SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA – Manuskriptdienst Nachtigall und Todesengel Die Besonderheiten der türkischen Musik Aus der Reihe: SWR2 extra „Türkei“ Autor: Martin Greve * Redaktion: Ralf Caspary / Gabor Paal Sendung: Sonntag, 27. Dezember 2009, 8.30 Uhr, SWR 2 ___________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden erhältlich. Bestellmöglichkeiten unter Telefon: 07221/929-6030 SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter www.swr2.de ___________________________________________________________________ 2 Ansage: Von heute an steht zwei Wochen lang die Türkei im Mittelpunkt unseres Programms. SWR2 berichtet mit vielen Reportagen, Interviews und Diskussion über das Land zwischen Ägäis und Ararat, über die Menschen, die dort leben, und über den Wandel, der sich zur Zeit dort vollzieht. Auch in unseren Musiksendungen werden Sie natürlich viel Türkisches hören, und deshalb geht es jetzt auch in der SWR2 Aula um die türkische Musik. Was macht sie aus? Für viele europäische Ohren klingt sie ja zunächst einfach nur irgendwie orientalisch. Doch kaum ein Land verfügt über derartig vielfältige Musiktraditionen wie die Türkei. Die türkische Musik hat einen eigenen Klangraum, eigene typische Instrumente und in den Liedern eine ganz eigene Symbolik. Um diese Musik besser zu verstehen, haben wir in die heutige Sendung den Musikwissenschaftler Martin Greve eingeladen. Er lehrt türkische Musik an der Weltmusikakademie in Rotterdam. Unter dem Titel „Nachtigall und Todesengel“ beschreibt er anhand vieler Hörbeispiele die Besonderheiten der türkischen Musik. Martin Greve: Der Ausdruck „Türkische Musik“ ist eigentlich ein politischer Begriff, kein musikalischer, man könnte auch sagen: ein ideologischer. Was ist damit gemeint? Türkische Volkslieder? Aber auch kurdische? Oder gar die instrumentale Version von „Smoke on the water“, gespielt auf osmanischen Instrumenten von der Gruppe Dolapdere Big Gang aus Istanbul? Ist nicht eigentlich alles „Türkische Musik“, was in der Türkei erklingt, zumindest wenn Musiker oder Komponist Türken sind? Aber was ist die Türkei? Gegründet wurde die Türkei, die Türkische Republik erst 1923, davor gab es das Osmanische Reich. Das aber reichte in seiner Glanzzeit im 16. Jahrhundert von Nordafrika über die arabische Halbinsel bis ins heutige Ungarn. All die vielen Musikstile in diesen Ländern hatten untereinander praktisch keinerlei Gemeinsamkeiten. Der Ausdruck „deutsche Musik“ ist offensichtlich musikalisch gesehen sinnlos, und der Begriff „türkische Musik“ ist es eigentlich auch. In Europa stellt man sich unter „türkischer Musik“ meist etwas sehr Traditionelles und irgendwie Orientalisches vor. In der Türkei ist das anders, da handelt es sich um ein kulturpolitisches Projekt: Die Schaffung einer neuen, nationalen türkischen Musiksprache, in der drei ursprünglich völlig verschiedene Musikwelten zu einer Einheit verschmelzen sollen: 1. anatolische Volksmusik, 2. osmanische Hofmusik und 3. die Musik des Westens. Beginnen wir mit der osmanischen Hofmusik. Diese in Deutschland meist „türkische Kunstmusik“ genannte Musiksprache geht historisch zurück auf die Hofmusik der Osmanen, der Sultane plus die Traditionen einiger städtischer Istanbuler Sufi-Orden. Es war vor allem Vokalmusik, bei der einzelne Sänger von kleinen Instrumentalensembles begleitet wurden. Instrumente dieser Kunstmusik waren beispielsweise die Kurzhalslaute Ud, eine offene Längsflöte SWR2 AULA vom 27.12.2009 Nachtigall und Todesengel – Die Besonderheiten der türkischen Musik Von Martin Greve 3 