Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie Band 116 Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie Herausgegeben von H. Saß, Aachen · H. Sauer, Jena · F. Müller-Spahn, Basel Band 96: Aufklärung und Einwilligung in der Psychiatrie Ein Beitrag zur Ethik in der Medizin Von J. Vollmann (ISBN 3-7985-1206-X) Band 97: Tabakabhängigkeit Biologische und psychosoziale Entstehungsbedingungen und Therapiemöglichkeiten Von A. Batra (ISBN 3-7985-1212-4) Band 98: Die psychosozialen Folgen schwerer Unfälle Von U. Schnyder (ISBN 3-7985-1213-2) Band 99: Körperliche Aktivität und psychische Gesundheit Psychische und neurobiologische Effekte von Ausdauertraining bei Patienten mit Panikstörung und Agoraphobie Von A. Brooks (ISBN 3-7985-1240-X) Band 100: Das dopaminerge Verstärkungssystem Funktion, Interaktion mit anderen Neurotransmittersystemen und psychopathologische Korrelate Von A. Heinz (ISBN 3-7985-1248-5) Band 101: Versorgungsbedarf und subjektive Sichtweisen schizophrener Patienten in gemeindepsychiatrischer Betreuung Evaluationsstudie im Jahr nach Klinikentlassung in der Region Dresden Von Th. Kallert (ISBN 3-7985-1263-9) Band 102: Psychopathologie von Leib und Raum Phänomenologisch-empirische Untersuchungen zu depressiven und paranoiden Erkrankungen Von Th. Fuchs (ISBN 3-7985-1281-7) Band 103: Wahrnehmung der frühen Psychose Untersuchungen zur Eigen- und Fremdanamnese der beginnenden Schizophrenie Von M. Hambrecht (ISBN 3-7985-1292-2) Band 104: Schizophrenien prälingual Gehörloser Eine Untersuchung im lautlosen Kompartiment des „menschengemeinsamen Raums“ Von K. Schonauer (ISBN 3-7985-1348-1) Band 105: Zur Emotions/Kognitions-Kopplung bei Störungen des Affekts Neurophysiologische Untersuchungen unter Verwendung ereigniskorrelierter Potentiale Von D. E. Dietrich (ISBN 3-7985-1347-3) Band 106: Neuronale Korrelate psychopathologischer Symptome Denk- und Sprachprozesse bei Gesunden und Patienten mit Schizophrenie Von T. Kircher (ISBN 3-7985-1377-5) Band 107: Familienbefunde bei zykloiden Psychosen und manisch-depressiver Erkrankung Ein Beitrag zur Nosologie bipolarer phasischer Psychosen Von B. Pfuhlmann (ISBN 3-7985-1420-8) Band 108: Geschlechtsspezifische Unterschiede der schlafendokrinen Regulation und deren Bedeutung für die Pathophysiologie der Major Depression Von I. A. Antonijevic (ISBN 3-7985-1487-9) Band 109: Serotonin und akustisch evozierte Potentiale Auf der Suche nach einem verläßlichen Indikator für das zentrale 5-HT-System Von G. Juckel (ISBN 3-7985-1513-1) Band 110: Psychiatrie der Brandstiftung Eine psychopathologische Studie anhand von Gutachten Von W. Barnett (ISBN 3-7985-1519-0) Band 111: Zerebrale Korrelate klinischer und neuropsychologischer Veränderungen in den Verlaufsstadien der Alzheimer-Demenz Untersuchungen mit der quantitativen Magnetresonanztomographie Von J. Pantel und J. Schröder (ISBN 3-7985-1603-0) Band 112: Effektivität der Ergotherapie im psychiatrischen Krankenhaus Mit einer Synopse zu Geschichte, Stand und aktueller Entwicklung der psychiatrischen Ergotherapie Von T. Reuster (ISBN 3-7985-1641-3) Band 113: Gefährlichkeitsprognosen Eine empirische Untersuchung über Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs Von D. Seifert (ISBN 978-3-7985-1755-4) Band 114: Psychoimmunologische Forschung bei Alzheimer-Demenz Die Hypothese vorzeitiger Immunalterung als pathogenetischer Faktor Von E. Richartz-Salzburger (ISBN 978-3-7985-1786-8) Band 115: Evaluation allgemeinpsychiatrischtagesklinischer Behandlung unter besonderer Berücksichtigung des Behandlungsendes Von P. Garlipp (ISBN 