen und wird während der gesamten Dauer der Rehabilitationsmaßnahme von einer therapeutischen oder pädagogischen Fachkraft betreut. Dieser Stützpunktleiter bildet die Schnittstelle im interdisziplinär arbeitenden Team aus Ärzten, Therapeuten, Pädagogen, Psychologen
sowie den Begleitpersonen. Der Informationsaustausch erfolgt über Einzelgespräche und bereichsinterne sowie fachübergreifende Teamsitzungen. Der Gruppentherapieplan sieht für jedes Kind pro Woche 19 Therapieeinheiten zu je 45 Minuten vor
und bietet eine gezielte therapeutische Intervention in den Bereichen Kognition,
Sprache, Wahrnehmung, Motorik sowie sozial-emotionale Entwicklung an. Den insgesamt fünf Förderbereichen sind jeweils fachspezifische Therapiekonzepte zugeordnet. Es liegt eine vorgegebene Grundstruktur zugrunde, welche eine einheitliche
Durchführung ermöglicht. Die Therapieeinheiten sind in einem Wochen-Stundenplan, der über die Dauer der Rehabilitation konstant bleibt, festgelegt.
Das optimierte Elterntraining entwicklungsfördernder Kompetenzen (ETEK)
Die Schulung wird in Gruppen von acht bis zehn Eltern durchgeführt und pro Rehabilitationsmaßnahme an zwei bis vier Gruppen evaluiert. Die Vermittlung der Trainingsinhalte erfolgt mittels unterschiedlicher Methoden. Powerpoint-Vorträge dienen zur Vermittlung der Basisinformationen, die anschließend mithilfe von Gruppendiskussionen, Rollenspielen und Kleingruppenarbeiten vertieft bearbeitet werden. Insbesondere Videobeispiele, Arbeitsblätter und Wochenaufgaben helfen den
Eltern dabei, das Gelernte in ihrem Alltag zu generalisieren. Das ETEK besteht aus
den drei Modulen Erziehung, Förderung und Praxis, deren inhaltliche Gestaltung
sich teilweise an den Analysen zur Identifizierung wirksamer Elemente in Elterntrainings von Kaminski et al. (2008) sowie Scheithauer et al. (2003) orientiert. Innerhalb
des Moduls Erziehung werden grundlegende Aspekte einer entwicklungsfördernden
Erziehung thematisiert; dazu zählen die Gestaltung einer positiven Eltern-Kind267
Elterntraining in der stationären Kinderrehabilitation
Beziehung, das Erlernen effektiver Verstärkungs- und Bestrafungsstrategien (z.B.
beschreibendes Loben bzw. das Aussprechen natürlicher negativer Folgen) sowie
wirkungsvolles Auffordern. Im Modul Förderung erhalten die Eltern umfangreiche
Informationen darüber, wie sie die motorische, sprachliche, kognitive und sozialemotionale Entwicklung ihrer Kinder im häuslichen Alltag einfach und effizient unterstützen können. Verschiedene Aufgaben und Spiele werden dabei unter Anleitung der Trainer in Kleingruppen eingeübt. Des Weiteren werden zu Beginn jeder
Einheit Kenntnisse über die normative Entwicklung vermittelt, um den Eltern gezielt
aufzuzeigen, an welchen Stellen ihr eigenes Kind eine gezielte Unterstützung benötigt. Im Modul Praxis werden die Inhalte der Module Erziehung und Förderung einer Trainingswoche miteinander verknüpft. Eltern und Kinder nehmen im Gegensatz zu den anderen Trainingssitzungen gemeinsam an diesen Einheiten teil. Die
Eltern erhalten die Aufgabe, die Förderspiele aus dem Modul Förderung unter Berücksichtigung der jeweils erlernten Erziehungsstrategie mit ihren Kindern zu erproben. Jedes Eltern-Kind-Paar spielt dabei für sich und erhält gezielte Unterstützung
bzw. konstruktives Feedback durch einen Trainer.
In den ersten vier Wochen der stationären Rehabilitation wird aus jedem Modul
eine Trainingseinheit mit den Eltern erarbeitet. Das Modul Erziehung besteht aus
fünf Trainingseinheiten à 75 Minuten. Die Module Praxis und Förderung umfassen
jeweils vier Trainingseinheiten à 45 Minuten. In jeder Trainingswoche findet jeweils
eine Trainingseinheit aus den Modulen Erziehung, Förderung und Praxis statt, wobei
das Training am dritten Tag nach Beginn der Rehabilitationsmaßnahme mit der ersten Trainingseinheit des Moduls Erziehung startet. Die theoretische Fundierung des
Konzeptes beruht auf dem Modell der sozial-kognitiven Informationsverarbeitung
von Dodge (Dodge, Lochman, Harnish & Bates, 1997). Danach beginnt jegliches Verhalten (so auch Erziehungsverhalten) zunächst mit der Wahrnehmung und Bewertung einer Situation und der darin agierenden Personen sowie der Suche nach geeigneten Handlungsalternativen. Führt das anschließend gezeigte Verhalten nicht
zum gewünschten Ziel, überdenkt eine Person ihr Verhalten und erprobt modifizierte Handlungsstrategien. Das vorliegende Trainingsprogramm greift Dodges Modell
auf und überführt diese Systematik auf alle drei Module. Jede Trainingswoche beginnt mit einer thematisch zugeschnitten Selbsterfahrungsaufgabe, um die Beobachtungs- und Wahrnehmungskompetenzen für das eigene, aber auch das kindliche Verhalten zu schulen. So erkennen Eltern nicht nur die wechselseitige Abhängigkeit von Verhalten, sondern lernen zusätzlich, im Alltag konkrete Situationen
wahrzunehmen, in denen bestimmte Erziehungs- oder Förderstrategien anwendbar
sind. In einem nächsten Schritt erlernen die Eltern konkrete Erziehungs- und Förderstrategien, mit denen sie angemessen auf das kindliche Verhalten reagieren. In
der abschließenden Praxiseinheit erproben die Eltern die neu erlernten Techniken
konkret mit ihrem Kind und werden dabei von den Trainern angeleitet, die Reaktionen ihres Kindes zu beobachten und gegebenenfalls ihr Erziehungs- oder Förderverhalten zu modifizieren. Zusätzliche Wochenaufgaben helfen den Eltern dabei, die
268
Elterntraining in der stationären Kinderrehabilitation
neu erlernten Kompetenzen auf den Alltag zu übertragen.
Erhebungsinstrumente. Zur Erfassung der Zielvariablen wurden die in Tabelle 1 aufgeführten Instrumente eingesetzt. Weiterhin wurden Informationen zum Entwicklungsstand des Kindes- sowie kindlichen Verhaltensauffälligkeiten bzw. prosozialem
Verhalten über die Eltern erfasst. Alle Kinder wurden zusätzlich mit einem standardisierten Entwicklungs- und Intelligenztest untersucht.
Tabelle 1: Eingesetzte Erhebungsinstrumente pro Messzeitpunkt.
Merkmalsbereich
Soziodemographische
Grunddaten
Erziehungsverhalten
Selbstwirksamkeit
Stresserleben
Kindlicher Entwicklungsstand
Kognitiver Entwicklungsstand des Kindes
Verhaltensauffälligkeiten und prosoziales
Verhalten des Kindes
Bewertung der Elternschulung
6.6
Instrument
Messzeitpunkt
T1 T2 T3
Anamnesebogen (ZKPR)
Alabama Parenting Questionnaire
(APQ, Lösel et al., 2003)
Parenting Sense of Competence (PSOC,
Lösel et al., 2003)
Eltern-Belastungs-Inventar (EBI, Tröster, 2011)
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
ET 6-6 (Macha & Petermann, 2008)
X
X
Wechsler Preschool and Primary Scale
(WPPSI-III, Petermann, 2011)
X
Strengths and Difficulties Questionnaire
(SDQ, Goodman, 1997)
X
Feedback-Bogen (Klinik Hochried)
X
X
X
Ergebnisse
Die Implementierung des ETEK sowie die Rekrutierung der Evaluationsstichprobe
fanden im Zeitraum von Mai 2010 bis Mai 2011 in der Rehabilitationsklinik Hochried
(Murnau) statt. Es wurden solche Kinder in die Untersuchungsgruppe aufgenommen, die aufgrund verschiedener Entwicklungsretardierungen stationär in der Klinik
behandelt wurden. Die 12 Mädchen und 40 Jungen waren durchschnittlich 66.20
Monate alt (SD=6.88).
Bei allen untersuchten Studienteilnehmern (N=52) konnten umschriebene oder allgemeine Entwicklungsauffälligkeiten festgestellt werden. Insgesamt 29 Kinder wiesen primär umschriebene Entwicklungsstörungen auf, wobei bei neun Kindern eine
269
Elterntraining in der stationären Kinderrehabilitation
Sprachentwicklungsstörung (F80 nach ICD-10), bei einem Kind eine umschriebene
motorische Entwicklungsstörungen (F82) und bei 19 Kindern eine primäre kombinierte Entwicklungsstörung (F83) diagnostiziert wurde. Alle Entwicklungsauffälligkeiten ließen sich auch anhand der Entwicklungsdimensionen des Entwicklungstests
für Kinder von sechs Monaten bis sechs Jahren (ET 6-6; Petermann, Stein & Macha,
2008) abbilden. 14 Kinder wiesen komorbide Verhaltensstörungen auf (Hyperkinetische Störungen (F90): n=8, Störung des Sozialverhaltens (F91): n=1, kombinierte
Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92): n=1, emotionale Störungen des Kindesalters (F93): n=4, elektiver Mutismus (F94.0): n=1. 18 Patienten zeigten zusätzliche körperliche Erkrankungen, z.B. Asthma bronchiale. Zwei Kinder zeigten neben einer primären Adipositas (E66.9) auch kombinierte Entwicklungsstörungen (F83). 13 Patienten wiesen neben einer primären kombinierten Entwicklungsstörung (F83) zusätzlich mehr als drei komorbide Erkrankungen oder Verhaltensstörungen unterschiedlichster Art auf. Dazu zählen beispielsweise chronische Bronchitis (J42), endokrine Störungen (E34), Immundefekte mit Antikörpermangel (D80)
Hyperkinetische Störungen (F90) oder Störungen des Sozialverhaltens (F91).
Der kognitive Entwicklungsstand aller Patienten wurde mittels des Intelligenztestes
WPPSI-III (Petermann, 2011) untersucht. Der durchschnittliche Gesamt-IQ betrug
86.94 (SD=11.57; Min=71; Max=119). Der Vergleich der Interventions- und Kontrollgruppe bezüglich aller kindbezogenen Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale
bringt nach Adjustierung des Alpha-Niveaus lediglich in der kognitiven Entwicklungsdimension Kategorisieren einen signifikanten Leistungsunterschied hervor; die
Interventionsgruppe weist mit einem durchschnittlichen z-Wert von M=-.12
(SD=.98) einen höheren Entwicklungsstand auf als die Kinder der Kontrollgruppe
(M=-.71; SD=1.77).
Der Vergleich der Fragebogenkennwerte des Alabama Parenting Questionnaire
(APQ) zu Beginn und zum Ende der Rehabilitation lässt bei mittlerer Effektstärke
eine signifikante Verbesserung der elterlichen Erziehungskompetenzen erkennen.
Zudem ist eine signifikante Zunahme der elterlichen Selbstwirksamkeit zu verzeichnen. Die größte Stressbelastung wiesen die Eltern der Interventionsgruppe in den
Bereichen Hyperaktivität (M=3.23, SD=.718), Anforderungen (M=2.61, SD=.915) und
Einschränkungen auf (M=2.60, SD=.908). Kurzfristige Rehabilitationserfolge können
insbesondere für die Skalen Gesundheit, Soziale Unterstützung, Depression, Isolation, Stimmung des Kindes, Kompetenzzweifel, Anforderungen, Akzeptanz und Einschränkungen verzeichnet werden. Die deutlichste Abweichung zur Altersgruppennorm zeigt sich in der Entwicklungsdimension Handmotorik (M=-2.34; SD=2.32); die
Kinder wiesen gravierende Defizite in dieser Entwicklungsdimension auf. Die Testleistungen in den Entwicklungsdimensionen Körpermotorik, Handlungsstrategien
und Expressive Sprache fielen in den Risikobereich (mehr als eine und weniger als
zwei Standardabweichungen unterhalb des Altersgruppenmittels).
Der Vergleich der durchschnittlichen Testleistungen zu T1 und T2 zeigt, dass sich die
270
Elterntraining in der stationären Kinderrehabilitation
Leistungen der Kinder in sechs Entwicklungsdimensionen signifikant verbesserten.
Der größte Effekt zeigt sich dabei für die Entwicklungsdimension Kategorisieren. In
den Entwicklungsdimensionen Expressive Sprache, Sozialentwicklung und Emotionale Entwicklung wurden ebenfalls Leistungsverbesserungen erzielt; diese erweisen
sich jedoch nur auf dem .05-Niveau als signifikant (Expressive Sprache: p=.048,
d=.20; Emotionale Entwicklung =.043d=.40). Ähnlich wie bei der Kontrollgruppe
zeigten sich auch bei der Interventionsgruppe zu T1 die größten Schwierigkeiten im
Bereich Hyperaktivität (M=.995; SD=.543). Positive Rehabilitationserfolge können
für die SDQ-Skalen Emotionale Probleme, Hyperaktivität, Probleme im Umgang mit
Gleichaltrigen sowie Prosoziales Verhalten beobachtet werden.
Die Fragebogenkennwerte der Eltern verbesserten sich zu T2 in der Tendenz in allen
Skalen des Eltern-Belastungs-Inventars (EBI); auf dem .05-Niveau ist eine signifikante Stressreduktion für die Skalen Hyperaktivität, Gesundheit, Soziale Unterstützung,
Depression, Stimmung des Kindes, Kompetenzzweifel, Anforderungen und Einschränkungen nachweisbar. Weiterhin kann ein positiver Rehabilitationseffekt auf
die Skala Selbstwirksamkeit des Parenting Sense of Competence (PSOC) festgestellt
werden. In den Skalen des Alabama Parenting Questionnaires (APQ) ist auf dem .05Niveaus jedoch nur für die Skala Inkonsistente Erziehung eine positive Tendenz erkennbar (p=.019), während für die Skalen Elterliches Engagement und Positive Erziehung keine Veränderungen zu beobachten sind.
Die Testleistungen der Kontrollgruppe in den Skalen Handmotorik und Expressive
Sprache weichend gravierend von der Altersgruppennorm ab (zwei oder mehr Standardabweichungen unterhalb des Altersgruppenmittels). In den Skalen Körpermotorik, Handlungsstrategien und Körperbewusstsein werden Werte erzielt, die dem
Risikobereich zuzuordnen sind (mehr als eine und weniger als zwei Standardabweichungen unterhalb des Altersgruppenmittels). Der Vergleich der ET6-6-Resultate zu
Beginn und zum unmittelbaren Ende des stationären Rehabilitationsaufenthaltes
lässt erkennen, dass sich die Leistungen der Kinder mit Ausnahme der Entwicklungsdimension Sozialentwicklung verbessern. Die deutlichsten Steigerungen erzielten die Kinder in den Dimensionen Handlungsstrategien (d=.60) und Körperbewusstsein (d=.65).
Bei der Aufnahme in die stationäre Rehabilitation zeigen die Kinder der Kontrollgruppe ihre größten Auffälligkeiten im Bereich der Hyperaktivität (M=1.04;
SD=.569). Die geringsten Werte werden in der Skala Probleme im Umgang mit
Gleichaltrigen erzielt (M=.446; SD=.473). T-Testvergleiche der durchschnittlich erzielten Werte in den vier Problemskalen wie auch in der Skala zum Prosozialen Verhalten zu Beginn und Ende der Rehabilitation fallen nach Alpha-Adjustierung für
keinen der überprüften Bereiche signifikant aus. Auf dem .05-Niveau kann eine signifikante Abnahme der Hyperaktivität verzeichnet werden (M=.927; SD= .547).
Es zeigt sich kurzfristig eine deutlichere Verbesserung der Erziehungskompetenzen
zugunsten des optimierten Schulungskonzeptes (Gruppe IG). Für alle drei Skalen des
271
Elterntraining in der stationären Kinderrehabilitation
Alabama Parenting Questionnaire (Elterliches Engagement, Positive Erziehung, Inkonsistente Erziehung) konnten größere Effekte als für die Kontrollgruppe nachgewiesen werden. Beide Interventionskonzepte wirken sich gleichermaßen positiv auf
die erlebte Selbstwirksamkeit (Parenting Sense of Competence) aus. Eine Reduktion
des Stresserlebens zeigte sich gleichermaßen für beide Interventionsgruppen; hier
differieren die Effektgrößen für beide Interventionsmaßnahmen nur geringfügig
voneinander. In der kindlichen Entwicklung zeigen die Kinder der Interventionsgruppe eine deutlichere Leistungssteigerung in der Entwicklungsdimension Kategorisieren. Für die Entwicklungsbereiche Expressive Sprache und Emotionale Entwicklung kann ein größerer Leistungszuwachs in der Kontrollgruppe beobachtet werden.
In der Eltern-Kind-Interaktion wurde für keine der beiden Maßnahmen ein deutlicher Rehabilitationseffekt nachgewiesen. Eine Reduktion der kindlichen Verhaltensauffälligkeiten (SDQ) zeigte sich insbesondere für das neue Interventionskonzept (Gruppe IG).
Nach Abschluss der Rehabilitation nahmen je 34 Eltern der Kontrollgruppe und 40
Eltern der Interventionsgruppe an der postalischen Ein-Jahres-Katamnese teil. Um
eine bessere Vergleichbarkeit der Stichproben herzustellen, wurden aus dem Datenpool der Interventionsgruppe wiederum 34 Kinder ausgesucht, die in den
Merkmalen Geschlecht, Alter und Diagnose bestmöglich mit der Kontrollgruppe
übereinstimmten. Die Kinder der Kontrollgruppe waren zum Zeitpunkt der EinJahres-Katamnese 78.94 Monate alt (SD=6.81) (8 Mädchen, 26 Jungen), die Kinder
der Interventionsgruppe 78.27 Monate (SD=7.37) (9 Mädchen, 25 Jungen).
Der Vergleich der Werte im Alabama Parenting Questionnaire (APQ) zu Beginn der
Reha-Maßnahme und zur Ein-Jahres-Katamnese zeigt, dass die Eltern der Interventionsgruppe langfristig ihre Erziehungskompetenzen in den Bereichen Positive Erziehung (p= .17) und Inkonsistente Erziehung (p= .025) steigern konnten. Es ist jedoch augenfällig, dass dieser Kompetenzzuwachs für keine der berichteten Skalen
statistisch bedeutsam ist. Im Bereich Elterliches Engagement (p= .930) zeigt sich
keine Veränderung der Ergebnisse zum Zeitpunkt der Ein-Jahres-Katamnese.
Die Ergebnisse des Parenting Sense of Competence (PSOC) zeigen für die Interventionsgruppe eine Steigerung der Selbstwirksamkeit. Dieses Ergebnis ist jedoch ebenfalls nicht signifikant (p= .628). Bei der Betrachtung der Ergebnisse im ElternBelastungs-Inventar (EBI) kann beim Vergleich der Werte zu Beginn der RehaMaßnahme und zur Ein-Jahres-Katamnese auf deskriptiver Ebene auf allen entsprechenden Skalen eine Reduktion des Stresslevels verzeichnet werden. Signifikante
Ergebnisse zeigen sich hierbei für die Skalen Hyperaktivität (p=.039), Gesundheit (p=
.004), Aufforderungen (p=.016) sowie Akzeptanz (p=.047) und Einschränkungen
(p=.019).
Die Betrachtung der kindbezogenen Rehabilitationserfolge bezieht sich auf die Ergebnisse im SDQ. Hier zeigt sich für die Interventionsgruppe ein signifikanter Rückgang der kindlichen Verhaltensprobleme zur Ein-Jahres-Katamnese in den Skalen
272
Elterntraining in der stationären Kinderrehabilitation
Emotionale Probleme (p=.014) und Hyperaktivität (p=.002). In den Skalen Probleme
mit Gleichaltrigen und Verhaltensprobleme ist auf deskriptiver Ebene ebenfalls ein
Rückgang der Werte zur Ein-Jahres-Katamnese zu beobachten. In der Skala Prosoziales Verhalten (p=.006) ist ein signifikanter Anstieg festzustellen.
Zur Ein-Jahres-Katamnese weist die Kontrollgruppe im APQ eine Verbesserung der
Erziehungskompetenz in den Skalen Elterliches Engagement (p= .194) und Inkonsistente Erziehung (p= .161) auf. In der Skala Positive Erziehung (p= .105) zeigt sich
hingegen ein gegenteiliger Effekt: Hier zeigt sich eine Verschlechterung der Ergebnisse zum Zeitpunkt der Ein-Jahres-Katamnese. Es ist jedoch anzumerken, dass keiner dieser Effekte statistisch signifikant ist. Im Parenting Sense of Competence
(PSOC) ist zur Ein-Jahres-Katamnese eine Steigerung der Selbstwirksamkeit (p=.003)
zu beobachten. Die Ergebnisse des Eltern-Belastungs-Inventars (EBI) zeigen für alle
Bereiche eine Reduktion der elterlichen Stressbelastung zur Ein-Jahres-Katamnese.
