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Rudolf Hausner, Erschrockener Europäer, Ölgemälde, 1980
Angewandte Ethik
3.1 Verantwortung – ihr Begriff
und ihre Struktur bei Hans Jonas
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3.1 Verantwortung
– ihr Begriff undGmbH
ihre Struktur bei Hans Jonas
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Auer Verlag
20 Jahre nach Tschernobyl: Zu Besuch in
Russlands meistverstrahlter Stadt
Am 26. April 1986 ereignete sich im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl der bisher schwerste Unfall in der
Geschichte der zivilen Nutzung der Atomenergie. Das ist
das einzige existierende Foto vom Tag des Unfalls selbst,
aufgenommen von dem russischen Fotografen Igor Kostin.
Die Grobkörnigkeit ist auf die extrem hohe Strahlung zurückzuführen.
der Traktorenhallen und Ställe sind eingestürzt
und vermoost, rostige Stahlträger weisen bizarr
in den trüben Himmel über den Ackerböden, die
einmal zu den vielleicht fruchtbarsten Europas
gehörten. Hier baut aber niemand etwas an, hier
grast kein Vieh. Das Land ist tot, Birken wuchern,
wo früher Furchen waren, hüfthohes Gebüsch
bedeckt die ehemaligen Getreidefelder (…) In
den Resten einer Siedlung lebt noch die 79-jährige Anastasia, eine von 12 Menschen (…) – 350
lebten mal hier, bis die Strahlen kamen. „Der
Boden ist schlecht geworden“, erzählt Anastasia.
„Nichts wächst hier. Die Menschen sind ständig
krank (…) Nach der Tschernobyl-Katastrophe
sind alle meine Kinder krank geworden (…) Novosybkov (...) stirbt einen langen, lautlosen Tod.
Die Ingenieure, die Techniker, die jungen Ärzte
(...) – alle sind längst weg. „Unser Leben hat sich
stark geändert (...) Im Sommer konnten wir überall hin, um uns zu erholen, in den Wald oder an
den Fluss (...) Heute aber müssen wir uns Gedanken darüber machen, wo wir mit unseren
Kindern hinfahren sollen – und das ist schrecklich!“, sagt Swetlana Wdowitschenko. In Novosybkov heiratete sie Pawel und bekam ihren Sohn
Anton. Man lebte nicht schlecht, bis am 26. April
1986, 120 Kilometer entfernt, das Atomkraftwerk
in die Luft flog.
An der weißrussischrussischen Grenze liegt die
Stadt Novosybkov, nur wenige Kilometer außerhalb der um Tschernobyl errichteten Sperrzone.
Damit die Menschen dort wohnen bleiben, zahlen die Behörden seit Jahren Extraprämien auf
Löhne und Gehälter. Dabei hat Novosybkov nach
der Reaktorkatastrophe einen traurigen Rekord
erlangt: Sie ist die am schlimmsten verstrahlte
Stadt der russischen Föderation.
Es war nie schön hier. 45.000 Menschen leben
heute in der grauen Stadt. Es waren mal 60.000
– vor Tschernobyl. (…) Arbeit gab es im längst
geschlossenen Textilkombinat und auch auf den
vielen Kolchosen der Umgebung. Die Dächer
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Ethik
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„Die Folgen sind erst heute wirklich
absehbar“
Der damalige Chef des Gesundheitsamts, Dr. Josif
Kaplun, erfuhr von Physikstudenten, die rein zufällig im Examen mit Geigerzählern hantierten,
dass es ungewöhnliche, hohe radioaktive Strahlungen gab. Was zu tun war, wusste niemand,
keiner hatte einen Plan. Und Moskau schwieg.
„Wir wollten, dass die Kinder nicht auf die Straße gingen, wurden aber darin nicht unterstützt“,
erinnert sich Kaplun. „Mindestens einige Tage
nach der Explosion hätten die Menschen ihre
Häuser gar nicht verlassen dürfen. Und natürlich
sollten die Menschen Kalium und Jod einnehmen, um ihre Schilddrüse zu schützen.“ Das aber
gab es entweder gar nicht oder viel zu spät und
dann in zu niedriger Dosierung. Die Folgen sind
erst heute wirklich absehbar, weil es oft mehr als
15 oder 20 Jahre dauert, bis eine Strahlenkrankheit ausbricht. Doch noch am 1. Mai 1986 (…)
machten die Menschen Picknick im Wald. Keiner wusste, was dort drohte – das wird erst heute
klar. „Die Zahl der Erkrankungen bei Menschen
aus den betroffenen Gebieten ist im Vergleich zur
Bevölkerungen anderer Gebiete um mehr als das
Zweifache höher. Zugenommen haben die Krebserkrankungen, besonders die der Schilddrüse“,
so Kaplun.
