Vorwort

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Veröffentlichung des Arbeitskreises
„Wahlen und politische Einstellungen“
der Deutschen Vereinigung für Politische
Wissenschaft (DVPW)
Herausgegeben von
E. Bytzek, Landau, Deutschland
U. Rosar, Düsseldorf, Deutschland
M. Steinbrecher, Potsdam, Deutschland
Weitere Bände in dieser Reihe
http://www.springer.com/series/12307
Schriftenreihe des Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ der
Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW)
Herausgegeben von
Evelyn Bytzek
Markus Steinbrecher
Abteilung Politikwissenschaft
Forschungsbereich Militärsoziologie
Universität Koblenz-Landau
Zentrum für Militärgeschichte und
Landau
Sozialwissenschaften der Bundeswehr
DeutschlandPotsdam
Deutschland
Ulrich Rosar
Institut für Sozialwissenschaften
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Düsseldorf
Nordrhein-Westfalen
Deutschland
Sigrid Roßteutscher  Thorsten Faas
Ulrich Rosar
(Hrsg.)
Bürgerinnen und Bürger
im Wandel der Zeit
25 Jahre Wahl- und
Einstellungsforschung in Deutschland
Herausgeber
Sigrid Roßteutscher
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Deutschland
Ulrich Rosar
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Deutschland
Thorsten Faas
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Deutschland
ISBN 978-3-658-11275-2 ISBN 978-3-658-11276-9 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-658-11276-9
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Vorwort
Im April 1987 fand in Bamberg die erste Tagung des Arbeitskreises „Wahlen und
politische Einstellungen“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft
statt. Aus dieser Tagung ging der erste Sammelband des Arbeitskreises hervor. Zu
Sprechern des Arbeitskreises wurden die Kollegen Jürgen W. Falter und Oscar W.
Gabriel sowie der Verfasser dieses Vorworts gewählt, was der Grund für die Ehre
ist, dieses Vorwort verfassen zu dürfen.
Die Gründung des Arbeitskreises hat eine Vorgeschichte, die mindestens bis
in die frühen 1980er Jahre zurückreicht. Vielleicht ist diese Vorgeschichte für die
jüngere Leserschaft neu und interessant. Als junger Lehrstuhlinhaber (seit 1979)
an der Universität Bamberg hat der Verfasser an dieser Vorgeschichte als einer von
vielen teilnehmenden Beobachtern mitgewirkt. Sie lässt sich auf die Kurzformel
bringen: „Krise der deutschen Politikwissenschaft“.
Im Februar 1983 wurde die Deutsche Gesellschaft für Politikwissenschaft (die
DGfP) gegründet als bewusste Abspaltung von der Deutschen Vereinigung für
politische Wissenschaft (DVPW). Die Gründe hierfür waren vielfältig und reichen
zum Teil bis tief in die 1970er Jahre zurück. Erstens waren die deutschen Universitäten nach der Entdeckung der „Bildungskatastrophe“ in den 1960er Jahren
in der nachfolgenden Dekade stark ausgebaut worden. Damit standen einer relativ kleinen „Gründergeneration“ von Politikwissenschaftlern nun eine höhere
Zahl von in diesen Jahren neu berufenen Professoren und ihren noch zahlreicheren
Mitarbeitern gegenüber, die zumindest zum Teil andere inhaltliche Vorstellungen
von Politikwissenschaft und auch von der Bedeutung akademischer Hierarchien
hatten. Damit zusammenhängend gab es zweitens schon in den 1970er Jahren Diskussionen um die Frage der Mitgliedschaft in der wissenschaftlichen Fachvereinigung. Nach der traditionelleren Ansicht war eine wissenschaftliche Fachvereinigung zunächst einmal natürlich ein Professorenverein, die zahlreichen jüngeren
Politikwissenschaftler wollten aber verständlicherweise auch als wissenschaftliche
V
VI
Vorwort
Mitarbeiter und wissenschaftliche Assistenten in der Fachvereinigung mitwirken
– und das möglichst gleichberechtigt. Entsprechend nahm die DVPW auch Assistenten als Mitglieder auf und diskutierte sogar die Möglichkeit der Mitgliedschaft
von Studierenden. Drittens stritt man sich um die Inhalte der Arbeit einer wissenschaftlichen Fachvereinigung. Manche ältere Fachvertreter beharrten darauf, dass
die Tagungen der DVPW vor allem durch ihre Plenumsveranstaltungen wirken
sollten, in denen Grundfragen des Faches als einer Demokratiewissenschaft diskutiert wurden, während unter den jüngeren Kohorten der Fachvertreter auch die
Auffassung anzutreffen war, dass eine moderne Fachvereinigung der Ausdifferenzierung, Arbeitsteilung und Professionalisierung des Faches Rechnung tragen solle
und dass sich dies auch in der Gestaltung der regelmäßigen Tagungen der Vereinigung niederschlagen müsse. Viertens schließlich spielte ganz einfach die politische
Orientierung auf dem Links-Rechts-Kontinuum eine große Rolle. Dies umso mehr
als die Bereitschaft, konsequent zwischen Politikwissenschaft und eigener politischer Orientierung zu unterscheiden, umso geringer war je weiter die Protagonisten an dem einen oder dem anderen Extrem dieses Kontinuums angesiedelt waren.
