Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie Band 116

Werbung
Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie
Band 116
Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie
Herausgegeben von
H. Saß, Aachen · H. Sauer, Jena · F. Müller-Spahn, Basel
Band 96: Aufklärung und Einwilligung
in der Psychiatrie
Ein Beitrag zur Ethik in der Medizin
Von J. Vollmann (ISBN 3-7985-1206-X)
Band 97: Tabakabhängigkeit
Biologische und psychosoziale Entstehungsbedingungen und Therapiemöglichkeiten
Von A. Batra (ISBN 3-7985-1212-4)
Band 98: Die psychosozialen Folgen
schwerer Unfälle
Von U. Schnyder (ISBN 3-7985-1213-2)
Band 99: Körperliche Aktivität
und psychische Gesundheit
Psychische und neurobiologische Effekte
von Ausdauertraining bei Patienten
mit Panikstörung und Agoraphobie
Von A. Brooks (ISBN 3-7985-1240-X)
Band 100: Das dopaminerge Verstärkungssystem
Funktion, Interaktion mit anderen Neurotransmittersystemen und psychopathologische Korrelate
Von A. Heinz (ISBN 3-7985-1248-5)
Band 101: Versorgungsbedarf und subjektive
Sichtweisen schizophrener Patienten
in gemeindepsychiatrischer Betreuung
Evaluationsstudie im Jahr nach Klinikentlassung
in der Region Dresden
Von Th. Kallert (ISBN 3-7985-1263-9)
Band 102: Psychopathologie von Leib und Raum
Phänomenologisch-empirische Untersuchungen
zu depressiven und paranoiden Erkrankungen
Von Th. Fuchs (ISBN 3-7985-1281-7)
Band 103: Wahrnehmung der frühen Psychose
Untersuchungen zur Eigen- und Fremdanamnese
der beginnenden Schizophrenie
Von M. Hambrecht (ISBN 3-7985-1292-2)
Band 104: Schizophrenien prälingual Gehörloser
Eine Untersuchung im lautlosen Kompartiment
des „menschengemeinsamen Raums“
Von K. Schonauer (ISBN 3-7985-1348-1)
Band 105: Zur Emotions/Kognitions-Kopplung
bei Störungen des Affekts
Neurophysiologische Untersuchungen unter
Verwendung ereigniskorrelierter Potentiale
Von D. E. Dietrich (ISBN 3-7985-1347-3)
Band 106: Neuronale Korrelate
psychopathologischer Symptome
Denk- und Sprachprozesse bei Gesunden
und Patienten mit Schizophrenie
Von T. Kircher (ISBN 3-7985-1377-5)
Band 107: Familienbefunde bei zykloiden
Psychosen und manisch-depressiver Erkrankung
Ein Beitrag zur Nosologie bipolarer
phasischer Psychosen
Von B. Pfuhlmann (ISBN 3-7985-1420-8)
Band 108: Geschlechtsspezifische Unterschiede
der schlafendokrinen Regulation und deren
Bedeutung für die Pathophysiologie
der Major Depression
Von I. A. Antonijevic (ISBN 3-7985-1487-9)
Band 109: Serotonin und akustisch evozierte
Potentiale
Auf der Suche nach einem verläßlichen Indikator
für das zentrale 5-HT-System
Von G. Juckel (ISBN 3-7985-1513-1)
Band 110: Psychiatrie der Brandstiftung
Eine psychopathologische Studie anhand von
Gutachten
Von W. Barnett (ISBN 3-7985-1519-0)
Band 111: Zerebrale Korrelate klinischer und
neuropsychologischer Veränderungen in den
Verlaufsstadien der Alzheimer-Demenz
Untersuchungen mit der quantitativen Magnetresonanztomographie
Von J. Pantel und J. Schröder
(ISBN 3-7985-1603-0)
Band 112: Effektivität der Ergotherapie
im psychiatrischen Krankenhaus
Mit einer Synopse zu Geschichte, Stand und
aktueller Entwicklung der psychiatrischen
Ergotherapie
Von T. Reuster (ISBN 3-7985-1641-3)
Band 113: Gefährlichkeitsprognosen
Eine empirische Untersuchung über Patienten
des psychiatrischen Maßregelvollzugs
Von D. Seifert (ISBN 978-3-7985-1755-4)