(Horst Kläuser, ARD-Hörfunkstudio Moskau)
Hans Jonas: Zur Notwendigkeit einer
neuen Ethik
Der Reaktorunfall von Tschernobyl erhöhte das
allgemeine Bewusstsein für die Risiken der modernen Industriegesellschaft. Der Philosoph Hans
Jonas (1903–1993) hatte sich in seinem bereits
1979 erschienen Buch Das Prinzip Verantwortung der Frage nach einer Mensch und Natur bewahrenden Ethik in der technologischen Zivilisation gewidmet. Hier untersuchte er die
Veränderungen, die sich für die zeitlichen und
räumlichen Folgewirkungen menschlichen Handelns durch die moderne Technik ergeben und
die nach seiner Überzeugung in allen bisherigen
ethischen Ansätzen noch keine Berücksichtigung
fanden.
¨ Biografische Angaben, s.S. XX
Alle Gebote und Maximen überlieferter Ethik, inhaltlich verschieden wie sie immer sein mögen,
zeigen diese Beschränkung auf den unmittelbaren Umkreis der Handlung. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“; „Tue Anderen, wie du wünschest, daß sie dir tun“ (…) Man beachte, daß in
all diesen Maximen der Handelnde und der „Andere“ seines Handelns Teilhaber einer gemeinsamen Gegenwart sind. Es sind die jetzt Lebenden
und in irgendwelchem Verkehr mit mir Stehenden, die einen Anspruch auf mein Verhalten
haben, insofern es sie durch Tun oder Unterlassen affiziert1 . Das sittliche Universum besteht aus
Zeitgenossen und sein Zukunftshorizont ist beschränkt auf deren voraussichtliche Lebensspanne. Ähnlich verhält es sich mit dem räumlichen
Horizont des Ortes, worin der Handelnde und
der Andere sich treffen (...) Alle Sittlichkeit war
auf diesen Nahkreis des Handelns eingestellt. (...)
All dies hat sich entscheidend geändert. Die moderne Technik hat Handlungen von so neuer Größenordnung, mit so neuartigen Objekten und so
neuartigen Folgen eingeführt, daß der Rahmen
früherer Ethik sie nicht mehr fassen kann. (...)
Gewiß, die alten Vorschriften der „Nächsten“Ethik – die Vorschriften der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Ehrlichkeit, usw. – gelten immer noch,
in ihrer intimen Unmittelbarkeit, für die nächste,
tägliche Sphäre menschlicher Wechselwirkung.
Aber diese Sphäre ist überschattet von einem
wachsenden Bereich kollektiven Tuns, in dem
Täter, Tat und Wirkung nicht mehr dieselben sind
1 Hier: in irgendeiner Weise positiv oder negativ betrifft
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ihre Struktur bei Hans Jonas
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wie in der Nahsphäre, und der durch die Enormität seiner Kräfte der Ethik eine neue, nie zuvor
erträumte Dimension der Verantwortung aufzwingt. (...)
Man nehme zum Beispiel, als die erste größere
Veränderung in dem überkommenen Bild, die
kritische Verletzlichkeit der Natur durch die technische Intervention des Menschen – eine Verletzlichkeit, die nicht vermutet war, bevor sie sich in
schon angerichtetem Schaden zu erkennen gab.
Diese Entdeckung, deren Schock zu dem Begriff
und der beginnenden Wissenschaft der Umweltforschung (Ökologie) führte, verändert die ganze
Vorstellung unserer selbst als eines kausalen Faktors im weiteren System der Dinge. Sie bringt
durch die Wirkungen an den Tag, daß die Natur
menschlichen Handelns sich de facto geändert
hat, und daß ein Gegenstand von gänzlich neuer
Ordnung, nicht weniger als die gesamte Biosphäre des Planeten, dem hinzugefügt worden ist,
wofür wir verantwortlich sein müssen, weil wir
Macht darüber haben (...).