Vor dem Hintergrund der schon in den 1970er Jahren intensiven Auseinandersetzungen um solche Fragen innerhalb der deutschen Politikwissenschaft ist
es eigentlich erstaunlich, dass die Abspaltung und Gründung der DGfP erst 1983
erfolgte. Zur Folge hatte sie, dass die wahrgenommene Bedrohung der eigenen
Existenz und Funktion innerhalb der DVPW deutlich zunahm. Diese waren nicht
erst 1983 gefährdet. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gab es etwa durchaus grundsätzliche Diskussionen in der wissenschaftspolitischen Landschaft über
die Förderungswürdigkeit der Politikwissenschaft. Innerhalb der DFG, der westdeutschen Rektorenkonferenz und der Konferenz der Kultusminister wurde diese
Frage mehrfach kritisch thematisiert. Dass die Politikwissenschaftler eigene Listen zur Wahl der Fachgutachter der DFG aufstellten, war noch alles andere als
selbstverständlich. Das alles mag aus heutiger Sicht als eine historische Kuriosität
erscheinen. Wer allerdings meint, eine solche grundsätzliche Infragestellung der
Politikwissenschaft als akademisches Fach sei nur denkbar in den damaligen Zeiten, als das Fach noch als ein relativ junges um seine Anerkennung ringen musste,
der sollte innehalten und nachdenken. Schließlich gab es erst vor wenigen Jahren
im US-amerikanischen Kongress einen – durchaus nicht humoristisch gemeinten –
Antrag, der National Science Foundation jegliche Förderung politikwissenschaftlicher Forschung für die Zukunft zu untersagen. Aufgrund der viel länger währenden
Etablierung des Faches Politikwissenschaft in den USA konnte man diesen Vorstoß
dort vielleicht mit einer gewissen Gelassenheit betrachten. In der bundesdeutschen
Politikwissenschaft der frühen 1980er Jahre war jedenfalls die Neigung zur Gelassenheit unter den Fachvertretern relativ gering, wenn aus dem Bereich der Wissenschaftspolitik die Förderungswürdigkeit des Faches in Frage gestellt wurde und
Vorwort
VII
nun auch noch eine Abspaltung einer neuen Standesvereinigung erfolgte, die mit
dem Schwergewicht der darin vertretenen etablierten Fachvertreter die DVPW als
einen „linken Assistentenverein“ charakterisierte und beanspruchte, etwa bei der
Wahl von DFG-Gutachtern oder bei der Vertretung der deutschen Politikwissenschaft innerhalb der International Political Science Association selbstverständlich
tonangebend zu sein.
Was hat dies nun alles mit der Gründung des Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ innerhalb der DVPW zu tun? Es konnte nicht überraschen,
dass die DVPW die als existenziell empfundene Bedrohung zu kontern versuchte.
Eine der dazu entwickelten Ideen war eine organisatorische Reform. Dies betraf
neben der Organisation und Gestaltung der Tagungen der DVPW vor allem auch
ihre Untergliederungen. Zwischen beidem besteht natürlich ein enger Zusammenhang. Im Herbst 1983 wurde ein Strukturplan der DVPW vorgelegt, welcher vorsah, die Bedeutung der Sektionen zu erhöhen und etwa sechs bis acht Sektionen
für die verschiedenen Kernbereiche des Faches einzurichten. Für die Themenfelder
des jetzigen Arbeitskreises wurde 1984 die Sektion „Politische Soziologie“ gegründet, in welcher auch der frühere Arbeitskreis „Parteien, Parlamente, Wahlen
(PPW)“ aufgehen sollte, der seit 1973 bestanden hatte. Das Ziel dieser Fokussierung auf die Sektionen war, einen Zwischenweg zu finden zwischen den früheren „großen Fachtagungen“, auf denen einige wenige „berühmte Gelehrte“ die
großen Themen des Faches vor einem ehrfürchtigen Publikum diskutierten, und
der Fragmentierung des Faches in Treffen von kleinen Spezialistenzirkeln. Diese
organisatorische Reform der DVPW hatte jedoch nicht den gewünschten Erfolg.
Die übergreifende Sektionsarbeit kam in vielen Sektionen nie richtig in Fahrt. Versuche, die Sektion „Politische Soziologie“ der DVPW 1985 und 1986 gemeinsam
mit der Deutschen Gesellschaft für Soziologie tagen zu lassen, scheiterten. 1989
traten die drei Sprecher der Sektion Politische Soziologie geschlossen zurück, und
es bedurfte eines expliziten Auftrags des Vorstands der DVPW im Jahre 1990 an
Hans-Dieter Klingemann, den Versuch zu unternehmen, die Sektion „Politische
Soziologie“ wiederzubeleben. Daneben waren aber durch die Strukturreform die
früher vorhandenen Arbeitskreise, wie der Arbeitskreis PPW, die mit ihren Expertentreffen regelmäßigen und guten Anklang im Fach gefunden hatten, von der
Bildfläche verschwunden. Also kann es kaum überraschen, dass spätestens 1985
Gespräche zwischen interessierten Fachkollegen über eine Wiederbelebung der
alten Diskussionszusammenhänge aufgenommen wurden. In diesen Gesprächen
stellte sich auch heraus, dass aus der Sicht der immer arbeitsteiliger werdenden
politikwissenschaftlichen Forschung sogar der frühere Rahmen des Arbeitskreises
PPW mit seiner Kombination aus Parteien-, Parlaments- sowie Wahl- und Einstellungsforschung als noch zu breit empfunden wurde. Angesichts der großen
VIII
Vorwort
Nachfrage und der Unterstützung von vielen Seiten kam es dann aufgrund dieser
Vorberatungen zu der Einladung zu einer konstituierenden Sitzung eines neuen
Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ an der Universität Bamberg.
Als einer der Mitbegründer des Arbeitskreises freue ich mich natürlich sehr
darüber, dass sich die damalige Initiative und Arbeit gelohnt haben und wir im
Sommer 2012 in Frankfurt am Main das fünfundzwanzigjährige Jubiläum des
Arbeitskreises feiern konnten. Diese Tagung in Frankfurt am Main war das 26.
Treffen des Arbeitskreises, sodass er im Durchschnitt jeweils genau einmal im Jahr
zusammengetreten ist, wobei es natürlich auch einmal zwei Tagungen in geringerem Abstand und dann wieder eine über einjährige Pause gegeben hat. Die Bereitschaft, die Tagungen des Arbeitskreises an den verschiedensten Universitäten
auszurichten, war immer sehr groß. Die ersten 26 Tagungen des Arbeitskreises
fanden an siebzehn verschiedenen Universitäten statt, davon unter anderem viermal in Mainz, je dreimal an „meiner“ ehemaligen Universität in Bamberg sowie in
Berlin und je zweimal in Frankfurt am Main und in Mannheim. Mit dem Stand des
Jubiläumsjahres 2012 sind aus den Tagungen des Arbeitskreises bisher vierzehn
Sammelpublikationen hervorgegangen, im Durchschnitt also rund alle 21 Monate
eine Sammelpublikation, die aus den Tagungen des Arbeitskreises gespeist wurde:
• Arzheimer, Kai, Thorsten Faas, Ulrich Rosar, und Sigrid Roßteutscher, hrsg.