Band 114: Psychoimmunologische Forschung
bei Alzheimer-Demenz
Die Hypothese vorzeitiger Immunalterung als
pathogenetischer Faktor
Von E. Richartz-Salzburger
(ISBN 978-3-7985-1786-8)
Band 115: Evaluation allgemeinpsychiatrischtagesklinischer Behandlung unter besonderer
Berücksichtigung des Behandlungsendes
Von P. Garlipp (ISBN 978-3-7985-1820-9)
Band 116: Die Maßregel der Sicherungsverwahrung
Forensisch-psychiatrische Bedeutung,
Untersuchungsbefunde und Abgrenzung
zur Maßregel gemäß § 63 StGB
Von E. Habermeyer (ISBN 978-3-7985-1843-8)
Elmar Habermeyer
Die Maßregel
der Sicherungsverwahrung
Forensisch-psychiatrische Bedeutung,
Untersuchungsbefunde und Abgrenzung
zur Maßregel gemäß § 63 StGB
PD Dr. med. habil. Elmar Habermeyer
Ltd. Oberarzt
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie
und Psychotherapie
Universität Rostock
Gehlsheimer Straße 20
18147 Rostock
ISBN 978-3-7985-1843-8 Steinkopff Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der
Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes
oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen
des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes.
Steinkopff Verlag
ein Unternehmen von Springer Science+Business Media
www.steinkopff.com
© Steinkopff Verlag 2008
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt
werden dürften.
Verlagsredaktion: Dr. Maria Magdalene Nabbe
Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg
SPIN 12043552
80/7231 – 5 4 3 2 1 0 – Gedruckt auf säurefreiem Papier
Danksagung
Frau Prof. Dr. Sabine Herpertz möchte ich für ihre Unterstützung bei der hier
vorliegenden Arbeit danken. Sie hat meinen psychopathologisch ausgerichteten
forensisch-psychiatrischen Blick in zahlreichen spannenden, zum Teil auch
kontroversen Diskussionen um ihre sehr differenzierte neurobiologische
Perspektive erweitert. Meine forensisch-psychiatrischen Interessen hat in den
Aachener Jahren Prof. Dr. Henning Saß geweckt. Sein analytischer Blick bei der
Untersuchung und seine psychopathologisch fundierte, inhaltlich dichte
Niederschrift der Gutachten war und ist steter Ansporn, mich diesem Niveau
anzunähern. Auch Dr. Gerd Nohl und Herrn Heinz-Dieter Carduck vom Aachener
Landgericht bin ich zu Dank verpflichtet. Beide Kammervorsitzende haben mich
aufgrund ihrer interessierten und differenzierten Herangehensweise an
psychiatrische Gutachten für den Dialog zwischen Justiz und Psychiatrie
begeistert. Diesen konnte ich mit dem Richter am Bundesgerichtshof Herrn
Wolfgang Pfister intensivieren, wofür ich sehr dankbar bin. Die wissenschaftliche
Arbeit in Rostock wäre ohne Dr. Gregor Domes und Dipl.-Psych. Knut Vohs
kaum in ähnlich freundschaftlich-produktiver Atmosphäre verlaufen. Ebenfalls
motiviert hat mich die Begeisterungsfähigkeit meiner Promovenden Matthias
Licht, Daniel Passow, Peter Puhlmann und Roman Wolff. Frau Andrea Mittag hat
als Sekretärin und guter Geist meines Büros nicht nur im Kontext dieses Buches
geduldig meine ständigen Korrekturen und Überarbeitungsvorschläge umgesetzt.
Gleiches gilt für Frau Juliane Nantke, die die Druckversion der Arbeit angefertigt
hat. Außerdem möchte ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der
Medizinischen Fakultät der Universität Rostock danken, die meine
wissenschaftliche Arbeit durch großzügige Fördermittel unterstützt haben.