In der Kontrollgruppe ist zum Zeitpunkt der Ein-Jahres-Katamnese ein statistisch
bedeutsamer Effekt für den Bereich Hyperaktivität (p=.016) beobachtbar. In der
Skala Emotionale Probleme lässt sich rein deskriptiv ein leichter Rückgang des Problemverhaltens festhalten; in der Skala Prosoziales Verhalten kann ein leichter Anstieg beobachtet werden. Diese Ergebnisse sind jedoch nicht signifikant. In den Skalen Verhaltensprobleme und Probleme mit Gleichaltrigen weisen die Kinder der
Kontrollgruppe zum Zeitpunkt der Ein-Jahres-Katamnese durchschnittlich sogar eine
leichte Zunahme des Problemverhaltens auf. Diese Ergebnisse sind jedoch ebenfalls
nicht signifikant.
6.7
Literatur
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274
Beschwerdenvalidierung in der medizinischen Rehabilitation
7
Beschwerdenvalidierung in der medizinischen
Rehabilitation
7.1
Allgemeine Angaben
Leitung
PD Dr. Axel Kobelt
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiterin
Dipl. Psych. Franziska Walter
Zeitraum
01.01.2012 - 31.12.2014
Finanzierung
Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover
7.2
Zusammenfassung
Bei der Begutachtung von psychischen Störungen - beispielsweise bei Anträgen für
die Berentung auf Grund einer vollen Erwerbsminderung - kann es durch unterschiedliche Fehlerquellen zu Verzerrungen des wirklichen Beschwerdenbildes kommen (Dohrenbusch, Henningsen & Merten, 2011). Patienten können möglicherweise Symptome übertreiben bzw. ausweiten, um gewisse Ziele zu erreichen (z.B. eine
frühzeitige Berentung). Symptomskalen, Persönlichkeitsfragebögen und Leistungstests sind sehr transparent, somit ist die Zielrichtung der Verfahren auch für Laien
leicht durchschaubar und für Verzerrungen anfällig. Aus einer falschen Beurteilung
der Leistungsfähigkeit können erhebliche volkswirtschaftliche Kosten resultieren
(Schneider, 2007). Daher sind Beschwerdenvalidierungstests (BVT) in der sozialmedizinischen Begutachtung ein immer mehr gefordertes Standardverfahren. Es ist das
Anliegen dieses Projekts einen BVT zu entwickeln, der für psychische Erkrankungen
(z.B. Depression) sowie für die Patienten der Rehabilitation geeignet ist. Die Validierung des Verfahrens stellt eine methodische Schwierigkeit dar (Kool, Meichtry,
Schaffert & Rüesch, 2008), da Simulation und Aggravation naturgemäß nicht direkt
erfragt werden können. Außerdem liegt für die indirekte Erfassung kein Goldstan275
Beschwerdenvalidierung in der medizinischen Rehabilitation
dard vor. Aus diesem Grund wurde sich im Rahmen des Projekts für eine Analogstudie entschieden, die sich an bewährte Studien zur Entwicklung der BVT von Blaskewitz und Merten (2006) sowie Tydecks, Merten und Gubbay (2006) anlehnt.
7.3
Stand der Forschung
Eine Forderung nach geeigneten Messmethoden zur Erfassung der Beschwerdenvalidität ist nachvollziehbar, wenn Untersuchungen über die Prävalenz von negativen
Antwortverzerrungen hinzu gezogen werden. Bisherige Ergebnisse vergleichbarer
Studien lassen auf einen beträchtlichen Anteil von Simulation und Aggravationen im
Begutachtungskontext schließen. In US-amerikanischen Studien (Mittenberg, Patton, Canyock & Condit, 2002) werden Simulationsraten von 8 bis 30% berichtet.
Diese Zahlen schwanken je nach Kontext der Begutachtung (30% bei Arbeitsunfähigkeit, 29% bei Körperverletzungen, 19% in der forensischen Abklärung, 8% bei
körperlichen Beschwerden). In ersten Studien in Deutschland fanden Merten, Friedel und Stevens (2006) bei 44,3% von 235 Begutachtenden einen Verdacht auf unzureichende Kooperativität. Auf Grund dieser Prävalenzen gibt es immer stärkere
Forderungen nach geeigneten standardisierten Methoden, die die Beschwerdenschilderungen valide erfassen. Dabei nimmt der Störungsbereich der kognitiven
Beeinträchtigungen eine besondere Stellung ein. Nach Merten, Stevens und Blaskewitz (2007) gehören kognitive Beeinträchtigungen bei vielen neurologischen Erkrankungen, psychischen Störungen sowie bei somatischen Krankheiten zum Beschwerdenbild dazu. Sie treten demzufolge häufig auf und können Ursache verschiedener
Störungen sein. Jedoch wird der Einsatz von neuropsychologischen Instrumentarien
für die Erkennung von psychosomatischen Symptomen kontrovers diskutiert (Noeker & Petermann, 2011), da diese Tests beispielsweise nicht die invalide Symptomdarstellung, sondern die Leistungsmotivation prüfen. Weiterhin wird durch Schmidt
und Kollegen (2011) angeführt, dass die einfache Übertragung von neuropsychologischen BVT auf die Begutachtung psychischer Erkrankungen nicht ohne Weiteres
möglich ist, da in diesem Kontext nicht zwangsläufig angenommen werden kann,
dass es einen Zusammenhang zwischen guter Leistungsbereitschaft und authentischem Verhalten gibt. Außerdem sind Patienten, die keine kognitiven Einschränkungen wahrnehmen, oft wenig zugänglich für die Erfassung dieser Leistung. Für
den Bereich der kognitiven Störungen wurden im Kontrast zu anderen Symptombereichen (z.B. Angstsymptome, depressive Symptome) Methoden entwickelt, die
einen besseren Nachweis über bewusste Antwortmanipulationen geben können.
Auf Grund der verschiedenen Untersuchungen über die Prävalenzen von negativen
Antwortzerrungen ist anzunehmen, dass eine gewisse Zahl von Patienten im Rahmen der Begutachtung für Frühberentung Beschwerden und Symptome simuliert
bzw. aggraviert.
276
Beschwerdenvalidierung in der medizinischen Rehabilitation
7.4
Ziele
Das Ziel des Projektes ist es, einen BVT zu entwickeln und zu validieren, der für psychische Erkrankungen (z.B. Depressionen) geeignet ist. Dieser Test soll die Begutachtung der Berentung auf Grund einer vollen Erwerbsminderung weiterhin optimieren und den Ärzten als zusätzliche Unterstützung - als Screening - zu Verfügung
stehen.
7.5
Methodisches Vorgehen
Der Fragebogen wurde anhand einer externalen Testkonstruktion entwickelt, da
dieses Verfahren zwischen den beiden Gruppen - psychisch krank vs. simulierend differenzieren soll. Die Itemgenerierung erfolgt auf Grundlage verschiedener Strategien. Zum Einen wurde mit Hilfe der Critical Incident Technique (CIT) (Flanagan,
1954) Urteile von Experten eingeholt, indem sie zu ihren Erfahrungen mit Simulanten befragt wurden. Zum Anderen wurden schon vorhandene Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren, wie beispielsweise der SFSS (Cima et al., 2003) oder MMPI (Hathaway & McKinley, 1983), als Vorlage für den neu zu konstruierenden Fragenbogen
genutzt. Das Verfahren wird entwickelt, um Patienten mit und ohne negative Antworttendenzen voneinander zu unterscheiden, daher wird keine Normierung vorgenommen, sondern ein Cut-Off Wert bestimmt.
Die Validierungsstichprobe wird aus drei Gruppen bestehen, die sich aus instruierten Simulanten, psychisch Gesunden und psychisch Erkrankten zusammensetzt. Um
eine gute Kriteriumsvalidität anzustreben, wurde sich bei der Validierung des neu zu
konstruierenden Verfahrens für eine Analogstudie entschieden. Sie stellt nur eine
mögliche Methode dar, ist zudem in der Beschwerdenvalidierung vermutlich die am
häufigsten verwendete (Rogers, 1997). Der Versuchsplan lehnt sich an Studien von
Blaskewitz und Merten (2006) sowie Tydecks, Merten und Gubbay (2006) an. Der
Gruppe der instruierten Simulanten wird ein Szenario eines Patienten geschildert,
der eine psychische Erkrankung in einer sozialmedizinischen Begutachtung vortäuscht, um eine Berentung auf Grund einer vollen Erwerbsminderung zu erlangen.
Daran anschließend wird die Gruppe der instruierten Simulanten anhand eines Fragebogens zum Szenario befragt. Darüber hinaus erhält diese Gruppe am Ende der
Testung einen Fragenbogen zur Rollenerfüllung. Die Gruppe der Nicht-Simulanten
wird ausschließlich dazu aufgefordert die Fragebögen wahrheitsgemäß auszufüllen.
Vor der eigentlichen Testung, also dem Bearbeiten des neuen Verfahrens sowie des
HEALTH 49 (Rabung, 2009), sollten alle Probanden das Beck Depressionsinventar
(BDI-II) (Kühner, Bürger, Keller & Hautzinger, 2007) und das Sreening für Somatoforme Störungen (SOMS) (Rief & Hiller, 2008) ausfüllen. Hierfür erhalten die Betroffenen die Instruktion, Fragebögen zu ihrem derzeitigen Lebensgefühl zu bearbeiten.
277
Beschwerdenvalidierung in der medizinischen Rehabilitation
Diese Verfahren werden eingesetzt, um zu kontrollieren, ob in den jeweiligen Gruppen diese klar definierten Störungen vorliegen. Tabelle 1 ist der Studienablauf zu
entnehmen.
Tabelle 1: Eingesetzte Methoden in der Validierungsstudie.
Methode
Instruierte
Psychisch
Psychisch
Simulanten
Gesunde
Erkrankte
Vor Testung
BDI-II, SOMS (randomisiert dargeboten), soziodemografischer
Fragebogen
Testung
Schilderung des Szenarios
Fragebogen zur Abklärung des
Verständnisses des Szenarios
neu entwickelter BVT und HEALTH-49 (randomisiert dargeboten)
Nach Testung Fragebogen zur Rollenerfüllung
7.6
Ergebnisse
Das Projekt ist zum jetzigen Zeitpunkt in der Phase der Expertenbefragung. Ergebnisse liegen bisher noch nicht vor.
7.7
Literatur
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279
Prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
8
Evaluation einer kulturoffenen prästationären
Informationsveranstaltung vor psychosomatischer
Rehabilitation
8.1
Allgemeine Angaben
Leitung
PD Dr. Axel Kobelt
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiterin
Dipl. Psych. Julia Göbber
Zeitraum
01.09.2009 - 31.08.2012
Finanzierung
Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover
8.2
Zusammenfassung
In dem Projekt sollte geprüft werden, wie die Teilnahme an einer prästationären
Informationsveranstaltung den Informationsstand, das Gesundheitswissen und die
berufsbezogene Therapiemotivationen der Teilnehmer beeinflusst. Es wurden zu
zwei Zeitpunkten demographische Angaben, die berufsbezogene Therapiemotivation sowie der subjektive Informationsstand und das Gesundheitswissen erhoben.
Ergebnisse: Der subjektive Informationsstand und das Gesundheitswissen verbesserten sich signifikant starker bei den Patienten der Interventionsgruppe. Die Teilnahme hatte keinen Effekt auf die berufsbezogene Therapiemotivation. Es zeigten
sich keine Unterschiede im Effekt zwischen Migranten und Deutschen. Prästationäre Informationsveranstaltungen verbessern den subjektiven Informationsstand und
das Gesundheitswissen sowohl bei Deutschen, als auch bei Migranten.
281
Prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
8.3
Stand der Forschung
Patienten, die vor dem Antritt einer psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung
stehen, sind oftmals nur unzureichend über den Inhalt dieser Behandlung und auch
über die ergänzenden Unterstützungsmöglichkeiten informiert. Nicht nur die Angebote des gegliederten Sozialsystems und die Behandlungsinhalte, sondern auch die
eigenen Verantwortungsbereiche und die primären Ziele der Rehabilitationsbehandlung (Erhalt der Erwerbsfähigkeit) sind in vielen Fällen nur unzureichend bekannt (Best et al., 2009; Bischoff, Gönner, Erhardt & Limbacher, 2005). Eine gute
Informiertheit ist jedoch zentral für die Gesundheitskompetenz (bzw. health literacy). Gesundheitskompetenz beschreibt die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, die
sich positiv auf die Gesundheit auswirken (Hartung, 2011). Dabei sind die Bereiche
der persönlichen Gesundheit, der Systemorientierung, das Konsumverhalten, die
Gesundheitspolitik und die Arbeitswelt eingeschlossen (Kickbusch, 2006). Die Gesundheitskompetenz steht mit gesundheitsrelevanten Outcomes in Zusammenhang
und eine geringere Gesundheitskompetenz scheint außerdem mit einer geringeren
Adhärenz zur Therapie und mit schlechteren Zugängen zu den Dienstleistungen des
Gesundheitssystems in Verbindung zu stehen (Howard, Gazmarian & Parker, 2005;
Sudore et al., 2006; Wagner, Steptoe, Wolf & Wardle, 2007).
Empirische Ergebnisse haben einen Zusammenhang gezeigt zwischen einem geringen Gesundheitswissen und einem niedrigen Gesundheitszustand sowie einem
schlechteren Wissen über Krankheitsprävention und -behandlung (Gazmararian et
al., 1999; Rudd, Moeykens & Colton, 2000). Zudem zeigt sich, dass eine geringere
Gesundheitskompetenz zu höheren Kosten für das Gesundheitssystem führt (Weiss
& Palmer, 2004). Die vorhandenen Gesundheitskompetenzen wirken über die Gesundheits- und Krankheitsversorgung auf die Gesundheit (Hartung, 2011). Nach
Ishikava und Yano (2008) hängt die Teilhabe im Behandlungsprozess und als Ergebnis die Gesundheit des Patienten dabei von drei Faktoren ab: dem zur Verfügung
stehenden Wissen/dem Verständnis der Zusammenhange um Gesundheit, der
Selbstwirksamkeitsüberzeugung und den Informationsquellen. Als vulnerable Gruppen in Bezug auf die Gesundheitskompetenz gelten neben Menschen mit geringem
Einkommen auch Migranten (Kreps & Sparks, 2008; Walter, Salman, Krauth &
Machleidt, 2007). Migranten haben größere Schwierigkeiten, Zugang zu relevanten
Gesundheitsinformationen zu bekommen und sind häufiger fehlinformiert (Medicine, 2002). Eine gute Informiertheit über Unterstützungsangebote ist für die Selbstbestimmung und Selbstgestaltung von Gesundheit jedoch zentral (Walter et al.,
2007). Hierbei ist die geringe Gesundheitskompetenz von Migranten nicht vorrangig
durch ihren kulturellen Hintergrund begründet, sondern resultiert aus einer Vielzahl
von Risikofaktoren. Migranten in der Bundesrepublik weisen tendenziell einen niedrigeren sozioökonomischen Status und damit eine erhöhte Anzahl von Risikofaktoren auf. In der psychosomatischen Rehabilitation zeigen sich bei Patienten mit Migrationshintergrund schlechtere Behandlungs- und Wiedereingliederungserfolge
282
Prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
(Göbber, Pfeiffer, Winkler, Kobelt & Petermann, 2010; Kobelt, Göbber & Petermann, 2011; Koch & Petermann, 2011; Nickel et al., 2006).
Informations- und Vorbereitungsgruppen
Patienten kommen zum Teil ohne konkrete Erwartungen in die Rehabilitation; zudem bestehen zwischen den Zielvorstellungen der Behandler und der Patienten oft
große Diskrepanzen (Meyer, Pohontsch & Raspe, 2009). Coulter und Ellins (2007)
berichten, dass informationsvermittelnde Interventionen sich positiv auf Patientenwissen, den Nutzen von Gesundheitsdienstleistungen und das Gesundheitsverhalten sowie den Gesundheitsstatus auswirken. Informations- und Vorbereitungsgruppen setzen am Übergang aus der häuslichen Umgebung in die stationäre psychosomatische Rehabilitation an (Kobelt, Winkler & Petermann, 2011; Lange & Petermann, 2010). Dieser Übergang stellt zumindest für eine Teilgruppe von Patienten
eine Barriere dar und ist bei diesen Personen durch ungünstige Einstellungen und
Erwartungen sowie durch Ängste und Motivationsdefizite geprägt. Prästationäre
Maßnahmen, beispielsweise in Gruppen, führen zu einer vergleichsweise besseren
Informiertheit der Patienten über die Rehabilitationsmaßnahme und einem vergleichsweise besseren Befinden (Bischoff et al., 2005).
Es liegen bereits verschiedene Interventionen vor, mit denen Patienten auf eine
stationäre Rehabilitationsmaßnahme vorbereitet werden können, die ambulante
Rehabilitationsvorbereitung in Form von Gruppen ist bisher jedoch kaum verbreitet
und auch die Wirksamkeit strukturierter prästationärer Vorbereitungsveranstaltungen ist bisher kaum systematisch evaluiert (Petermann & Koch, 2009). Kobelt et al.
(2006) untersuchten die Gründe, warum Patienten ein bewilligtes medizinisches
Heilverfahren nicht antreten. Sie weisen in dieser Untersuchung auf die Notwendigkeit hin, Unsicherheiten der Versicherten möglichst schon im Vorfeld, beispielsweise durch Informationsveranstaltungen zu begegnen. Eine Informations- und Vorbereitungsgruppe bietet die Möglichkeit, die Gesundheitskompetenz der Patienten
gezielt zu erhöhen. Dazu gehört auch, die Grenzen des Verantwortungsbereiches
der Rentenversicherungsträger zu erläutern und Unterschiede zwischen der Akutversorgung und der Leistungen durch die Rentenversicherungsträger darzustellen.
Patienten sollen so zu kompetenten Partnern und Experten werden, die Verantwortung für ihr Gesundheitsverhalten übernehmen, was auch den Empfehlungen von
Dirmaier und Härter (2011) nach einer Stärkung der Selbstbeteiligung in der Rehabilitation entspricht. Patienteninformationen und Schulungsprogramme sollten die
Themen „berufsbezogene Interventionen“, „Nachsorge“ und „Ziele“ beinhalten.
Hierbei ist es wichtig, auch die Zielgruppen zu erreichen, die sich durch eine geringe
Gesundheitskompetenz charakterisieren lassen. Hierzu zählen Patienten mit Migrationshintergrund. Um diese vulnerable Personengruppe zu erreichen und sie mit
den nötigen Informationen zu versorgen, sind kultursensible Angebote notwendig
(Kreps & Sparks, 2008; Kreuter & McClure, 2004). Ein Weg zum Abbau von Kommu283
Prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
nikationsbarrieren ist die Informationsvermittlung in der Muttersprache (Walter et
al., 2007). Neben der sprachlichen Verständigung ist ein niedrigschwelliger Zugang
notwendig (Gardemann, 2001). Niedrigschwellige und kultursensible Angebote für
den Bereich der psychischen Erkrankungen werden auch in den „12 Sonnenberger
Leitlinien“ gefordert (Macheleidt, 2002).
8.4
Ziele
In der vorliegenden Untersuchung wurde ein Angebot entwickelt und evaluiert,
welches dem dargestellten Bedarf der Kultursensibilität und der sozialmedizinischen
Informationsvermittlung nachkommt. Die Wirksamkeit bei Patienten mit und ohne
Migrationshintergrund wurde anhand der folgenden Fragestellungen untersucht.
8.5
Methodisches Vorgehen
Inhaltliche Darstellung der prästationären Informationsveranstaltung
In der prästationären Informationsveranstaltung werden den Patienten in einem
45-minütigen Vortrag und anhand eines kurzen Filmes Grundlagen zu folgenden
Themen vermittelt:
•
•
•
Einführung in die Begrifflichkeit und das Konzept „Psychosomatik“,
Bedeutung von Arbeit,
Ziele und Inhalte der Rehabilitationsbehandlung (Reha vor Rente, Erhalt und
Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit, Forderung der Teilhabe, Mitwirkungspflicht),
• „Das therapeutische Team“,
• Abgrenzung zur Krankenbehandlung,
• Unterstützungsmöglichkeiten nach dem Reha-Aufenthalt (Telefonische
Nachsorge, Psychosomatisches Fallmanagement, Ambulante Psychosomatische Nachsorge, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Kobelt, Grosch &
Lamprecht, 2002),
• Organisatorisches (Zuzahlungen, Übergangsgeld und Krankengeldzeiten und
• Begutachtung des Leistungsvermögens, Stufenweise Wiedereingliederung)
Der Vortrag wird durch eine PowerPoint-Präsentation unterstützt. Die Folien werden den Patienten vor Beginn der Veranstaltung als Ausdruck zur Verfügung gestellt. Während und nach dem Vortrag haben die Patienten die Möglichkeit, Fragen
zu stellen. Die Gruppengröße ist flexibel, die Patienten können Angehörige/Vertraute zu der Veranstaltung mitbringen. Hierin liegt ein kultursensibler As284
Prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
pekt der Veranstaltung. Bei Personen aus familienorientierten Kulturen, wie es bei
den Haupteinwanderungsländern Deutschlands der Fall ist, ist das soziale System,
die (Groß-)Familie von zentraler Bedeutung, vor allem im Krankheitsfall. In ihr findet
der Betroffene mit übermäßiger Versorgung, der Begleitung zum Arzt und der ständigen Anwesenheit von Familienangehörigen, um Mitgefühl und Solidarität zu bekunden. Ein wie in der individualistisch denkenden deutschen Kultur üblicher weitestgehender Ausschluss der Familie birgt stets die Gefahr einer mangelnden Akzeptanz der Angebote. Weiter wurde die Präsentation, wie die Einladung und die Evaluationsfragebögen von einem Übersetzungsbüro ins Türkische übertragen. Dadurch werden auch die Patienten einbezogen, die über geringe Deutschkenntnisse
verfügen. Es bietet den Patienten zudem die Möglichkeit, die wichtigsten Informationen noch einmal zu Hause nachzuvollziehen und verdeutlicht die Akzeptanz und
Wertschätzung des kulturellen Hintergrundes der Patienten mit Migrationshintergrund. Die Kombination aus einer deutschsprachigen Informationsveranstaltung
und muttersprachlichen Informationsmaterialien fördert die kultursensible Integration.