978-3-7985-1820-9) Band 116: Die Maßregel der Sicherungsverwahrung Forensisch-psychiatrische Bedeutung, Untersuchungsbefunde und Abgrenzung zur Maßregel gemäß § 63 StGB Von E. Habermeyer (ISBN 978-3-7985-1843-8) Elmar Habermeyer Die Maßregel der Sicherungsverwahrung Forensisch-psychiatrische Bedeutung, Untersuchungsbefunde und Abgrenzung zur Maßregel gemäß § 63 StGB PD Dr. med. habil. Elmar Habermeyer Ltd. Oberarzt Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität Rostock Gehlsheimer Straße 20 18147 Rostock ISBN 978-3-7985-1843-8 Steinkopff Verlag Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Steinkopff Verlag ein Unternehmen von Springer Science+Business Media www.steinkopff.com © Steinkopff Verlag 2008 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Verlagsredaktion: Dr. Maria Magdalene Nabbe Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg SPIN 12043552 80/7231 – 5 4 3 2 1 0 – Gedruckt auf säurefreiem Papier Danksagung Frau Prof. Dr. Sabine Herpertz möchte ich für ihre Unterstützung bei der hier vorliegenden Arbeit danken. Sie hat meinen psychopathologisch ausgerichteten forensisch-psychiatrischen Blick in zahlreichen spannenden, zum Teil auch kontroversen Diskussionen um ihre sehr differenzierte neurobiologische Perspektive erweitert. Meine forensisch-psychiatrischen Interessen hat in den Aachener Jahren Prof. Dr. Henning Saß geweckt. Sein analytischer Blick bei der Untersuchung und seine psychopathologisch fundierte, inhaltlich dichte Niederschrift der Gutachten war und ist steter Ansporn, mich diesem Niveau anzunähern. Auch Dr. Gerd Nohl und Herrn Heinz-Dieter Carduck vom Aachener Landgericht bin ich zu Dank verpflichtet. Beide Kammervorsitzende haben mich aufgrund ihrer interessierten und differenzierten Herangehensweise an psychiatrische Gutachten für den Dialog zwischen Justiz und Psychiatrie begeistert. Diesen konnte ich mit dem Richter am Bundesgerichtshof Herrn Wolfgang Pfister intensivieren, wofür ich sehr dankbar bin. Die wissenschaftliche Arbeit in Rostock wäre ohne Dr. Gregor Domes und Dipl.-Psych. Knut Vohs kaum in ähnlich freundschaftlich-produktiver Atmosphäre verlaufen. Ebenfalls motiviert hat mich die Begeisterungsfähigkeit meiner Promovenden Matthias Licht, Daniel Passow, Peter Puhlmann und Roman Wolff. Frau Andrea Mittag hat als Sekretärin und guter Geist meines Büros nicht nur im Kontext dieses Buches geduldig meine ständigen Korrekturen und Überarbeitungsvorschläge umgesetzt. Gleiches gilt für Frau Juliane Nantke, die die Druckversion der Arbeit angefertigt hat. Außerdem möchte ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock danken, die meine wissenschaftliche Arbeit durch großzügige Fördermittel unterstützt haben. Neben all diesen Danksagungen bleibt kaum mehr Raum für den Dank an private Unterstützer und Freunde, wobei dieses Ungleichgewicht nicht untypisch für die Jahre vor bzw. nach einer Habilitation ist. Dennoch sollen insbesondere Felix, Lotte, Selma und Viola Habermeyer wissen, dass ihnen eine große Bedeutung auch für meinen bisherigen beruflichen Werdegang zukommt. Das Zusammensein mit ihnen war und ist Unterstützung und Ansporn. Deshalb ist Ihnen dieses Buch gewidmet. Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ............................................................................................................1 1.1 Theoretischer Hintergrund.................................................................................1 1.2 Die Sicherungsverwahrung................................................................................8 1.3 Stellungnahmen zu den Untergebrachten ........................................................20 1.4 Die psychiatrische Gutachtenpraxis ................................................................23 1.5 Kriminalprognostische Aspekte ......................................................................29 1.6 Zwischenstand .................................................................................................42 2 Aufbau, Hypothesen und Methodik der Untersuchungen ............................45 2.1 Auswertung externer Gutachten und Urteilsbegründungen.............................45 2.2 Auswertung eigener Gutachten .......................................................................47 2.3 Vergleich verschiedener forensischer Populationen........................................48 3 Ergebnisse .........................................................................................................50 3.1 Auswertung der Fremdgutachten.....................................................................50 3.2 Auswertung eigener kriminalprognostischer Gutachten bei angeordneter Sicherungsverwahrung ..................................................................................61 3.3 Vergleich der Gewalttäter mit angeordneter SV bzw. psychiatrischer Maßregel nach § 63 StGB .............................................................................................72 4 Diskussion .........................................................................................................82 4.1 Erörterung der Untersuchungsergebnisse ........................................................82 4.2 Einteilung der Sicherungsverwahrten............................................................100 4.3 Abgrenzung zwischen den Maßregeln gemäß § 63 und § 66 StGB ..............107 5 Zusammenfassung ..........................................................................................119 6 Literaturverzeichnis .......................................................................................123 7 Anhang ............................................................................................................134 1 1 Einleitung 1.1 Theoretischer Hintergrund 1.1.1 Ausgangsbedingungen Der Schuldvorwurf des deutschen Strafrechts setzt die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und die Willensfreiheit des Menschen voraus. Dementsprechend heißt es in einem grundlegenden Urteil des Bundesgerichtshofs, dass dem Täter mit der Feststellung seiner Schuld vorgeworfen werde, „dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können“ [BGH 1952]. Für den Juristen ist die Fähigkeit zur Einsicht und Übernahme von Verantwortung im Regelfall gegeben. Ausnahmen ergeben sich lediglich, wenn eines der vier Eingangsmerkmale der Schuldfähigkeitsparagraphen (§§ 20, 21 StGB, der Wortlaut der Bestimmungen kann dem Anhang entnommen werden), also entweder 1. 2. 3. 4. eine krankhafte seelische Störung, ein Schwachsinn, eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung oder eine schwere andere seelische Abartigkeit vorliegt. Wenn diese Eingangsvoraussetzungen die Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit eines Betroffenen erheblich vermindern oder gar aufheben, sieht die Rechtsprechung nicht den freien Entschluss, sondern ein „unabwendbares Schicksal“ [BGH 1952] am Werk. In diesem Fall wird die Schuld gemindert oder überhaupt nicht mehr von schuldhaftem Handeln gesprochen. Zu der Frage, ob bei Begehung der Straftat ein durch die §§ 20 bzw. 21 StGB definierter Ausnahmezustand vorgelegen hat, wird im Verfahren