Neben all diesen Danksagungen bleibt kaum mehr Raum für den Dank an private
Unterstützer und Freunde, wobei dieses Ungleichgewicht nicht untypisch für die
Jahre vor bzw. nach einer Habilitation ist. Dennoch sollen insbesondere Felix,
Lotte, Selma und Viola Habermeyer wissen, dass ihnen eine große Bedeutung
auch für meinen bisherigen beruflichen Werdegang zukommt. Das Zusammensein
mit ihnen war und ist Unterstützung und Ansporn. Deshalb ist Ihnen dieses Buch
gewidmet.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ............................................................................................................1
1.1 Theoretischer Hintergrund.................................................................................1
1.2 Die Sicherungsverwahrung................................................................................8
1.3 Stellungnahmen zu den Untergebrachten ........................................................20
1.4 Die psychiatrische Gutachtenpraxis ................................................................23
1.5 Kriminalprognostische Aspekte ......................................................................29
1.6 Zwischenstand .................................................................................................42
2 Aufbau, Hypothesen und Methodik der Untersuchungen ............................45
2.1 Auswertung externer Gutachten und Urteilsbegründungen.............................45
2.2 Auswertung eigener Gutachten .......................................................................47
2.3 Vergleich verschiedener forensischer Populationen........................................48
3 Ergebnisse .........................................................................................................50
3.1 Auswertung der Fremdgutachten.....................................................................50
3.2 Auswertung eigener kriminalprognostischer Gutachten bei angeordneter
Sicherungsverwahrung ..................................................................................61
3.3 Vergleich der Gewalttäter mit angeordneter SV bzw. psychiatrischer Maßregel
nach § 63 StGB .............................................................................................72
4 Diskussion .........................................................................................................82
4.1 Erörterung der Untersuchungsergebnisse ........................................................82
4.2 Einteilung der Sicherungsverwahrten............................................................100
4.3 Abgrenzung zwischen den Maßregeln gemäß § 63 und § 66 StGB ..............107
5 Zusammenfassung ..........................................................................................119
6 Literaturverzeichnis .......................................................................................123
7 Anhang ............................................................................................................134
1
1 Einleitung
1.1 Theoretischer Hintergrund
1.1.1 Ausgangsbedingungen
Der Schuldvorwurf des deutschen Strafrechts setzt die Fähigkeit zur
Selbstbestimmung und die Willensfreiheit des Menschen voraus.
Dementsprechend heißt es in einem grundlegenden Urteil des
Bundesgerichtshofs, dass dem Täter mit der Feststellung seiner Schuld
vorgeworfen werde, „dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich
für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich
für das Recht hätte entscheiden können“ [BGH 1952]. Für den Juristen ist
die Fähigkeit zur Einsicht und Übernahme von Verantwortung im
Regelfall gegeben. Ausnahmen ergeben sich lediglich, wenn eines der vier
Eingangsmerkmale der Schuldfähigkeitsparagraphen (§§ 20, 21 StGB, der
Wortlaut der Bestimmungen kann dem Anhang entnommen werden), also
entweder
1.
2.
3.
4.
eine krankhafte seelische Störung,
ein Schwachsinn,
eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung oder
eine schwere andere seelische Abartigkeit
vorliegt. Wenn diese Eingangsvoraussetzungen die Einsichts- bzw.
Steuerungsfähigkeit eines Betroffenen erheblich vermindern oder gar
aufheben, sieht die Rechtsprechung nicht den freien Entschluss, sondern
ein „unabwendbares Schicksal“ [BGH 1952] am Werk. In diesem Fall
wird die Schuld gemindert oder überhaupt nicht mehr von schuldhaftem
Handeln gesprochen.
Zu der Frage, ob bei Begehung der Straftat ein durch die §§ 20 bzw. 21
StGB definierter Ausnahmezustand vorgelegen hat, wird im Verfahren ein
psychiatrisches Sachverständigengutachten eingeholt. Dieses Vorgehen hat
sich in der strafrechtlichen Praxis seit Beginn des 19. Jahrhunderts
bewährt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich im Zusammenwirken von
2
philosophischem Strafrecht, Psychologie, Psychiatrie und gerichtlicher
Arzneiwissenschaft die Criminalpsychologie, ein Vorläufer der heutigen
Kriminologie, als Hilfswissenschaft der Rechtswissenschaft entwickelt
(historische Übersicht bei Greve [2004]). Sie verfolgte das Ziel, das Wesen
des Phänomens „Verbrechen“ zu erforschen. Einen wichtigen Beitrag zur
Criminalpsychologie leistete von Beginn an die Psychiatrie, die
unterschiedliche Formen der Geisteskrankheit und psychischer
Ausnahmezustände umschrieb, die zur Unzurechnungsfähigkeit führen
sollten. Vor dem Hintergrund dieses Erkenntniszuwachses über psychische
Erkrankungen und deren Auswirkungen auf die Denk- und
Handlungsfähigkeit bestand nunmehr die Notwendigkeit, die Frage der
Zurechnungsfähigkeit im Strafverfahren zu thematisieren und sich dabei
auch sachverständiger Hilfe zu bedienen.