Abgrenzung zu anderen Angeboten
Zur Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation liegen bereits Angebote
anderer Autoren vor. Hier sind z.B. das Bad Dürkheimer Prä-Post-Projekt (Bischoff
et al., 2005) oder die patientenorientierte Vorbereitung auf psychosomatische Rehabilitation von Lange und Kollegen (2010) zu nennen. Das vorliegende Angebot
grenzt sich von diesen Angeboten durch die klare sozialmedizinische Fokussierung
mit dem Ziel der Wissens- und Informationsvermittlung ab. In Abgrenzung zu den
bestehenden Angeboten werden keine inhaltlich-therapeutischen Themen behandelt. Das Angebot „Berufliche Zukunft“ des Rehazentrums Bad Eilsen hat ebenso
wie das vorliegende Konzept eine sozialmedizinische Ausrichtung (Bönisch, Dorn &
Ehlebracht-König, 2012). Es besteht jedoch aus mehreren Modulen und stellt eine
Intervention während der Rehabilitationsbehandlung dar. Gerade in der Abgrenzung von Reha- und Akutbehandlung ist es jedoch wichtig, die Patienten schon vor
Antritt der Behandlung über sozialmedizinische Inhalte aufzuklären. In keinem der
uns bekannten Angebote werden Migranten, auch mit geringen Deutschkenntnissen, welche einen besonders hohen sozialmedizinischen Informationsbedarf haben,
berücksichtigt.
Datenerhebung
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Vollerhebung bei Versicherten
der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover, deren Antrag auf psychosomatische Rehabilitation bewilligt wurde.
Erfassung des Migrationshintergrundes. Zur Gruppe der Patienten mit Migrationshintergrund wurden gemäß der Definition von Schenk et al. (2006) Personen ge285
Prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
zählt, die in einem anderen Land geboren wurden, eine nicht-deutsche Staatsangehörigkeit haben, von denen Eltern oder Großeltern nicht in Deutschland geboren
wurden oder Deutsch nicht als Muttersprache erlernten.
Konstruktion eines Schichtindex. Zur Bestimmung der sozioökonomischen Situation
der Patienten wurde ein vertikaler Schichtindex anhand der Merkmale Schulbildung,
Berufsstatus und Einkommen konstruiert (Deck, 2008). Mittels dieser Einteilung
lässt sich ein Schichtindex von drei (ungünstigste Soziallage) bis neun (günstigste
Soziallage) errechnen. Personen, die unter fünf Punkte erhalten, werden der Gruppe A (Unterschicht), Personen, die fünf oder sechs Punkte erreichen, der Gruppe B
(Mittelschicht) und Personen, die mehr als sechs Punkte erreichen, der Gruppe C
zugeordnet (Oberschicht) (Kobelt, Lieverscheidt, Grosch & Petermann, 2010; Kobelt,
Winkler, Göbber, Pfeiffer & Petermann, 2010).
Subjektive Prognose der Erwerbstätigkeit (SPE). Die vierstufige SPE-Skala umfasst
drei Items, die eine Erfassung der subjektiven Prognose der Erwerbstätigkeit erlauben. Mittag und Raspe (2003) haben einen Grenzwert für die subjektive Prognose
der Erwerbstätigkeit vorgeschlagen, anhand dessen die Gruppe der negativen und
der positiven subjektiven Prognose der Erwerbstätigkeit gebildet werden können.
Für Rehabilitanden mit einer negativen Prognose gilt, dass das Risiko, aus dem Erwerbsleben in den nächsten fünf Jahren auszuscheiden, ohne eine individuelle, auf
ihre arbeitsplatzbezogenen Probleme zugeschnittene Betreuung, signifikant erhöht
ist.
Subjektiver Informationsstand. Der subjektive Informationsstand über die Möglichkeiten der psychosomatischen Rehabilitation und die Angebote der DRV wurde
durch die Fragen „Ich weiß, was mich in einer psychosomatischen Rehabilitationsbehandlung mehr oder weniger erwartet.“ und „Ich fühle mich gut informiert in
Bezug auf Unterstützungsmöglichkeiten der Deutschen Rentenversicherung.“ erfasst. Die Patienten sollten hier jeweils auf einer vierstufigen Skala angeben, wie
sehr sie der Aussage zustimmen. Zur Abbildung des subjektiven Wissenszuwachses
wurde die Differenz des Prä-und Postwertes gebildet (Post minus Prä). Es konnten
Werte zwischen -3 (maximale Wissensreduktion) und 3 (maximaler Wissenszuwachs) erreicht werden.
Gesundheitswissen. Das Gesundheitswissen wurde mit Hilfe von 20 Items erhoben.
Bei den Items handelte es sich um Aussagen zum Themenbereich der psychosomatischen Rehabilitation und den Unterstützungsmöglichkeiten der DRV. Die Patienten
sollten jeweils ankreuzen, ob die Aussage korrekt oder falsch ist. Zur Erfassung des
Wissenszuwachses wurde für jedes Itempaar (prä-post) eine neue Variable „Differenz Rehawissen prä-post“ gebildet. Die Einzelwerte dieser 20 neu gebildeten Variablen wurden summiert.
Fragebogen zur berufsbezogenen Therapiemotivation (FBTM). Mit dem FBTM
(Zwerenz, Knickenberg, Schattenburg & Beutel, 2005) liegt ein valides und reliables
286
Prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
Verfahren vor, das die berufsbezogene Behandlungsmotivation im Kontext der psychosomatischen Rehabilitation erfasst. Der Fragebogen zur berufsbezogenen Therapiemotivation besteht aus 24 Items. Es lässt sich ein sowohl in Gesamtscore, als
auch vier Unterskalen berechnen. In der vorliegenden Untersuchung wurde der Gesamtscore verwendet.
8.6
Ergebnisse
In der Kontrollgruppe musste nur eine von 86 Personen von der weiteren Analyse
ausgeschlossen werden, hier wurde auf eine Analyse verzichtet. Zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe zeigten sich keine Unterschiede für das Alter, die
Geschlechterverteilung, den Familienstand, den Ausbildungsstand und die subjektive Prognose der Erwerbstätigkeit. Allerdings fand sich in der Interventionsgruppe
ein höherer Anteil von Personen mit Migrationshintergrund. Aufgrund der geringen
Zahl von Patienten mit Migrationshintergrund in der Kontrollgruppe wurde nur für
die Interventionsgruppe eine gesonderte Auswertung von Deutschen und Migranten vorgenommen. Es zeigten sich Unterschiede in der Schichtzugehörigkeit zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. In der Interventionsgruppe war die Unterschicht weniger stark und die Mittelschicht stärker vertreten als in der Kontrollgruppe.
90,4% (Rehabilitationsbehandlung) bzw. 94,4% (Unterstützungsangebote DRV) der
Patienten gaben an, nach der Teilnahme an einer prästationären Informationsbehandlung besser informiert zu sein. Es zeigt sich für den subjektiven Informationsstand und das Gesundheitswissen ein signifikant größerer Wissenszuwachs bei der
Interventionsgruppe. Für den Gesamtscore des FBTM lasst sich weder ein Effekt des
Messzeitpunkts, noch ein Interaktionseffekt der Zeit mit Versuchsgruppe nachweisen. Zwischen Migranten und Deutschen, die an der Informationsveranstaltung teilgenommen haben, zeigen sich keine Unterschiede in der Veränderung des subjektiven Informationsstandes und des Gesundheitswissens sowie der berufsbezogenen
Therapiemotivation gemessen mit dem FBTM.
8.7
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für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 58, 189-197 .
Pfeiffer, W., Göbber, J., Winkler, M., Kobelt, A. & Petermann, F. (2010). Stationäre
psychosomatische Rehabilitationsbehandlung von Versicherten mit Migrationshintergrund. In F. Petermann (Hrsg.), Neue Ansätze in der psychosomatischen
Rehabilitation (S. 49-70). Regensburg: Roderer.
290
Analyse unspezifischer Wirkfaktoren orthopädischer Rehabilitation
9
Analyse unspezifischer Wirkfaktoren orthopädischer
Rehabilitation
9.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiterinnen
Dipl. Psych Maike Holtz
Dr. Meike Lange
Dr. Ulrike de Vries
Kooperationspartner
Rheumaklinik Bad Wildungen
Zeitraum
01.10.2010 - 31.03.2013
Finanzierung
Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen
9.2
Zusammenfassung
Die Effektivität medizinischer Rehabilitation wird durch eine Vielzahl von Faktoren
beeinflusst. Dabei spielen nicht nur der Umfang und die Qualität der medizinischen
Leistungen eine Rolle, sondern auch die Patientenzufriedenheit sowie die Beziehung
zwischen dem Arzt und Patienten. In der vorliegenden Studie soll die Wichtigkeit
unterschiedlicher Wirkfaktoren der Rehabilitation von Patienten eingeschätzt werden. Anhand strukturierter Interviews mit n=48 Patienten einer orthopädischrheumatologischen Rehabilitationsklinik wurden Wirkfaktoren der Rehabilitation
erfragt. Ausgehend von diesen Ergebnissen wurde im zweiten Schritt ein Fragebogen entwickelt, mit dem die Wichtigkeit von 58 Wirkfaktoren bei n=77 Patienten
erhoben wurde. Der zwischenmenschliche Umgang gefolgt von den gesundheitlichen Veränderungen wurden von den Patienten als wichtigste Wirkfaktoren in der
291
Analyse unspezifischer Wirkfaktoren orthopädischer Rehabilitation
medizinischen Rehabilitation eingeschätzt. Dabei war insbesondere „ausreichend
Zeit für ärztliche Untersuchungen und Gespräche“ sowie die „Kompetenz des Klinikpersonals“ bedeutsam. Neben dem Leistungsangebot der Rehabilitation spielen
auch allgemeine Aspekte aus Sicht der Patienten eine wichtige Rolle bei der Bewertung der Rehabilitation.
9.3
Stand der Forschung
In Westeuropa leiden etwa 70 Millionen Menschen unter Schmerzen. In Deutschland wird die Zahl der chronischen Schmerzerkrankungen auf fünf bis acht Millionen
geschätzt (Niesert & Zens, 2005). So zeigte eine Erhebung des Robert-Koch-Instituts,
dass nur 12% der Männer und 6% der Frauen innerhalb eines Jahres keine Schmerzen hatten (Diemer & Burchert, 2002). Chronische unspezifische Rückenschmerzen
sind auf keine eindeutige somatische Ursache wie Tumore oder entzündlicherheumatische Erkrankungen zurückzuführen. Die Schmerzen persistieren über einen
Zeitraum von drei bis sechs Monaten (Kröner-Herwig, 2000). Neuhaus et al. (2005)
kamen in ihrer Studie zur Prävalenz Rückenschmerzen auf eine 12-MonatesPrävalenz von 19%, wobei davon auszugehen ist, dass 85% der Rückenschmerzen
unspezifisch sind (Kohlmann, 2003).
Für die Behandlung von Rückenschmerzen wurden im Jahr 2005 insgesamt 2,2% des
Bruttosozialprodukts in Deutschland ausgegeben (Wenig, Schmidt & Kohlmann,
2009). Zudem belegen empirische Studien, dass sich Rückenschmerzen in den westlichen Industrienationen zu einem erstrangigen Gesundheitsproblem entwickelt
haben (Schmidt et al., 2005). Bei 5 bis 8% der Patienten mit akuten Rückenschmerzen entwickelt sich ein chronischer Verlauf (Kohlmann, 2003). Nach den Kriterien
der IASP (International Association for the Study of Pain) gilt ein Schmerz als chronisch, wenn dieser länger als sechs Monate besteht. Während akute Schmerzen
über alle Phasen des Erwachsenenalters hinweg vergleichbar häufig auftreten, treten bis zum 70. Lebensjahr vor allem chronische Schmerzen häufiger auf. Dies betrifft insbesondere Gelenk- und Kreuzschmerzen sowie Nacken- und Schulterschmerzen. Hierbei sind meist mehrere Schmerzregionen gleichzeitig betroffen. Die
Hauptschmerzlokalisation stellt in epidemiologischen Studien und bei Studien zur
Inanspruchnahme des Gesundheitssystems das muskuloskelettale System dar. Neben Gelenkschmerzen und Schmerzen in den Extremitäten treten vor allem Rückenschmerzen auf. In den meisten Studien sind Frauen häufiger von Schmerzen betroffen als Männer, eine Ausnahme bilden Rückenschmerzen (Nickel & Raspe, 2001).
Guzman et al. (2001) zeigten in einer Übersichtsarbeit über randomisierte kontrollierte Studien, dass die Wirksamkeit in Form von Schmerzlinderung und Wiederherstellung der körperlichen Leistungsfähigkeit nur für multimodale Therapieprogramme mit einem zeitlichen Aufwand von über 100 Therapiestunden nachgewiesen
292
Analyse unspezifischer Wirkfaktoren orthopädischer Rehabilitation
werden kann. Somit ist die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen in der Behandlung
von unspezifischen Rückenschmerzen bisher kaum nachgewiesen (Raspe, 2008).
Um die Wirksamkeit von stationärer medizinischer Rehabilitation in Deutschland bei
chronischen Rückenschmerzen zu untersuchen, führten Hüppe und Raspe (2005)
eine systematische Literaturrecherche durch. Dabei wurden 16 Studien in Bezug auf
die körperliche Funktionsfähigkeit, Katastrophisieren, Vitalität, Depressivität und
Schmerzen chronischer Schmerzpatienten analysiert. Zusammenfassend konnten
kleine (z.B. körperliche Funktionsfähigkeit) bis große Effekte (z.B. Vitalität) erzielt
werden. Jedoch zeigen die beobachteten längerfristigen Effekte eine unbefriedigende Nachhaltigkeit der Rehabilitation. Bahrke et al. (2006) untersuchten den Rehabilitationserfolg von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen, bei denen die
Intervention an die suppressive Schmerzverarbeitung angepasst wurde. Die Behandlung umfasste einen dreiwöchigen multimodalen Rehabilitationsaufenthalt mit
somatischen und psychosozialen Anteilen. Der Erfolg der stationären Rehabilitation
erwies sich mit einer mittleren Effektstärke als gering. Die multimodale Behandlung
unter Berücksichtigung der psychosozialen Faktoren zeigt im Vergleich zur Standardbehandlung einen stärkeren Rückgang der Symptome und funktionelle Aspekte
verbessern sich deutlich.
Im Bestreben um ein optimales Qualitätsmanagement der medizinischen Rehabilitation ist das Gesundheits- und Krankheitsverhalten der Patienten maßgeblich
durch die subjektive Überzeugung bestimmt. Subjektive Vorstellung über eine Therapiemaßnahme und ihre Wirkungen wirken sich auf die Krankheitsverarbeitung
und Compliance der Patienten aus (Horne & Weinman, 1999) und somit auch auf
den Rehabilitationserfolg (Deck, Kohlmann & Raspe, 1998). Qualitätskonzepte und
versorgungsbezogene Erwartungen unterscheiden sich zwischen behandelnden
Ärzten und Patienten (Geraedts et al., 2007; Kaya et al., 2003). In diesem Zusammenhang untersuchten Grande und Romppel (2008) die subjektiven Qualitätsvorstellungen von Patienten, Ärzten und Sozialdienstmitarbeitern. Dabei zeigte sich,
dass die „Kompetenz des Personals“ und die „Psychosoziale Ergebnisqualität“ von
allen drei Gruppen als bedeutsam für den Reha-Verlauf eingeschätzt wurden. Ebenso wurden das Engagement und die Motivation des Personals sowie der Erfolg bei
der Wiederherstellung der allgemeinen Leistungsfähigkeit im Alltag des Patienten
als wichtig beurteilt.
Um mögliche Gründe zu identifizieren, die einen Behandlungserfolg bei chronischen
Rückenschmerzen vorhersagen können, führten Meyer et al. (2009) eine Analyse
zum Wirksamkeitsproblem in der stationären Rehabilitation durch. Dabei wurden
die Datensätze von 27.759 Patienten aus den Jahren 2003 und 2004 untersucht. Es
zeigte sich, dass lange Arbeitsunfähigkeitszeiten und das Rentenbegehren sich ungünstig auf den Reha-Verlauf auswirkten. Ebenso spielten auf Seiten der Patientenmerkmale der Schulabschluss sowie das Alter eine Rolle. Der Umfang des Leistungsangebotes stand nur im geringen Zusammenhang mit einer erfolgreichen Be293
Analyse unspezifischer Wirkfaktoren orthopädischer Rehabilitation
handlung. Insbesondere konnte kein Hinweis darauf gefunden werden, dass das
Ausmaß der Leistungen mit den Vorgaben der Prozessleitlinien für die Rehabilitation von Menschen mit chronischen Rückenschmerzen überstimmt, im Zusammenhang mit der Erfolgsbewertung der Patienten steht. Ein kleiner Effekt konnte für das
Ausmaß bewegungstherapeutischer Maßnahmen festgestellt werden. Vielmehr
wirkten sich die Beziehung zwischen Arzt/Therapeut und Patienten, das Ausmaß an
Zuwendung des Personals an die Patienten sowie strukturelle Rahmenbedingungen
des Rehabilitationsprozesses auf den Rehabilitationsverlauf aus. Die Bedeutung
dieser Faktoren für die Erfolgsbewertung der Rehabilitation ist noch ungeklärt.
9.4
Ziele
Das beantragte Forschungsprojekt hat zum Ziel, den Einfluss von allgemeinen Wirkfaktoren auf den Rehabilitationserfolg zu untersuchen. Zudem sollen die Auswirkungen der Arzt/Therapeut-Patienten-Beziehung und die Patientenzufriedenheit
hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Rehabilitationsprozess analysiert werden.
Es soll den folgenden Fragestellungen nachgegangen werden:
•
•
•
•
9.5
Welche Parameter schätzen Patienten der stationären Rehabilitation für ihren Reha-Erfolg als wichtig ein?
Beeinflussen diese Parameter den objektiven Reha-Erfolg?
Wirkt sich die Patientenzufriedenheit auf den Rehabilitationsverlauf aus?
Welchen Einfluss hat die Arzt/Therapeut-Patienten-Beziehung auf den objektiven Reha-Erfolg der Patienten?
Methodisches Vorgehen
In einer Bedarfs- und Wirksamkeitsanalyse mit einer 6-monatigen Katamneseerhebung soll der Einfluss von zuvor identifizierten Wirkfaktoren, die Patientenzufriedenheit sowie die Arzt/Therapeut-Patienten-Beziehung bei Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen im Rahmen stationärer Rehabilitation untersucht werden.
Die Studie gliedert sich in eine 6-monatige Vor- und eine 24-monatige Hauptstudie.
In der Vorstudie sollen anhand qualitativer Verfahren allgemeine Wirkfaktoren identifiziert werden. Die Patienten schätzen Parameter hinsichtlich ihrer subjektiven
Wichtigkeit ein. Hierzu zählen beispielsweise die Wichtigkeit von Unterstützung bei
beruflichen Problemen, - bei der Bewältigung von komorbiden psychosozialen Belastungen, Kompetenz des Personals, psychosoziale Ergebnisqualität, Engagement
und Motivation des Personals, Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit, Essen in
der Klinik usw. (vgl. Grande & Romppel, 2008). Zudem werden weitere Wirkfaktoren
294
Analyse unspezifischer Wirkfaktoren orthopädischer Rehabilitation
in Form von offenen Fragestellungen erhoben, die von den Patienten als bedeutsam
für ihre Genese eingeschätzt werden. Für die Hauptstudie werden die wichtigsten
Wirkfaktoren (nach Häufigkeit der Nennungen und eingeschätzter Wichtigkeitsgrad)
identifiziert.