Ney; Kanun, eine gezupfte Kastenzither, Tanbur, eine Langhalslaute, ab dem 18. Jahrhundert dann auch die europäische Violine und eine ursprünglich griechische Fiedel Kemençe. Der Gesang war stark vom Islam geprägt. Die Koranlesung, die Rezitation des Koran war bis ins 19. Jahrhundert Teil der Grundausbildung eines jeden Sängers und viele müezzin sangen auch weltliche Lieder, komponierten oder lernten Instrumente. Die tragende soziale Schicht dieser Kunstmusik bildeten Angehörige des Osmanischen Hofes und das Umfeld, vor allem in der Stadt Istanbul. Es waren Höflinge und die Frauen im Serail und Angehörige der obersten Familien bis hin zu den Sultanen selbst. Hinzu kamen Moscheensänger, Gebetsrufer und Derwische. Die Musiker in den Palästen und Villen dieser Oberschicht waren jedoch keineswegs nur Türken, es gab dort Angehörige verschiedener Völker, insbesondere Armenier, Juden und Griechen. Die einfache Bevölkerung, vor allem die ländliche Bevölkerung, hatte mit dieser Musik zunächst nichts zu tun. Diese Musik war ihnen fremd, nur die Musik der Sufi-Orden war ihnen überhaupt zugänglich. Osmanische Kunstmusik war im wesentlichen einstimmig. Das Repertoire besteht zum größten Teil aus Kunstliedern, die Komponisten sind heute bekannt. Die meisten lebten in der Zeit zwischen dem 17. und dem frühen 20. Jahrhundert – also ähnlich wie beim heutigen Repertoire westlicher klassischer Musik. Aufgeführt wurden die Lieder am Hof in größeren Zyklen (fasıl), deren Aufbau sich im Laufe der Zeit mehrfach veränderte. Als klassisch osmanisch gilt die fasıl-Form des 17. und 18. Jahrhunderts: Zunächst wird eine freie Instrumental-Improvisation (ein so genanntes taksim), dann eine Instrumentalkomposition, danach konnte ein vokales taksim, also eine Gesangs-Improvisation, folgen. Den anschließenden Hauptteil bildeten mehrere hintereinander gespielte, teilweise sehr lange Kunstlieder. Eine erneute Instrumentalkomposition bildete den Abschluss. Diese Form hat sich im 20. Jahrhundert eigentlich aufgelöst, heute werden in Konzerten nur noch sogenannte Sarkı gesungen, kleine leichte Kunstlieder. Eng verwandt mit dieser höfischen Aufführungsform ist die Musik einiger SufiBruderschaften. Die Zeremonien werden Zikr genannt (arab. Erinnerung). Das Ziel dieser Zeremonien ist es, eine Einheit mit Gott zu finden, eine innere Begegnung. Dafür gibt es bei verschiedenen Sufi-Orden mehrere Techniken: Gebete, spezielle Atemtechniken, Trommelrhythmen oder Gesang, teilweise auch Tanz. Musikalisch waren im Osmanischen Reich vor allem die Mevlevi bedeutsam, von denen viele gleichzeitig Hofmusiker waren. Der Name des Ordens geht auf seinen Gründer, Celalleddin-i Rumi, genannt Mevlana, zurück, einen 1273 im zentralanatolischen Konya verstorbenen Mystiker und Dichter. Das zentrale Ritual der mevlevi waren die berühmten Drehtänze (wirbelnde Derwische). Zur Begleitung erklang eine Musik, auch wieder gesungen und mit kleinen Instrumental-Ensembles, aus Hymnen, Instrumentalimprovisationen und Kompositionen und dann religiöse Hymnen. Die Texte der weltlichen Kunstlieder stammten aus der Divan Literatur, es waren kunstvolle Gedichte voller Symbole und Wortspiele. Typische Symbole sind beispielsweise die Nachtigall – stellvertretend für den Dichter – und ihm gegenüber SWR2 AULA vom 27.12.2009 Nachtigall und Todesengel – Die Besonderheiten der türkischen Musik Von Martin Greve 4 die Rose – die Geliebte, die Frau, die einerseits sehr schön ist, aber andererseits auch stechen kann. Ein anderes Gegensatzpaar ist die Welt und dagegen der Rosengarten des Paradieses. Bei den meisten