2012. Innovative Methoden der Wahl- und Einstellungsforschung. Themenheft
von MDA. Methoden - Daten – Analysen. Zeitschrift für Empirische Sozialforschung 6 (2).
• Faas, Thorsten, Kai Arzheimer, und Sigrid Roßteutscher, hrsg. 2010. Information- Wahrnehmung- Emotion. Politische Psychologie in der Wahl- und Einstellungsforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
• Brettschneider, Frank, Oskar Niedermayer, und Bernhard Weßels, hrsg. 2007.
Die Bundestagswahl 2005: Analysen des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
• Roller, Edeltraud, Frank Brettschneider, und Jan W. van Deth, hrsg. 2006. Jugend und Politik: „Voll normal!“– Der Beitrag der politischen Soziologie zur
Jugendforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
• Brettschneider, Frank, Jan W. van Deth, und Edeltraud Roller, hrsg. 2004. Die
Bundestagswahl 2002: Analysen der Wahlergebnisse und des Wahlkampfes.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
• Brettschneider, Frank, Jan W. van Deth, und Edeltraud Roller, hrsg. 2003. Europäische Integration in der öffentlichen Meinung. Opladen: Leske + Budrich.
• Brettschneider, Frank, Jan W. van Deth, und Edeltraud Roller, hrsg. 2002. Das
Ende der politisierten Sozialstruktur? Opladen: Leske + Budrich.
Vorwort
IX
• van Deth, Jan W., Hans Rattinger, und Edeltraud Roller, hrsg. 2000. Die Republik auf dem Weg zur Normalität? Wahlverhalten und politische Einstellungen
nach acht Jahren Einheit. Opladen: Leske + Budrich.
• Plasser, Fritz, Oscar W. Gabriel, Jürgen W. Falter, und Peter A. Ulram, hrsg.
1999. Wahlen und politische Einstellungen in Österreich und Deutschland.
Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang ( Empirische und methodologische Beiträge
zur Sozialwissenschaft, Bd. 17).
• Gabriel, Oscar W., und Jürgen W. Falter, hrsg. 1996. Wahlen und politische Einstellungen in westlichen Demokratien. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang ( Empirische und methodologische Beiträge zur Sozialwissenschaft, Bd. 15).
• Rattinger, Hans, Oscar W. Gabriel, und Wolfgang Jagodzinski, hrsg. 1994. Wahlen und politische Einstellungen im vereinigten Deutschland. Frankfurt a. M.
u. a.: Peter Lang ( Empirische und methodologische Beiträge zur Sozialwissenschaft, Bd. 13), 1996 neu aufgelegt.
• Gabriel, Oscar W., und Klaus G. Troitzsch, hrsg. 1993. Wahlen in Zeiten des
Umbruchs. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang ( Empirische und methodologische
Beiträge zur Sozialwissenschaft, Bd. 12).
• Karl Schmitt, hrsg. 1990. Wahlen, Parteieliten, politische Einstellungen. Neuere
Forschungsergebnisse. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang ( Empirische und methodologische Beiträge zur Sozialwissenschaft, Bd. 6).
• Falter, Jürgen W., Hans Rattinger, und Klaus G. Troitzsch, hrsg. 1989. Wahlen
und politische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland. Neuere Entwicklungen der Forschung. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang ( Empirische und
methodologische Beiträge zur Sozialwissenschaft, Bd. 5).
Hinzu kommen neben dem hier vorgelegten Band vier weitere Sammelpublikationen, die nach 2012 erschienen sind:
• Bytzek, Evelyn, Stefan Marschall, Ulrich Rosar, Markus Steinbrecher, und
Bernhard Weßels, hrsg. 2015. Schwerpunktthema: Die Bundestagswahl 2013.
Politische Psychologie 4 (1).
• Roßteutscher, Sigrid, Thorsten Faas, und Kai Arzheimer, hrsg. 2015. Voters and
Voting in Germany’s Multi-level System. Sonderheft von German Politics 24
(1).
• Steinbrecher, Markus, Evelyn Bytzek, Ulrich Rosar, und Sigrid Roßteutscher,
hrsg. 2014. Europa, europäische Integration und Eurokrise. Öffentliche Meinung, politische Einstellungen und politisches Verhalten im Mehrebenensystem
der Europäischen Union. Sonderheft 5 der Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 8 (2S).
X
Vorwort
• Faas, Thorsten, Kai Arzheimer, Sigrid Roßteutscher, und Bernhard Weßels,
hrsg. 2013. Koalitionen, Kandidaten Kommunikation. Analysen zur Bundestagswahl 2009. Wiesbaden: Springer VS.
Dabei profitiert die Attraktivität dieser Sammelpublikationen auch davon, dass der
Arbeitskreis recht häufig keine „offenen“ Tagungen veranstaltete, sondern sich jeweils ein oder zwei Schwerpunktthemen widmet. Im Ergebnis sind die Sammelpublikationen des Arbeitskreises überwiegend thematisch homogener als das bei
vielen anderen Tagungssammelpublikationen der Fall ist. Es gab bisher mehrere
Publikationen, die Analysen zu spezifischen Bundestagswahlen gewidmet waren,
zu Methodenfragen, zur vergleichenden Wahl- und Einstellungsforschung, zur
Transformation nach der Wende in Deutschland, zur Sozialstrukturanalyse, zur
Politischen Psychologie, zu politischen Einstellungen bei Jugendlichen und solche
zur Europäischen Integration. Insgesamt sieht man hier eine beachtliche Bandbreite der Arbeit – und dass die Trennung zwischen Wahl- und Einstellungsforschung
(sofern sie überhaupt irgendeinen Sinn ergibt) im Arbeitskreis weitestgehend keine
Rolle spielt. Mit den weit über 200 Aufsätzen in den bisherigen Sammelpublikationen des Arbeitskreises ist natürlich seine Produktivität nicht annähernd adäquat
beschrieben. Zeitschriftenaufsätze, die in früheren Versionen auf Tagungen des
Arbeitskreises vorgestellt wurden, unterliegen naturgemäß keiner zentralen Registrierung, so dass man sich hier auf die Publikationen in den Sammlungen unter
Leitung oder maßgeblicher Mitwirkung des Arbeitskreises beschränken muss. Sie
sind aber sicherlich nur ein Teil dieser Produktivität.