In der Hauptstudie werden die Parameter Patientenzufriedenheit, PatientenArzt/Therapeut-Beziehung (Vertrauen in den Arzt (VIA) von Glattacker, Gülich, Farin
& Jäckel, 2007), identifizierte allgemeinen Wirkfaktoren (Vorstudie), medizinischer
Erfolg, Entlassungsform, Nachsorge sowie KTL (entnommen aus den Klinikdaten)
erhoben. Die Katamnese-Erhebung erfolgt 6 Monate nach Reha-Ende. Eingeschlossen werden alle Patienten in der stationären Rehabilitation mit der Diagnose Unspezifische Rückenschmerzen (M54 ICD-10) ab dem 18. Lebensjahr mit ausreichenden deutschen Sprachkenntnissen. Als Stichprobenumfänge sind N=60 (für die Vorstudie) und N=120 (für die Hauptstudie) vorgesehen. Die Datenerhebung findet
konsekutiv in der Rheumaklinik Bad Wildungen statt. Alle in der Klinik aufgenommenen Patienten, die die definierten Einschlusskriterien erfüllen, werden bis zum
Erreichen der angestrebten Stichprobengröße in die Studie aufgenommen.
Die Erhebung der Daten erfolgt anhand standardisierter Fragebögen sowie selbstentwickelter Items zu den allgemeinen Wirkfaktoren und offenen Antwortmöglichkeiten. Die Ermittlung der gesundheitsökonomischen Parameter erfolgt über Fragebögen bzw. Abfrage der AU-Daten über die Krankenkassen.
9.6
Ergebnisse
Das Projekt befindet sich derzeit in der Datenauswertung.
9.7
Literatur
Bahrke, U., Bandemer-Greulich, U., Fikentscher, E., Müller, K., Schreiber, B. & Konzag, T.A. (2006). Chronischer Rückenschmerz mit suppressiver Schmerzverarbeitung - Zur Optimierung des Rehabilitationserfolgs einer bislang vernachlässigten
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Geraedts, M., Schwartze, D. & Molzahn, T. (2007). Hospital quality reports in Germany: Patient and physician opinion of the reported quality indicators. BMC
295
Analyse unspezifischer Wirkfaktoren orthopädischer Rehabilitation
Health Services Research, 7, 157-162.
Glattacker, M., Gülich, M., Farin, E. & Jäckel, H. (2007). Vertrauen in den Arzt („VIA“)
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Sozialdienstmitarbeitern über qualitätsrelevante Merkmale der kardiologischen
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methodenkritische Diskussion einer Literaturübersicht. Die Rehabilitation, 44, 2433.
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potenzielle Erfolge durch vorliegende Untersuchungsansätze maskiert? Lübeck:
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Analyse unspezifischer Wirkfaktoren orthopädischer Rehabilitation
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Lange, M. & Petermann, F. (2011). Der aktuelle Forschungsstand zur Behandlung
des Fibromyalgiesyndroms mit Bewegungstrainings und psychosozialen Interventionen. Eine systematische Literaturanalyse. Aktuelle Rheumatologie, 36, 54-60.
297
Manualgestützte prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
10
Entwicklung eines Programms zur manualgestützen
Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
10.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
MitarbeiterInnen
Dipl. Psych. Maren Prinz
Dr. Meike Lange
Dr. Norbert Karpinski
Zeitraum
01.04.2008 - 30.04.2012
Kooperationspartner
Marbachtalklinik Bad Kissingen
Finanzierung
Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen
10.2
Zusammenfassung
Im Rahmen des Projektes wurde in Zusammenarbeit mit der Deutschen Rentenversicherung Oldenburg-Bremen und der Marbachtalklinik Bad Kissingen eine standardisierte (manualisierte) Vorbereitung auf die stationäre psychosomatische Rehabilitation entwickelt, erprobt und evaluiert. Die Überprüfung der Effekte unterschiedlicher Formen der Reha-Vorbereitung erfolgte im Rahmen eines kontrollierten, prospektiven Designs mit vier Messzeitpunkten und drei Untersuchungsgruppen. Auf
der Basis von uni- und multivariat durchgeführten Varianzanalysen konnte der Vorteil der manualisierten Vorbereitung gegenüber einem Einzelgespräch nicht eindeutig festgestellt werden.
299
Manualgestützte prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
10.3
Stand der Forschung
Um die Wirksamkeit der psychosomatischen Rehabilitation zu steigern, werden
immer häufiger Aspekte der langfristigen Betreuung diskutiert. Deck, Hüppe und
Arlt (2009) zeigte, dass eine langfristige Begleitung von den Patienten gut angenommen wird und erste Erfolge erkennbar sind. Auch Vorbereitungsmaßnahmen
werden zur Effektivitätssteigerung der stationären Rehabilitation aktuell mehr beachtet. In diesem Zusammenhang untersuchten Bischoff, Gönner, Ehrhardt und
Limbacher (2005) den gezielten Einfluss von Vorbereitungsmaßnahmen. Die Patienten nahmen an Informationsveranstaltungen und mindestens einem Einzelberatungsgespräch mit dem Bezugstherapeuten teil. Die Informationsabende wurden
von den Patienten positiv bewertet (nach der Schulnoten-Skala: M=2,19) und sie
erleichterten aus Sicht der Patienten den Einstieg in eine stationäre Rehabilitation.
Zudem wurden die körperliche Anspannung und das Allgemeinbefinden günstig
beeinflusst. Allerdings wirkten sich die Maßnahmen weder positiv auf die Therapiemotivation noch auf die Einstellung gegenüber den Beschwerden aus. Um die
psychosomatische Rehabilitation optimal an die Patienten anzupassen, schlagen
Bückers et al. (2001) eine prästationäre Diagnostik der Therapiemotivation vor. In
anderen Studien wurde ebenfalls die prästationäre Diagnostik, in Form einer Volitionsdiagnostik, als wichtige Komponente für die individuelle Therapieplanung von
psychosomatischen Patienten empfohlen (Kuhl, 2001).
10.4
Ziele
Im Rahmen des Projektes soll die bisherige Vorbereitung auf die psychosomatische
Rehabilitation durch Einführung eines standardisierten und manualgestützten Programms optimiert werden. Die Implementation und die Effekte der optimierten
Vorbereitungsmaßnahme sollen anhand rehaspezifischer Effekte evaluiert werden.
10.5
Methodisches Vorgehen
Die vorliegende Studie wurde im Rahmen eines Projekts „Zugang zur stationären
psychosomatischen Rehabilitation“ der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Oldenburg-Bremen durchgeführt. Bei diesem Projekt sollte die Wirksamkeit von zwei
Vorbereitungsmaßnahmen miteinander vergleichen werden. Die Studie stellte drei
Gruppen gegenüber. Die erste Gruppe bestand aus unvorbereiteten Patienten
(=Kontrollgruppe). Diese Patienten gingen ohne vorherige Vorbereitungsmaßnahme, so wie es bislang bei den meisten Rehabilitationskliniken üblich ist, in den stationären Aufenthalt. Eine zweite Patientengruppe nahm zur Vorbereitung an einem
300
Manualgestützte prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
Einzelberatungsgespräch teil. Diese Art der prästationären Maßnahme wurde bislang den Patienten der DRV Oldenburg-Bremen angeboten. Die dritte Gruppe bestand aus Patienten, die an einer neuentwickelten manualisierten Gruppenvorbereitung teilnehmen. Um den „Vorbereitungsbedarf“ von psychosomatischen Patienten
zu analysieren, wurde ein Fragebogen zur Vorbereitung auf die psychosomatische
Rehabilitation entwickelt, der zur prästationären Diagnostik eingesetzt werden soll.
Dieser Fragebogen wurde konzipiert, um den Informationsstand, die Motivation,
Stigmatisierungsängste und Befürchtungen der Patienten im Vorfeld einer stationären psychosomatischen Rehabilitation einschätzen zu können (vgl. Bischoff et al.,
2005). Auf diese Weise sollen wichtige Aspekte einer prästationären Maßnahme
erfasst werden.
Zudem sollte die Patientenzufriedenheit und die Effekte einer prästationären Einzelberatung auf die Einstellung zur psychosomatischen Rehabilitation überprüft
werden. Im weiteren Verlauf sollte der „Vorbereitungsbedarf“ von Patienten, die
unmittelbar vor einer stationären psychosomatischen Rehabilitation stehen, untersucht werden. Es wurden folgenden Fragestellungen überprüft:
• Können mit dem Fragebogen zur Vorbereitung auf die psychosomatische
Rehabilitation klinisch relevante Facetten des krankheitsbezogenen Wissens
und Einstellungen der Patienten zur psychosomatischen Rehabilitation abgebildet werden?
• Wie zufrieden sind Patienten mit einem Einzelberatungsgespräch zur Vorbereitung auf die stationäre psychosomatische Rehabilitation?
• Geben Patienten mit einer Vorbereitungsmaßnahme eine günstigere Einstellung zur psychosomatischen Rehabilitation an als Patienten ohne Vorbereitungsmaßnahme?
• Lassen sich mit dem Fragebogen zur Vorbereitung auf die psychosomatische
Rehabilitation Aspekte abbilden, die den Bedarf der Patienten in Bezug auf
prästationäre Maßnahmen widerspiegeln?
Behandlung in der psychosomatischen Rehabilitation
Die Patienten blieben durchschnittlich sechs Wochen in der Reha-Einrichtung und
nahmen an den folgenden Behandlungsmaßnahmen teil:
•
•
•
•
•
•
•
Gruppentherapie 3-mal wöchentlich à 60min
Einzelpsychotherapie 1-mal wöchentlich à 60min
Patientenschulung je nach Störungsbild 2-3-mal wöchentlich à 60 min
Physiotherapie 3-mal wöchentlich à 60min
Entspannungstraining in der Gruppe (Progressive Muskelentspannung nach
Jacobson oder Autogenes Training) 2-mal wöchentlich à 60min
Frühbewegung 5-mal wöchentlich à 30min
Sporttherapie je nach Störungsbild 3-mal wöchentlich à 60-90min
301
Manualgestützte prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
•
Lernkurs Nordic Walking 1-mal wöchentlich à 90min.
Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation: Einzelberatung
Die Patienten der IGI nahmen an einem aufklärenden und motivationsfördernden
Einzelberatungsgespräch teil, das der Sozialpädagoge der DRV Oldenburg-Bremen
führte. Das Gespräch fand in Absprache mit den Patienten entweder im häuslichen
Umfeld der Patienten, in den Räumen der DRV oder telefonisch statt. Das Beratungsgespräche wurde patientenbezogen geführt und knüpfte am Vorwissen, an
der Lebens- und Motivationslage der Patienten an; dabei wurden Prinzipien der
motivierenden Gesprächsführung herangezogen (Rau & Petermann, 2008). Es wurde über die Möglichkeit der psychosomatischen Rehabilitation informiert, organisatorische und finanzielle Fragen wurden geklärt und Hilfen im Umgang mit Stigmatisierungsängsten angeboten.
Vorbereitung auf die psychosomatischen Rehabilitation (MaReVo)
Die Patienten der IGII nahmen an einer manualisierten Gruppenvorbereitung (MaReVo) teil. Innerhalb einer Gruppensitzung von 120 Minuten wurden die Patienten
auf den stationären Aufenthalt vorbereiten. Das Ziel dieser prästationären Maßnahme war es das Wissen über die psychosomatische Rehabilitation, das Vertrauen
der Patienten in die Maßnahmen und die Motivation an den Maßnahmen teilzunehmen zu fördern. Die Gruppenvorbereitung umfasst fünf Module, die mit Hilfe
einer Präsentation und motivationaler Gesprächsführung den Patienten vermittelt
wurden. Im ersten Modul „Rund um die Rehabilitation“ wurden Informationen zur
Organisation und finanzielle Fragen geklärt. Das zweite Modul „Die Rehabilitation“
klärt über die unterschiedlichen Interventionen einer psychosomatischen Rehabilitation auf und vermittelt den Aufbau eines psychosomatischen Krankheitsmodells.
Eine Hinführung zu ersten Therapiezielen erfolgt im dritten Modul „Was bringt mir
die psychosomatisch Rehabilitation“. Im vierten Modul „Welche positiven Erwartungen, welche Befürchtungen habe ich?“ soll eine realistische Erwartungseinschätzung der Patienten aufgebaut werden. Im letzten Modul „Was kann nach der Rehabilitation kommen?“ werden Informationen zur Nachsorge wie IRENA, Psychotherapie, Selbsthilfegruppen etc. besprochen.
Erhebungsinstrumente
Die Datenerhebung erfolgte zu Reha-Beginn (T1), Reha-Ende (T2) und (postalisch)
zwölf Monate nach Reha-Ende (T3). Die soziodemografischen Daten wurden dem
Anamnesebogen der Klinik entnommen. Die Erfassung der Schwere depressiver
Beschwerden erfolgte anhand des Beck Depressionsinventars-II (Hautzinger, Kühner
& Keller, 2006). In 21 Gruppen von Aussagen, die typische Depressionssymptome
beschreiben, wählt der Patient aus vier Antwortmöglichkeiten (0=nicht vorhanden,
302
Manualgestützte prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
1=leichte Ausprägung, 2=mäßige Ausprägung, 3=starke Ausprägung; bezogen auf
die letzten zwei Wochen). Der Summenwert drückt die Schwere der gegenwärtigen
depressiven Symptomatik aus. Werte unter 13 Punkten gelten im BDI-II als keine
bzw. minimale depressive Symptome. Werte zwischen 14 und 19 Punkten weisen
auf eine milde Ausprägung depressiver Symptome hin, Werte zwischen 20 und 28
Punkten auf eine moderate Ausprägung. Punktwerte zwischen 29 und 63 gelten als
Hinweis auf eine schwere depressive Symptomatik.
Zur Erfassung der psychischen Beeinträchtigung wurde das Brief Symptom Inventory (BSI, Kurzform der SCL-90-R, s. Prinz et al., 2008) eingesetzt. Dieser Fragebogen
erfasst mit neun Skalen („Somatisierung“, „Zwanghaftigkeit“, „Unsicherheit im Sozialkontakt“, „Depressivität“, „Ängstlichkeit“, „Aggressivität/Feindseligkeit“, „Phobische Angst“, „Paranoides Denken“ und „Psychotizismus“) das Ausmaß der Beeinträchtigungen in unterschiedlichen Bereichen. Zudem kann der Global Severity Index zur Einschätzung der grundsätzlichen psychischen Belastung herangezogen
werden.
Die psychosoziale Gesundheit wurde mit den Hamburger Modulen zur Erfassung
allgemeiner Aspekte psychosozialer Gesundheit für die therapeutische Praxis
(HEALTH-49, Rabung et al., 2009) erhoben. Die HEALTH-49 erfasst mit 49 Items auf
neun Skalen „Somatoforme Beschwerden“, „Depressivität“, „Phobische Angst“,
„Psychisches Wohlbefinden“, „Interaktionelle Schwierigkeiten“, „Selbstwirksamkeit“, „Aktivität und Partizipation“, „Soziale Unterstützung“ und „Soziale Belastung“,
wobei höhere Werte für eine bessere psychosoziale Gesundheit sprechen.
Der Fragebogen zur Erfassung der prästationären Patienten-Einstellung (10 Items)
(Karpinski et al., 2009) enthält die Skalen Wissen über die Reha-Maßnahme, RehaMotivation und Vertrauen in die Rehabilitation.
10.6
Ergebnisse
Zu T1 lagen die Daten von insgesamt 440 Patienten zwischen 19 und 62 Jahren
(M=44,3; SD=8,9) vor. Der Anteil der männlichen Patienten lag mit 54,4% etwas
über dem der Frauen. Zu allen Messzeitpunkten liegen die Daten von 69 Patienten
im Alter von 24 bis 60 Jahren vor (M=44,45; SD=8,1). Davon sind 46,4% männlich.
Wissen über die Reha-Maßnahme. Bei allen Gruppen nimmt das Wissen zum Beginn der Reha im Vergleich zur Vorerhebung (T0) signifikant zu (F=3,197; p= .042).
Der Mittelwert der IGI liegt bei Beginn der Reha signifikant über dem der KG. Die
IGII (manualisierte Vorbereitung) unterscheidet sich nicht signifikant von der IGI und
der KG.
Reha-Motivation. Die Gruppenfaktor dieses Modells wird mit F=4,123(p= .017) signifikant. Dabei liegt der Mittelwert der IGI vor Beginn der Rehabilitation signifikant
303
Manualgestützte prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
unter dem der KG (p= .005) und zum Beginn der Rehabilitation signifikant über dem
der KG (p= .008). IGI und IGII unterscheiden sich nicht signifikant.
Vertrauen in die Rehabilitation. Das Vertrauen steigt bei allen Gruppen zu Rehabilitationsbeginn signifikant an (F=24,873; p= .000). Ein Gruppeneffekt kann mit
F=2,970 (p= .052) nicht bestätigt werden.
Depressive Belastung (BDI-II). Die depressive Belastung nimmt bei allen Gruppen
über den gesamten Erhebungszeitraum signifikant ab (F=97,720; p= .000). Ein Gruppeneffekt kann mit F=2,970 (p= .052) nicht signifikant bestätigt werden.
Gesamtwert der psychischen Beeinträchtigung (BSI). Der Gesamtwert der psychischen Belastungen nimmt über alle drei Messzeitpunkte signifikant ab (F=86,662; p=
.000). Ein Unterschied zwischen den Interventionsgruppen kann aber nicht bestätigt
werden (F=516; p= .724).
Psychosoziale Gesundheit (HEALTH-49). Auf multivariater Ebene (alle Subskalen)
ergibt sich ein Interaktionseffekt zwischen Zeit und Vorbehandlung (F=5,35;
p<0.01). Die univariaten Befunde dieses Modells ergeben Unterschiede bei den Skalen „Selbstwirksamkeit“ (F=3,47; p= .01) und „Soziale Unterstützung“ (F=3,66; p=
.01). Danach verbessern sich Patienten mit einer ambulanten psychotherapeutischen Vorbehandlung deutlich stärker als jene Patienten ohne Vorbehandlung.
10.7
Literatur
Bischoff, C., Gönner, S., Erhardt, M. & Limbacher, K. (2005). Ambulante vor- und
nachbereitende Maßnahmen zur Optimierung der stationären psychosomatischen Rehabilitation - Ergebnisse des Bad Dürkheimer Prä-Post-Projektes. Verhaltenstherapie, 15, 78-87.
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durch eine längerfristige Begleitung der Rehabilitanden - Ergebnisse einer Pilotstudie. Die Rehabilitation, 48, 39-46.
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Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin, 18, 337-343.
304
Manualgestützte prästationäre Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation
Rabung, S., Harfst, T., Kawski, S., Koch, U., Wittchen, H.U. & Schulz, H. (2009). Psychometrische Überprüfung einer verkürzten Version der „Hamburger Module zur
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Rau, J. & Petermann, F. (2008). Motivationsförderung bei chronischen Schmerzpatienten. Der Schmerz, 22, 209-217.
Publikationen
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(2009). Psychosomatische Rehabilitation: Effekte einer prästationären Beratung
durch die Rentenversicherung. Die Rehabilitation, 48, 283-287.
de Vries, U., Lange, M., Franke, W. & Petermann, F. (2011). Differenzielle Effekte
stationärer psychosomatischer Rehabilitation. Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin, 21, 290-295.
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Lange, M., Best, M., Hessel, A. & Petermann, F. (2010). Vorbereitung zur psychosomatischen Rehabilitation: Entwicklung eines Patienten-Fragebogens. DRVSchriften, 88, 123-124.
Lange, M., Best, M., Hessel, A., Sieling, W. & Petermann, F. (2010). Patientenorientierte Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation. In F. Petermann
(Hrsg.), Neue Ansätze in der psychosomatischen Rehabilitation (S. 113-132). Regensburg: Roderer.
Lange, M., Franke, W., Hessel, A. & Petermann, F. (2011). Wer profitiert von Vorbereitungsmaßnahmen auf die psychosomatische Rehabilitation? DRV-Schriften,
93, 60-61.
Lange, M., Franke, W. & Petermann, F. (2012). Wer profitiert nicht von der psychosomatischen Rehabilitation? Die Rehabilitation, 51, Heft 6..
Lange, M., Karpinski, N., Best, M. & Petermann, F. (2010). Beeinflusst die Beschäftigung mit der Erkrankung die Behandlung von Patienten mit psychosomatischen
Störungen? Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 58, 137144.
Lange, M. & Petermann, F. (2010). Psychosomatische Rehabilitation. Zeitschrift für
Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 58, 207-218.
305
Teil IV: Einrichtungen, Studiengänge und Qualifikationsarbeiten
Teil IV:
Einrichtungen, Studiengänge und Qualifikationsarbeiten
In den folgenden Kapiteln werden
• die Einrichtungen im Verantwortungsbereich des ZKPR,
• der Masterstudiengang „Klinische Psychologie“
• die Doktorandenkollegs „Klinische Kinderpsychologie“ und „Klinische Psychologie“
• der Norddeutsche Verbund für Kinderverhaltenstherapie
• die Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie, Institut Bremen und
• abgeschlossene Promotionen und Habilitationen
vorgestellt.