ein psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt. Dieses Vorgehen hat sich in der strafrechtlichen Praxis seit Beginn des 19. Jahrhunderts bewährt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich im Zusammenwirken von 2 philosophischem Strafrecht, Psychologie, Psychiatrie und gerichtlicher Arzneiwissenschaft die Criminalpsychologie, ein Vorläufer der heutigen Kriminologie, als Hilfswissenschaft der Rechtswissenschaft entwickelt (historische Übersicht bei Greve [2004]). Sie verfolgte das Ziel, das Wesen des Phänomens „Verbrechen“ zu erforschen. Einen wichtigen Beitrag zur Criminalpsychologie leistete von Beginn an die Psychiatrie, die unterschiedliche Formen der Geisteskrankheit und psychischer Ausnahmezustände umschrieb, die zur Unzurechnungsfähigkeit führen sollten. Vor dem Hintergrund dieses Erkenntniszuwachses über psychische Erkrankungen und deren Auswirkungen auf die Denk- und Handlungsfähigkeit bestand nunmehr die Notwendigkeit, die Frage der Zurechnungsfähigkeit im Strafverfahren zu thematisieren und sich dabei auch sachverständiger Hilfe zu bedienen. Schon in den Strafgesetzbüchern des frühen 19. Jahrhunderts deutet sich eine zweigliedrige Struktur der zu diesem Zweck erstellten gesetzlichen Vorgaben an. So wird zum Beispiel in Artikel 83 des Allgemeinen Criminal-Gesetzbuchs für das Königreich Hannover [1840] gefordert, dass diejenigen Täter für straflos zu erklären seien, die an einer „Geisteszerrüttung oder Gemütskrankheit leiden, durch welche der Vernunftgebrauch aufgehoben“ wird. Schon hier werden Eingangsvoraussetzungen (Geisteszerrüttung, Gemütskrankheit) definiert, die konkrete Auswirkungen auf die Geisteskräfte (hier den Gebrauch der Vernunft) haben sollen. Auch heutzutage geht es im ersten Schritt der Begutachtung darum, eine diagnostische Fragestellung, nämlich diejenige nach dem Vorliegen einer der vorgenannten vier psychischen Ausnahmezustände, zu beantworten. Die erste Stufe der Schuldfähigkeitsbegutachtung wird daher als „psychische“ Stufe bezeichnet [Schreiber 2000]. Dieser diagnostische Schritt wirkt auf den ersten Blick weitgehend unproblematisch, da er eine ärztliche Kernkompetenz, nämlich die Feststellung bzw. den Ausschluss einer Erkrankung betrifft. Allerdings besteht schon auf dieser psychopatologisch-diagnostischen Ebene die Schwierigkeit, dass die juristischen Vorgaben der Gesetzestexte mit den medizinisch-psychiatrischen Begrifflichkeiten nicht deckungsgleich sind [Habermeyer 2006]: Nicht jede seelische Störung ist 3 krankhaft und nicht jede Intelligenzminderung ein forensisch relevanter Schwachsinn. Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung ist überdies nicht mit medizinischen Zustandsbildern verknüpft oder mit ihnen in Deckung zu bringen [Saß 1983, Tröndle u. Fischer 2004]. Der aus psychiatrischer Sicht unglücklich gewählte Begriff der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ hat aus guten Gründen keinen Platz in der zeitgemäßen medizinischen Terminologie, die sich zu Recht um möglichst wertfreie Begrifflichkeiten bemüht. Er wird im Folgenden daher in Anführungszeichen gesetzt. Vor diesem Hintergrund ist man gezwungen, Übersetzungsarbeit im engeren Sinne zu leisten. Dabei besteht das Problem, dass eine wörtliche Übersetzung z.B. des juristischen Begriffs der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ etwa mit dem medizinisch diagnostischen Begriff der Persönlichkeitsstörung nicht möglich ist. Es geht dem Juristen hier nämlich auch um eine Aussage zum Schweregrad der Störung, die der diagnostische Begriff für sich genommen nicht