Ein schöner Indikator für die Qualität der Arbeit im Arbeitskreis ist auch die Rekrutierung auf Professuren des Faches. Anlässlich der Tagung vom Sommer 2012
in Frankfurt am Main habe ich mir einmal die Inhaltsverzeichnisse aller bis dahin
erschienenen Sammelpublikationen des Arbeitskreises angesehen und notiert, wer
von den Autoren später auf eine Professur berufen wurde. Dabei komme ich auf
eine stattliche Zahl von knapp über 40. Wiederum kann hier kein Anspruch auf
Vollständigkeit erhoben werden, weil es natürlich möglich ist, dass Kollegen sich
intensiv an der Arbeit im Arbeitskreis beteiligt haben, die später ebenfalls auf eine
Professur im Fach berufen wurden, ohne dass sie jemals in einem Sammelband
des Arbeitskreises publiziert hätten. Sicherlich wird man nicht deshalb Professor,
weil man im Arbeitskreis mitgearbeitet oder in einer seiner Veröffentlichungen
publiziert hat. Aber wenn man sich ein multivariates Modell vorstellt, mit dem
die Berufung auf eine Professur in Politikwissenschaft vorhergesagt werden soll,
dann hätte eine unter die Erklärungsvariablen aufgenommene Dummy-Variable
„Veröffentlichung in einer Sammelpublikationen des Arbeitskreises ‚Wahlen und
politische Einstellungen‘“ mit Sicherheit einen signifikanten und positiven Effekt.
Vorwort
XI
Allen, die sich nach der „Gründergeneration“ im und für den Arbeitskreis engagiert haben, gilt herzlicher Dank. Stellvertretend für alle sei hier denjenigen namentlich gedankt, die nach Ausscheiden der Gründungssprecher im Sprecherteam
des Arbeitskreises mitgewirkt haben. Dies sind in alphabetischer Reihenfolge:
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Kai Arzheimer
Frank Brettschneider
Evelyn Bytzek
Jan van Deth
Thorsten Faas
Edeltraud Roller
Ulrich Rosar
Sigrid Roßteutscher
Markus Steinbrecher
Dem Jubilar sind noch viele fruchtbare Tagungen zu wünschen, mit denen er sich
als zentraler wissenschaftlicher Austauschort und Motor des Erkenntnisfortschritts
im Bereich der Wahl- und politischen Einstellungsforschung erweisen kann.
Hans Rattinger
Inhaltsverzeichnis
Bürgerinnen und Wähler im Wandel der Zeit ����������������������������������������� 1
Sigrid Roßteutscher, Thorsten Faas und Ulrich Rosar
Teil I Wahlen und Wahlverhalten
Der Wettbewerb zwischen Parteien der Extremen
Rechten und der linken Mitte ��������������������������������������������������������������������� 17
Kai Arzheimer
It’s the electoral system, stupid! Einfluss des Wahlsystems auf die
Wahlchancen von Frauen bei Bundestagswahlen 1953 bis 2009 ������������� 35
Ina E. Bieber
Wahlbeteiligung junger Erwachsener – Steigt die soziale und
politische Ungleichheit? ������������������������������������������������������������������������������� 67
Simone Abendschön und Sigrid Roßteutscher
Koalitionen und Wahlverhalten in Deutschland. Eine Analyse der
Bundestagswahlen von 1961–2009 ������������������������������������������������������������� 93
Sascha Huber
Koalitionsoptionen und Lagerdenken aus Wählerperspektive. Eine
Analyse anhand der Parteiensympathien der Bundesbürger von 1977
bis 2011 ��������������������������������������������������������������������������������������������������������� 119
Jochen Müller und Marc Debus
XIII
XIV
Inhaltsverzeichnis
Wahrnehmungen der Wirtschaftslage und die Zuschreibung von
Verantwortung in Zeiten des Wandels: Ursachen und Folgen ��������������� 149
Thorsten Faas
Teil II Politische Einstellungen
Politische Kenntnisse in Deutschland: Entwicklung und
Determinanten, 1949–2009 ������������������������������������������������������������������������� 181
Severin Bathelt, Alexander Jedinger und Jürgen Maier
Sozialstaatsvorstellungen im Wandel? Stabilität, Anpassungsprozesse
und Anspruchszunahme zwischen 1976 und 2010 ����������������������������������� 209
Edeltraud Roller
The Silent Counter-Revolution. Der Wandel gesellschaftspolitischer
Wertorientierungen in Westdeutschland zwischen 1980–2012 ��������������� 251
Markus Klein
Konvergenz oder Divergenz? Entwicklungsverläufe
und Determinanten politischer Unterstützung im
europäischen Vergleich ������������������������������������������������������������������������������� 279
Sonja Zmerli
Verzeichnis der Autorinnen
und Autoren
Simone Abendschön Universität Gießen, Gießen, Deutschland
Kai Arzheimer Universität Mainz, Mainz, Deutschland
Severin Bathelt Universität Koblenz-Landau, Landau, Deutschland
Ina E. Bieber Universität Frankfurt am Main, Frankfurt, Deutschland
Marc Debus Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland
Thorsten Faas Universität Mainz, Mainz, Deutschland
Sascha Huber Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland
Alexander Jedinger GESIS – Leibniz Institut für Sozialwissenschaften, Köln,
Deutschland
Markus Klein Universität Hannover, Hannover, Deutschland
Jürgen Maier Universität Koblenz-Landau, Landau, Deutschland
Jochen Müller Universität Greifswald, Greifswald, Deutschland
Edeltraud Roller Universität Mainz, Mainz, Deutschland
Ulrich Rosar Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland
Sigrid Roßteutscher Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main,
Deutschland
Sonja Zmerli Sciences Po Grenoble, Grenoble, Frankreich
XV
Bürgerinnen und Wähler im Wandel
der Zeit
Sigrid Roßteutscher, Thorsten Faas und Ulrich Rosar
1 Einleitung1
Vor nun mehr als 25 Jahren fand im Jahr 1987 die erste Tagung des damals neu
gegründeten Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ der Deutschen
Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) statt. Es bedarf kaum einer weiteren Erläuterung, dass sich die Umstände von Wahlen und politischen Einstellungen
seitdem wesentlich geändert haben: Mauerfall und Wiedervereinigung, der Wandel
von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, die Einführung des
Euro und seine aktuelle Krise, lange anhaltende, strukturelle Arbeitslosigkeit und
Hartz-Reformen, aber auch demographischer Wandel und technischer Fortschritt
– insbesondere im Bereich der Informationstechnologie – sind nur einige der Entwicklungen, die die Umstände für Politik insgesamt, aber auch von Wahlen im
Speziellen nachhaltig verändert haben. Thematisch orientiert sich das vorliegende
Buch deswegen an der Frage des sozialen und politischen Wandels der vergangeUnser herzlicher Dank gilt Felicitas Belok und Kevin Klinkhammer, die die Recherchen zu
und die Finalisierung dieses Beitrags unterstützt haben.