307
Psychotherapeutische Einrichtungen - Kindes- und Jugendalter
1
Psychotherapeutische Einrichtungen - Kindes- und
Jugendalter
1.1
Einrichtungen
Psychologische Kinderambulanz am Zentrum für Klinische Psychologie und
Rehabilitation (ZKPR), Universität Bremen
Psychotherapeutische Ambulanz für Kinder und Jugendliche am Zentrum für
Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR), Universität Bremen
Norddeutscher Verbund für Kinderverhaltenstherapie (NOKI) - Ausbildungsstätte
zur Erlangung der Approbation zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten,
Universität Bremen
Psychotherapeutische Ambulanz für Kinder und Jugendliche am NOKI, Universität
Bremen
1.1.1
Organisation
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Prof. Dr. Ulrike Petermann
MitarbeiterInnen
Dr. Stephanie Ender, Dipl.-Psych. Christin Fischer, Dipl.-Psych. Christina HillebrandtWegener, Dipl.-Psych. Katja Hustedt, Dr. Claus Jacobs, Dr. Anja Lepach, Dipl.-Psych.
Lydia T. Linnemann, Dipl.-Psych. Lyuba Kharchenko, Dipl.-Psych. Wiebke Schlagheck,
Dr. Sören Schmidt, Dipl.-Psych. Lars Tischler, Dipl.-Psych. Laura Wintjen, Dr. Jan Witthöft
Kooperationspartner
Prof. Dr. Wolf-Dieter Gerber (Institut für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Schleswig Holstein, Campus Kiel), Dr. Gabriele
Gerber-von Müller (Ambulanz für Verhaltensprävention in Familien [ViFa] Universitätsklinikum Schleswig Holstein, Campus Kiel), Prof. Dr. Michael Siniatchkin (Zent309
Psychotherapeutische Einrichtungen - Kindes- und Jugendalter
rum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Frankfurt am Main), Prof.
Dr. Reiner Hanewinkel (Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung, Institut für
Therapieforschung [IFT-Nord], Kiel), Vorwerker Fachklinik (Diakonie) für Kinder und
Jugendpsychiatrie, Lübeck, Gesundheit Nord Klinikum Bremen-Ost gGmbH, Klinik
für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Bremen, MediClin MüritzKlinikum GmbH, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Röbel (Müritz), Universitätsklinikum Rostock (Anstalt öffentlichen
Rechts), Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im
Kindes- und Jugendalter, Rostock, Evangelisch-Lutherische Diakonissenanstalt zu
Flensburg, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Flensburg, Klinik für Neuropädiatrie am Universitätsklinikum Schleswig Holstein, Campus Kiel, Reinhard-Nieter
Krankenhaus Städtische Kliniken gGmbH, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie, Wilhelmshaven, Regio Kliniken GmbH - Klinikum Elmshorn,
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Elmshorn, Kinderkrankenhaus Auf der Bult Akademisches Lehrkrankenhaus, Hannover, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Wichernstift gGmbH, Ganderkesee, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Tagesklinik und Institutsambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie
und -psychotherapie, Bremerhaven, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und psychotherapie der Asklepsios Klinik Hamburg-Harburg, Fachabteilung für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in der Klinikum Region Hannover Wunstorf GmbH, Wunstorf, Psychiatrische Klinik Lüneburg gemeinnützige GmbH - Klinik
für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Marienkrankenhaus Papenburg-Aschendorf GmbH
Zeitraum
Psychologische Kinderambulanz seit 1991 fortlaufend
Psychotherapeutische Ambulanz seit 2008 fortlaufend
NOKI seit 2011 fortlaufend
Psychotherapeutische Ambulanz des NOKI seit 2012 fortlaufend
1.2
Wissenschaftlicher Hintergrund
Fast 60 Prozent aller Kinder und Jugendlichen leiden bis zum 21. Lebensjahr an psychischen Problemen. Deutschlandweit leiden 21,9 Prozent unter behandlungsbedürftigen emotionalen- und Verhaltensstörungen (10 Prozent Ängste, 7,6 Prozent
Störungen des Sozialverhaltens, 5,4 Prozent Depressionen). Etwa 3 bis 4 Prozent der
Kinder und Jugendlichen sind von einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betroffen und fast jedes dritte Kind in Deutschland leidet an wiederkehrenden Kopfschmerzen oder Störungen der Atemwege und Hauterkrankungen. Drastisch gestiegen sind zudem Internetsucht und Fettleibigkeit (Adipositas),
310
Psychotherapeutische Einrichtungen - Kindes- und Jugendalter
wobei letztere mit einem hohen Diabetesrisiko einhergeht. Im Rahmen der verhaltenstherapeutischen Versorgung ist das Angebot für betroffene Familien jedoch
seit Jahrzehnten unzureichend und steht in einem krassen Gegensatz zum Behandlungsbedarf. Monatelange Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz für Kinder
und Jugendliche sind für viele verzweifelte Eltern und Kinder häufig Alltagsrealität
und gesundheitspolitisch höchstproblematisch. Neben der ambulanten Versorgung,
sind dabei auch Universitäten mit entsprechender besonders Expertise gefordert,
was am ZKPR zu der Etablierung verschiedener Versorgungs- und Ausbildungseinrichtungen führte, die im Folgenden ausführlicher beschrieben werden.
1.3
Psychologische Kinderambulanz
Bereits 1991 wurde mit der Etablierung einer verhaltenstherapeutischen Ambulanz
am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation der Universität Bremen ein
wichtiger Schritt zu einer umfassenden Versorgung psychischer Erkrankungen bei
Kindern und Jugendlichen unternommen. Neben dem Fokus auf internalisierende
und externalisierende Störung bietet diese Einrichtung ein breites Versorgungsspektrum, welches neuropsychologische und lerntherapeutische Leistungen gleichermaßen umfasst. Im Einzelnen handelt es sich dabei um
•
•
•
•
•
•
•
•
ausführliche psychometrische (auch computergestützte) Diagnostik,
Entwicklungsdiagnostik,
Diagnostik und Beratung bei Hochbegabung,
Gruppentherapie für aggressive, sozial unsichere und/ oder aufmerksamkeitsgestörte Kinder,
neuropsychologisch, verhaltenstherapeutisch und lerntherapeutisch fundierte Therapie von Lese-Rechtschreibstörung und Rechenstörung,
neuropsychologische Therapien von Patienten mit Zustand nach SchädelHirn-Verletzungen (auch Erwachsene),
Elternberatung und Elterntrainings sowie
Begutachtungen bei verschiedenen Fragestellungen (etwa §35a SGBVIII).
Die langjährigen diagnostischen und therapeutischen Erfahrungen der Mitarbeiter
führten zur Entwicklung und Publikation verschiedener Testdiagnostika (z.B. BASICMLT, Lepach & Petermann, 2008; RZD-2-6, Jacobs & Petermann, 2005) und Therapieprogramme (z.B. Training für Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen - ATTENTIONER, Jacobs & Petermann, 2008; Training für Kinder mit Gedächtnisstörungen REMINDER, Lepach & Petermann, 2010; Training für Kinder mit räumlichkonstruktiven Störungen - DIMENSIONER, Muth-Seidel & Petermann, 2008).
311
Psychotherapeutische Einrichtungen - Kindes- und Jugendalter
1.4
Psychotherapeutische Ambulanz für Kinder und Jugendliche
Im Jahre 2008 folgte die Ermächtigung der Psychotherapeutischen Ambulanz für
Kinder und Jugendliche, die nach § 117 SGB V als Hochschulambulanz für Forschung
und Lehre. Als Teil der kassenärztlichen Versorgungeinrichtungen im Lande Bremen
nahm die Ambulanz unmittelbar und in einem hohen Umfang psychisch kranke Kinder und Jugendliche auf und konnte eine Versorgung im Rahmen entsprechender
Forschungsprojekte gewährleisten. Besondere Behandlungsschwerpunkte liegen in
der
•
•
•
•
Abklärung von Behandlungsbedürftigkeit, Diagnose und Aufklärung über Behandlungsmöglichkeiten,
ergänzende Schuleingangsuntersuchung bei Vorschulkindern mit Verdacht
auf emotionale und psychosoziale Beeinträchtigungen,
Behandlung im Rahmen spezieller Studienprogramme. Im Berichtszeitraum
Behandlungsstudien zu emotionalen Störungen im Kindesalter mit Trennungsangst bzw. sozialer Ängstlichkeit, zur Störung des Sozialverhaltens und
zur einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung,
Behandlung im Rahmen von Effectiveness-Studien. Behandlung von psychischen Störungen mit Prä-, Verlaufs- und Postdiagnostik sowie katamnestische Untersuchungen sowie
eEpidemiologischen Untersuchungen zu Auftretenshäufigkeit und Auftretensbedingungen psychischer Störungen.
Durch Forschungsprojekte werden kontinuierlich Nachweise zur Wirksamkeit der
entsprechenden Maßnahmen erbracht und entsprechend publiziert. Dies hat zur
Folge, dass seit der Gründung der Einrichtung die Nachfrage zur Teilnahme an den
Therapieprogrammen im gesamten norddeutschen Raum kontinuierlich zunimmt.
Ein weiteres Merkmal dieser Einrichtung ist die enge Verzahnung der praktischen
Arbeit mit den Ausbildungsinhalten in den psychologischen Studiengängen der Universität Bremen (Diplom, Bachelor und Master). So besteht für Studenten innerhalb
entsprechender Studienprojekte, die Möglichkeit zur stillen Beobachtung von Diagnostik- und Therapiesitzungen über Einwegscheiben.
1.5
Norddeutscher Verbund für Kinderverhaltenstherapie
Im Rahmen einer engen Kooperation mit dem Institut für Medizinische Psychologie
und Medizinische Soziologie (IMPS) der Universität Kiel wurde ein Ausbildungsgang
zur Erlangung der Approbation in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie etabliert.
Dies führte zur Gründung des Norddeutschen Verbunds für Kinderverhaltenstherapie (NOKI), welcher im März 2011 als staatlich anerkanntes Ausbildungsinstitut nach
§ 2 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Kinder- und Jugendlichenpsycho312
Psychotherapeutische Einrichtungen - Kindes- und Jugendalter
therapeuten (KJPsychTh-AprV) durch die Senatorische Behörde für Soziales, Kinder,
Jugend und Frauen zugelassen wurde. Die Umsetzung der Ausbildung wird zu gleichen Anteilen in Bremen und Kiel realisiert und ist strukturell und inhaltlich den
Vorgaben der KJPsychTh-AprV vom 18. Dezember 1998 (BGBl. I S. 3761), zuletzt
geändert durch Artikel 34b des Gesetzes vom 6. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2515),
unterlegen (s. Tab. 1). Die strukturelle und organisatorische Verwaltung des NOKI
erfolgt ausschließlich durch die Universität Bremen.
Tabelle 1: Struktur eine KJP-Ausbildung entsprechend der Vorgaben der KJPsychThAprV.
Praktische
Tätigkeit
Theoretische
Ausbildung
Praktische
Ausbildung
Selbsterfah- Supervision Freie Spitze
rung
1200 Stunden
in kinder- und
jugendpsychiatrischer
psychotherapeutischer
klinischer Einrichtung
600 Stunden
Unterricht
innerhalb der
ersten
drei
Ausbildungsjahre
600 Stunden
psychotherapeutische
Behandlung
600 Stunden in
einer von einem Sozialversicherungsträger anerkannten
Einrichtung, die der
psychotherapeutischen
oder psychosomatischen
Versorgung
von
Kindern
und Jugendlichen dient.
200 Stunden
Grundlagenunterricht (Vorcurriculum)
40 Stunden
therapeutenzentrierte
Selbsterfahrung in der
Gruppe
80 Stunden
patientenzentrierte
Selbsterfahrung in der
Gruppe
∑ 1.800 Std
∑ 600 Std
∑ 600 Std
∑ 120 Std
Gesamtumfang der Ausbildung: 4.200 Stunden
100 Stunden
Supervision
in der Gruppe
50 Stunden
Einzelsupervision
z.B.
Arbeitsgruppe
(345-500 Std),
Fortbildungen in
Kliniken, Weiterbildung,
Kongresse, Literaturstudium
(200
Std), Überhänge
aus der Praktischen Tätigkeit,
Prüfungsfallvorbereitung (80
Std).
∑ 150 Std
∑ 930 Std
Die Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten besteht aus einer
praktischen Tätigkeit, einer theoretischen Ausbildung, einer praktischen Ausbildung
mit Krankenbehandlung unter Supervision sowie einer Selbsterfahrung, die die Ausbildungsteilnehmer zur Reflexion eigenen therapeutischen Handelns befähigt. Hinzu
kommen weitere 930 Stunden, die als „Freie Spitze“ angerechnet werden und die in
der Ausbildung geforderten theoretischen und praktischen Anteile inhaltlich ergänzen. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Vor- und Nachbereitung der Seminare
313
Psychotherapeutische Einrichtungen - Kindes- und Jugendalter
beziehungsweise der Vertiefung von konkreten Themen in Arbeitsgruppen. PädagogInnen (Diplom oder Master) und SozialpädagogInnen (Diplom und Master) sowie
diejenigen Berufsgruppen, die entsprechend der Hinweise zu § 5 Abs. II Nr. 2
(KJPsychTh-AprV) zulassungsberechtigt sind absolvieren ein einführendes Spezialcurriculum zur Erarbeitung psychologischer Grundlagen in Entwicklungspsychologie,
Lernpsychologie, Kognitionspsychologie und Psychobiologie, das der kinder- und
jugendlichenpsychotherapeutischen Ausbildung vorgeschaltet wird. Damit sollen
die durch das Psychologiestudium abgedeckten psychologischen Grundlagen ergänzt werden.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt nehmen knapp 60 Personen an der Ausbildung zum
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Teil. Diese verteilen sich auf drei Ausbildungskohorten. Die Vermittlung der theoretischen Ausbildungsanteile erfolgt
durch insgesamt 22 Dozenten. Diese wurden auf der Basis ihrer fachlichen Expertise
für einen bestimmten Themenkomplex ausgewählt und qualifizieren sich in der Regel zudem durch die Approbation zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten
sowie entsprechende Forschungs- und Praxisaktivitäten.
1.6
Literatur
Jacobs, C. & Petermann, F. (2005). RZD 2-6 - Rechenfertigkeiten- und Zahlenverarbeitung Diagnostikum für die 2. bis 6. Klasse. Göttingen: Hogrefe.
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Göttingen: Hogrefe.
Lepach, A.C. & Petermann, F. (2008). BASIC-MLT - Battery for Assessment in Children
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Das neuropsychologische Einzeltraining REMINDER (2., überarb. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
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Publikationen
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314
Psychotherapeutische Einrichtungen - Kindes- und Jugendalter
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Topography, 25, 332-344.
315
Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie
2
Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie,
Institut Bremen
2.1
Modelleinrichtungen
Psychotherapeutische Ambulanz (ZKPR) der Universität Bremen im Bereich
Psychologische Psychotherapie im Erwachsenenalter
2.1.1
Organisation
Leitung
Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Franz Petermann
Instituts- und Ambulanzleitung: Dipl.-Psych. Thomas Lang
Mitarbeiterinnen
Dr. Anne Kordt, Dipl. Psych. Maxie von Auer, Dr. Sylvia Helbig-Lang
Kooperationspartner
Universität Münster (Klinische Psychologie) und Universitätsklinikum Münster (Psychiatrie); Institut für Psychologische Psychotherapieausbildung der Universität
Münster; Universität Bielefeld (Klinische Psychologie); Institut für Psychologische
Psychotherapieausbildung Universität Bielefeld; Institut für Psychologische Psychotherapieausbildung Halle; Institute der Christoph-Dornier-Stiftung in Münster, Bielefeld, Tübingen, Köln; Zentrum für Psychotherapie der Humboldt Universität Berlin
(ZPHU), Charité Berlin (Psychiatrische Klinik) und Freie Universität Berlin (Klinische
Psychologie); Universitätsklinikum Lübeck; Universität Hamburg (Klinische Psychologie); Universität Würzburg (Klinische Psychologie und Psychophysiologie) und Universitätsklinikum Würzburg (Psychiatrie); Universität Frankfurt (Klinische Psychologie); Universitätsklinikum Aachen (Klinik für Psychiatrie); Universität Marburg (Klinische Psychologie) und Universitätsklinikum Marburg (Klinik für Psychiatrie), Universität Braunschweig (Klinische Psychologie), Universität Greifswald (Klinische Psychologie und Psychophysiologie), Universität zu Köln (Klinische Psychologie), Technische Universität Dresden (Klinische Psychologie und Psychotherapie), Universität
Mannheim (Klinische Psychologie)
317
Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie
2.2
Wissenschaftlicher Hintergrund
Stiftungszweck der Christoph-Dornier-Stiftung ist die Förderung der Klinischen Psychologie in Wissenschaft und Praxis. Zur Erfüllung ihres Stiftungszweckes baut die
Christoph-Dornier-Stiftung Modellambulanzen an Universitäten auf und unterstützt
diese mit Knowhow, Personal- und Sachmitteln. Die Christoph-Dornier-Stiftung baute bisher solche Modellambulanzen an folgenden deutschen Universitäten auf: Bielefeld, Braunschweig, Köln, Münster, Dresden, Tübingen, Düsseldorf und seit 2007
Bremen. Grundlage der Zusammenarbeit zwischen der Universität Bremen und der
Christoph-Dornier-Stiftung bildet ein Kooperationsvertrag vom 01.03.2007. In diesem wurde festgelegt, dass die Christoph-Dornier-Stiftung zur Förderung der Klinischen Psychologie an der Universität Bremen ein Therapiezentrum einrichten und
betreiben wird. Entsprechend wurden ab 2007 die folgenden Einrichtungen durch
die Christoph-Dornier-Stiftung aufgebaut:
2.3
Hochschulambulanz für Forschung und Lehre
Die Psychotherapeutische Ambulanz (ZKPR) der Universität Bremen, Bereich Psychologische Psychotherapie im Erwachsenenalter wurde 2008 gegründet und von
der Christoph-Dornier-Stiftung mit Personal- und Sachmitteln ausgestattet. Neben
der Anmietung und Einrichtung der Räumlichkeiten mit Möbeln und notwendiger
Technik wurden Promotionsstipendien an Diplom-Psychologen mit dem Vertiefungsfach Klinische Psychologie vergeben sowie eine Ambulanz- und Institutsleitungsstelle eingerichtet. Aufgrund der durch die Christoph-Dornier-Stiftung eingebrachten Expertise in der Behandlung von Angst- und Zwangsstörungen gelang es
bereits kurz nach der Ermächtigung der Forschungs- und Lehrambulanz zur Patientenbehandlung, die Ambulanz als Behandlungszentrum des vom Bundesministeriums für Bildung und Forschung geförderten Paniknetzes zu etablieren. Dadurch
wurde die Ambulanz Teil der bisher Weltweit größten Studie zu Veränderungsmechanismen bei Panikstörung und Agoraphobie. Der Einbezug in diese Studie bildet
im Bereich der Panikforschung auch eine zentrale Entwicklungslinie der Ambulanz in
verschiedensten Bereichen wie Lehre, Forschung, Patientenbehandlung aber auch
im Hinblick auf Kooperationen und Weiterentwicklungen von Behandlungsstrategien. So wurde die Ambulanz über Bremen hinaus sowohl für Betroffene als auch
für Ärzte, Kliniken, Psychotherapeuten und Medien eine wichtige Anlaufstelle für
Informations- und Behandlungsanfragen. Allein im Bereich Panikstörung wurden
bisher 415 Patienten im Rahmen von Studien untersucht und behandelt. Neben
dem Forschungsschwerpunkt Panikstörung und Agoraphobie gehören Forschungsarbeiten in den Bereichen Epidemiologie, Diagnostik (insbesondere verhaltensbezogene Diagnostik mittels Ecological Momentary Assessment, EMA) sowie die Therapieprozessforschung zu den Schwerpunkten der Ambulanz.
318
Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie
2.4
Modellambulanz der Christoph-Dornier-Stiftung, Institut
Bremen
In der Modellambulanz werden Intensivbehandlungen von ein bis zwei Wochen
durchgeführt, die einer tagesklinischen Betreuung nahe kommen. Dieses weltweit
einmalige Konzept erlaubt eine schnelle und kompakte Behandlung bestimmter
psychischer Störungen - wobei therapeutische Praxis und wissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlage der Behandlungsplanung darstellen. Entsprechend wird
diese Spezialform der Behandlung auch von Patienten aus dem In- und Ausland,
aber auch von international tätigen Konzernen für ihre Mitarbeiter nachgefragt.
Entsprechend des Stiftungszweckes werden die Intensivbehandlungen wissenschaftlich begleitet.
Zur Förderung von Wissenschaft und Praxis im Bereich der Klinischen Psychologie
gehört auch der Aspekt Öffentlichkeitsarbeit. Neben Fachveröffentlichungen und
Kongressbeiträgen wurden durch die Ambulanzmitarbeiterinnen und Mitarbeiter
auch Vorträge in Selbsthilfegruppen, Fernseh- und Radiobeiträge sowie Artikel in
der regionalen und überregionalen Presse realisiert. Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit wurde gemeinsam mit dem AMEOS Klinikum Dr. Heines das Bremer Symposium für Psychiatrie und Klinische Psychologie ins Leben gerufen, das 2012 zum
fünften Mal stattfand. Dort werden aktuelle Themen der Klinischen Psychologie aus
Forschungs- und Praxisperspektive im Rahmen von Vorträgen einer breiten Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht.