Texten geht es um Liebe oder um mystische Erkenntnisse. Wichtigstes formales Merkmal der Gedichte waren die aus dem arabischen stammenden quantifizierenden Versmaße, die der türkischen Sprache eigentlich fremd sind. Das wichtigste ist die Länge der Silben, und danach werden dann bestimmte Reimschemen entwickelt. Der persönliche Ausdruck des Dichters spielt kaum eine Rolle. Die musikalische Struktur osmanischer Musik wird bestimmt durch die Phänomene Makam und Usul. Ein Usul ist ein rhythmisches Muster, eine Schlagfolge, die während einer Kompositionen ständig wiederholt wird, allerdings manchmal leicht verziert wiederholt wird. Einige dieser rhythmischen Pattern sind kurze Folgen aus drei oder vier Schlägen, die längeren aber dauern 16 oder 32 bis hin zu 88 Schlägen. Sie sind rein vom Hören her kaum nachvollziehbar, und doch bestimmen die usul die Formen und Strukturen aller Kompositionen. Alle Phrasen, alle Formteile schließen immer innerhalb eines usul. Makam bezeichnet ein melodisches System. Ein bestimmter makam, ein Modus, hat eine eigene typische Skala, einen Tonumfang mit einer eigenen Hierarchie der Töne. Es gibt einen Grundton, einen dominierenden Ton, einen Leitton, leitend zum Grundton usw. Dazu kommen jeweils bestimmte melodische Floskeln, anhand derer ein erfahrener Hörer einen makam schon dann erkennt, wenn die ganze Skala noch gar nicht erklungen ist. Jeder makam hat Gefühlsassoziationen und überdies ein in ihm angelegtes Formmodell. Es macht also einen Unterschied, ob ich die Melodie mit einer Quinte anfange oder mit dem Grundton oder der oberen Oktave. Das wären jeweils schon verschiedene Makame. Ein guter Musiker muss heute mindesten 50 makame sicher beherrschen, theoretisch gibt es aber bis zu 500. Europäische Hörer, die gewöhnt sind, mehrstimmige Musik zu hören, haben oft große Schwierigkeiten, verschiedene makame auseinander zu halten, und erst recht die subtilen Modulationen zwischen ihnen zu erkennen. Wenn allein die Gewichtung eines Tones sich verschiebt, wenn die Quarte etwas länger betont wird als die Quinte, ist das schon eine Modulation. Ein weiterer Grund für die Komplexität des türkischen makam-Systems – neben der Melodik selbst – ist das Tonsystem. In türkischer Kunstmusik wird eine Oktave nicht in 12 Tonschritte unterteilt, wie in Europa, sondern in 24 ungleich große Tonschritte. Es gibt also deutlich mehr Töne als in europäischer Musik, und es gibt wesentlich kleinere Intervalle. Die konzentrierteste Darstellung eines makams findet in den improvisierten Einleitungen statt, in den taksimen, die ja sowohl bei den Sufis als auch in der höfischen Musik am Anfang der Zyklen aufgeführt werden. SWR2 AULA vom 27.12.2009 Nachtigall und Todesengel – Die Besonderheiten der türkischen Musik Von Martin Greve 5 Der Makam wird damit dargestellt und darf während des weiteren Zyklus nicht mehr verlassen werden, außer in kurzen Modulationen. Auch diese Regel hat sich im 20. Jahrhundert nicht erhalten. Heute wird in den Konzerten ziemlich wild hin und her moduliert. Ab etwa 1800 begann in Istanbul der Aufstieg europäischer Musik. In der osmanischen Oberschicht wurde das Klavierspiel Teil der allgemeinen Erziehung, ähnlich wie damals in Europa, und auch viele Mitglieder der Osmanischen Familie lernten von nun an das Klavierspielen. Man weiß auch von osmanischen Sultanen, dass sie Klavierunterricht hatten. In den späten osmanischen Palästen am Bosporus gab es Streichorchester und im Yildiz Palast sogar eine kleine Opernbühne. Einige Sultane komponierten selbst kleinerer Klavierstücke. 