7.7 Stammbaumanalyse

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7 Formalgenetik
mosomen mit dem w-Allel führt also zu weiß- bzw. rotäugigen Tieren. Damit
war eindeutig belegt, dass Gene auf den Chromosomen liegen. Da auch X0-Tiere
Männchen sind, zeigt diese Kreuzung außerdem, dass das Y-Chromosom bei der
Geschlechtsbestimmung von Drosophila keine entscheidende Rolle spielt (S. 303).
7.7
Stammbaumanalyse
7
Die Charakteristika einer Reihe definierter Erbgänge beim Menschen (autosomal dominant, autosomal rezessiv und X-Chromosom gebunden) lassen sich
anhand von Stammbäumen nachvollziehen.
Für das Verständnis der genetischen Hintergründe von Merkmalen sind kontrollierte Kreuzungen und die Analyse einer größeren Zahl von Nachkommen bzw.
Generationen nötig. Dies ist beim Menschen naturgemäß nicht möglich und
auch bei größeren Säugetieren technisch schwierig. Einen Ausweg stellen in
diesen Fällen Stammbaumanalysen dar, die gerade in der Humangenetik von
großer Bedeutung sind, denn in vielen Fällen werden erbliche Krankheiten als
Merkmale beobachtet. Dabei werden die lebenden Familienmitglieder untersucht und befragt, um krankheitsbezogene Informationen auch über verstorbene
Familienmitglieder zu erhalten. Ist der Stammbaum erstellt, analysiert man das
Verhalten eines Merkmals über mehrere Generationen hinweg und zieht dann
Schlüsse über Dominanz und Rezessivität von Genen und ihre Lokalisation auf
Autosomen oder Sexchromosomen. Ist die Art des Erbgangs bestimmt, kann
die Häufigkeit abgeschätzt werden, mit der das Merkmal an die Nachkommen
vererbt wird. Der amerikanische Humangenetiker Victor McKusick hat sich
die Aufgabe gestellt, die genetisch bedingten Merkmale des Menschen in
einer Liste zu erfassen. Diese Liste ist mittlerweile als McKusick-Katalog
(http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim/) bekannt und enthielt im Mai 2009 insgesamt fast 20 000 Einträge zu Genen und phänotypischen Merkmalen.
7.7.1
Autosomal dominanter Erbgang
Autosomal dominant vererbte Merkmale sind beim Menschen recht häufig.
Auch einige Krankheiten wie das Retinoblastom (Tumor der Retina), die Neurofibromatose und die familiäre Hypercholesterolämie, die hier als Beispiel dienen
soll, zeigen diesen Erbgang.
Die familiäre Hypercholesterolämie ist die Folge einer Genmutation auf dem
kurzen Arm von Chromosom 19. Das Gen codiert für ein Rezeptorprotein, das für
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Geschlechtsgebundene Vererbung: Erbgang von heterosomal codierten Merkmalen, hemizygotes Allel beim heterogameten Geschlecht. Reziproke Kreuzung
liefert andere Zahlenverhältnisse.
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Abb. 7.15 Autosomal dominanter Erbgang. Stammbaum einer Familie mit Hypercholesterolämie. Es sind vier Generationen (I bis IV) erfasst, wobei die Urgroßeltern bereits verstorben sind. Das Individuum III-1 war homozygot (AA) für das dominante Allel und ist jung
verstorben. Die anderen Merkmalsträger sind heterozygot (Aa).
die Aufnahme von sogenannten Low Density Lipoproteins (LDL) in die Zellen
sorgt. Fällt das Rezeptorprotein aus, ergeben sich anormal hohe Blutwerte für
LDL. Die Hauptsymptome bestehen in der Ausbildung von knotenartigen verschiebbaren Fetteinlagerungen in der Haut (Xanthome), und die Patienten leiden
in relativ frühem Alter an Erkrankungen der Herzkranzgefäße. Familiäre Hypercholesterolämie tritt bei einem von 500 Individuen auf. Der Stammbaum einer
betroffenen Familie zeigt die Charakteristika autosomal dominanter Erbgänge
(Abb. 7.15). Frauen wie auch Männer zeigen das Merkmal zu gleichen Anteilen.
Liegt vollständige Penetranz vor, tritt das Merkmal in allen Generationen auf und
wird von Frauen und Männern gleichermaßen an die Nachkommen weitergegeben. Personen, die das Merkmal nicht zeigen, übertragen es auch nicht.