Durch die enge Verknüpfung der verschiedenen Einrichtungen der ChristophDornier-Stiftung für Klinische Psychologie und der damit verbundenen Synergieeffekte bieten die Einrichtungen eine Plattform für Forschung und Lehre auf internationalem Niveau.
Publikationen
Emmrich, A., Beesdo-Baum, K., Gloster, A. T., Knappe, S., Höfler, M., Arolt, V. et al.
(2012). Depression does not affect the treatment outcome of CBT for panic and
agoraphobia: Results from a multicenter randomized trial. Psychotherapy and
Psychosomatics, 81, 161-172.
Gloster, A.T., Wittchen, H.-U., Einsle, F., Höfler, M., Lang, T., Helbig-Lang, S. et al.
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European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience, 259, 155-166.
Gloster, A.T., Wittchen, H.-U., Einsle, F., Lang, T., Helbig-Lang, S., Fydrich, T. et al.
(2011). Psychological treatment for panic disorder with agoraphobia: A
randomized controlled trial to examine the role of therapist-guided exposure in
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Helbig-Lang, S., Cammin, S. & Petermann, F. (2011). Angstbezogene Verhaltenswei319
Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie
sen in einer nicht-klinischen Stichprobe: Geschlechtsspezifische Zusammenhänge
zu Risikofaktoren für Angststörungen. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und
Psychotherapie, 59, 145-154.
Helbig-Lang, S., Hagestedt, D., Lang, T. & Petermann, F. (2012). Therapeutische
Hausaufgaben in der klinischen Praxis: Einsatz, Erledigung und Beziehungen zum
Therapieverlauf. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 60,
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Helbig-Lang, S., Lang, T., Petermann, F. & Hoyer, J.(2012). Anticipatory anxiety as a
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Helbig-Lang, S. & Petermann, F. (2009). Gibt es die Panikstörung im Kindesalter?
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Helbig-Lang, S. & Petermann, F. (2009). Innovative Ansätze in der klinischen Angstdiagnostik. Verhaltenstherapie, 19, 145-151.
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320
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321
Masterstudiengang: Klinische Psychologie
3
Masterstudiengang: Klinische Psychologie (Master of
Science)
3.1
Organisation
Hochschullehrer
Prof. Dr. Franz Petermann
Prof. Dr. Ute Koglin
Prof. Dr. Ulrike Petermann
Prof. Dr. Hans-Christian Waldmann
N.N. Professur für Klinische Psychologie des
Erwachsenenalters
PD Dr. Peter Büttner
PD Dr. Monika Daseking
PD Dr. Axel Kobelt
PD Dr. Christiane Lange-Küttner
PD Dr. Meinolf Noeker
Eckdaten
Fachwissenschaftliche Zuordnung: Psychologie
Regelstudienzeit: 4 Semester
Anzahl der ECTS-Credits: 120
Studiengebühren: keine
Studienform: Vollzeit
3.2
Module
Pflichtbereich
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Grundlagen der Klinischen Psychologie
Statistik und Forschungsmethoden
Klinische Diagnostik
Spezielle Grundlagen der Klinischen Psychologie: Biologische und Entwicklungspsychologie
Klinische Neuropsychologie
Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters I: Störungen und Modelle
Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters II: Anwendungen
Wahlpflichtmodul: Gesundheitspsychologie / Klinische Psychologie des Erwachsenenalters / Rehabilitationspsychologie
Praktikum
Master-Arbeit
323
Masterstudiengang: Klinische Psychologie
Wahlpflichtbereich
Das Modul 8 ist ein Wahlpflichtmodul, das eine freie Setzung des dritten Studienschwerpunkts ermöglicht. Ausgewählt können zwei von drei Vertiefungsschwerpunkten aus den Anwendungsbereichen Gesundheitspsychologie, Klinische Psychologie des Erwachsenenalters und Rehabilitationspsychologie.
3.3
Ziele
Die Klinische Psychologie stellt seit Jahrzehnten das größte und wichtigste Anwendungsgebiet der Psychologie dar. Sie beschäftigt sich in ihrem Schwerpunkt mit psychosozialen Problemen, Auffälligkeiten und Störungen des Menschen über die gesamte Lebensspanne hinweg. Darüber hinaus befasst sich die Klinische Psychologie
auch mit den psychischen Aspekten körperlicher Erkrankungen und den Folgen besonderer Belastungen und Krisen, die zu Anpassungsproblemen und psychischen
Schwierigkeiten führen können.
Psychische Probleme sind in allen Alters- und Gesellschaftsgruppen weit verbreitet.
Laut Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählen psychische Störungen, wie zum Beispiel Depressionen, Alkoholmissbrauch, Schizophrenie oder
Angststörungen, weltweit zu den häufigsten und schwerwiegendsten Ursachen für
ein Leben mit alltäglichen Beeinträchtigungen. Die individuelle und gesellschaftliche
Bedeutung vieler psychischer Störungen ist dabei größer als die verschiedener
schwerer körperlicher Erkrankungen, Verletzungen oder Unfälle. Auch unter Kindern und Jugendlichen haben unterschiedliche Auffälligkeiten und Probleme, wie
etwa aggressives Verhalten, ADHS, Suizidalität oder Drogenkonsum zunehmend an
öffentlichem Interesse und Bedeutung gewonnen.
Berufliche Perspektiven: Tätigkeitsfelder Klinischer Psychologinnen und
Psychologen
Die Mehrheit aller Diplom-Psychologinnen und -Psychologen in Deutschland arbeitet in einem klinischen Berufsfeld. Das Berufsfeld beinhaltet eine große Bandbreite
möglicher Tätigkeiten, denen die Beschäftigung mit psychischen Störungen, ihren
Folgen oder ihrer Verhütung gemeinsam ist. Der Master „Klinische Psychologie“
qualifiziert damit zum einen für Tätigkeiten in der Forschung an Universitäten sowie
außeruniversitären Einrichtungen (z.B. Max-Planck-Institute, Helmholtz-Institute,
Leibniz-Institute) und insbesondere zur beruflichen Weiterqualifikation (Promotion).
Zum anderen bestehen mit dem Abschluss des Masters zahlreiche Möglichkeiten
für eine selbständige oder angestellte Tätigkeit. Darüber hinaus bildet „eine im Inland an einer Universität oder gleichstehender Hochschule bestandene Abschlussprüfung im Studiengang Psychologie, die das Fach Klinische Psychologie einschließt
324
Masterstudiengang: Klinische Psychologie
[…]" (§ 5 des PsychThG) die Voraussetzung für den Zugang zu einer Ausbildung zum
Psychologischen Psychotherapeuten. Dies bedeutet, dass der Studienabschluss die
Klinische Psychologie als den Schwerpunkt ausweisen muss, damit die gesetzlichen
Zulassungsvoraussetzungen erfüllt sind.
Das 1999 in Kraft getretene „Psychotherapeutengesetz“ (PsychThG) bildet die
Grundlage für die Integration nicht-ärztlicher Psychotherapeuten in die vertragsärztliche psycho-therapeutische Versorgung. Hierdurch wurde neben dem medizinischen ein zweiter, gleichberechtigter Heilberuf geschaffen. Nach dem PsychThG ist
die Berufsbezeichnung Psychologischer Psychotherapeut geschützt und darf nur von
Diplom-Psychologen bzw. mit einem Master im Fach Psychologie nach einer umfassenden fachlichen Weiterbildung geführt werden. Psychologen mit diesen Abschlüssen können sich nach dem Studium in einem wissenschaftlich anerkannten Verfahren zum „Psychologischen Psychotherapeuten“ oder „Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten“ weiterbilden. Dies berechtigt sie zur selbständigen Ausübung heilkundlicher Psychotherapie und ist Voraussetzung zur kassenärztlichen Abrechnung
entsprechend dem Niederlassungsgesetz.
3.4
Konzept
Das Studium im Master of Science „Klinische Psychologie“ ist in drei thematische
Blöcke mit insgesamt zehn Modulen unterteilt:
•
Grundlagenveranstaltungen: Grundlagen der Klinischen Psychologie, Forschungsmethodik und Diagnostik (Module 1-4)
• Anwendungsbezogene Veranstaltungen: Störungsbezogenes Wissen, Prävention, Intervention und Rehabilitation bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Module 5-8)
• Praxisbezug: Praktikum und Masterabschlussarbeit (Module 9 und 10)
Das Studium dieser Module erfordert explizite Vorkenntnisse in der Klinischen Psychologie und/oder Klinischen Kinderpsychologie, die in einem Bachelor-Studium der
Psychologie erworben werden müssen (im Umfang von 15 CP). So sollten die grundlegenden Methoden der psychologischen Diagnostik exemplarisch bekannt sein (z.
B. Exploration, Anamnese, Gesprächsführung, Befunderstellung). Der Umgang mit
klinisch-diagnostischen Instrumenten (wie z. B. Interviews, Fragebögen, psychometrische Tests) sollte erlernt sein und Kenntnisse der aktuellen Klassifikationssysteme
psychischer Störungen (zurzeit ICD-10, DSM-IV-TR) vorliegen.
325
Masterstudiengang: Klinische Psychologie
3.5
Erreichung der Studiengangsziele
Der Studiengang widmet sich in zwei Unterrichtssäulen:
•
den allgemeinen Grundlagen und Methoden sowie der Diagnostik in der Klinischen Psychologie und
• den Anwendungsgebieten mit dem Schwerpunkt „Klinische Kinderpsychologie“
Durch die umfangreichen Forschungsprojekte und -felder und der räumlichen Nähe
der o.a. Kooperationspartner ist ein enger und direkter Bezug zu aktuellen wissenschaftlichen Inhalten und therapeutischen Praktiken gegeben. Dabei findet auch
eine direkte Betreuung der frühen Praxisphasen im Masterstudiengang durch die
Verzahnung der Mitarbeiter der Kooperationseinrichtungen mit dem Lehrstuhl
statt.
3.6
Lernziele, Modularisierung, ECTS
Modularisierung. Der Studiengang ist vollständig modularisiert. Die Module sind
mehrheitlich über ein Studiensemester angelegt und widmen sich abgeschlossenen
Themengebieten und Inhalten. Es wird empfohlen, die Module in der vorgesehenen
zeitlichen Reihenfolge zu studieren, da die erlernten Fähigkeiten und Kompetenzen
(z.B. in den Grundlagenmodulen) das Studium der anwendungsorientierten klinischen Module wesentlich erleichtern. Die Grundlagenmodule überlappen sich zum
Teil im 2. Fachsemester mit den dort beginnenden anwendungsbezogenen Modulen, so dass Querbezüge zwischen den Modulen hergestellt werden können und
eine multidisziplinäre Sicht- und Arbeitsweise gefördert wird.
Neben den Pflichtmodulen bietet der Master ein Wahlpflichtmodul (Modul 8) in
dem die Studierenden zwei weitere Anwendungsschwerpunkte neben der Klinischen Psychologie im Kindes- und Jugendalter vertiefen können. Dabei stehen die
Module „Gesundheitspsychologie“, „Klinische Psychologie des Erwachsenenalters“
sowie „Rehabilitation“ als wesentliche Anwendungsgebiete der Klinischen Psychologie zur Auswahl. Damit besteht die Möglichkeit, eine breite Qualifikation im Bereich Klinischer Psychologie zu erwerben, die gute Voraussetzungen für eine spätere
Tätigkeit in vielfältigen Berufsfeldern bietet. Aus den beschriebenen Aufgaben der
Klinischen Psychologie ergibt sich, dass im Studium der Klinischen Psychologie verschiedene Inhalte bearbeitet werden. Dazu gehören der Erwerb theoretischer
Grundlagen und die kritische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung, die Beschäftigung mit klinisch-diagnostischen und interventionsbezogenen Basiskompetenzen und praktischen Methoden und die Reflektion der eigenen Rolle in einer möglichen beruflichen Zukunft im Bereich der Klinischen Psychologie.
326
Masterstudiengang: Klinische Psychologie
Praxisbezogene Kompetenzen und Methoden umfassen grundlegende Aspekte, wie
den Einsatz und die Auswertung diagnostischer Instrumente, die Anwendung klinisch-psychologischer Basisinterventionen sowie die Planung und Durchführung von
Evaluations- vorhaben. Für die Beschäftigung mit entsprechenden Methoden und
Basiskompetenzen eignen sich v. a. feste Lerngruppen, die möglichst früh im Rahmen des Studiums etabliert werden sollen oder praxisbezogene Seminare, in denen
verstärkt praktische und interaktive Lernformen, wie Rollenspiele verwirklicht werden können. Bei der Durchführung kleinerer, klinisch-psychologischer Forschungsvorhaben kann zudem eine vertiefte Auseinandersetzung mit Forschungsmethoden
in der klinischen Praxis erfolgen.
Schwerpunkt Klinische Kinderpsychologie und -psychotherapie. Einen besonderen
Schwerpunkt in Forschung und Lehre am Studiengang Psychologie der Universität
Bremen stellt die Klinische Kinderpsychologie und -psychotherapie dar (vertreten
durch Frau Prof. Dr. U. Petermann). Das gegebene Studienangebot und seine spezielle Ausrichtung bieten die Möglichkeit, sich vertiefte Kompetenzen in diesem
Bereich und besondere Voraussetzungen für eine entsprechende spätere Berufstätigkeit anzueignen. Der Schwerpunkt Klinische Kinderpsychologie ist interdisziplinär
ausgerichtet, verhaltenstherapeutisch orientiert und den aktuellen Befunden der
wissenschaftlichen Forschung verpflichtet. An der Schnittstelle zwischen Entwicklungspsychologie und Klinischer Psychologie finden sich unter anderem Forschungsund Lehrinhalte in den verschiedenen Anwendungsbereichen Prävention und Gesundheitsförderung (z.B. Prävention von Verhaltensstörungen im Kindergarten und
in der Schule), Kinderpsychotherapie (z.B. Training mit aggressiven Kinder, Training
mit sozial unsicheren Kindern, Training mit Jugendlichen) und Kinderrehabilitation
(z.B. eltern- und kindbezogene Beratungs- und Trainingsangebote bei Diabetes,
Asthma oder Übergewicht und im Bereich Entwicklungsstörungen).
3.7
Lernkontext
Lehr- und Lernformen, die im Studium zum Einsatz kommen, sind vielfältig, um dem
Anspruch gerecht zu werden, umfassendes Theoriewissen zu vermitteln und ebenso
Handlungskompetenz - vor dem Hintergrund der übergeordneten Zielsetzung einer
Verbindung von Theorie, Methodik und Anwendungsbezug. Insofern finden sich in
den einzelnen Modulen u.a. von den Lehrenden gehaltene Vorlesungen, von den
Studierenden mit eigenen Beiträgen gestaltete Seminare, selbstständiges Erarbeiten fachlicher Inhalte im Selbststudium unter begleitender Beratung durch die Lehrenden oder das Arbeiten in Teams z.B. im Rahmen von Projektarbeiten.
327
Masterstudiengang: Klinische Psychologie
3.8
Exemplarische Modulbeschreibung
Modul 1
Modulbezeichnung
Modulverantwortlicher
Dazugehörige Lehrveranstaltungen, Veranstaltungsformen
und SWS
Pflicht/ Wahlpflicht
Zuordnung zum Studienprogramm
Dauer/Lage des Moduls
Arbeitsaufwand (workload) /
Berechnung der Kreditpunkte
Grundlagen der Klinischen Psychologie (GL 1) 9 CP
Prof Dr. Franz Petermann
Grundlagen der Klinischen Psychologie, 2 SWS, Vorlesung
Perspektiven der Klinischen Psychologie, 3 SWS, Seminar
Pflichtmodul
MSc. Psychologie
Einsemestriges Modul im 1. Fachsemester
Vorlesung
1. Sem
3 CP
Präsenzzeit (14 x 2 SWS): 28 Arbeitsstunden
Vor- und Nachbereitung: 30 Arbeitsstunden
Erstellung und Ergänzung Wissensspeicher: 32 Arbeitsstunden
gesamt: 90 Arbeitsstunden
Seminar
1. Sem. 5 CP
Präsenzzeit (14 x 3 SWS): 42 Arbeitsstunden
Übungen in Kleingruppen: 50 Arbeitsstunden
Kurzreferat: 30 Arbeitsstunden
Selbststudium: 28 Arbeitsstunden
gesamt: 180 Arbeitsstunden
Prüfungsvorbereitung
1 CP: 30 Arbeitsstunden
Zusammen
9 CP
270 Arbeitsstunden
Voraussetzungen
Zulassung zum Studiengang MSc. Psychologie
Häufigkeit
Jährlich zum Wintersemester
Sprache
Deutsch und Englisch
Lernziele/Kompetenzen (Learning Outcome)
• Definitionen von (psychischer) Gesundheit und Krankheit
• Faktoren des allgemeinen Diathese-Stress-Modells psychischer Störungen, inklusive
genetischer Faktoren, biochemischer und neuropsychologischer Abläufe, sozialpsychologischer Faktoren, intrapsychischer Unterschiede sowie individueller Lernerfahrungen
• Wichtige Ätiologiemodelle der Klinischen Psychologie
• Klassifikationsansätze für psychische Störungen
• Systematik und Ansatzpunkte psychologischer Interventionen in den Bereichen Prävention, Therapie und Rehabilitation
• Weitere Anwendungsfelder der Klinischen Psychologie
Inhalte
Vgl. Beschreibung der Lehrveranstaltungen
Prüfungsleistungen
Klausur
328
Doktorandenkolleg Klinische Kinderpsychologie
4
Doktorandenkolleg: Klinische Kinderpsychologie
(2006 - 2011)
4.1
Allgemeine Angaben
Sprecher
Prof. Dr. Franz Petermann
Kollegkoordination
Prof. Dr. Ute Koglin (bis 31.10.2010)
Dr. Anne Toussaint (seit 01.11.2010)
Laufzeit
01.09.2006 - 31.03.2011
StipendiatInnen
Julia Danielsson, Linda Pauline Fröhlich, Johanna Helmsen, Julia Kastner, Christine
Ortbandt, Stefan Rücker, Lars Tischler, Jan Witthöft
4.2
Hintergrund
Das Doktorandenkolleg „Klinische Kinderpsychologie“ wurde im September 2006
am Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) der Universität
Bremen initiiert. Das Forschungsprogramm des Doktorandenkollegs „Klinische Kinderpsychologie“ beinhaltet Themenstellungen aus den beiden Schwerpunkten
•
•
Entwicklungs- und Intelligenzdiagnostik sowie
Diagnostik und Intervention bei Verhaltensstörungen.
Diese Bereiche stellen auch die Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte des Zentrums
für Klinische Psychologie und Rehabilitation (ZKPR) dar. Innerhalb des Kollegs konnten acht Doktorandenstipendien vergeben werden. Im Laufe der Jahre gab es innerhalb des Kollegs einige personelle Änderungen sowohl auf Seiten der StipendiatInnen als auch auf bei der Kollegkoordination (vgl. Tab. 2). Frau Dr. Ute Koglin trat
im Juni 2007 die Nachfolge von Frau Dr. Judith Barmer als Kollegkoordinatorin an.
329
Doktorandenkolleg Klinische Kinderpsychologie
4.3
Forschungsprogramm des Doktorandenkollegs
Die Klinische Kinderpsychologie entstand als Teildisziplin der Psychologie an der
Schnittstelle zwischen Klinischer Psychologie und Entwicklungspsychologie. In Abgrenzung zur Entwicklungspsychologie, die sich mit der normalen Entwicklung von
Kindern und Jugendlichen beschäftigt, untersucht die Klinische Kinderpsychologie
die Entstehung und Auswirkungen von psychischen Störungen.
Die Fragestellungen aus dem Bereich der Klinischen Kinderpsychologie nehmen Bezug auf die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche in ihrem Entwicklungsverlauf altersspezifische Aufgaben und Anforderungen bewältigen müssen und zudem von
ihren erwachsenen Bezugspersonen abhängig sind. Aus diesen Konstellationen ergeben sich spezifische Fragestellungen, mit denen sich die Klinische Psychologie des
Erwachsenenalters nicht auseinandersetzen muss. Im Folgenden werden einige Fragestellungen beispielhaft aufgelistet.
•
•
•
•
Welche Merkmale bilden Frühindikatoren für psychische Störungen und wie
früh kann man solche „Vorläufer“ zuverlässig bestimmen?
Welche entwicklungs- bzw. altersbedingten Vulnerabilitäten kennzeichnen
die frühe Entwicklung eines Kindes und aufgrund welcher Mechanismen treten Entwicklungsabweichungen auf?
Von welchen Bedingungen hängt die psychische Widerstandsfähigkeit eines
Kindes im Kontext der Alltags-, Krankheits- und Krisenbewältigung ab?
Welche Faktoren bestimmen das Belastungsempfinden und die Bewältigungskompetenz eines Kindes und wie wird dies durch familiäre Prozesse
moderiert?