Hans Jonas: Ein neuer kategorischer
Imperativ ethischen Handelns in der
technologischen Zivilisation
Da die Folgen unseres Handelns in der technischen Zivilisation Mensch und Natur zunehmend
gefährden, entsteht eine größere Verantwortlichkeit für unser Tun und damit die Notwendigkeit
einer Neufassung des kategorischen Imperativs.
Ein Imperativ, der auf den neuen Typ menschlichen Handelns paßt und an den neuen Typ von
Handlungssubjekt gerichtet ist, würde etwa so
lauten: „Handle so, daß die Wirkungen deiner
Handlung verträglich sind mit der Permanenz
echten menschlichen Lebens auf Erden“; oder negativ ausgedrückt: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für
die künftige Möglichkeit solchen Lebens“; oder
einfach: „Gefährde nicht die Bedingungen für den
indefiniten Fortbestand der Menschheit auf
Erden“; oder, wieder positiv gewendet: „Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines
Wollens ein“.
Hans Jonas: Die „Heuristik der Furcht“
Um dem neuen Imperativ gerecht zu werden, fordert Jonas vor der Einführung neuer Technologien eine genaue Prüfung ihrer möglichen Folgewirkungen. Dabei soll in Zweifelsfällen die
negative Prognose Vorrang vor der positiven
haben.
Das Neuland kollektiver Praxis, das wir mit der
Hochtechnologie betreten haben, ist für die ethische Theorie noch ein Niemandsland (...) Was
kann als Kompaß dienen? Die vorausgedachte
Gefahr selber! In ihrem Wetterleuchten aus der
Zukunft, im Vorschein ihres planetarischen Umfanges und ihres humanen Tiefganges, werden allererst die ethischen Prinzipien entdeckbar, aus
denen sich die neuen Pflichten neuer Macht herleiten lassen. Dies nenne ich die „Heuristik2 der
Furcht“: Erst die vorausgesehene Verzerrung des
Menschen verhilft uns zu dem davor zu bewahrenden Begriff des Menschen. Wir wissen erst,
was auf dem Spiele steht, wenn wir wissen, daß
es auf dem Spiele steht. Da es dabei nicht nur um
das Menschenlos, sondern auch um das Menschenbild geht, nicht nur um physisches Überleben; sondern auch um Unversehrtheit des Wesens, so muß die Ethik, die beides zu hüten hat,
über die der Klugheit hinaus eine solche der Ehrfurcht sein (...) Unter solchen Umständen [gemeint sind die Veränderungen, die sich durch die
technische Praxis der Gegenwart ergeben, d.
Hrsg.] wird Wissen zu einer vordringlichen Pflicht
über alles hinaus, was je vorher für seine Rolle
in Anspruch genommen wurde, und das Wissen
muß dem kausalen Ausmaß unseres Handelns
größengleich sein. Die Tatsache aber, daß es ihm
nicht wirklich größengleich sein kann, das heißt,
daß das vorhersagende Wissen hinter dem technischen Wissen, das unserem Handeln die Macht
gibt, zurückbleibt, nimmt selbst ethische Bedeutung an. Die Kluft zwischen Kraft des Vorherwissens und Macht des Tuns erzeugt ein neues ethisches Problem. Anerkennung der Un¬wissenheit
wird dann die Kehrseite der Pflicht des Wissens
2 Hier: Methode, Verfahren (zu griech. heurískein
„finden, entdecken
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ihre Struktur bei Hans Jonas
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Rudolf Hausner: Erschrockener Europäer
1
Welche Bildelemente, Aspekte des Bildaufbaus oder der Farbgebung würden Sie in
einer Reportage herausstellen, um die Frage zu
klären, ob dieses Bild als ein gesellschafts- und
zeitkritisches Werk gelten kann?
2
Gelingt es dem Künstler tatsächlich, seinen
Bildtitel gestalterisch umzusetzen? Begründen Sie Ihre Auffassung unter Bezugnahme auf
das Bild.
3
Kann man für ein umfassendes Verständnis
des Bildes auf den Text verzichten, den der
Künstler in sein Kunstwerk eingebaut hat?
4
Diskutieren Sie die Auffassung, dass die
Dar stellung eines Kernkraftwerks am Horizont des Bildes von Hausner durch andere Sachverhalte ersetzt werden kann, ohne dass sich
damit die grundsätzliche Aussageabsicht des Bildes verändert.