Schon in den Strafgesetzbüchern des frühen 19. Jahrhunderts deutet sich
eine zweigliedrige Struktur der zu diesem Zweck erstellten gesetzlichen
Vorgaben an. So wird zum Beispiel in Artikel 83 des Allgemeinen
Criminal-Gesetzbuchs für das Königreich Hannover [1840] gefordert, dass
diejenigen Täter für straflos zu erklären seien, die an einer
„Geisteszerrüttung oder Gemütskrankheit leiden, durch welche der
Vernunftgebrauch
aufgehoben“
wird.
Schon
hier
werden
Eingangsvoraussetzungen (Geisteszerrüttung, Gemütskrankheit) definiert,
die konkrete Auswirkungen auf die Geisteskräfte (hier den Gebrauch der
Vernunft) haben sollen. Auch heutzutage geht es im ersten Schritt der
Begutachtung darum, eine diagnostische Fragestellung, nämlich diejenige
nach dem Vorliegen einer der vorgenannten vier psychischen
Ausnahmezustände,
zu
beantworten.
Die
erste
Stufe
der
Schuldfähigkeitsbegutachtung wird daher als „psychische“ Stufe
bezeichnet [Schreiber 2000]. Dieser diagnostische Schritt wirkt auf den
ersten Blick weitgehend unproblematisch, da er eine ärztliche
Kernkompetenz, nämlich die Feststellung bzw. den Ausschluss einer
Erkrankung betrifft.
Allerdings besteht schon auf dieser psychopatologisch-diagnostischen
Ebene die Schwierigkeit, dass die juristischen Vorgaben der Gesetzestexte
mit
den
medizinisch-psychiatrischen
Begrifflichkeiten
nicht
deckungsgleich sind [Habermeyer 2006]: Nicht jede seelische Störung ist
3
krankhaft und nicht jede Intelligenzminderung ein forensisch relevanter
Schwachsinn. Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung ist überdies nicht mit
medizinischen Zustandsbildern verknüpft oder mit ihnen in Deckung zu
bringen [Saß 1983, Tröndle u. Fischer 2004]. Der aus psychiatrischer Sicht
unglücklich gewählte Begriff der „schweren anderen seelischen
Abartigkeit“ hat aus guten Gründen keinen Platz in der zeitgemäßen
medizinischen Terminologie, die sich zu Recht um möglichst wertfreie
Begrifflichkeiten bemüht. Er wird im Folgenden daher in
Anführungszeichen gesetzt. Vor diesem Hintergrund ist man gezwungen,
Übersetzungsarbeit im engeren Sinne zu leisten. Dabei besteht das
Problem, dass eine wörtliche Übersetzung z.B. des juristischen Begriffs
der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ etwa mit dem medizinisch
diagnostischen Begriff der Persönlichkeitsstörung nicht möglich ist. Es
geht dem Juristen hier nämlich auch um eine Aussage zum Schweregrad
der Störung, die der diagnostische Begriff für sich genommen nicht bieten
kann [Habermeyer 2004, Habermeyer u. Saß 2004]. Über die Diagnose
hinausgehend sind weitere Erörterungen erforderlich, um dem Juristen klar
machen zu können, was das psychiatrische Pendant des juristischen
Begriffes sein kann.