Somit ist ein autosomal dominanter Erbgang relativ leicht zu entdecken. Bei
einer autosomal dominant vererbten Krankheit besteht für die Nachkommen
ein relativ hohes Risiko ebenfalls zu erkranken. Es hat Heiraten zwischen Individuen mit Hypercholesterolämie gegeben, und entsprechend der Mendel-Regeln
waren dann 25 % der Nachkommen nicht betroffen (aa), 50 % waren heterozygot
(Aa) für das Merkmal und 25 % waren homozygot (AA) für das Merkmal. Bei der
familiären Hypercholesterolämie entwickeln homozygote Merkmalsträger die
Krankheitssymptome bereits in der Kindheit, und die Patienten versterben,
bevor sie das Erwachsenenalter erreichen. Bei der Heirat zwischen einem
heterozygoten Merkmalsträger und einem nicht betroffenen Individuum sind
50 % heterozygote (Aa) Merkmalsträger und 50 % gesunde Individuen (aa) zu
erwarten.
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7.7 Stammbaumanalyse
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7 Formalgenetik
7.7.2
Autosomal rezessiver Erbgang
Beispiele für den autosomal rezessiven Erbgang finden wir beim Menschen in
der Adenosindeaminasedefizienz (ADA), einer Erkrankung, die ein nicht funktionsfähiges Immunsystem nach sich zieht, der zystischen Fibrose (Mukoviszidose), eine Funktionsstörung der schleim- und schweißproduzierenden Drüsen,
und der Sichelzellenanämie (Anämie = Blutarmut), beruhend auf einer zu gerinBiochemie, Zellbiologie).
gen Zahl an Erythrocyten (
Bei erwachsenen Menschen ist das Blutpigment Hämoglobin A (Allel HbA oder
kurz A) ein Tetramer aus zwei a-Globinen und zwei b-Globinen. Die Sichelzellenanämie wird durch eine Punktmutation in den Genen für die b-Globine verursacht. Es resultiert ein verändertes Pigment, das als Hämoglobin S (Allel HbS
oder kurz S) bezeichnet wird. Rote Blutkörperchen mit HbS nehmen bei niedrigem Sauerstoffpartialdruck eine charakteristische Sichelzellform an, die zum
Namen der Erkrankung geführt hat. Homozygote Träger (SS) für das S-Allel leiden an chronischer Blutarmut und erhöhtem Infarktrisiko, da die verformten
Blutkörperchen dazu neigen, Blutgefäße zu blockieren. Die Krankheit tritt
gehäuft bei Afrikanern und Afroamerikanern auf. Man geht davon aus, dass
HbS die Viskosität des Cytoplasmas verändert. Dadurch wird die Infektion mit
dem Malariaparasiten Plasmodium falciparum verhindert. In malariagefährdeten
Gebieten haben also die heterozygoten Träger des HbS-Allels einen Vorteil. Die
heterozygoten Träger (AS) sind unauffällig und benötigen in der Regel keine
medizinische Betreuung. Im Stammbaum einer von Sichelzellenanämie betroffe-
Abb. 7.16 Autosomal rezessiver Erbgang. Stammbaum einer Familie mit einem seltenen autosomal rezessiv vererbten Merkmal. In dieser Familie ist Verwandtenehe (=) in
der fünften Generation dafür verantwortlich, dass das Individuum VI-4 homozygot für
ein rezessives Allel ist. Das Allel ist höchstwahrscheinlich durch Spontanmutation in
einem der beiden Eltern (I-1, I-2) in der ersten erfassten Generation entstanden. Auch
wenn ein Merkmal selten ist, kommt es natürlich vor, dass auch bei Heirat mit einem
nicht verwandten Überträger (V-4) homozygote Individuen entstehen (VI-6 und VI-9).
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nen Familie wird offenbar, dass die Eltern der Merkmalsträger nicht betroffen
sind. Es ist typisch für rezessive Allele, dass sie unvorhersehbar auftreten. Sie
können über mehrere Generationen durch nicht betroffene sogenannte Überträger (Konduktoren) weitergegeben werden (Abb. 7.16). Erst bei der Heirat zwischen zwei Überträgern wird das Merkmal im Phänotyp ihrer Kinder sichtbar.
Dabei sind nach den Mendel-Regeln 25 % Betroffene (SS), 50 % Überträger (AS)
und 25 % gesunde Individuen (AA) zu erwarten. Wie beim autosomal dominanten
Erbgang sind auch beim autosomal rezessiven Erbgang beide Geschlechter gleichermaßen betroffen, und das Allel wird von beiden Geschlechtern weiter vererbt. Treten seltene autosomal rezessiv vererbte Merkmale im Phänotyp auf,
spielt oft Verwandtenehe (Konsanguinität) eine Rolle. Das Allel ist wahrscheinlich in einem gemeinsamen Vorfahren entstanden.