bieten kann [Habermeyer 2004, Habermeyer u. Saß 2004]. Über die Diagnose hinausgehend sind weitere Erörterungen erforderlich, um dem Juristen klar machen zu können, was das psychiatrische Pendant des juristischen Begriffes sein kann. Im zweiten normativen Schritt geht es nach der aktuellen Terminologie der Gesetzestexte darum zu beurteilen, ob die diagnostizierte Störung in der Tatsituation so stark ausgeprägt war, dass erhebliche Auswirkungen auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit resultierten. Um von verminderter oder gar vollständig aufgehobener Schuldfähigkeit sprechen zu können, soll die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters in der Tatsituation infolge eines der im ersten Schritt festgestellten Merkmale erheblich vermindert (§ 21 StGB) beziehungsweise aufgehoben (§ 20 StGB) gewesen sein. Über die Fähigkeit des Gutachters, zu diesem Sachverhalt wissenschaftlich begründet Stellung zu nehmen, wurde über viele Jahre hinweg kontrovers diskutiert (skeptisch K. Schneider [1956]). Heutzutage herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass auch sachverständige Aussagen zu dieser „normativen“ [Schreiber 2000] Stufe der Schuldfähigkeitsparagraphen statthaft sind [Rasch 1999, Saß u. Kröber 1999, Venzlaff 2000]. 4 Die Debatte wurde nicht zuletzt dadurch in Richtung auf die Handhabbarkeit dieser so genannten normativen Stufe gelenkt, dass sich die psychiatrische Beurteilung nunmehr an einem pragmatischen Schuldbegriff orientiert, nach dem weniger die Frage der sittlichen Wahlfreiheit, als vielmehr der Grad der störungsbedingten Beeinträchtigung einer vorausgesetzten normalen Bestimmbarkeit durch soziale Normen entscheidend ist [Schreiber 2000 u. 2003]. Zu sachverständigen Aussagen über den Ausprägungsgrad dieser störungsbedingten Einschränkungen ist der Psychiater auf der Basis seines psychopathologischen Wissens durchaus in der Lage. Durch den Vergleich der psychopathologischen Merkmale des Probanden zur Tatzeit mit den aus klinischer Erfahrung bekannten Symptomkonstellationen definierter Krankheitsbilder kann die Einengung bzw. der Verlust der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit, die auch als Entscheidungsbzw. Handlungskompetenz beschrieben werden kann [Habermeyer u. Hoff 2004], abgeschätzt werden. Beispielhaft geschieht dies im psychopathologischen Referenzsystem von Saß [1985 u. 1991]. Auch beim zweiten Schritt der Begutachtung im Kontext der Schuldfähigkeit wird also psychopathologisch vorgegangen. Die Bezeichnung „normative Stufe“ ist daher irreführend, weshalb sie im Folgenden präziser als „psychopathologisch-normative Stufe“ bezeichnet wird. 1.1.2 Die Maßregeln der „Besserung und Sicherung“ Die Maßregeln der Besserung und Sicherung gehen auf Überlegungen von v. Liszt [1882] zurück. Sie flankieren das Strafensystem, indem sie Betroffenen unabhängig von Schuldaspekten Rechtsbeschränkungen auferlegen, die dazu geeignet sind, weitere rechtswidrige Taten der Betroffenen zu verhindern. Im Regelfall führt die Missachtung gesetzlicher Vorschriften zu rechtlichen Sanktionen, die der individuellen Schuld angemessen sind. Durch dieses Vorgehen wird die kriminalpräventive Wirkung der Strafe jedoch begrenzt: Sozialisationsdefizite und mangelnde Beherrschung können die Schuld eines Straftäters mindern und auf diese Weise zu kürzeren Freiheitsstrafen führen. Jedoch stellen solche Aspekte auch kriminalprognostisch bedenkliche Faktoren dar, d.h. sie zeigen eine erhöhte Rückfallgefahr an. In diesem Widerspruch liegt die 5 Erforderlichkeit der Maßregeln begründet, die ergänzend