Im zweiten normativen Schritt geht es nach der aktuellen Terminologie der
Gesetzestexte darum zu beurteilen, ob die diagnostizierte Störung in der
Tatsituation so stark ausgeprägt war, dass erhebliche Auswirkungen auf
die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit resultierten. Um von verminderter
oder gar vollständig aufgehobener Schuldfähigkeit sprechen zu können,
soll die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters in der Tatsituation
infolge eines der im ersten Schritt festgestellten Merkmale erheblich
vermindert (§ 21 StGB) beziehungsweise aufgehoben (§ 20 StGB)
gewesen sein. Über die Fähigkeit des Gutachters, zu diesem Sachverhalt
wissenschaftlich begründet Stellung zu nehmen, wurde über viele Jahre
hinweg kontrovers diskutiert (skeptisch K. Schneider [1956]). Heutzutage
herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass auch sachverständige Aussagen zu
dieser
„normativen“
[Schreiber
2000]
Stufe
der
Schuldfähigkeitsparagraphen statthaft sind [Rasch 1999, Saß u. Kröber
1999, Venzlaff 2000].
4
Die Debatte wurde nicht zuletzt dadurch in Richtung auf die
Handhabbarkeit dieser so genannten normativen Stufe gelenkt, dass sich
die psychiatrische Beurteilung nunmehr an einem pragmatischen
Schuldbegriff orientiert, nach dem weniger die Frage der sittlichen
Wahlfreiheit, als vielmehr der Grad der störungsbedingten
Beeinträchtigung einer vorausgesetzten normalen Bestimmbarkeit durch
soziale Normen entscheidend ist [Schreiber 2000 u. 2003]. Zu
sachverständigen Aussagen über den Ausprägungsgrad dieser
störungsbedingten Einschränkungen ist der Psychiater auf der Basis seines
psychopathologischen Wissens durchaus in der Lage. Durch den Vergleich
der psychopathologischen Merkmale des Probanden zur Tatzeit mit den
aus klinischer Erfahrung bekannten Symptomkonstellationen definierter
Krankheitsbilder kann die Einengung bzw. der Verlust der Einsichts- und
Steuerungsfähigkeit,
die
auch
als
Entscheidungsbzw.
Handlungskompetenz beschrieben werden kann [Habermeyer u. Hoff
2004], abgeschätzt werden. Beispielhaft geschieht dies im
psychopathologischen Referenzsystem von Saß [1985 u. 1991]. Auch beim
zweiten Schritt der Begutachtung im Kontext der Schuldfähigkeit wird
also psychopathologisch vorgegangen. Die Bezeichnung „normative
Stufe“ ist daher irreführend, weshalb sie im Folgenden präziser als
„psychopathologisch-normative Stufe“ bezeichnet wird.
1.1.2 Die Maßregeln der „Besserung und Sicherung“
Die Maßregeln der Besserung und Sicherung gehen auf Überlegungen von
v. Liszt [1882] zurück. Sie flankieren das Strafensystem, indem sie
Betroffenen unabhängig von Schuldaspekten Rechtsbeschränkungen
auferlegen, die dazu geeignet sind, weitere rechtswidrige Taten der
Betroffenen zu verhindern. Im Regelfall führt die Missachtung gesetzlicher
Vorschriften zu rechtlichen Sanktionen, die der individuellen Schuld
angemessen sind. Durch dieses Vorgehen wird die kriminalpräventive
Wirkung der Strafe jedoch begrenzt: Sozialisationsdefizite und mangelnde
Beherrschung können die Schuld eines Straftäters mindern und auf diese
Weise zu kürzeren Freiheitsstrafen führen. Jedoch stellen solche Aspekte
auch kriminalprognostisch bedenkliche Faktoren dar, d.h. sie zeigen eine
erhöhte Rückfallgefahr an. In diesem Widerspruch liegt die
5
Erforderlichkeit der Maßregeln begründet, die ergänzend zur Strafe dazu
dienen sollen, die vom Betroffenen ausgehenden Risiken zu minimieren
(näheres bei Göppinger [1997]). Das Strafgesetzbuch definiert insgesamt
sechs dieser Maßnahmen:
Die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB), die 99% der jährlich
verhängten Maßregeln ausmacht und das in praxi nahezu bedeutungslose
Berufsverbot nach § 70 StGB müssen mangels psychiatrischer Relevanz an
dieser Stelle nicht erörtert werden. Außerdem existiert die
Führungsaufsicht nach § 68 StGB, die nach Ablauf längerer
Freiheitsstrafen für 2 - 5 Jahre angeordnet wird. In Zusammenhang damit
werden Weisungen erteilt und ein Bewährungshelfer bestimmt. Die
Missachtung der Führungsaufsicht kann gesondert bestraft werden. Die
Führungsaufsicht hat keine direkte Relevanz für die Psychiatrie, jedoch
große Bedeutung für die im Folgenden näher zu bearbeitenden drei
freiheitsentziehenden Maßregeln. Wenn diese zur Bewährung ausgesetzt
werden, wird nämlich regelhaft die Führungsaufsicht angeordnet. Als
freiheitsentziehende Maßregeln existieren die Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB, die Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB und die Sicherungsverwahrung
gemäß § 66 StGB (die zugehörigen Gesetzestexte finden sich im Anhang).