Gehen Sie dabei vom allgemeinen Sprachgebrauch aus. Entwerfen Sie eine Grafik zum
allgemeinen Verantwortungsbegriff unter Berücksichtigung folgender Strukturelemente:
• Wer ist verantwortlich (Verantwortungsträger oder -subjekt)?
• Was ist der Grund für die Verantwortlichkeit?
• Wofür ist man verantwortlich (Verantwortungsbereich)?
• Wem gegenüber muss man sich unter Umständen rechtfertigen (Verantwortungsinstanz)?
b) Untersuchen Sie anhand Ihres Modells die
Verantwortlichkeiten im Fall des Reaktorunglücks von Tschernobyl an einzelnen selbst
gewählten Beispielen (z.B. bezüglich des Betriebspersonals, der politisch Verantwortlichen
usw.).
c) Wie beurteilen Sie das Verhalten der von
Ihnen gewählten Verantwortungsträger?
Horst Kläuser: 20 Jahre nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl
Hans Jonas: Zur Notwendigkeit einer
neuen Ethik
1
1
2
2
Lesen Sie den Text von H. Kläuser. Begeben
Sie sich auf eine Gedankenreise: Wie fühlen
Sie sich als junger Erwachsener in Novosybkov?
Halten Sie Ihre Gedanken in einem Tagebucheintrag schriftlich fest.
Die Ereignisse um den Reaktorunfall von
Tschernobyl sind vielen heute oftmals nicht
mehr genau bekannt. Bilden Sie Gruppen und recherchieren Sie arbeitsteilig im Internet und in der
Schulbibliothek Ursachen und Verlauf sowie unmittelbare und weitere Folgen des Reaktorunglücks. Präsentieren Sie die Ergebnisse Ihrer Arbeitsgruppen in Kurzreferaten. Tipp: Informationen
finden Sie unter www.bmu.de und www.greenpeace-berlin.de
3
Bei einer solchen Katastrophe stellt sich die
Frage nach der Verantwortung und den Verantwortlichen für das Geschehen.
a) Klären Sie zunächst in Partnerarbeit, was Sie
unter dem Begriff Verantwortung verstehen.
Fassen Sie die Thesen des Textes stichwortartig zusammen und zeigen Sie auf, wie Hans
Jonas die Notwendigkeit einer neuen Ethik begründet. Erklären Sie, warum dabei ein erweiterter Verantwortungsbegriff zum Kerninhalt ethischen Handelns in der technischen Zivilisation wird.
Inwiefern bestätigt das Reaktorunglück von
Tschernobyl die Thesen von Hans Jonas?
Hans Jonas: Ein neuer kategorischer
Imperativ ethischen Handelns in der
technischen Zivilisation
1
Formulieren Sie den neuen kategorischen
Imperativ Jonas’ in eigenen Worten und stellen Sie ihn dem kategorischen Imperativ Kants
gegenüber. Erörtern Sie, ob der neue Imperativ
Jonas’ an die Stelle des Kantischen Imperativs treten oder ihn nur ergänzen soll. Berücksichtigen
Sie dabei, an wen der Imperativ vermutlich jeweils primär gerichtet ist: an den Einzelnen oder
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an kollektive Entscheidungsträger in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft?
2
Jonas spricht in seinem neuen kategorischen
Imperativ von „echtem menschlichen Leben“. Klären Sie in Partnerarbeit, welchen Sinn
diese Formulierung haben könnte. Was verstehen Sie darunter?
3
men wir an, es wäre sicher, dass es in hundert Jahren keine Menschen mehr gäbe. Dürften wir dann
bis dahin die Erde hemmungslos ausbeuten und
als Müllhalde hinterlassen?
„Klebt an meinem Handy Blut?“ –
Das Prinzip Verantwortung im eigenen
Leben
Diskutieren Sie die praktische Umsetzbarkeit und mögliche wirtschaftliche Folgen
einer konsequenten Anwendung dieses Verfahrens in Deutschland.
Die Frage scheint auf den ersten Blick befremdlich – ist es aber aus Sicht von Claudia Mende
keinesfalls. Die Journalistin weist darauf hin, dass
die verschiedenen Milizengruppen im Kongokrieg
zwischen 1998 und 2002 ihre Waffen mit dem
Geld finanzierten, das durch den Verkauf von Coltan eingenommen wurde – ein begehrter Rohstoff, der im Kongo gefördert wird und ohne den
bei Handy & Co. nichts geht3. Aber auch in anderer Hinsicht geben die Herstellungs- und Entsorgungsbedingungen unserer kleinen elektronischen Begleiter Anlass zur Kritik.