1828 wurde Giuseppe Donizetti, der Bruder des Opern-Komponisten Gaetano Donizetti, am osmanischen Hof Leiter einer neuen, westlichen Militärmusikkappelle (mızıkay-ı hümâyûn). Mit ihm begann der Aufbau europäischer Musik in Istanbul im größerem Stil. Neben einer militärischen Blaskapelle entstand hier ein Symphonieorchester, später ein Opern- und Operettenensemble sowie ein Mandolinenensemble. Sultane luden bekannte europäische Musiker zu Gastspielen in den Palast ein, Henri Vieuxtemps oder auch Franz Liszt. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstand Am Hof entstand im Istanbuler Christenviertel Pera (heute Beyoglu) ein öffentliches Theater- und Konzertleben , ähnlich wie in europäischen Großstädten in der Zeit auch. Während europäische Musik beliebter wurde, verlor die gleichzeitig die traditionelle osmanische Musik immer stärker an offizieller Unterstützung. Im Jahr 1917, mitten im Ersten Weltkreig, wurde in Istanbul das erste Musikkonservatorium der Türkei gegründet. Dort konnte man sowohl westliche wie osmanische Musik studieren. Mit der Gründung der Türkischen Republik 1923 fiel die osmanische Kunstmusik in politische Ungnade. Für den wichtigsten Theoretiker des türkischen Nationalismus, Ziya Gökalp, war sie im Kern byzantinisch, arabisch und persisch und damit eben nicht Bestandteil der nationalen türkischen Kultur. Jahrzehntelang – bis Mitte der 1970er Jahre – versagte der türkische Staat der osmanischen Kunstmusik jede Unterstützung. Die Mevlevi wurden 1925 verboten, erst im Jahr 1953 durften sie ihre Musik mitsamt den Tänzen im Rahmen von Festivals wieder öffentlich aufführen. In den 1940er Jahren tauchte dann die Idee auf, osmanische Kunstmusik sei weniger auf antike, arabische, iranische oder byzantinische Vorläufer zurückzuführen, sondern vielmehr auf zentralasiatische und alt-anatolische. Demnach handele es sich eben doch um eine türkische nationale Musik. Dieser Standpunkt ist heute offiziell anerkannt, wird politisch gefördert, und die großen Konservatorien folgen dieser Vorstellung. Heute wird osmanische Musik wieder regelmäßig und mit staatlicher Unterstützung aufgeführt, allerdings in vollkommen veränderter Ästhetik. Im folgenden Musikbeispiel hören Sie den Staatlichen Chor für Klassische Türkische Musik Istanbul mit einem Kunstlied des Komponisten Dede Efende aus dem frühen 19. Jahrhundert. SWR2 AULA vom 27.12.2009 Nachtigall und Todesengel – Die Besonderheiten der türkischen Musik Von Martin Greve 6 Es sind solche großen Chöre, die heute osmanische Lieder singen, begleitet von Orchestern aus osmanischen und europäischen Instrumenten. Solche Ensembles gibt es heute in allen größeren Städten der Türkei, entstanden sind sie in den 1980er und 1990er Jahren. Dort können immer weitere Bevölkerungsschichten, selbst die ländliche Bevölkerung. Diese sogenannte klassische türkische Musik gilt in der Türkei heute als das türkische Gegenstück zur klassischen Musik Europas. Die Melodien stammen tatsächlich unverändert aus osmanischer Zeit. Die Klangvorstellungen aber, die Einrichtung eines Dirigenten, die Konservatorien, an denen Musiker ausgebildet werden, die Überlieferung durch Notenschrift, die Konzertsäle, ja selbst die Konzertsituation, gegen Eintritt konzentriert öffentlich Musik zu hören, das alles sind Ideen, die aus Europa stammen. Noch einmal zurück zur europäischen Musik in der Türkei. Die neue Türkische Republik verstand sich erklärtermaßen als europäischer Staat und schon 1924, direkt nach seiner Gründung, wurde der Unterricht in westlicher Musik Pflichtfach für alle Schulen, in Ankara entstand eine