Von unstrittiger Relevanz für das psychiatrische Fachgebiet sind die
Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und
der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Die Anordnung dieser
Maßregeln ist nämlich an die Feststellung psychischer Auffälligkeiten
gekoppelt und dient nicht nur zur Sicherung des Betroffenen sondern auch
zur Behandlung der festgestellten Störung.
1.1.3 Der psychiatrische Maßregelvollzug
Bei Anwendung des § 21 StGB wird die Maßregel parallel zur
Freiheitsstrafe angeordnet, aber in der Regel vor ihr bzw. anstatt der Strafe
vollstreckt. Da das Schuldprinzip unseres Strafrechts erst dann von einem
Verbrechen ausgeht, wenn die Handlung dem Täter zum Vorwurf gemacht
werden kann [BGH 1952], wird ein schuldunfähiger Täter freigesprochen.
Hier wird die Maßregel also anstatt der Strafe vollzogen. Die
6
Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus zielt auf „Heilung“ ab,
während die Maßregel nach § 64 StGB auf die „Befreiung von der Sucht“
abzielt [BGH 2002b]. Für diese „eher am Besserungszweck
ausgerichteten“ freiheitsentziehenden Maßregeln wurden vom Gesetzgeber
lediglich „einige Leitlinien für einen therapeutisch orientierten“ Vollzug
skizziert. Ansonsten wurde den Landesgesetzgebern „ein relativ weiter
Rahmen für die Ausgestaltung“ des Vollzuges gelassen [Schöch 2000].
Maßregelvollzug im engeren Sinne ist daher der Bereich, auf den sich die
Maßregelvollzugsgesetze der Länder beschränken, also die Maßregeln
gemäß §§ 63 und 64 StGB. Sie werden dementsprechend auch als
„Behandlungsmaßregeln“ [Volckart 1997] bezeichnet. 2004 wurde von ca.
9.000 Patienten im psychiatrischen Maßregelvollzug ausgegangen
[Spengler 2004]. Demgegenüber befanden sich im Jahr 2003 62.594
Straftäter in Haft [Statistisches Bundesamt 2004]. Bezüglich der
Anordnung von psychiatrischen Maßregeln ist jedoch seit Jahren eine
Zunahme zu verzeichnen: 2005 waren allein in den alten Bundesländern
5640 Patienten in der psychiatrischen Maßregel nach § 63 StGB
untergebracht, in einer Entwöhnungsbehandlung befanden sich 2.473
Patienten
[Nedopil
2006].
Die
bundesweiten
Zahlen
von
Maßregelpatienten dürften nunmehr also deutlich über 9.000 Patienten
liegen.
Die Maßregel nach § 63 StGB muss bei vermindert schuldfähigen bzw.
schuldunfähigen Straftätern angeordnet werden, wenn aufgrund der zur
Schuldminderung führenden Störung weitere schwerwiegende Delikte zu
erwarten sind und der Täter daher für die Allgemeinheit gefährlich ist. Ihre
Anordnung ist nicht an Erfolgsaussichten der Behandlung gekoppelt.