Diese und ähnliche Fragestellungen wurden im Rahmen des Kollegs spezifiziert und
bearbeitet. Die Klinische Kinderpsychologie wendet sich gemeinsam mit ihren
Nachbardisziplinen vor allem der Ätiologieforschung, der Diagnostik und der Intervention zu. Für die Anwendungsgebiete lassen sich die folgenden Bereiche unterscheiden:
•
•
•
•
•
Prävention und Gesundheitsförderung im Kindesalter
Klinische Kinderneuropsychologie
Pädiatrische Psychologie
Kinderpsychotherapie
Kinderrehabilitation
Den StipendiatInnen wurde eine theoretische und empirische Fundierung ihrer Arbeit auf Basis dieser Schwerpunkte ermöglicht, wobei gleichzeitig ein Praxisbezug
hergestellt wurde. Durch den Praxistransfer hatten die StipendiatInnen die Möglichkeit, Fertigkeiten und Kompetenzen zur diagnostischen oder therapeutischen
Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aufzubauen. Hierzu wurde den StipendiatInnen
je nach inhaltlicher Ausrichtung die Möglichkeit zur aktiven Mitarbeit oder Hospita330
Doktorandenkolleg Klinische Kinderpsychologie
tion in der Klinischen Kinderambulanz, der Hochschulambulanz für Forschung und
Lehre oder an anderen Kliniken eingeräumt.
Durch die Ausgestaltung des Studienprogramms sollten die StipendiatInnen zum
selbstständigen wissenschaftlichen Arbeiten geführt werden. Es wurden Fertigkeiten und Kompetenzen vermittelt, die von praktischen Herangehensweisen bei der
Organisation eines Forschungsprojekts (z. B. Bahnung von Kooperationen, Stichprobenrekrutierung) bis hin zur wissenschaftlichen Publikation führten. Die StipendiatInnen wurden dabei unterstützt, eine unabhängige Einschätzung wissenschaftlicher
Befunde zu erlangen und diese kritisch zu diskutieren.
4.4
Studienprogramm des Kollegs
Nachdem vor allem in der Anfangsphase des Kollegs einige personelle Veränderungen stattfanden, im Zuge derer einige freie Stellen später neu besetzt wurden, wiesen die StipendiatInnen nicht zu jedem Zeitpunkt den gleichen Wissens- und Forschungsstand auf. Die Studienangebote wurden daher in einem flexiblen Baukastensystem angeboten, indem zum Teil verbindliche, aber auch individuell zugeschnittene Pflicht- oder Wahlveranstaltungen angeboten wurden. Auch die inhaltliche Ausgestaltung der einzelnen Fragestellungen veränderte sich durch die Rückmeldungen der StipendiatInnen sowie durch aktuelle Anforderungen der Forschungsvorhaben im Laufe der Zeit. Es konnten alle StipendiatInnen des Kollegs ihre
Forschungsprojekte erfolgreich abschließen und ihre Dissertationen fertig stellen.
Die Promotionsverfahren sind bis auf eine Ausnahme abgeschlossen. Auch die Kollegkoordinatorin Frau Prof. Dr. Ute Koglin wurde Ende 2011 im FB 11 habilitiert.
Die StipendiatInnen wurden nach der inhaltlichen Ausrichtung ihrer Arbeit verschiedenen Arbeitsgruppen des ZKPR zugeordnet. Dadurch wurde gewährleistet,
dass ein regelmäßiger und intensiver Austausch zwischen Wissenschaftlern mit ähnlichen Fragestellungen stattfand. Die Arbeitsgruppen wurden angeleitet durch
• Gruppe A: Frau Prof. Dr. Ulrike Petermann: Klinische Kinderpsychologie
• Gruppe B: Frau PD Dr. Monika Daseking: Testentwicklung
• Gruppe C: Frau Dr. Ute Koglin: Prävention und Verhaltenstrainings
Die Doktoranden nahmen an Methoden- und Statistikfortbildungen von Herrn Prof.
Dr. H.-C. Waldmann teil, die sie befähigen, selbstständig und korrekt mit Daten umzugehen; dazu gehörten die Themen Datenkodierung, Datenbanken, Umgang mit
Missing Values in Datensätzen sowie explorative Datenanalyse mit SPSS. Damit
wurden Grundalgen abgedeckt, die notwendige Voraussetzung für die Datenaufbereitung und erste Auswertungen sind und die Datenqualität entscheidend beeinflussen. Individuell wurde für drei StipendiatInnen die Gelegenheit zur praktischen
Tätigkeit unter Anleitung und Hospitation in kooperierenden Einrichtungen ermög331
Doktorandenkolleg Klinische Kinderpsychologie
licht. Zudem wurden die StipendiatInnen dabei unterstützt, Publikationen anzufertigen. Dazu wurden sie in Publikationen der Lehrstuhlinhaber einbezogen oder es
wurden erste Publikationen zum Dissertationsthema angefertigt. Es fand ein individuelles Coaching durch Prof. Dr. Franz Petermann statt. Es wurde zudem eine Vernetzung der Forschungsschwerpunkte der StipendiatInnen mit dem Diplomstudiengang Psychologie angestrebt. Dazu wurden Studenten aus dem Hauptstudium eingebunden, die auf diese Weise die Möglichkeit bekamen, ihre Diplomarbeiten durch
die Bearbeitung aktueller Fragestellungen zu verfassen. Die Diplomarbeiten wurden
von den StipendiatInnen in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Arbeitsgruppenleitern betreut.
4.5
Dissertationsthemen der StipendiatInnen
Tabelle 1 führt die die Dissertationsthemen der einzelnen StipendiatInnen auf.
Tabelle 1: StipendiatInnen und Thema der Dissertation.
StipendiatInnen
Danielsson, Julia
Fröhlich, Linda Paulina
Helmsen, Johanna
Kastner, Julia
Thema
Klinische Validierungsstudie einer neuropsychologischen Testbatterie bei Kindern mit Rolando-Epilepsie
im Kindergarten- und Grundschulalter
Sprachentwicklungsrisiken und Förderung bei Vorschulkindern
Einfluss emotionaler und sozial-kognitiver Prozesse auf
das aggressive Verhalten bei Kindern im Kindergartenalter
Entwicklungsbedingte Koordinationsstörungen: Eine
Kohorten-Vergleichsstudie zum Ausmaß kognitiver und
psychosozialer Beeinträchtigungen
Möller (geb. Ortbandt), Überprüfung der Wirksamkeit des „Trainings mit sozial
Christine
unsicheren Kindern“
Rücker, Stefan
Tischler, Lars
Witthöft, Jan
Konzept und Durchführung einer Katamnese-Studie
zum Verlauf erzieherischer Hilfen nach KJHG
Evaluation des Gruppentrainings „ATTENTIONER“ für
Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen
Aggressives Verhalten im Kindes- und Jugendalter
Publikationen
Büttner, P., Rücker, S., Petermann, U. & Petermann, F. (2010). Anschlusshilfen als
332
Doktorandenkolleg Klinische Kinderpsychologie
Parameter für die Wirksamkeit teilstationärer Jugendhilfe-Maßnahmen: Eine
Vergleichsstudie. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 37, 551-557.
Büttner, P., Rücker, S., Petermann, U. & Petermann, F. (2011). Jugendhilfe und Therapie: Effekte aus kombinierten Maßnahmen in der Gegenüberstellung mit Hilfen
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Doktorandenkolleg Klinische Kinderpsychologie
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der Klinischen Kinderpsychologie (6., vollst. veränd. Aufl., S. 81-98). Göttingen:
Hogrefe.
Koglin, U. & Petermann, F. (2008). Vorläufersyndrome von Suchtstörungen. In M.
Klein (Hrsg.), Kinder und Suchtgefahren (S. 61-71). Stuttgart: Schattauer.
Koglin, U. & Petermann, F. (2009). Psychopathic Personality Inventory-Revised (PPIR). Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 57, 137-139.
Koglin, U. & Petermann, F. (2011). The effectiveness of the behavioural training for
preschool children. European Early Childhood Education Research Journal, 19, 97111.
Koglin, U., Petermann, F. & Petermann, U. (2010). Entwicklungsbeobachtung und dokumentation EBD 48-72 Monate. Eine Arbeitshilfe für pädagogische Fachkräfte
in Kindergärten und Kindertagesstätten. Berlin: Cornelsen Scriptor.
Koglin, U., Witthöft, J. & Petermann, F. (2009). Gewalthaltige Computerspiele und
aggressives Verhalten im Jugendalter. Psychologische Rundschau, 60, 163-172.
Metz, D., Fröhlich, L.P., Rißling, J.-K. & Petermann, F. (2011). Kurz- und Langzeiteffekte einer Förderung der phonologischen Bewusstheit bei Schulanfängern. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 59, 65-72.
Möller, C. & Petermann, U. (2011). Kurz- und langfristige Effekte des Trainings mit
sozial unsicheren Kindern. Verhaltenstherapie, 21, 15-22.
Ortbandt, C. & Petermann, U. (2009). Effekte des Trainings mit sozial unsicheren
Kindern. Kindheit und Entwicklung, 18, 21-29.
Petermann, F., Fröhlich, L.P., Metz, D. & Koglin, U. (2009). Elternbasierte Sprachförderung im Vorschulalter. Das Lobo-Programm. Göttingen: Hogrefe.
Petermann, F., Fröhlich, L.P., Metz, D. & Koglin, U. (2009). Für Drachen-Freunde.
Materialien zum Lobo-Programm „Elternbasierte Sprachförderung im Vorschulalter“. Göttingen: Hogrefe.
Petermann, F., Helmsen, J. & Koglin, U. (2010). Expansive Verhaltensstörungen.
Monatsschrift Kinderheilkunde, 158, 22-27.
Rücker, S., Petermann, U., Büttner, P. & Petermann, F. (2010). Ambulante und teilstationäre Jugendhilfe-Maßnahmen: Aussagen zur langfristigen Wirksamkeit.
Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 38, 429-437.
Rücker, S., Petermann, U., Büttner, P. & Petermann, F. (2010). Differentielle Wirksamkeit der Jugendhilfe: traditionelle und zerbrochene Familien im Vergleich.
335
Doktorandenkolleg Klinische Kinderpsychologie
Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 59, 253-265.
Tischler, L., Karpinski, N. & Petermann, F (2011). Evaluation des neuropsychologischen Gruppenprogramms ATTENTIONER zur Aufmerksamkeitstherapie bei Kindern und Jugendlichen. Zeitschrift für Neuropsychologie, 22, Vol. 2.
Tischler, L., Schmidt, S., Petermann, F. & Koglin, U. (2010). ADHS im Jugendalter.
Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 58, 23-34.
Witthöft, J., Koglin, U. & Petermann, F. (2010). Zur Komorbidität von aggressivem
Verhalten und ADHS. Kindheit und Entwicklung, 19, 218-227.
Witthöft, J., Koglin, U. & Petermann, F. (2011). Neuropsychologische Korrelate aggressiv-dissozialen Verhaltens. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 59, 11-23.
336
Doktorandenkolleg Klinische Psychologie
5
Doktorandenkolleg: Klinische Psychologie (2012-2016)
5.1
Allgemeine Angaben
Sprecher
Prof. Dr. Franz Petermann
Kollegkoordination
N.N.
Laufzeit
01.07.2012 - 31.03.2016
StipendiatInnen
Lobeck, Annette, Kullik, Angelika, Korsch, Franziska, Pauls, Franz, Piegza, Magdalena, Theiling, Johanna, Walter, Franziska, Weber, Hanna, Göbber, Julia
5.2
Ziele, Konzepte und Methodik
Aufgrund der inhaltlichen Erweiterung findet die zweite Förderperiode des Doktorandenkollegs unter dem Titel „Klinische Psychologie“ statt. Unter diesem Titel lassen sich Forschungsthemen von hoher gesellschaftlicher Relevanz zusammenfassen.
Die meisten psychischen Störungen des Erwachsenenalters haben ihren Ursprung
im Kindes- und Jugendalter, wobei die Auftretensraten von Verhaltens- und Leistungsstörungen in dieser Altersgruppe besorgniserregend hoch sind. Da dennoch
bislang nur relativ wenig darüber bekannt ist, welche Faktoren dazu beitragen, dass
ein Kind einen fehlangepassten Entwicklungsweg einschlägt. Als zentrale Risikofaktoren gelten sozial- und migrationsbedingte Benachteiligungen. Innerhalb der Bremer Interventionsstudie sollen die Effekte vorschulischer Interventionsmaßnahmen
auf soziale und kognitive Entwicklungsprozesse von Kindern anhand einer umfangreichen Datenbasis im Längsschnitt untersucht werden. Da Risikofaktoren und entsprechend auch Interventionsmaßnahmen abhängig vom Alter bzw. Entwicklungsstand eines Kindes unterschiedliche Wirkungen entfalten können, wird durch eine
längsschnittliche Untersuchung die Zeit als zusätzlicher Faktor mit erfasst.
Auch für den Erwachsenenbereich werden die Themen der sozialen und Ungleichheit und die Migrationsproblematik aufgegriffen. Im Rahmen der Raheforschung
337
Doktorandenkolleg Klinische Psychologie
werden dabei vor allem kulturelle und soziale Einflüssen bei psychischen Störungen
sowie die kultursensible Versorgung von Migranten/innen mit psychischen Störungen untersucht. Ein zweiter Schwerpunkt soll in der Entwicklung eines Beschwerdevalidierungstests liegen. Tests dieser Art werden in der psychiatrischen Begutachtung häufig eingesetzt, werden aber immer noch kritisch diskutiert. Die Tests können ein suboptimales Leistungsverhalten und eine negative Antwortverzerrung feststellen, erlauben aber keine Unterscheidung zwischen bewusster Simulation bzw.
Aggravation und unbewussten Symptomen wie sie bei der somatoformen Störung
vorkommen.
Dem Kolleg werden daher zwei StipendiatInnen aus dem Bereich der Rehabilitationspsychologie angegliedert. Als PromotionsstipendiatInnen der Deutschen Rentenversicherung Hannover-Braunschweig werden sie inhaltlich von Herrn Prof. Dr.
Axel Kobelt betreut und angeleitet, der sich schwerpunktmäßig mit der Effektivität
psychosomatischer Rehabilitation und sozialer Ungleichheit, der Flexibilisierung
psychosomatischer Rehabilitation, der medizinisch-beruflichen Rehabilitation, der
psychosomatischen Nachsorge und dem Fallmanagement, der Reintegration von
Menschen mit einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund psychischer
Krankheiten und der Beschwerdevalidierung beschäftigt. Entsprechend leitet er
folgende Projekte:
•
•
•
•
•
•
Verbesserung der Erwerbsprognose durch gezielte medizinisch-berufliche
Rehabilitation in der Psychosomatik
Flexibilisierung psychosomatischer Rehabilitation mit Fallmanagement für
Versicherte mit negativer Erwerbsprognose
Migranten in der psychosomatischen Rehabilitation
Evaluation eines Fallmanagements im Rahmen psychosomatischer Nachsorge
Telefonische Nachsorge
Beschwerdevalidierung im Rehaantragsverfahren
Die Teilnehmer/innen des Kollegs werden entweder Doktorandenstipendien erhalten oder als wissenschaftliche Mitarbeiter/innen (50% Beschäftigung) am ZKPR angestellt werden. Die Stipendien und Stellen sollen zwischen April und Juli 2011 besetzt werden. Von den zukünftigen Promovierenden wird erwartet, dass sie sich im
Rahmen des Doktorandenkollegs „Klinische Psychologie“ wissenschaftlich weiterqualifizieren.
5.3
Themenschwerpunkte
Tabelle 1 gibt einen Überblick über die StidpendiatInnen und Themenbereiche der
zweiten Förderphase.
338
Doktorandenkolleg Klinische Psychologie
Tabelle 1: StipendiatInnen und Thema der Dissertation.
StipendiatInnen
Themenschwerpunkt
Lobeck, Annette
Kullik, Angelika
Korsch, Franziska
Pauls, Franz
Prävention im Kindesalter
Förderung von benachteiligten Kindern
Entwicklungsauffälligkeiten bei Schulanfängern
Gedächtnis im Erwachsenenalter
Evaluation des Fallmanagements nach psychosomatischer Rehabilitation
Intelligenzdiagnostik
Beschwerdevalidierung
Assessment in der Jugendhilfe
Migration und Gesundheit
Piegza, Magdalena
Theiling, Johanna
Walter, Franziska
Weber, Hanna
Göbber, Julia
5.4
Studienprogramm
Die ersten beiden Semester dienen als Eingangs- und Einarbeitungsphase. Es ist eine
intensive Betreuung der Doktoranden durch die Kollegkoordinatorin und ein Betreuungsteam von Experten geplant. Dabei soll der durch die Ausschreibung bekannte thematische Rahmen der Dissertation zu einem inhaltlich und methodisch
sinnvollen sowie zeitlich realisierbaren Versuchsplan spezifiziert werden sowie jeweils ein Exposé zum Forschungsvorhaben erstellt werden, damit die Mitarbeiter/innen vom Promotionsausschuss Dr. rer. nat. als Doktoranden an der Universität
Bremen angenommen werden und sich entsprechend als PromotionsstudentInnen
einschreiben können. Dabei sollen Qualitätsstandards wie das Erarbeiten von Betreuungsvereinbarungen, Zeit- und Entwicklungsplänen und die Berichtspflicht umgesetzt werden, um eine strukturierte Promotionsausbildung zu gewährleisten.
Durch Prof. Dr. H.-C. Waldmann werden auch weiterhin Veranstaltungen zur Methoden- und Statistikkompetenz angeboten werden. Dabei werden Grundlagen
vermittelt, die Voraussetzung für eine selbstständige wissenschaftliche Arbeit und
eigenständige kritische Reflexion von Studienergebnissen sind. Die Doktoranden
erhalten zudem die Möglichkeit, am Online-Teaching teilzunehmen. Es handelt sich
dabei um einen in Deutschland einmaligen Katalog und Zugang zu statistischen Verfahren, der ein selbstgesteuertes und individuelles Lernen ermöglicht
(http://samson.fire.uni-bremen.de/waldmann/courses/index.html). Dabei werden
Kenntnisse in und der Umgang mit innovativer Kommunikationstechnologie gefördert. Zum Online-Teaching wird ebenfalls eine Einführungsveranstaltung für die
StipendiatInnen angeboten. Zusätzlich wird jedem Doktoranden eine individuelle
Methoden- und Statistikbetreuung angeboten.
Neben diesem institutsinternen Programm wird eine intensive Inanspruchnahme
339
Doktorandenkolleg Klinische Psychologie
und Zusammenarbeit mit den an der Universität Bremen bestehenden Angeboten
für Promovierende erwartet. Hierbei werden vor allem die Angebote des Promotionszentrums der Universität Bremen ProUB genutzt. Als Servicestelle macht das
Promotionszentrum diverse Angebote zur Förderung von Promovierenden. Die Teilnehmer/innen des Doktorandenkollegs „Klinische Psychologie“ sollen ermuntert
werden, die entsprechenden Beratungsangebote und das Qualifizierungsprogramm
des Zentrums in Anspruch zu nehmen. Sie erhalten dort eine gute Möglichkeit der
Orientierung zu Promotionsbeginn sowie die Chance sich in Doktorandennetzwerken zu organisieren und interdisziplinär auszutauschen. Im Rahmen des Qualifizierungsprogramms erscheinen vor allem Workshops wie Promotionserfolgsteams
(Peer-to-Peer-Coaching), Promotionsmanagement und Arbeitsstrategien, Wissenschaftliches Arbeiten, Kommunikation und Präsentation aber auch Hochschuldidaktik als viel versprechende Ergänzungen zu dem fachspezifischen Betreuungsangebot
am ZKPR. Zudem sollen auch die speziell für den Fachbereich 11 angebotenen Unterstützungsangebote genutzt werden. Die Doktoranden/innen können sich auf der
Stud.IP-Seite der Universität Bremen für die Veranstaltung [email protected] registrieren und werden dort über aktuelle Angebote informiert. Unter
anderem werden dort Coaching-Sprechstunden für Promotionsinteressierte und
Promovierende des Fachbereichs 11 angeboten, in denen es um Entscheidungs- und
Themenfindung, Projektentwicklung, Entwicklung von Forschungsfragen, Konzept,
Design, Aufbau, kreative Umsetzungsmöglichkeiten, aber auch um Selbstmanagement, Selbstmotivation und Selbstdisziplin, Entspannung und Wohlbefinden, Strategien zum Konfliktmanagement und guter Kommunikation sowie Arbeits- und
Schreibtechniken sowie den Umgang mit Schreibblockaden, Erschöpfung und Burnout geht. Auch in Bezug auf die Vorbereitung auf das Promotionskolloquium und
anschließende Karriereplanungen werden hier Hilfestellungen angeboten.