Schule zur Ausbildung von Musiklehrern, aus der Mızıkay-ı hümâyûn wurde das Sinfonieorchester des Staatspräsidenten. Gleichzeitig schickte der türkische Staat junge türkische Musiker mit Stipendien nach Paris, Wien, Berlin, Prag oder Budapest zum Studium und erwartete, dass sie nach ihrer Rückkehr in den 30er Jahren ein europäisches Musikleben in der Türkei entwickelten. Kommen wir nun zur dritten Musikwelt der Türkei, der Volksmusik. Volksmusik hat in der Türkei ein völlig anderen Stellenwert als in Deutschland: Zwar gibt es auch dort eine kommerzielle, künstlerisch wenig anspruchsvolle Volksmusik, die beispielsweise in bunten Fernsehshows präsentiert wird. Andererseits aber kann man Volksmusik heute an Konservatorien studieren, es gibt hoch angesehene Volkssänger und instrumentalisten, deren Konzerte ähnlich sind wie Klavier- oder Liederabende ablaufen. Außerdem ist die Volksmusik in der Türkei zumindest teilweise politisch links besetzt. Viele traditionelle Lieder entstanden vor Jahrhunderten aus sozialem, politischen Protest gegen die osmanische Oberschicht und werden auch heute noch so verstanden. In den Jahren nach dem Militärputsch 1980 saßen viele Volkssänger im Gefängnis oder mussten ins Exil fliehen, beispielsweise nach Deutschland oder Schweden. Völlig anders als in Deutschland wird anatolische Volksmusik besonders unter kritischen Intellektuellen hoch angesehen und geschätzt. Und schließlich ist Volksmusik unglaublich populär. Selbst die große Popwelle der 1990er Jahre hat den großen Stellenwert von Volkmusik nicht ernsthaft in Frage stellen können. In türkischen Städten bieten heute zahlreiche Musikcafés Live-Volksmusik, beliebt sind sie gerade bei Jugendlichen. Auch in deutschen Städten gibt es diese Cafés. Der allgemeine Begriff für Volklied lautet Türkü, dazu kommen spezielle Bezeichnungen wie Agıt (Klagelied), Ninni (Wiegenlied), Deyis (religiöses Lied der Glaubensgemeinschaft der Aleviten) oder Gelin Ağlatması (Klagelied der Braut während der traditionellen Henna-Abende vor der Hochzeit). Außer bei fröhlichen Tanzliedern sind die Texte der Volkslieder melancholisch bis tieftraurig. Meistens handeln sie von unglücklicher Liebe. Ähnlich wie bei der höfischen Divan-Literatur wird der emotionale Inhalt meist in sprachlichen Metaphern vermittelt, wieder um etwa mit der Nachtigal (als dem liebenden Sänger) und seiner Geliebten als SWR2 AULA vom 27.12.2009 Nachtigall und Todesengel – Die Besonderheiten der türkischen Musik Von Martin Greve 7 stachelige Rose. Zwischen beiden Protagonisten stehen oft hohe Berge als Symbol für Widrigkeiten, typisch für Anatolien und sein Hochland. Und wenn es ganz schwierig wird, sind es hohe Berge voller Nebel. Am Schluss kommt oft der Todesengel Azrail und erlöst die Liebenden von ihren Leiden. Meistens ist es nicht möglich, genau zu verstehen, worum es in diesen Liedern geht, weil die Symbolsprache sehr abstrakt ist, obwohl ursprünglich den Liedern eine reale Begebenheit zugrunde gelegen hat. Das gibt es sehr häufig, sie lassen sich jedoch nicht rekonstruieren. Andere Lieder thematisieren dörfliche Arbeit oder spezielle Zeremonien. Formal unterscheidet sich Volksdichtung grundlegend von höfischer Dichtung. Die Länge der Silben spielt keine Rolle, sondern entscheidend ist die Zahl der Silben. Die Zahl der Silben steht in einem Lied immer fest, pro Zeile gibt es sieben, acht oder elf. Meist bilden vier Zeilen eine Strophe, die Strophen haben immer gemeinsame Reime. Die Zuordnung von Text und Melodie kann übrigens wechseln, viele Volkslieder werden auf verschiedene Texte