1 S. Roßteutscher ()
Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Deutschland
E-Mail: [email protected]
T. Faas
Universität Mainz, Mainz, Deutschland
E-Mail: [email protected]
U. Rosar
Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland
E-Mail: [email protected]
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
S. Roßteutscher et al. (Hrsg.), Bürgerinnen und Bürger im Wandel der Zeit,
Veröffentlichung des Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“
der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW),
DOI 10.1007/978-3-658-11276-9_1
1
2
S. Roßteutscher et al.
nen Jahrzehnte. Damit weicht diese Veröffentlichung von dem Zuschnitt früherer
Bände ab, die entweder einzelne Bundestagswahlen oder Themenschwerpunkte
aus der politischen Einstellungsforschung in den Fokus nahmen (siehe hierzu auch
das Vorwort von Hans Rattinger). Stattdessen stellt sich der vorliegende Band der
Herausforderung, bisherige Themenschwerpunkte systematisch in einer Wandelbzw. Trendperspektive zu betrachten. Wissenschaftliches Ziel dieses Buches ist die
Vermessung des Ausmaßes des Wandels, der die vergangenen Jahrzehnte prägte,
unter besonderer Berücksichtigung seiner politischen und demokratietheoretischen
Bedeutung.
Die Themen dieses Bandes sind entsprechend vielfältig: Politisches Wissen,
Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat, Wertewandel, politisches Vertrauen, Frauen
in der Politik, Wahlverhalten von Arbeitern, Koalitionswählen, Wahlverhalten im
Mehrebenensystem, politische Ungleichheit und Wahlbeteiligung ebenso wie die
Beziehung zwischen Wirtschaft und Politik. Obwohl die im Band thematisierten
Wandlungsprozesse empirisch und theoretisch miteinander zusammenhängen sowie häufig auch in Abhängigkeit voneinander gesehen werden müssen, liegt es
in der Natur eines Sammelbandes, dass die Autorinnen und Autoren der einzelnen Kapitel – schon allein aus Platzgründen – nie das Gesamtgemälde in seiner
kompletten Breite ausmalen können. Das Thema jedes einzelnen Beitrags wäre es
ohne Zweifel wert, in einer eigenständigen Monographie umfassend und facettenreich mit all seinen Verästelungen und Verbindungen behandelt zu werden. Ziel
dieses einführenden Kapitels ist es daher, den Versuch zu unternehmen, einen roten
Faden durch die verschiedenen Einzelbeiträge zu spinnen, gleichsam das große
Ganze herauszuarbeiten, dabei die Detailperspektive der Einzelkapitel anzudeuten,
ohne sie aber auszuführen. Vielmehr geht es um eine – zugegeben – grobe Skizze
des Wandels der bundesrepublikanischen Gesellschaft vor und nach der deutschen
Vereinigung. Zu diesem Zweck werden in dem vorliegenden Kapitel unterschiedliche Aspekte des gesellschaftlichen und politischen Wandels exemplarisch diskutiert, die als Ursachen der Veränderungen auf der Ebene der Bürger in deren
Umgang mit und ihrem Verhältnis zur Politik gelten. Die hier diskutierten Objekte
des Wandels werden dabei zunehmend „politischer“ – angefangen beim sozialen
Wandel und hier insbesondere der Bildungsexpansion über den wirtschaftlichen
und wohlfahrtsstaatlichen Bereich, die Medienlandschaft, die deutsche (und europäische) Einigung bis hin zu Veränderungen der Parteienlandschaft. An diese Dimensionen des Wandels knüpfen die Autoren der Einzelkapitel später an und legen
in detaillierter Weise verschiedene Aspekte des Wandels des jeweiligen thematischen Gegenstandes dar.
3
Bürgerinnen und Wähler im Wandel der Zeit
2 Sozialer Wandel und Bildungsexpansion
Zu sagen, die Gesellschaft der Bundesrepublik habe sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert, gehört – zu Recht – in den Reigen der Allgemeinplätze.
Und doch ist genau dies die Grundlage für viele der (anderen) Wandlungsprozesse.
Gerade das Bildungssystem hat massive Veränderungen erfahren und damit eine
wesentliche Voraussetzung für einen tiefgreifenden sozialen Wandel geschaffen.
Während bis in die 1970er Jahre hinein ein Hauptschulabschluss als Regelabschluss galt und nur Minderheiten der Gesellschaft höhere Schullaufbahnen einschlugen, kam es im Zuge der Bildungsexpansion zum Ausbau der gymnasialen
Schulbildung. Noch zu Ende der 1970er Jahre hatten über 70 % der (west)deutschen Bevölkerung maximal einen Hauptschulabschluss. Im Verlauf der nächsten
drei Jahrzehnte nimmt die Häufigkeit niedriger Bildungsabschlüsse sukzessive ab,
während mittlere und vor allem höhere Abschlüsse massiv zugenommen haben
(siehe Abb. 1). Unter jungen Menschen ist das Abitur heute unangefochtener Spitzenreiter, während die Hauptschule zunehmend an den gesellschaftlichen Rand
gerückt ist (siehe Abendschön u. Roßteutscher in diesem Band). Prozesse fortschreitender Akademisierung prägen die Gesellschaft bis heute.