Außerdem ist sie - abgesehen von Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zeitlich unbefristet. Es gibt somit zwei Wege, entlassen zu werden: Die
Maßregel kann (1) zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn die zugrunde
liegende Störung wirksam behandelt wurde und somit keine Gefahr
besteht, dass der Täter weitere störungsbedingte Straftaten begeht oder (2)
beendet werden, wenn die Unterbringungsdauer in keinem Verhältnis zur
Schwere der Anlasstat bzw. zur parallel angeordneten Gefängnisstrafe
steht. Im Jahr 2002 kam es bundesweit zu 864 Einweisungen in diese
7
Maßregel, dieser Zahl stehen lediglich 235 Entlassungen gegenüber
[Spengler 2004].
§ 64 StGB, der im Jahr 2002 in 1532 Fällen Anwendung fand [Spengler
2004], regelt die Unterbringung substanzabhängiger Straftäter in der
Entziehungsanstalt: Voraussetzung ist eine im Rausch begangene oder im
Zusammenhang mit der Abhängigkeit (z.B. im Rahmen der
Beschaffungskriminalität)
stehende
Straftat.
Die
verminderte
Schuldfähigkeit ist zur Anordnung dieser Maßregel nicht zwingend
erforderlich. Entscheidend ist der „Hang“ zum Konsum psychotroper
Substanzen und die infolge des Hanges bestehende Gefahr weiterer
erheblicher Straftaten. Außerdem muss die Aussicht bestehen, dass die
Entwöhnungsbehandlung das Risiko erneuter Straftaten senken kann. Im
Unterschied zur Maßregel nach § 63 StGB kann die Anordnung der
Entzugsbehandlung unterbleiben, wenn zu erwarten ist, dass sie erfolglos
bleiben wird. Außerdem kann sie bei fehlender Motivation auf Antrag der
behandelnden Ärzte auch vor der Therapiehöchstdauer von zwei Jahren
beendet werden.
Die vorab gemachten Angaben zu den gesetzlichen Voraussetzungen, und
nicht zuletzt die Vorgaben der Rechtsprechung zu den Vollzugszielen,
dürften deutlich gemacht haben, dass die Maßregeln nach §§ 63 und 64
StGB in enger Beziehung zum psychiatrischen Fachgebiet stehen.
Beginnend mit Leygraf [1988], der erhebliche Mängel bei der
Unterbringung und Behandlung aufdecken konnte, wurden in der Folge
mehrere psychiatrische Untersuchungen durchgeführt, um Aussagen zu der
Klientel der Untergebrachten (für die Maßregel nach § 63 StGB Seifert u.
Leygraf [1997], für den Vollzug gemäß § 64 StGB Schalast [2000]) und
Erfolg versprechenden Behandlungsoptionen [z.B. Müller-Isberner 1998,
Jöckel 2004] treffen zu können. Aspekte der psychiatrischen
Behandlungsmaßregeln
werden
innerhalb
des
psychiatrischen
Fachgebietes, aber auch im fachübergreifenden Dialog mit Justiz und
Kriminologie intensiv diskutiert [Leygraf et al. 1993, Ministerium für
Justiz, Gesundheit und Soziales Saarland 2004].
8
1.2 Die Sicherungsverwahrung
1.2.1 Gesetzliche Rahmenbedingungen
Im Vergleich zu den vorgenannten „Behandlungsmaßregeln“ führt die
Maßregel der Sicherungsverwahrung (SV) bislang ein forensischpsychiatrisches Schattendasein. Diese im Anschluss an eine Freiheitsstrafe
zu vollstreckende Maßregel wurde 1933 eingeführt und war initial für
„gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ konzipiert. Diese sehr allgemein
gehaltene Formulierung erleichterte die Anordnung der SV, was zu
Unterbringungszahlen von bis zu 1.430 Insassen im Jahr 1965 geführt hat
und erheblichen Bedenken begegnete. So kamen Hellmer [1961a] und
Mayer [1962] zu dem kritischen Schluss, dass die SV den wirklich
gefährlichen Gewohnheitsverbrecher kaum erfasse. Die Masse der
Verwahrten gehöre zu den bloß störenden Tätern mit Eigentumsdelikten,
die „lediglich durch die Länge ihrer Straflisten imponieren“ [Mayer 1962].
Vor diesem Hintergrund forderte Hellmer [1961a], dass die SV auf Täter
beschränkt werden solle, die trotz mehrfacher Strafe weiterhin erhebliche
Straftaten begehen und/oder „Triebverbrecher“ sind.