gesungen, vor allem in verschiedenen Regionen. Und manche Texte haben auch unterschiedliche Melodien. Einige Lieder sind sogar in verschiedenen Sprachen bekannt, nämlich türkisch, kurdisch, zaza. Dadurch entsteht oft ein sinnloser Streit, welches denn nun die ursprüngliche Version ist. Neben rhythmisierten Liedern gibt es metrisch freie Gesänge, sogenannte uzun hava. Uzun hava bedeutet „lange Melodie“. Das sind Gesänge, die improvisierend gesungen werden, mit sehr hoher und gepresster Stimme. Meist beginnt der Sänger mit einem sehr hohen, langen Ton, von dem aus die Melodie in langen, ornamentierten Wellen langsam absteigt. Der Tonumfang kann sich dabei über zwei Oktaven erstrecken, das sind also sehr anspruchsvolle Gesänge. Das Tonsystem der Volksmusik ist deutlich einfacher als das höfischer osmanischer Musik. Überhaupt setzte sich in der Volksmusik eine saubere Intonation vermutlich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts allgemein durch. Reine Instrumentalmusik gab es bis vor wenigen Jahren praktisch nur bei dörflichen Feiern in Form von Tanzliedern. Allerdings können manche Lieder auch instrumental gespielt werden, vor allem uzun hava auf der Langhalslaute Bağlama oder auf Flöten oder Kurzoboen. Überhaupt die Bağlama: Es ist das bei weitem populärsten Volksmusikinstrument der Türkei ist diese anatolische Langhalslaute. Der Name Bağlama bedeutet wörtlich „binden“ und bezieht sich auf die beweglichen, verschiebbaren Bünde am Hals. Die Bağlama hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts sehr stark verändert. Eine wichtige Änderung ist z. B., dass man das Halsende mit dem Wirbeln abgeknickt, was eine höhere Saitenspannung und damit einen schärferen Klang ermöglicht. Benutzte man früher Saiten aus Schafsdarm, so sind heute Stahlsaiten die Regel. Insgesamt hat sich der Klang sehr stark verändert. Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts hinein hat jeder Instrumentenbauer die Laute, je nach eigener oder regionaler Tradition, vollkommen unterschiedlich gebaut. Heute ist die Bauart jedoch weitgehend standardisiert. Seit den 60er Jahren gibt es noch die Variante der E-Saz nach dem Vorbild der E-Gitarre. SWR2 AULA vom 27.12.2009 Nachtigall und Todesengel – Die Besonderheiten der türkischen Musik Von Martin Greve 8 Bei den meisten Stimmungen wurde die Melodie fast nur auf der höchsten Saite gespielt, das heißt, der Spieler musste mit der Hand ständig den Hals rauf- und runterrutschen, die oberen, tieferen Saiten nutzte er nur als klanglichen Hintergrund, als Bordun. Aber auch das hat sich verändert. Heute gibt es Stimmungen, bei der sich Melodien über alle Saiten hinweg spielen lassen, ähnliche wie bei der Gitarre. Das ermöglicht ein sehr viel schnelleres Spiel, schnelleres Skalen-Spiel, schnelleres melodisches Spiel. Dafür verliert man aber die klanglichen Möglichkeiten der traditionellen Stimmungen. Angeschlagen wird die Bağlama mit einem Plektron oder mit der bloßen Hand. Mittel- und Ringfinger der rechten Hand können außerdem auf der Decke des Instruments eine rhythmische Begleitung klopfen. Wichtig beim Spiel ist, dass man beinahe zu jedem Ton eine kleine Verzierung hinzufügt: einen kleinen Nebenschlag, indem man auf den Nachbarton kurz klopft, Triller, Vibrati usw., und das regional sehr sehr unterschiedlich. Türkische Volksmusik ist auch heute noch immer maßgeblich von Regionalstilen geprägt, trotz einer Tendenz zur Homogenisierung. Dazu muss man sich klar machen, dass die Türkei geografisch doppelt so groß ist wie Deutschland, und über Jahrhunderte hatte innerhalb des anatolischen