zur Strafe dazu dienen sollen, die vom Betroffenen ausgehenden Risiken zu minimieren (näheres bei Göppinger [1997]). Das Strafgesetzbuch definiert insgesamt sechs dieser Maßnahmen: Die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB), die 99% der jährlich verhängten Maßregeln ausmacht und das in praxi nahezu bedeutungslose Berufsverbot nach § 70 StGB müssen mangels psychiatrischer Relevanz an dieser Stelle nicht erörtert werden. Außerdem existiert die Führungsaufsicht nach § 68 StGB, die nach Ablauf längerer Freiheitsstrafen für 2 - 5 Jahre angeordnet wird. In Zusammenhang damit werden Weisungen erteilt und ein Bewährungshelfer bestimmt. Die Missachtung der Führungsaufsicht kann gesondert bestraft werden. Die Führungsaufsicht hat keine direkte Relevanz für die Psychiatrie, jedoch große Bedeutung für die im Folgenden näher zu bearbeitenden drei freiheitsentziehenden Maßregeln. Wenn diese zur Bewährung ausgesetzt werden, wird nämlich regelhaft die Führungsaufsicht angeordnet. Als freiheitsentziehende Maßregeln existieren die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB und die Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StGB (die zugehörigen Gesetzestexte finden sich im Anhang). Von unstrittiger Relevanz für das psychiatrische Fachgebiet sind die Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Die Anordnung dieser Maßregeln ist nämlich an die Feststellung psychischer Auffälligkeiten gekoppelt und dient nicht nur zur Sicherung des Betroffenen sondern auch zur Behandlung der festgestellten Störung. 1.1.3 Der psychiatrische Maßregelvollzug Bei Anwendung des § 21 StGB wird die Maßregel parallel zur Freiheitsstrafe angeordnet, aber in der Regel vor ihr bzw. anstatt der Strafe vollstreckt. Da das Schuldprinzip unseres Strafrechts erst dann von einem Verbrechen ausgeht, wenn die Handlung dem Täter zum Vorwurf gemacht werden kann [BGH 1952], wird ein schuldunfähiger Täter freigesprochen. Hier wird die Maßregel also anstatt der Strafe vollzogen. Die 6 Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus zielt auf „Heilung“ ab, während die Maßregel nach § 64 StGB auf die „Befreiung von der Sucht“ abzielt [BGH 2002b]. Für diese „eher am Besserungszweck ausgerichteten“ freiheitsentziehenden Maßregeln wurden vom Gesetzgeber lediglich „einige Leitlinien für einen therapeutisch orientierten“ Vollzug skizziert. Ansonsten wurde den Landesgesetzgebern „ein relativ weiter Rahmen für die Ausgestaltung“ des Vollzuges gelassen [Schöch 2000]. Maßregelvollzug im engeren Sinne ist daher der Bereich, auf den sich die Maßregelvollzugsgesetze der Länder beschränken, also die Maßregeln gemäß §§ 63 und 64 StGB. Sie werden dementsprechend auch als „Behandlungsmaßregeln“ [Volckart 1997] bezeichnet. 2004 wurde von ca. 9.000 Patienten im psychiatrischen Maßregelvollzug ausgegangen [Spengler 2004]. Demgegenüber befanden sich im Jahr 2003 62.594 Straftäter in Haft [Statistisches Bundesamt 2004]. Bezüglich der Anordnung von psychiatrischen Maßregeln ist jedoch seit Jahren eine Zunahme zu verzeichnen: 2005 waren allein in den alten Bundesländern 5640 Patienten in der psychiatrischen Maßregel nach § 63 StGB untergebracht, in einer Entwöhnungsbehandlung befanden sich 2.473 Patienten [Nedopil 2006]. Die bundesweiten Zahlen von Maßregelpatienten dürften nunmehr also deutlich über 9.000 Patienten liegen. Die Maßregel nach § 63 StGB muss bei vermindert schuldfähigen bzw. schuldunfähigen Straftätern angeordnet werden, wenn aufgrund der zur Schuldminderung führenden Störung weitere schwerwiegende Delikte zu erwarten sind und der Täter