3
1
Hans Jonas: Die „Heuristik der Furcht“
1
Im Textauszug stellt Jonas ein Entscheidungsverfahren für die Einführung neuer Technologien vor. Stellen Sie die Hauptgesichtspunkte dieses Verfahrens in eigenen Worten dar und halten
Sie sie stichwortartig fest.
2
Informieren Sie Ihren Kurs in einem Kurzreferat über den Stand der sogenannten Technikfolgenabschätzung in Deutschland.
Hans Jonas: Die Pflicht zur Verantwortung
ist im Sein begründet
1
In welchem Verhältnis stehen Sein und Sollen bei Jonas? Vergleichen Sie diese Position mit anderen Ihnen bekannten Positionen.
2
Worin besteht für Jonas das Verbindende
allen Seins? Inwieweit entsteht dadurch eine
Verbindlichkeit für den Menschen gegenüber anderem Sein?
Informieren Sie sich mithilfe folgender Internetadressen über die Produktionsbedingungen in der IT-Branche: germanwatch.org; greenpeace.de
2
Entwerfen Sie das Konzept zu einer eigenen
Kampagne, durch die Sie an Ihrer Schule zum
verantwortungsvollen Umgang mit Produkten der
IT-Branche anregen wollen. Welche Inhalte wollen Sie vermitteln, wie auf das Thema aufmerksam machen, welche Medien benutzen?
3
Wenn alles, was einen Zweck hat, einen
Wert besitzt, ist dann alles gleich viel wert?
Versuchen Sie Kriterien zu finden, nach denen
es erlaubt ist, sich über den Selbstzweck eines
anderen Lebewesens hinwegzusetzen. Inwiefern
ergeben sich aus der Argumentation Jonas’ dennoch Grenzen für das menschliche Tun?
Verantwortung für die Natur?
Hans Jonas zufolge besteht für uns eine sehr weitreichende Verantwortung für die Natur. Stellen Sie
dazu folgendes Gedankenexperiment an: Neh-
Auf Elektrogeräte verzichten, damit der Müll nicht auf einer
Halde in Ghana landet?
3 Publik Forum Heft 4/2009, S. 20f.
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3.1 Verantwortung
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ihre Struktur bei Hans Jonas
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Die Pflicht zur Verantwortung – Umrisse
einer Ethik für die Zukunft bei Hans Jonas
Sittlichkeit hat nicht nur damit zu tun, dass wir
anderen nicht schaden und ansonsten tun, was
wir wollen, sondern Sittlichkeit hat vor allem
auch damit zu tun, dass wir für bestimmte Personen und Dinge Verantwortung übernehmen. Was
aber heißt Verantwortung? Dieser Frage ging der
Philosoph Hans Jonas (1903–1993) nach, der den
Begriff zum Dreh- und Angelpunkt seines ethischen Denkens machte. Dabei forderte er in seinem 1979 erschienenen Spätwerk Das Prinzip
Verantwortung 4 nicht weniger als eine neue, zeitgemäße Ethik. Wie kommt er zu dieser Forderung, was ist der Kerngehalt seiner Ethik und wie
begründet er sie?
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Beobachtung, dass sich die Lebenssituation in unserer
heutigen technologischen Zivilisation gegenüber
früher grundlegend verändert hat. Dem unbestreitbaren Fortschritt in Wissenschaft und Technik stellt
Jonas folgende Gefahren gegenüber:
• Die Ausbreitung der Technik führt bereits im
„Normalbetrieb“ zu einer Reihe tiefgreifender Veränderungen unserer Umwelt, die teils
unumkehrbar sind, wie etwa der Verbrauch
fossiler Brennstoffe zeigt.
• Hinzu kommt eine Anhäufung von Risikotechnologien, deren Gefährdungspotentiale sich
addieren können. Die Folgen von Unfällen
können dabei globale Ausmaße annehmen
und weit in die Zukunft reichen.
• In Wissenschaft und Technik wird vielfach
Neuland betreten. Moderne Forschungsbereiche wie die Gentechnologie ermöglichen Eingriffe in die Grundstruktur organischen Lebens, deren Folgen nicht genau vorhersehbar
sind.