Hochlandes nur geringer Austausch bestanden. So entstanden regional eigenständige Traditionen, die ein paar hundert Kilometer weiter schon auf Befremden gestoßen wären. Entlang der Westküste, wo bis 1923 eine starke griechische Minderheit lebte, sind Einflüsse griechischer Kultur unüberhörbar, die Tänze sind eigentlich die gleichen. Im Osten sind die Unterschiede zu aserbaidschanischer und kaukasischer Musik gering, und in Thrakien sind die Tänze und Volkslieder eigentlich die gleichen wie in Bulgarien oder Albanien. Auch innerhalb Anatoliens leben zahlreiche ethnische, religiöse und kulturelle Minderheiten, meist mit einer eigenen Volksmusik. Die Volksmusik Anatoliens wurde im 20. Jahrhundert durch die Europäisierung in der Türkei dramatisch verändert. Für die osmanische Oberschicht war Volksmusik primitiv und verachtenswert gewesen, ab 1923 wurde sie zum kulturellen Symbol der neuen Türkei aufgewertet. Forscher begannen damals, Volkslieder zu sammeln, Rundfunk und Erziehungseinrichtungen förderten und verbreiteten sie landesweit. Vor allem der 1939 gegründete Rundfunk Ankara war sehr einflussreich. Musikalisch wurde anatolische Volksmusik im Zuge dieser Entwicklung immer anspruchsvoller. Früher wurden die Lieder recht ungenau intoniert, häufig fast rezitiert oder fast gesprochen. Inzwischen gibt es Virtuosen, es gibt eine eigene Musiktheorie der Volksmusik, und auch der Gesangsstil ist viel expressiver und dramatischer geworden im Lauf des 20. Jahrhunderts. Volksmusik entwickelte sich zu einem Wirtschaftszweig, es gibt eine große Plattenindustrie und Volksmusik-Stars, die viel viele Geld verdienen. Türkische Volksmusik vermischt sich immer stärker mit anderen Stilen. Bereits Atatürk hatte in den 1930er Jahren explizit gefordert, türkische Volksmusik mit europäischer Kunstmusik zu verbinden. Volksmusiker versuchen, ihre Musik mehrstimmig zu bearbeiten. Es gibt Arrangements im Stil von Richtung Jazz, Rock oder freier Avantgarde. Auch die Grenzen zwischen Kunst- und Volksmusik verschwimmen immer mehr. Höfische Instrumente wie die Ud-Laute oder die Flöte Ney sind längst auch in der Volksmusik zu Hause und die Chöre der „Klassischen Türkischen Musik“ singen oft auch Volkslieder. SWR2 AULA vom 27.12.2009 Nachtigall und Todesengel – Die Besonderheiten der türkischen Musik Von Martin Greve 9 Solche Vermischungen erfüllen nicht ganz die Erwartungen von Europäern nach einer traditionellen, orientalischen, ursprünglichen türkischen Musik. In der Türkei sind diese Formen jedoch die beliebtesten und sie sind selbstverständlich. All die verschiedenen Musiktraditionen der Türkei leben heute nebeneinander, so wie sie tradiert wurden, daneben aber entstehen immer neue Musikmischungen. Es ist schwierig geworden, all die verschiedenen Entwicklungen noch mit zu verfolgen oder gar zu verstehen. ***** * Zum Autor: Martin Greve, geb. 1961, wurde bereits als Kind von seinen türkischen Nachbarn mit türkischer Musik vertraut gemacht und beschäftigt sich seit fast 20 Jahren intensiv mit ihr. Er studierte Musikwissenschaft, vergleichende Musikwissenschaft und Sinologie und lehrt seit 1990 Musik in der Türkei und türkische Musik in der Diaspora und an der Weltmusikakademie in Rotterdam. Außerdem ist er als Berater für das Berliner Philharmonie-Orchester tätig. Audio-CD: - (zus. mit Ercan Durmaz) Türkei hören – Das Türkei-Hörbuch: Eine klingende Reise durch die Kulturgeschichte der Türkei bis in die Gegenwart. Verlag Silberfuchs. 2008. SWR2 AULA vom 27.12.2009 Nachtigall und Todesengel – Die Besonderheiten der türkischen Musik Von Martin Greve