7.7.3
X-Chromosom-gebundene Vererbung
Sowohl Y-Chromosom-gebundene Merkmale als auch dominante an das X-Chromosom gebundene Merkmale sind sehr selten, so dass auf eine Darstellung hier
verzichtet wird. Wichtig sind dagegen rezessive Merkmale, die vom X-Chromosom kontrolliert werden. Dazu gehören die Rot-Grün-Blindheit, das Lesh-NyhanSyndrom (Störung im Purinstoffwechsel), zwei Formen der Hämophilie (Bluterkrankheit) und die Duchenne-Muskeldystrophie (DMD). Die sogenannte Hämophilie A ist bei Angehörigen europäischer Königshäuser häufig und wahrscheinlich auf eine Spontanmutation bei einem der Eltern von Königin Viktoria
zurückzuführen.
DMD ist eine Erkrankung mit voller Penetranz, die Jungen mit einer Häufigkeit
von 1 zu 3 500 bis 4000 betrifft. Die Krankheit ist durch fortschreitenden Verfall
der Muskulatur gekennzeichnet und beginnt sich zu zeigen, wenn die Jungen ein
Alter von etwa sechs Jahren erreicht haben. Wenige Erkrankte werden älter als
20 Jahre. Wenn – wie im Fall der DMD – das Allel nicht häufig ist, sind weitaus
mehr männliche als weibliche Individuen betroffen. Im Stammbaum (Abb. 7.17)
ist keine erkrankte Frau zu finden, aber fünf betroffene männliche Individuen.
Diese sind hemizygot für das Krankheitsallel. Es gibt in keinem Fall eine Übertragung des Krankheitsallels vom Vater auf die Söhne. Im Fall der DMD sind die
männlichen Individuen steril. Bei weniger schwer wiegenden X-chromosomal
vererbten Krankheiten wie der Rot-Grün-Blindheit haben die betroffenen Männer bei einer Heirat mit einer Nicht-Überträgerin nur gesunde Söhne. Alle
Töchter erkrankter Männer sind jedoch Überträgerinnen. Bei der Heirat zwischen
einer Überträgerin und einem gesunden Mann haben die Söhne der Überträgerinnen eine 50 %ige Chance, das Krankheitsallel zu bekommen. Die Töchter aus
einer Heirat zwischen einer Überträgerin und einem gesunden Mann sind
nicht betroffen, aber 50 % von ihnen sind wieder Überträgerinnen. Da Überträgerinnen erst erkannt werden, wenn unter ihren Nachkommen wieder betroffene
männliche Individuen auftreten, kann über den Status von Frauen in manchen
Linien des Stammbaums keine Aussage gemacht werden.
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7.7 Stammbaumanalyse
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7 Formalgenetik
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Abb. 7.17 X-chromosomal-gebundener Erbgang. Stammbaum einer
Familie mit Duchenne-Muskeldystrophie, eine X-chromosomal rezessiv
vererbte Krankheit. Die Überträgerinnen (Konduktorinnen) (I-1, II-3, II-9,
III-7 und IV-14) geben das Krankheitsallel an die Hälfte ihrer Söhne
weiter.
autosomal dominante Erbgänge: Beispiele: Retinoblastom, Neurofibromatose,
familiäre Hypercholesterolämie.
autosomal rezessive Erbgänge: Beispiele: Adenosindeaminasedefizienz, Zystische Fibrose (Mukoviszidose), Sichelzellenanämie.
Konduktor: Nicht erkrankter Überträger eines krank machenden rezessiven Allels.
heterosomal rezessive Erbgänge: Beispiele: Rot-Grün-Blindheit, Lesh-NyhanSyndrom (Störung im Purinstoffwechsel), Hämophilie, Duchenne-Muskeldystrophie.
7.8
Formalgenetik bei haploiden Organismen
Organismen, die in ihrem vegetativen Lebenszyklus nur einen haploiden
Chromosomensatz besitzen, eignen sich recht gut für genetische Experimente, da jedes Allel im Phänotyp ausgeprägt ist.
Da jedes Allel im Phänotyp ausgeprägt ist, kann man bei haploiden Organismen
naturgemäß nicht von Homo- oder Heterozygotie sprechen. Insbesondere haploide Ascomyceten wurden gerne für Kreuzungsexperimente herangezogen
Mikrobiologie). Ihr Vorteil liegt darin, dass die aus der Meiose hervorgehen(
den Zellen, die Ascosporen, als eine Reihe von haploiden Zellen in einem sack-
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