80%
70%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
niedrig
miel
2010
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
0%
hoch
Abb. 1 Entwicklung der sekundären Bildungsabschlüsse seit 1976. (Quelle: Mikrozensus
Grundfile, http://www.gesis.org/unser-angebot/daten-analysieren/amtliche-mikrodaten/mikrozensus/grundfile/. Bevölkerung in Deutschland ab 15 Jahren nach höchstem allgemeinbildenden Schulabschluss (vor 1991 nur Westdeutschland))
4
S. Roßteutscher et al.
Aus diesem gestiegenen Bildungsniveau sind aus politikwissenschaftlicher
Sicht weitreichende Schlussfolgerungen gezogen worden. Dies betrifft vor allem
den Anstieg der sogenannten kognitiven Mobilisierung der Bürger, die deren politisches Verhalten und ihr Verhältnis zu traditionellen Parteien grundlegend verändert hat (Inglehart 1990; Dalton 2002; Dalton/Wattenberg 2002). In dem Maße, in
dem die politischen Kompetenzen der Bürger steigen, sind sie weniger auf Elitensignale, etwa von den etablierten politischen Parteien, angewiesen. Auch brauchen
sie weniger Übersetzungs- oder Interpretationshilfen seitens politischer Experten,
um mit der zunehmend komplexen Informationsumwelt zu Rande zu kommen
(zur Entwicklung politischen Wissens siehe den Beitrag von Barthelt, Jedinger u.
Maier in diesem Band). Die etablierten Parteien büßen entsprechend sowohl an objektiver Bedeutung als auch an subjektivem Vertrauen ein. Auch ein einsetzender
Wertewandel wird mit dem veränderten Bildungsniveau in Verbindung gebracht
(zum Wertewandel siehe den Beitrag von Klein in diesem Band); neue Formen der
politischen Partizipation mit eher kurzfristigen, themenzentrierten sowie hierarchisch flacheren Beteiligungsformen gewinnen an Bedeutung, ohne die Parteien
funktional äquivalent ersetzen zu können. Im Zuge der Bildungsexpansion löste
sich zudem der enge Zusammenhang von (hoher) Bildung und Geschlecht. Auch
Mädchen schlugen zunehmend und erfolgreich höhere Bildungswege ein. Eine
Folge dessen ist der Anstieg des politischen Interesses von Frauen und dem Anspruch auf angemessene Vertretung im politischen System sowie bei spezifischen
Themen (siehe den Beitrag von Bieber in diesem Band).
Aber nicht nur die Kinder der Bildungsexpansion verändern ihr politisches Verhalten. Viele der erwähnten Veränderungen werden ursächlich auch mit weiteren
soziodemografischen Wandlungsprozessen in Verbindung gebracht: Sie tragen vor
allem zur Erosion traditioneller politischer Milieus bei, die über lange Zeit das
Rückgrat der etablierten Parteien bildeten. Aufgrund des Strukturwandels auf dem
Arbeitsmarkt verlieren klassische Arbeiterberufe massiv an Bedeutung. Nicht nur
Gewerkschaften, sondern auch sozialdemokratische Parteien wie die SPD leiden
unter dem massiven Schwund ihrer Kernklientel. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums führt eine fortschreitende Säkularisierung zur Erosion kirchlich
gebundener Wählerschichten, die traditionell das Kernsegment christdemokratischer Parteien wie der CDU/CSU stellten. Der klassische soziale Gegensatz der
(alten) Bundesrepublik zwischen Arbeitermilieu auf der einen Seite und konfessionellem Milieu auf der anderen Seite hat somit eine immer weiter abnehmende
Bedeutung und hilft entsprechend weniger, politische Frontstellungen zu erklären.
Abbildung 2 und 3 zeigen das Ausmaß dieser sozialstrukturellen Veränderungen
im Zeitverlauf.
Der Anteil der gewerkschaftlich gebundenen Arbeitnehmer hat sich von fast
45 % der abhängigen Beschäftigten in den 1950er Jahren auf rund 15 % im Jahr
5
Bürgerinnen und Wähler im Wandel der Zeit
50.0
45.0
40.0
35.0
30.0
25.0
20.0
15.0
10.0
5.0
1950
1952
1954
1956
1958
1960
1962
1964
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1998
2000
2002
2004
2006
2008
2010
0.0
Abb. 2 Mitgliedsentwicklung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) im Verhältnis
zur Arbeitnehmerentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1950. (Quelle: Eigene
Darstellung, www.dgb.de und Statistisches Bundesamt)
3UR]HQW
3URWHVWDQWHQ
.DWKROLNHQ
&KU.RQIHVVLRQLQVJ
Abb. 3 Konfessionszugehörigkeit in Deutschland 1950–2010. (Quelle: Statistisches
Bundesamt)
6
S. Roßteutscher et al.
2010 reduziert. Der stärkste Rückgang fand hierbei in den 1990er Jahren statt.
Bezogen auf die deutsche Gesamtbevölkerung sind die Zahlen noch dramatischer.
Der Anteil der Arbeiter mit Gewerkschaftsbindung liegt derzeit bei knapp über
fünf Prozent der Bevölkerung (Roßteutscher und Stegmueller 2014.). Dass sich
daraus unmittelbar massive Konsequenzen für die SPD und ihre Positionierung
ergeben, liegt auf der Hand. Ähnlich gestaltet sich die Situation aber auch für die
Kernklientel von CDU/CSU. Waren in den 1950er und 1960er Jahren noch fast
90 % der Westdeutschen Mitglied in einer der beiden großen Kirchen, so hat sich
ihr Anteil zum Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts auf unter 60 % reduziert. Parallel verläuft der Schwund im katholischen Kernmilieu, das ursprünglich das zentrale Reservoir der christdemokratischen Partei gebildet hat. Zwischen
1980 und 2010 fiel der Anteil der Katholiken, die mindestens einmal im Monat
die Kirche besuchen, von circa 20 auf circa 10 %. Der Säkularisierungsprozess
erhielt durch den Beitritt der neuen Bundesländer und ihrer bereits viel stärker säkularisierten Bevölkerung auf ganz Deutschland bezogen einen erheblichen Schub
(Meulemann 2004; Roßteutscher 2012). Der rückläufigen Bedeutung der christlichen Kirchen steht in der jüngeren Zeit ein Bedeutungsgewinn des Islam als Religion in Deutschland gegenüber.