Der „endgültig entfesselte Prometheus“5 , den
Jonas hier am Werk sieht, macht seiner Meinung
nach eine neue Ethik notwendig, um den tech-
4 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch
einer Ethik für die technologische Zivilisation,
Frankfurt am Main 1979, TB-A. 1984, S. 7
5 Ebd., S. 7
nologischen Wandel angemessen bewerten und
wirkungsvoll kontrollieren zu können. Verbindliche Richtlinie unseres Handelns soll dabei die
Erhaltung von Mensch und Natur sein. Damit
wird Jonas zu einem der einflussreichsten Vertreter einer ökologischen Ethik.
Traditionelle ethische Positionen sind nach Jonas
nicht in der Lage, auf die neuen Herausforderungen der technologischen Zivilisation angemessen
zu reagieren. Er führt das auf folgende Gründe
zurück:
• Das bisherige moralische Denken ist anthropozentrisch6: Gegenstand ist der Mensch im
direkten Umgang mit sich oder anderen Menschen. Die Auswirkungen menschlichen Handelns auf Natur und Umwelt werden nur dann
bedacht, wenn sie den Menschen selbst betreffen.
• Im Mittelpunkt des bisherigen sittlichen Denkens steht das Handeln des Einzelnen. Heutzutage werfen aber sogenannte Kollektivhandlungen (z. B. Massentourismus) zunehmend
neuartige ethische Probleme auf.
• Das menschliche Dasein wird als im Wesen
konstant angesehen. Dass es selbst Objekt der
Veränderung wie im Fall der Gentechnik werden könnte, liegt noch außerhalb des Erfahrungsbereichs traditioneller Ethik.
Jonas spricht zusammenfassend von der bisherigen Ethik als einer Nahethik. Um sie zu überwinden, fordert er eine neue Ethik, deren vorrangiges
Ziel es sein soll, dem Menschen die „Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens“7 auch in Zukunft zu bewahren.
Ein bloß utilitaristisches Interesse (vgl. Kap. 2.4)
an dieser Unversehrtheit erscheint ihm dabei als
philosophische Begründung nicht ausreichend.
In seiner Ethik bemüht er sich stattdessen um eine
Synthese und Weiterentwicklung verschiedener
anderer philosophischer Positionen:
In Anlehnung an Immanuel Kant will er eine Regel
aufstellen, nach der wir vor dem Hintergrund einer
6 Von gr. anthropos: der Mensch und kentron:
Mittelpunkt
7 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 9
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Ethik
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durch die Technik fundamental veränderten Welt
handeln sollen. Anders als Kant versucht er aber,
seine Ethik mit einem konkreten Wertefundament
auszustatten. Er entwickelt es aus seiner Beschäftigung mit dem „Sein des Seienden“, was als Rückgriff auf metaphysische Denktraditionen der Antike verstanden werden kann8.
Bewusst distanziert Jonas sich vom modernen Naturbegriff, wie er sich im Denken der Neuzeit herausgebildet hat. Seither ist Natur zu einem Objekt ohne eigenen Wert geworden, ohne Schutz
gegenüber dem menschlichen Verfügungsstreben.
Kehrseite ihrer Neutralisierung und „Vernutzung“
in Wissenschaft und Technik ist ihre wachsende
Zerstörung.
Verantwortung als Kernbegriff einer neuen
Ethik
Kennzeichnend für die von Jonas geforderte neue
Ethik ist der Begriff der Verantwortung, der weniger philosophischem als juristischem Denken entstammt. Die Grundstruktur des herkömmlichen
Verantwortungsbegriffs ergibt sich für Jonas durch
folgende aufeinander bezogene Elemente:
• Jemand (= Verantwortungsträger/-subjekt) ist
aufgrund seiner Rolle, seiner Funktion oder seines Amtes (= Grund der Verantwortlichkeit)
• für jemanden oder etwas verantwortlich (Verantwortungsbereich). In diesen Verantwortungsbereich fallen neben den Personen oder
Dingen, auf die unser Handeln gerichtet ist,
auch die unmittelbaren Handlungsfolgen des
eigenen Tuns oder Unterlassens.
• Häufig muss sich der Verantwortungsträger für
sein Handeln gegenüber einer Verantwortungsinstanz (eigenes Gewissen, Gericht etc.)
rechtfertigen.
Beispiel für diesen allgemeinen Verantwortungsbegriff lassen sich im alltäglichen Leben leicht
8 Metaphysik: Ursprünglich Bezeichnung für eine in
einer Aristotelesausgabe hinter den Büchern der
„Physik“ angeordnete Gruppe seiner Schriften.