340
Promotionen und Habilitationen
6
Promotionen und Habilitationen
Von 2005 bis 2012 wurden im ZKPR 45 Promotionen erfolgreich abgeschlossen und
folgende Personen konnten im Berichtszeitraum erfolgreich ihr Habilitationsverfahren abschließen:
PD Dr. Dieter Büttner
Zur Wirkungsforschung in der Jugendhilfe: Positionsbestimmung und empirische
Studien aus der Perspektive der Psychologie
PD Dr. Monika Daseking
Psychologische Diagnostik: Ansätze und Trends der Entwicklungs- und
Intelligenzdiagnostik
PD Dr. Axel Kobelt
Verbesserung der Situation psychisch Kranker durch Maßnahmen der
medizinischen Rehabilitation
PD Dr. Ute Koglin
Aggressives Verhalten im Kindesalter: Aktuelle Forschungstrends und Prävention
PD. Dr. Christiane Lange-Küttner
Objekte, Orte und Raumsysteme in Entwicklung und Lernen
PD Dr. Meinolf Noeker
Funktionelle und somatoforme Störungen im Kindes- und Jugendalter
PD Dr. Matthias Spranger
Neurotoxische und neuroprotektive Faktoren bei ZNS-Läsionen
341
Teil V: Symposien und Kongresse
Teil V:
Symposien und Kongresse
Der Rehabilitationswissenschaftliche Forschungsverbund Niedersachsen/Bremen
veranstaltete von 2005 bis 2009 folgende Symposien zu folgenden Themen:
• „Gesundheitsökonomie und Reha-Ökonomie“ (2005)
• „Medizinische Rehabilitation von Jugendlichen (2006)
• „Neue Ansätze in der psychosomatischen Rehabilitation“ (2009)
Ein Bericht des letztgenannten Symposiums aus dem Jahre 2009 („Neue Ansätze in
der psychosomatischen Rehabilitation“) wird auf den folgenden Seiten abgedruckt.
Unter Mitwirkung des ZKPR (gemeinsam mit der DRV Oldenburg-Bremen und DRV
Bund) wurde zudem das 17. Rehabilitationswissenschaftliche Kolloquium mit dem
Thema „Evidenzbasierte Rehabilitation zwischen Standardisierung und Individualisierung“ vom 03. bis 05.03.2008 mit 1300 Teilnehmern in Bremen realisiert.
Die Krönung der Aktivitäten während dieser Berichtsperiode bildet zweifellos der
47. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie mit 3000 Teilnehmern und
über 2500 Vorträgen/Postern (Kongresspräsident: Prof. Dr. Franz Petermann; Kongressorganisation: Prof. Dr. Franz Petermann, Prof. Dr. Ute Koglin). Auch zu diesem
Kongress findet sich auf den folgenden Seiten ein kurzer Bericht.
343
Symposium des RFNB
1
Symposium des Rehabilitationswissenschaftlichen
Forschungsverbundes Niedersachsen/Bremen (RFNB):
Neue Ansätze in der psychosomatischen
Rehabilitation
1.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Mitarbeiter
Dr. Ulrike de Vries
Kooperationspartner
Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen
Finanzierung
Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen
1.2
Tagungsbericht
Am 4. Dezember 2009 fand das von knapp 90 Teilnehmern besuchte Symposium
zum Thema Neue Ansätze in der psychosomatischen Rehabilitation in Bremen statt.
Neben dem Rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbund Niedersachsen/Bremen (geschäftsführender Sprecher: Prof. Dr. F. Petermann) war die Deutsche Rentenversicherung Oldenburg-Bremen Mitveranstalter. Nach einem Grußwort von Frau Priv. Doz. Dr. Aike Hessel (Deutsche Rentenversicherung OldenburgBremen) und einer Einführung von Herrn Prof. Dr. Petermann wurde in acht Plenarvorträgen die Thematik repräsentativ zur Diskussion gestellt.
Vor dem Hintergrund, dass psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung kontinuierlich zunehmen und Jahre 2020 psychische Störungen die zweithäufigste Ursache
für Arbeitsausfälle sein werden, sind nachhaltige Strategien zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit und des Arbeitsplatzes dringend erforderlich (Petermann & Koch,
2009). Jedoch wird immer noch ein zu geringer Erwerbsbezug in der medizinischen
Rehabilitation bei gleichzeitiger Verbesserung der psychischen und somatischen
345
Symposium des RFNB
Funktionsfähigkeit beklagt. Dr. Axel Kobelt (Deutsche Rentenversicherung Braunschweig-Hannover) stellte in seinem Beitrag „Erwerbsbezug in der psychosomatischen Rehabilitation“ zur Diskussion, ob problematische Patientencluster von der
psychosomatischen Rehabilitation profitieren können und ob sich „sozialmedizinisch problematische“ Patienten dazu motivieren lassen, ihre Erwerbstätigkeit wiederaufzunehmen bzw. ins Erwerbsleben zurückzukehren. Die in Zusammenarbeit
mit der Klinik Am Hasenbach (Clausthal-Zellerfeld) erhobenen Daten von 199 Patienten zeigten, dass eine Verbesserung der psychischen und somatischen Funktionsfähigkeit nicht zu einer verbesserten Arbeitsmotivation führt. Darüber hinaus profitieren sozialmedizinisch problematische Patienten besser als erwartet von einer
psychosomatischen Rehabilitation, haben jedoch bei Entlassung einen hohen Beschwerdedruck. Unklar bleibt, welche nachhaltigen Effekte berufsbezogene Behandlungsprogramme haben. Dem bleibenden Schnittstellenproblem soll in Zukunft
ein individuelles Fallmanagement der Deutschen Rentenversicherung Braunschweig-Hannover entgegengesetzt werden.
Vor dem Hintergrund eines steigenden Anteils von Rehabilitanden mit Migrationshintergrund widmete sich Dr. Wolfgang Pfeiffer (Klinik Am Hasenbach, ClausthalZellerfeld) in seinem Beitrag der psychosomatischen Rehabilitation von Migranten.
Anhand von Daten einer Stichprobe von 625 Patienten der Klinik Am Hasenbach
sollte der Frage nachgegangen werden, ob und in welcher Weise der Migrationshintergrund einen Rehabilitationserfolg beeinträchtigt im Hinblick auf soziodemografische und erwerbsbezogene Merkmale sowie Hemm- und Förderfaktoren. Es zeigten
sich deutliche Unterschiede in den Hemm- (Bildungsstand, erwerbsbezogene Attribute, Rentenbezug) und Förderfaktoren (soziale Unterstützung) zwischen Patienten
mit und ohne Migrationshintergrund. Die Ergebnisse unterstreichen die besonderen
Bedürfnisse dieser Rehabilitanden, etwa im Hinblick auf den Ausbau von genderspezifischen Angeboten, spezifischen psychoedukativen Maßnahmen oder der
verstärkten Nutzung sozialer Ressourcen.
Frau Dina Barghaan (UKE Hamburg Eppendorf) referierte über die Entwicklung von
Therapiestandards in der Rehabilitation von Patienten mit Depression. Es handelt
sich dabei um ein von der DRV Bund gefördertes Projekt. Seit 1998 wird die Entwicklung Reha-Therapiestandards in der medizinischen Rehabilitation massiv gefördert. Es liegen Standards für verschiedene Indikationsbereiche bereits in der Routine bzw. in Pilotphasen vor (z.B. koronare Herzerkrankung, Diabetes mellitus Typ 2,
chronische Rückenschmerzen, Brustkrebs, Alkoholabhängigkeit). Die hier dargestellte Entwicklung der Reha-Therapiestandards Depression folgte einem von der DRV
entwickelten vierstufigen Vorgehen (Literaturanalyse und Formulierung von evidenzbasierten Therapiemodulen (ETM), Analyse des aktuellen Versorgungsgeschehens bezogen auf die ETM anhand von Daten der Klassifikation Therapeutischer
Leistungen (KTL-Analyse), Ausgestaltung einer Pilotversion der RehaTherapiestandards unter Einbezug relevanter Berufsgruppen, medizinischer Fachgesellschaften und Patienten (Expertenkonsensus) sowie Implementierung der Leitli346
Symposium des RFNB
nie im Rahmen einer Pilotphase mit Evaluation der Akzeptanz).
Herr Prof. Dr. Claus Bischoff (AHG Klinik für Psychosomatik, Bad Dürkheim) griff in
seinem Beitrag „Selbstfürsorglich im Alltag: Akzeptanz einer durch elektronisches
Coaching unterstützten Kurzintervention für stationär psychosomatische RehaPatienten mit hoher Verausgabungsbereitschaft“ ein neues Medium in der Nachsorge nach stationärer psychosomatischer Rehabilitation auf. In dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt „Wirksamkeit von
Handheld-gestütztem Selbstmanagement (E-Coaching) in der RehabilitationsNachsorge“ der Deutschen Rentenversicherung wurde die Praktikabilität, Akzeptanz
und Effektivität eines Handheld-Computers analysiert, der den Patienten in seinem
Alltag mehrmals am Tag auffordert, sein Befinden zu überprüfen und gegebenenfalls sein Verhalten zu verändern, um sein Befinden zu verbessern. Grundlegende
Wirkmechanismen dieses Gerätes sind Selbstberuhigung und Handlungsjustierung,
wobei das Angebot keine Ersetzung der herkömmlichen Reha-Nachsorge darstellt
sondern bei den Patienten eingesetzt werden kann, die aus persönlichen oder organisatorischen Gründen nicht an einem herkömmlichen Nachsorgeprogramm teilnehmen können.
Über ein Projekt zur internetgestützten Nachsorge nach psychosomatischer Rehabilitation berichtete im Anschluss Herr Golkaramnay aus der Klinik Alpenblick in Isny.
Das Projekt beinhaltet therapeutisch begleitete Internet-Chatgruppen, in denen sich
die Patienten in halboffenen Gruppen zu festgelegten Terminen unter Moderation
des (ihnen persönlich bekannten) Therapeuten austauschen. Neben der Möglichkeit
eines kontinuierlichen Online-Ergebnismonitorings, das in herkömmlichen Gesprächsgruppen so nicht realisierbar ist, bieten Chatgruppen weitere Vorteile, jedoch auch Grenzen, wie Herr Golkaramnay eindrucksvoll darstellen konnte. Die Akzeptanz dieses Mediums konnte in der vorliegenden Studie als hoch bezeichnet
werden (z.B. geringe Abbrecherquote), gleichfalls zeigten sich auch gegenüber einer
unbehandelten Kontrollgruppe signifikante Verbesserungen in den Bereichen psychische Beeinträchtigung und Depressivität.
Neben der Nachsorge nach psychosomatischer Rehabilitation steht aktuell zur Diskussion, ob und welche Art von Vorbereitungsmaßnahmen sinnvoll sind, um dem
Patienten den Zugang zur stationären psychosomatischen Rehabilitation zu erleichtern und die Effekte der Maßnahme sowohl zu verbessern als auch zu verstetigen
(Best et al., 2009). Frau Meike Lange (Universität Bremen) stellte hierzu in ihrem
Beitrag „Patientenorientierte Vorbereitung auf die psychosomatische Rehabilitation“ eine spezielle Vorbereitungsmaßnahme der Deutschen Rentenversicherung
Oldenburg-Bremen vor, in der Rehabilitanden eine individualisierte Einzelberatung
im Vorfeld ihres stationären Aufenthaltes erhielten. Im Vergleich zur unvorbereiteten Kontrollgruppe zeigten diese Patienten zu Beginn der Maßnahme signifikant
höhere Ausprägungen in den Bereichen Wissen, Motivation und Vertrauen. Die Intervention (Einzelberatung) wird zurzeit manualisiert und nochmals evaluiert.
347
Symposium des RFNB
Einen weiteren innovativen Ansatz auf dem Weg zur optimierten psychosomatischen Rehabilitation stellte Herr Prof. Dr. Manfred Zielke (Universität Mannheim)
und Herr Matthias Gasche (AHG Gesundheitszentrum Düsseldorf) dar. In ihrem Vortrag „Ganztägig ambulante Rehabilitation im Fachbereich Psychosomatik“ referierten die Autoren über die Struktur und den Ablauf einer im Medizinischen Zentrum
für die ambulante Rehabilitation von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen in Düsseldorf angebotenen Maßnahme. Anhand der Daten von 183 Patienten wurden sowohl deskriptive Analysen (Erkrankungsspektrum, Altersverteilung,
Behandlungsdauer) als auch Daten zur Veränderungsbeurteilung der Behandler referiert. Hierbei zeigte sich, dass die ganztägig ambulante Rehabilitation ein vielversprechender Ansatz zur Verfahrensoptimierung darstellt.
Abschließend wandte sich Herr Dr. Krohn-Grimberghe (Rheumaklinik Bad Wildungen) mit seinem Beitrag dem Thema „Das Fibromyalgiesyndrom in der medizinischen Rehabilitation“ zu. Neben grundsätzlichen Informationen zum Krankheitsbild
Fibromyalgiesyndrom (FMS) und dem aktuellen Stand der Leitlinienentwicklung,
berichtete der Referent über ein aktuelles Projekt der Rheumaklinik Bad Wildungen
in Zusammenarbeit mit der Universität Bremen. Hierbei handelt es sich um eine
kontrollierte Studie zur Effektivität einer im Rahmen der stationären Rehabilitation
durchgeführten Fibromyalgie-Patientenschulung (vgl. auch Lange et al., 2009). Im
Vergleich zur unbehandelten ambulanten Kontrollgruppe konnte in der Interventionsgruppe die durchschnittliche Schmerzstärke, Angst und Depression der Patienten langfristig signifikant verringert werden.
1.3
Literatur
Best, M., Lange, M., Karpinski, N., Hessel, A., Söpper-Terborg, B., Sieling, W. & Petermann, F. (2009). Psychosomatische Rehabilitation: Effekte einer prästationären Beratung durch die Rentenversicherung. Die Rehabilitation, 48, 283-287.
Lange, M., Karpinski, N., Krohn-Grimberghe, B. & Petermann, F. (2009). Patienten
mit Fibromyalgiesyndrom: Der Einfluss von Depressivität auf die Einstellung zur
Schmerzbewältigung. Die Rehabilitation, 48, 306-311.
Lange, M., Krohn-Grimberghe, B. & Petermann, F. (2009). Patienten mit Fibromyalgiesyndrom: Der Einfluss von Depressivität auf den Rehabilitationserfolg. Die Rehabilitation, 48, 298-305.
Petermann, F. & Koch, U. (2009). Psychosomatische Rehabilitation: Quo vadis? Die
Rehabilitation, 48, 257-262.
Publikationen
Petermann, F. (2010) (Hrsg.). Neue Ansätze in der psychosomatischen Rehabilitation. Regensburg: Roderer.
348
DGP-Kongress
2
47. Kongress der Deutschen Gesellschaft für
Psychologie: Erklären, Entscheiden, Planen
2.1
Allgemeine Angaben
Leitung
Prof. Dr. Franz Petermann
Prof. Dr. Ute Koglin
Finanzierung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Deutsche Gesellschaft für Psychologie
(DGPs), Europäische Union (EU)
2.2
Tagungsbericht
Vom 26. bis 30. September 2010 fand in Bremen der 47. Kongress der Deutschen
Gesellschaft für Psychologie statt. Durch die Wahl des Veranstaltungsortes, dem
Kongresszentrum in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof, handelte es sich in der
Tat um eine Veranstaltung der kurzen Wege. Es wurde eine Programm zusammengestellt, das sich zum Ziel gesetzt hat, dem gesellschaftlichen Anspruch unseres Faches und den Anforderungen der Gesellschaft an unsere Disziplin gerecht zu werden
(vgl. schon Deutsche Gesellschaft für Psychologie, 2000). Das Motto und ein Anspruch unseres Kongresses bestehen darin, die Kompetenzen, die unsere Disziplin
repräsentiert, angemessen zu kommunizieren. Wir werden auch die aktuelle Diskussion zwischen angewandter und Grundlagenforschung in unserer Disziplin umfassend aufgreifen (vgl. Kanning et al., 2007, 2008).
Zur Resonanz des Kongresses. Für einen nationalen Psychologiekongress ist es in
idealer Weise gelungen, eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen zu aktivieren.
Dies drückt sich allein schon in der Anzahl der angemeldeten Beiträge aus; die Anzahl beträgt ungefähr 2500 - eine bisher noch niemals erreichte Resonanz bei einem
nationalen Psychologiekongress! Ungefähr 83% der Anmeldungen stammen aus
Deutschland, ca. 8% aus der Schweiz und über 5% aus Österreich, jeweils 1% aus
den Niederlanden und Luxemburg; insgesamt wurden Beiträge aus 20 Ländern eingereicht. Die meisten Beiträge mit jeweils ungefähr 200 Anmeldungen lassen sich
den folgenden sechs Disziplinen zuordnen:
• Allgemeine Psychologie,
349
DGP-Kongress
•
•
•
•
•
Arbeits- und Organisationspsychologie (Wirtschaftspsychologie),
Pädagogische Psychologie,
Klinische Psychologie,
Entwicklungspsychologie und
Sozialpsychologie.
Besonders stark war das Interesse aus dem Bereich Arbeits- und Organisationspsychologie (Wirtschaftspsychologie).
Mittagsvorlesungen. Als eine besonders bewährte Veranstaltungsform hatte sich in
den letzten Jahren das Angebot „Mittagsvorlesung“ gezeigt. Aus diesem Grund
wurde diesem Angebot eine besondere Stellung zugewiesen, wobei mit Unterstützung der DFG auch eine Vielzahl internationaler Referenten gewonnen wurde. Diese
Experten stehen in der Regel im Anschluss ein bis zwei Stunden einem interessierten Publikum in lockerer Atmosphäre für Fragen und einer umfassenden Diskussion
zur Verfügung (= Meet the Experts). Hierzu sind Studierende und jüngere Wissenschaftler besonders eingeladen. Unter den Referenten der Mittagsvorlesungen befinden sich auch unsere beiden diesjährigen Leibnitz-Preisträger (Jan Born, Lübeck;
Ulman Lindenberger, Berlin).
Symposien und Arbeitsgruppen. Es wurden über 200 Symposien und Arbeitsgruppen angemeldet. Sehr bedeutsam sind hierbei Themen, die sich mit einer aktuellen
Positionsbestimmung unseres Faches auseinandersetzen und/oder sich grundlegend mit der Ausbildungssituation der Psychologie („Zwangsjacke Bachelorstudium?“) beschäftigen. Unter dem Blickwinkel der Positionsbestimmung nimmt die
Frage nach der Bedeutung der Neurowissenschaften und die Relation „Biologie versus Psychologie“ eine besonders große Rolle ein. Hiermit beschäftigen sich mehrere
Symposien; dieser Trend kann am Beispiel des Symposiums „Wie viel Biologie
braucht die Psychologie?“ illustriert werden.
Psychologische Diagnostik - eine unterbewertete Kernkompetenz. Von großer Bedeutung war es, das Kongressmotto „Psychologischen Kompetenz - Erklären, Entscheiden, Planen“ durch Themen und Beiträge aus dem Sektor der Psychologischen
Diagnostik entscheidend zu gestalten. Dies ist uns in der Regel gut gelungen. So beschäftigen sich gut 12% aller Vorträge, Arbeitsgruppen/Symposien mit diagnostischpsychologischen Fragestellungen - in der Regel im Kontext unterschiedlicher Anwendungsbeispiele der Psychologie.
Dialog mit den Nachbardisziplinen. Auf die Bedeutung einer interdisziplinären
Sichtweise wurde im Rahmen der Kongressvorbereitung vielfach hingewiesen. Konkret wird dies am 28. und 29. September 2010 mit zwei Sonderveranstaltungen, das
heißt mit jeweils vier Symposien zu aktuellen Themen umgesetzt. Am 28. September werden sich die Rehabilitationswissenschaften präsentieren; am 29. September
wird dies mit einem „Psychiatrie-Tag“ fortgeführt. Auch hier werden vier Symposien
unter dem Vorsitz von führenden Repräsentanten der Deutschen Gesellschaft für
350
DGP-Kongress
Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) realisiert. Wir danken in
diesem Zusammenhang dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaften (DGRW), Uwe Koch (Universitätsklinikum Eppendorf, Universität Hamburg), und dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie,
Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Frank Schneider (RWTH Aachen),
für ihre Unterstützung und die Kooperationsbereitschaft. Selbstverständlich weist
der Kongress eine Vielzahl weiterer Angebote im Grenzgebiet Klinische Psychologie/
Psychiatrie, Psychosomatik/Rehabilitation/ Psychotherapie oder auch zu den Erziehungswissenschaften auf. Die Sonderveranstaltungen dienen vor allem der Fokussierung einiger Perspektiven im klinisch-psychologischen Bereich.
2.3
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Psychologie (2000). Empfehlungen des Vorstands für die
Organisation künftiger Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.
Psychologische Rundschau, 51, 161-163.
Kanning, U.P., von Rosenstiel, L., Schuler, H., Petermann, F., Nerdinger, F., Batinic, B.
et al. (2007). Angewandte Psychologie im Spannungsfeld zwischen Grundlagenforschung und Praxis - Plädoyer für mehr Pluralismus. Psychologische Rundschau,
58, 238-248.
Kanning, U.P., von Rosenstiel, L., Schuler, H., Petermann, F., Nerdinger, F., Batinic, B.
et al. (2008). Reaktionen auf die Diskussionsbeiträge zum Artikel „Angewandte
Psychologie im Spannungsfeld zwischen Grundlagenforschung und Praxis - Plädoyer für mehr Pluralismus. Psychologische Rundschau, 59, 175-178.
Publikationen
Petermann, F. (2009). 47. Kongress der DGPs in Bremen 2010: Psychologische Kompetenz - Erklären, Entscheiden, Planen. Psychologische Rundschau, 60, 107-109.
Petermann, F. & Koglin, U. (2010). Erklären, Entscheiden, Planen: 47. Kongress der
DGPs 2010. Psychologische Rundschau, 60, 151-155.
351
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