Bei der Strafrechtsreform 1970 wurden die Vorschriften dann auch
modifiziert: Nach § 66 Abs. I StGB ist die SV nunmehr bei einer
Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren anzuordnen, wenn zuvor schon
zwei mindestens einjährige Haftstrafen angeordnet und bereits eine
Haftstrafe oder eine Unterbringung im Maßregelvollzug von mindestens 2
Jahren absolviert wurde. Außerdem muss die Gesamtwürdigung des Täters
und seiner Taten ergeben, dass er infolge „eines Hanges zur Begehung
erheblicher Straftaten“ für „die Allgemeinheit gefährlich“ ist [Tröndle u.
Fischer 2004]. Nach Überarbeitung der gesetzlichen Grundlagen kam es zu
einem Rückgang der Unterbringungszahlen auf ca. 200 Insassen [Kinzig
1996]. Die SV galt in der Folge als kriminalpolitisches Auslaufmodell.
Nach der Wiedervereinigung wurde z.B. lange darüber diskutiert, ob diese
Maßregel in den neuen Bundesländern überhaupt eingeführt werden solle.
1995 entschied man sich dann dazu, die neuen Bundesländer mit
einzubeziehen.
9
Die zweite Hälfte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts markiert dann
eine Kehrtwende: Im Rahmen des „Gesetzes zur Bekämpfung von
Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ wurden 1998
Anordnungserleichterungen bei Sexualstraftaten eingeführt (§ 66 Abs. III
StGB) [Hammerschlag u. Schwarz 1998]. Diese können nunmehr schon
bei der ersten Verurteilung zur Anordnung führen, gleiches gilt für
zunächst unentdeckt gebliebene Serientaten (§ 66 Abs. II StGB).
Außerdem wurde die frühere Höchstfrist von 10 Jahren in der
Unterbringung abgeschafft. Ausdrückliches Ziel dieser gesetzgeberischen
Maßnahmen war die vermehrte Anordnung von Sicherungsverwahrung bei
Sexualstraftätern. Die vorgenannten Maßnahmen haben zu einem
deutlichen Anstieg der Sicherungsverwahrten auf zuletzt 365 Insassen
geführt [Nedopil 2006].
Weitere Anordnungserleichterungen wurden 2002 und 2004 im Bundestag
beschlossen (hierzu zusammenfassend Keller u. Maser [2005], Pfister
[2007]): Zunächst wurde die Möglichkeit einer vorbehaltenen
Sicherungsverwahrung geschaffen. Demnach kann, wenn im Verfahren die
fortbestehende Gefährlichkeit nicht mit hinreichender Sicherheit
festgestellt wurde, die Maßregel unter Vorbehalt angeordnet werden (§ 66a
StGB). Die Entscheidung ist dann vor Ablauf der Haftstrafe durch die
Richter des Erstverfahrens zu überprüfen [Kinzig 2002]. Eine weitere
Gesetzesänderung vom 29.7.2004 führte dazu, dass gemäß § 66b StGB die
Maßregel nun auch nachträglich angeordnet werden kann, wenn sich
während der Haftzeit neue Anhaltspunkte für eine fortbestehende
Gefährlichkeit ergeben [Bundestag 2004]. Dieses Vorgehen, das zuvor
schon in einigen Bundesländern qua Landesrecht praktiziert worden war
[Ullenbruch 2002], wurde mittlerweile vom Bundesverfassungsgericht als
verfassungskonform erklärt. Jedoch wurde im Beschluss klargestellt, dass
es bei Anordnung der nachträglichen SV nicht um die Korrektur
fehlerhafter
erstinstanzlicher
Urteile
gehen
kann
[Bundesverfassungsgericht 2006]. Erste gutachterliche Erfahrungen mit
dieser Fragestellung lassen sehr heterogene Fallkonstellationen erkennen,
die jedoch im weitaus überwiegenden Teil der Fälle nicht zur Anordnung
der Maßregel führten, da keine neue Befundtatsachen vorlagen
(Übersichten zur zugehörigen Rechtsprechung und der Begutachtung bei J.
Herunterladen