3 Wirtschaft, Wirtschaftskrisen und Wohlfahrtsstaat
Neben Bildungsexpansion, fortschreitender Säkularisierung und veränderter Bedeutung gewerkschaftlich organisierter Arbeit haben sich auch die ökonomischen
und wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen seit den 1980er Jahren grundlegend geändert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Überwindung der kriegsbedingten wirtschaftlichen und sozialen Probleme wurde die Bundesrepublik
Deutschland zum Land des Wirtschaftswunders. Nachwachsende Generationen
konnten in der Folge häufig berufliche und soziale Positionen erreichen, die jene
ihrer Eltern-Generation deutlich übertrafen. In der Kombination von Bildungsexpansion und wirtschaftlicher Prosperität ist sicherlich auch einer der Gründe für die
oben beschriebene, allmähliche Auflösung der sozialen Milieus zu suchen, gelten
sie doch als Auslöser eines intergenerationalen Wertewandels. Die in wirtschaftlicher Sicherheit sozialisierten Kohorten räumen demnach den sogenannten materialistischen Politikzielen wie ökonomischer Sicherheit und Preisstabilität eine
geringere Priorität ein. Den darauf folgenden post-materialistischen Wertorientierungen liegt stattdessen der Wunsch nach Emanzipation, Selbstverwirklichung und
Teilhabe zugrunde; diese Bedürfnissen nehmen in den in Wohlstand aufgewachsenen Kohorten größere Priorität ein (Inglehart 1990; ausführlich dazu der Beitrag
von Klein in diesem Band).
Bürgerinnen und Wähler im Wandel der Zeit
7
Die bundesrepublikanische Gesellschaft zeichnete sich lange Zeit durch wirtschaftliche Prosperität und in der Folge durch eine relativ hohe soziale Mobilität
aus. Allerdings hat gerade die jüngere Vergangenheit zumindest für Teile der Gesellschaft auch gezeigt, dass dies kein fortwährender Automatismus ist. Für das
letzte Jahrzehnt mehren sich vielmehr die Anzeichen, dass die soziale Mobilität
der deutschen Gesellschaft abgenommen hat, teilweise sogar zum Stillstand gekommen ist und sich soziale Positionen zementieren (Corneo et al. 2014), was sich
wiederum unmittelbar auf politische Teilhabechancen auswirkt (dazu Abendschön
und Roßteutscher in diesem Band). Dies hat auch damit zu tun, dass das Modell der
frühen Bundesrepublik des sozialen Aufstiegs durch wirtschaftliches Wachstum
und wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung in den vergangenen 25 Jahren an seine
Grenzen gestoßen ist. Die Ölkrise der 1970er brachte den Traum vom unbegrenzten Wachstum zu einem abrupten Ende. In Folge stiegen die Arbeitslosenzahlen
und Fragen nach der Sicherheit und Bezahlbarkeit der sozialen Systeme drängten
mehr und mehr auf die politische Agenda. Dringlich wurde die Frage des Umfangs
der sozialen Sicherungssysteme nach der deutschen Wiedervereinigung 1990, als
die Ansprüche auf soziale Absicherung vollumfänglich auf die Bürger Ostdeutschlands übertragen wurden. Die DDR-Wirtschaft erwies sich als deutlich unproduktiver als zunächst angenommen, sodass viele ehemals volkseigene Betriebe den
Sprung in die Marktwirtschaft nicht schafften. Nach dem kurzzeitigen Boom in
Folge der Wiedervereinigung schnellte die Arbeitslosigkeit zunächst vor allem im
Osten der Republik massiv und dauerhaft in die Höhe, später stieg sie auch in
Westdeutschland deutlich an. Hinzu kam die allmähliche Einsicht, dass das umlagebasierte Rentensystem auf Grund des demographischen Wandels nicht dauerhaft
finanzierbar sein würde. Die von der rot-grünen Bundesregierung initiierten Reformen der sogenannten Agenda 2010 trug diesen finanziellen Belastungen der sozialen Sicherungssysteme Rechnung. Im Ergebnis führten diese Reformen zu einer
teilweisen Abkehr vom angestammten konservativen Wohlfahrtsstaatsmodell, das
für die alte Bundesrepublik charakteristisch war (ausführlich dazu Roller in diesem
Band). Die zunehmende Dringlichkeit ökonomischer Fragen hatte auch zur Folge,
dass die während der verhältnismäßig wirtschaftlich unsicheren 1990er Jahren sozialisierten Kohorten den bis dahin ungebrochenen Anstieg postmaterialistischer
Wertorientierungen ihrerseits nicht mitgetragen haben (Roßteutscher 2013; Klein
in diesem Band). Die jüngere Vergangenheit aber sieht für Deutschland – gerade
auch im europäischen Vergleich – wieder ökonomische Prosperität, auch wenn immer wieder die Frage gestellt wird, bei wem diese letztlich ankommt und welche
verteilungspolitischen Fragen damit verbunden sind (siehe zum Verhältnis zwischen Wirtschaft und Wahlverhalten den Beitrag von Faas in diesem Band).
8
S. Roßteutscher et al.
4 Medien und Digitalisierung
Auch die Medien- und Informationsumwelt der Bürger hat sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert. Die Entwicklung lässt sich durch zwei parallel
laufende Trends beschreiben: Eine massive Ausweitung des medialen Angebots
und damit verbunden eine massive Diversifizierung. Der quantitative Wandel lässt
sich exemplarisch am Beispiel des Fernsehens zeigen: Mit der Gründung der ARD
im Jahr 1950 sowie später des ZDF und der regionalen dritten Programme setzte
der Siegeszug des Fernsehens ein, das sich zunehmend als Leitmedium gegenüber
Presse und Radio durchsetzen konnte. Kennzeichnend für das Programmangebot
der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender war der hohe Anteil von Sendungen politischen Inhalts. Zur Vermeidung politischer Information konnte der Fernsehzuschauer also ausschließlich das Fernsehgerät abschalten. Durch die Liberalisierung
des Medienmarktes Anfang der 1980er Jahre fand eine explosionsartige Vermehrung frei empfänglicher Fernsehkanäle statt (siehe Abb. 4).
Eine Folge dieser Diversifizierung ist einerseits ein verändertes Konsumverhalten mit einem potentiell unbegrenzten Programm auf verschiedenen Kanälen,
andererseits aber auch insbesondere ein Wandel der Inhalte des Programms: Politik
und politische Inhalte haben massiv an Bedeutung verloren.