daher für die Allgemeinheit gefährlich ist. Ihre Anordnung ist nicht an Erfolgsaussichten der Behandlung gekoppelt. Außerdem ist sie - abgesehen von Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zeitlich unbefristet. Es gibt somit zwei Wege, entlassen zu werden: Die Maßregel kann (1) zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn die zugrunde liegende Störung wirksam behandelt wurde und somit keine Gefahr besteht, dass der Täter weitere störungsbedingte Straftaten begeht oder (2) beendet werden, wenn die Unterbringungsdauer in keinem Verhältnis zur Schwere der Anlasstat bzw. zur parallel angeordneten Gefängnisstrafe steht. Im Jahr 2002 kam es bundesweit zu 864 Einweisungen in diese 7 Maßregel, dieser Zahl stehen lediglich 235 Entlassungen gegenüber [Spengler 2004]. § 64 StGB, der im Jahr 2002 in 1532 Fällen Anwendung fand [Spengler 2004], regelt die Unterbringung substanzabhängiger Straftäter in der Entziehungsanstalt: Voraussetzung ist eine im Rausch begangene oder im Zusammenhang mit der Abhängigkeit (z.B. im Rahmen der Beschaffungskriminalität) stehende Straftat. Die verminderte Schuldfähigkeit ist zur Anordnung dieser Maßregel nicht zwingend erforderlich. Entscheidend ist der „Hang“ zum Konsum psychotroper Substanzen und die infolge des Hanges bestehende Gefahr weiterer erheblicher Straftaten. Außerdem muss die Aussicht bestehen, dass die Entwöhnungsbehandlung das Risiko erneuter Straftaten senken kann. Im Unterschied zur Maßregel nach § 63 StGB kann die Anordnung der Entzugsbehandlung unterbleiben, wenn zu erwarten ist, dass sie erfolglos bleiben wird. Außerdem kann sie bei fehlender Motivation auf Antrag der behandelnden Ärzte auch vor der Therapiehöchstdauer von zwei Jahren beendet werden. Die vorab gemachten Angaben zu den gesetzlichen Voraussetzungen, und nicht zuletzt die Vorgaben der Rechtsprechung zu den Vollzugszielen, dürften deutlich gemacht haben, dass die Maßregeln nach §§ 63 und 64 StGB in enger Beziehung zum psychiatrischen Fachgebiet stehen. Beginnend mit Leygraf [1988], der erhebliche Mängel bei der Unterbringung und Behandlung aufdecken konnte, wurden in der Folge mehrere psychiatrische Untersuchungen durchgeführt, um Aussagen zu der Klientel der Untergebrachten (für die Maßregel nach § 63 StGB Seifert u. Leygraf [1997], für den Vollzug gemäß § 64 StGB Schalast [2000]) und Erfolg versprechenden Behandlungsoptionen [z.B. Müller-Isberner 1998, Jöckel 2004] treffen zu können. Aspekte der psychiatrischen Behandlungsmaßregeln werden innerhalb des psychiatrischen Fachgebietes, aber auch im fachübergreifenden Dialog mit Justiz und Kriminologie intensiv diskutiert [Leygraf et al. 1993, Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales Saarland 2004]. 8 1.2 Die Sicherungsverwahrung 1.2.1 Gesetzliche Rahmenbedingungen Im Vergleich zu den vorgenannten „Behandlungsmaßregeln“ führt die Maßregel der Sicherungsverwahrung (SV) bislang ein forensischpsychiatrisches Schattendasein. Diese im Anschluss an eine Freiheitsstrafe zu vollstreckende Maßregel wurde 1933 eingeführt und war initial für „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ konzipiert. Diese sehr allgemein gehaltene Formulierung erleichterte die Anordnung der SV, was zu Unterbringungszahlen von bis zu 1.430 Insassen im Jahr 1965 geführt hat und erheblichen Bedenken begegnete. So kamen Hellmer [1961a] und Mayer [1962] zu dem kritischen Schluss, dass die SV den wirklich gefährlichen Gewohnheitsverbrecher kaum erfasse. Die Masse der Verwahrten gehöre zu den bloß störenden Tätern mit Eigentumsdelikten, die „lediglich durch