Seither Bezeichnung für einen Zentralbereich der
theoretischen Philosophie, in dem nach Struktur,
Grund sowie Inhalt und Sinn des Seins gefragt wird
(s. Kap. 2.2 zu Aristoteles).
3
finden: der Klassensprecher, der sich für einen
Mitschüler einsetzt; der Autofahrer, der sich vor
Gericht verantworten muss, weil er zu schnell gefahren ist etc.
Deutlich wird an diesen Beispielen, dass sich unser
allgemeiner Verantwortungsbegriff auf relativ eng
umgrenzte Bereiche menschlichen Handelns bezieht. Da die Handlungsmacht der Menschen im
wissenschaftlichtechnischen Zeitalter jedoch
enorm angewachsen ist, erfährt der Verantwortungsbegriff bei Jonas eine grundsätzliche Ausweitung hinsichtlich des Verantwortungsbereichs: Im
gleichen Umfang, wie die Folgen technologischen
Handelns Mensch und Natur zunehmend gefährden, erwächst ein Mehr an Verantwortung in räumlicher und in zeitlicher Hinsicht: Verantwortlichkeit ist auch dann gegeben, wenn zwischen den
Verantwortungsträgern und den Betroffenem ihres
Handelns kein wechselseitiges Verhältnis9 besteht:
Weder die Natur noch die künftigen Generationen können uns dazu auffordern, auf sie Rücksicht
zu nehmen. Das entbindet uns aber nicht davon,
ihre Interessen in unserem Handeln angemessen
zu berücksichtigen.
Im Zentrum der Verantwortungsethik10 Jonas’
steht ein in Anlehnung an Kant (vgl. Kap. 2.1) formulierter neuer kategorischer Imperativ, für den
Joans in Das Prinzip Verantwortung vier Varianten vorschlägt:
„Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung
verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“; oder negativ ausgedrückt:
„Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht
zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen
Lebens“; oder einfach: „Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf
Erden“; oder, wieder positiv gewendet: „Schließe in deine
gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des
Menschen als it-Gegenstand deines Wollens ein.“11
9 Jonas spricht hier von sogenannte nicht-reziproken
Beziehungen.
10 Der Begriff stammt nicht von Jonas, sondern wurde
erstmals von dem bedeutenden deutschen Soziologen Max Weber (1864-1920) in seinem Essay Politik
als Beruf verwendet.
11 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 36
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3
3.1 Verantwortung
– ihr Begriff undGmbH
ihre Struktur bei Hans Jonas
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Neben der Sicherung des physischen Fortbestands
unserer Gattung fordert die Maxime auch die Erhaltung dessen, was den Menschen in seinem
Wesen kennzeichnet: Jonas zählt hierzu vor allem
die (sittliche) Entscheidungsfreiheit und die Fähigkeit, Verantwortung im eigentlichen Sinne
übernehmen zu können, was allein dem Menschen möglich sei. Durch den neuen Imperativ
wird die herkömmliche Nahethik zu einer Fernbzw. Zukunftsethik erweitert.
Als Urbild dieser Verantwortung im erweiterten
Sinne, die man als Sorge-für-Verantwortung bezeichnen kann, verweist Jonas auf die Eltern-KindBeziehung. In der selbstverständlichen Sorge von
Eltern für ihre Kinder verwirklicht sich diese Art
der Verantwortung bereits seit jeher.
Why to be so moral? – Begründung der
erweiterten Verantwortlichkeit
Worin gründet die Verantwortung für etwas außerhalb der eigenen räumlichen oder zeitlichen
Lebenswirklichkeit? Gibt es etwas, was allem Seienden gemeinsam ist? Jonas entdeckt diese Ge-
Vorwegnahme
möglicher
weitreichender
Handlungsfolgen
Eigene
Interessen und
Pläne (Zwecke)
Verantwortungsbereich
(Gegenstand und
Folgen der Handlung
in unmittelbarer
Gegewart und im engeren
sozialen Umfeld)
Berücksichtigung
des Eigenwerts /
Eigenzwecks (v.a. wenn
vom Gegenstand
der Handlung nicht
selbst einklagbar)
Verantwortung
gegenüber wem?