die Länge ihrer Straflisten imponieren“ [Mayer 1962]. Vor diesem Hintergrund forderte Hellmer [1961a], dass die SV auf Täter beschränkt werden solle, die trotz mehrfacher Strafe weiterhin erhebliche Straftaten begehen und/oder „Triebverbrecher“ sind. Bei der Strafrechtsreform 1970 wurden die Vorschriften dann auch modifiziert: Nach § 66 Abs. I StGB ist die SV nunmehr bei einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren anzuordnen, wenn zuvor schon zwei mindestens einjährige Haftstrafen angeordnet und bereits eine Haftstrafe oder eine Unterbringung im Maßregelvollzug von mindestens 2 Jahren absolviert wurde. Außerdem muss die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergeben, dass er infolge „eines Hanges zur Begehung erheblicher Straftaten“ für „die Allgemeinheit gefährlich“ ist [Tröndle u. Fischer 2004]. Nach Überarbeitung der gesetzlichen Grundlagen kam es zu einem Rückgang der Unterbringungszahlen auf ca. 200 Insassen [Kinzig 1996]. Die SV galt in der Folge als kriminalpolitisches Auslaufmodell. Nach der Wiedervereinigung wurde z.B. lange darüber diskutiert, ob diese Maßregel in den neuen Bundesländern überhaupt eingeführt werden solle. 1995 entschied man sich dann dazu, die neuen Bundesländer mit einzubeziehen. 9 Die zweite Hälfte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts markiert dann eine Kehrtwende: Im Rahmen des „Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ wurden 1998 Anordnungserleichterungen bei Sexualstraftaten eingeführt (§ 66 Abs. III StGB) [Hammerschlag u. Schwarz 1998]. Diese können nunmehr schon bei der ersten Verurteilung zur Anordnung führen, gleiches gilt für zunächst unentdeckt gebliebene Serientaten (§ 66 Abs. II StGB). Außerdem wurde die frühere Höchstfrist von 10 Jahren in der Unterbringung abgeschafft. Ausdrückliches Ziel dieser gesetzgeberischen Maßnahmen war die vermehrte Anordnung von Sicherungsverwahrung bei Sexualstraftätern. Die vorgenannten Maßnahmen haben zu einem deutlichen Anstieg der Sicherungsverwahrten auf zuletzt 365 Insassen geführt [Nedopil 2006]. Weitere Anordnungserleichterungen wurden 2002 und 2004 im Bundestag beschlossen (hierzu zusammenfassend Keller u. Maser [2005], Pfister [2007]): Zunächst wurde die Möglichkeit einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung geschaffen. Demnach kann, wenn im Verfahren die fortbestehende Gefährlichkeit nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt wurde, die Maßregel unter Vorbehalt angeordnet werden (§ 66a StGB). Die Entscheidung ist dann vor Ablauf der Haftstrafe durch die Richter des Erstverfahrens zu überprüfen [Kinzig 2002]. Eine weitere Gesetzesänderung vom 29.7.2004 führte dazu, dass gemäß § 66b StGB die Maßregel nun auch nachträglich angeordnet werden kann, wenn sich während der Haftzeit neue Anhaltspunkte für eine fortbestehende Gefährlichkeit ergeben [Bundestag 2004]. Dieses Vorgehen, das zuvor schon in einigen Bundesländern qua Landesrecht praktiziert worden war [Ullenbruch 2002], wurde mittlerweile vom Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform erklärt. Jedoch wurde im Beschluss klargestellt, dass es bei Anordnung der nachträglichen SV nicht um die Korrektur fehlerhafter erstinstanzlicher Urteile gehen kann [Bundesverfassungsgericht 2006]. Erste gutachterliche Erfahrungen mit dieser Fragestellung lassen sehr heterogene Fallkonstellationen erkennen, die jedoch im weitaus überwiegenden Teil der Fälle nicht zur Anordnung der Maßregel führten, da keine neue Befundtatsachen vorlagen (Übersichten zur zugehörigen Rechtsprechung und der Begutachtung bei J.