Verantwortungsinstanz
(Geschädigter, Gericht,
Gewissen, ... Gott)
Sorge-für-Verantwortung nach Jonas
Verantwortungsträger
nachfolgende
Generationen;
Natur
Bisheriger
Verantwortungsbegriff
Verantwortung
wofür?
meinsamkeit darin, dass es allem Seienden um
eben dieses Sein zu gehen scheint. Das gesamte
organische Leben ist „Zweck an sich selbst, nämlich sein eigener Zweck.“12 In dieser „Eigenzwecklichkeit“ erkennt Jonas einen Wert, ein Gutan-sich, unabhängig davon, ob es sich dabei um
einen Zweck für uns handelt oder ob wir in einer
konkreten Situation in der Lage und bereit sind,
den mit ihm verbundenen Wert auch anzuerkennen. Auch fremde Zwecke dürfen wir in unserem
Handeln nicht einfach „überspringen“, sondern
müssen sie, wenn wir verantwortlich handeln
wollen, berücksichtigen. In bewusster Abkehr von
Hume (vgl. Kap. 6.1) wird bei Jonas somit das
Sein zu einer Quelle des Sollens.
Der Verantwortungsfall tritt immer dann ein, wenn
das Eigenrecht bzw. die Eigenzwecklichkeit von
jemandem oder etwas durch unser Handeln beeinträchtigt zu werden droht. Verantwortlich handelt folglich, wer die Bereitschaft aufbringt, nicht
nur seine Zwecke zu verfolgen, sondern seine
Macht von dem Eigenrecht eines anderen in die
Pflicht nehmen zu lassen.
nachfolgende
Generationen;
Natur
12 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 157
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Ethik
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Wie können wir unserer Verantwortung
gerecht werden?
Um zu erreichen, dass im gegenwärtigen Handeln
die Interessen der Zukünftigen angemessen berücksichtigt werden, fordert Jonas eine „Heuristik13 der Furcht“14 : Damit sollen nicht etwa irrationale Ängste vor der Technik geschürt werden.
Vor der Anwendung einer neuen Technologie sollen wir uns aber unter Aufbietung allen verfügbaren Wissens ein rationales Bild über ihre möglichen negativen Auswirkungen verschaffen.
Handlungsleitend wird eine Art „Zweckpessimismus“: Im Zweifelsfall soll die negative Prognose
Vorrang vor der positiven haben; bei unabwägbaren Risiken fordert Jonas den Handlungsverzicht.
Prinzip Verantwortung im Alltag –
ein Beispiel
„Ich fahre täglich auf bayerischen Straßen zu meinem Arbeitsplatz an der österreichischen Grenze.
Im Nachbarland ist der Sprit um gut zwanzig Cent
billiger und einmal pro Woche tanke ich mit Benzin aus Österreich mein Auto voll. So zahle ich
keine Ökosteuer und wohl auch weniger Mineralölsteuer, belaste aber die einheimische Umwelt
und sehe, wie bei uns die grenznahen Tankstellen an den Verlusten leiden. Andererseits ist die
Grenze offen, und es gibt keine Vorschrift, die das
Tanken von teurem deutschen Sprit gebietet. Ist
es richtig, was ich tue?“ (Josef O., Deggendorf)
(Rainer Erlinger, Gewissensfragen)
1
Gehen Sie anhand des Fallbeispiels mithilfe der Grafik auf S. 38 die einzelnen Elemente des Verantwortungsbegriffs durch. Diskutieren
Sie dabei, ob es sich überhaupt um einen Verantwortungsfall handelt und – wenn ja – welcher Dimension von Verantwortung er zuzuordnen ist.
2
Ausstieg aus dem Ausstieg? – Kooperativ
streiten
In der Bundesrepublik Deutschland wurde im
Jahr 2001 der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie beschlossen. Der Klimawandel hat jedoch dazu geführt, dass die Diskussion um den Bau und Betrieb bestehender oder
neuer kerntechnischer Anlagen neuen Auftrieb
erhalten hat. Befürworter der Kernenergie behaupten, dass eine Reduzierung des Ausstoßes
klimaschädlicher Gase ohne Kernenergie nicht
möglich sei – die Gegenseite wirft den Befürwortern vor, mit unseriösen Zahlen zu hantieren und
die Risiken der Kernenergie zu verharmlosen.
Diskutieren Sie in Ihrem Kurs das Für und Wider
der Kernenergie.
Nehmen Sie Stellung zu dem Verhalten von
Josef D.!
13 Heuristik: hier: Verfahren, Methode
14 Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 8 u. S. 63ff.
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