120
100
80
60
40
20
0
Abb. 4 Zahl der frei empfänglichen Fernsehkanäle seit 1954. (Quelle: Arbeitsgemeinschaft
der Landesmedienanstalten (ALM, die Medienanstalten), http://www.die-medienanstalten.
de/service/datenbanken/tv-senderdatenbank.html. In der Datenbank der ALM befindet sich
alle TV Sender, die im Jahr 2013 im Sendebetrieb waren)
Bürgerinnen und Wähler im Wandel der Zeit
9
Aber nicht nur das Fernsehen ist von Wandlungsprozessen erfasst worden.
Auch die Presselandschaft wandelt sich erheblich, teils bedingt durch ökonomische Notwendigkeiten, teils bedingt durch ein verändertes Nutzungsverhalten. Vor
allem das Aufkommen des Internets sowie die Verbreitung unterschiedlicher social
media erhöhten das potentielle Angebot nochmals drastisch, während gleichzeitig
die Bedeutung des Fernsehens und insbesondere der klassischen, gedruckten Presse zurückging.
Aus politischer Sicht haben diese Veränderungen der Medien- und Informationsumwelt zwei signifikante Folgen: Durch das vervielfältigte Angebot erhöht
sich zunächst die Wahrscheinlichkeit, dass Bürger auch unterschiedliche, möglicherweise sogar widersprüchliche Botschaften erhalten. Die politischen Signale,
die Bürger aus den Medien empfangen, können somit weniger homogen und damit
potentiell auch schwieriger einzuordnen und zu bewerten sein als dies lange Zeit
der Fall war. Zugleich aber erlaubt die Vielfalt an Medienangeboten auch die gezielte Vermeidung politischer Inhalte. Bürger, die sich nicht für Politik interessieren, können intensiv Medien nutzen, ohne jemals mit Politik in Kontakt zu kommen. Die Medien- und Informationsumwelt ist also sowohl komplexer als auch
potentiell politikferner geworden. Als Folge dessen stellt vor allem die klassische
Medienlandschaft aus Funk, Fernsehen und Printmedien heute weniger als zuvor
die Arena dar, in der politische Debatten für alle sichtbar geführt werden und in
der gesellschaftliche Bedürfnisse formuliert und an das politische System gerichtet
werden. Vielmehr bietet die diversifizierte Medienlandschaft heute zum einen die
Angebote, sich zwar öffentlich, nicht jedoch automatisch politisch zu informieren.
Zum zweiten stellt das Aufkommen neuer Formen vor allem digitaler Medien das
politische System – und hier insbesondere die Parteien – vor die Herausforderung,
die relevanten Bedürfnisse in der Bevölkerung zu identifizieren sowie mit dieser
über Medien zu kommunizieren.
5 Deutsche Vereinigung und Europäisierung
Schließlich hat sich auch der genuin politische Bereich in Deutschland massiv verändert, nicht zuletzt durch den Fall der Mauer 1989 und die Deutschen Wiedervereinigung 1990. Nicht nur die unterschiedlichen Entwicklungen der wirtschaftlichen Lage in Ost und West stellte die Bundesrepublik nach 1990 vor Herausforderungen. Die Vereinigung der beiden über vier Jahrzehnte getrennten deutschen
Teilstaaten führte dazu, dass deren Bürger in völlig unterschiedlichen politischen
Regimen sozialisiert wurden, nun aber ein gemeinsames politisches System zu tragen hatten, das gänzlich unter westdeutschen Bedingungen gereift war. Ostdeut-
10
S. Roßteutscher et al.
sche hatten zwangsläufig geringere Bindungen an die alten Westparteien, neigten
sehr viel stärker zur Nichtwahl und zum Parteiwechsel als westdeutsche Bürger
und brachten somit ein weiteres Stück Volatilität und Unberechenbarkeit in das
politische Gefüge (Gabriel 2011). So sprach man lange von der Republik der zwei
getrennten politischen Kulturen und in kaum einem anderen Bereich war der OstWest-Unterschied so ausgeprägt wie hinsichtlich der Einstellungen und Ansprüche
an den Wohlfahrtsstaat (ebenfalls ausführlich Roller in diesem Band).
Auch das europäische Umfeld hat sich in den vergangenen 25 Jahren rapide
verändert. Neben der Erweiterung von der Europäischen Gemeinschaft (EG) zur
Europäischen Union (EU) wurde diese im Zuge zweier großer Beitrittswellen auf
ihre heutige Größe von 28 Mitgliedsstaaten erweitert. Neben der Vergrößerung der
EU um weitere Staaten schritt auch die innere Integration voran, zumindest in einigen Ländern. Nach der Einführung des Euro im Jahr 2002 zeigte sich allerdings,
dass auch innerhalb der Riege etablierter westeuropäischer Länder große ökonomische Unterschiede existieren. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen der
Wirtschafts-, Staatsschulden- und Eurokrise beschäftigen nunmehr seit 2008 die
europäische Politik und haben in vielen europäischen Staaten zum Neuzuschnitt
der politischen Landkarte geführt. Auch wenn Deutschland weit weniger direkt
betroffen ist als andere Länder, so dürften die Entwicklungen in der europäischen
Politik ihre Spuren auch im deutschen politischen System hinterlassen haben. Insbesondere die ohnehin bei vielen Bürgern bestehenden Zweifel an der Problemlösungskompetenz der Parteien dürften durch das permanente Momentum der
europäischen Krise nicht gemildert worden sein – im Gegenteil. Es ist zu diesem
Zeitpunkt fraglich, ob sich die wiederholte Krisenerfahrung nicht auch zu einer
fundamentalen Vertrauenskrise entwickeln kann, wenn neben politischen Akteuren
wie Parteien und Politikern auch die Unterstützung zentraler demokratischer Institutionen ausbleibt (ausführlich dazu Zmerli in diesem Band).
6 Fragmentierung des Parteiensystems
Die skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen hinterließen Spuren im politischen Koordinatensystem. Nach einer Phase der Konsolidierung zu Beginn der
1950er Jahre entwickelte sich in Westdeutschland das für lange Zeit prägende
sogenannte „2½ Parteiensystem“. Die 1970er Jahre sind die Königsjahre der damaligen Volksparteien. Sie banden fast die gesamte Gesellschaft, während der
Nichtwähleranteil minimal war. Die beiden Volksparteien Union und SPD stellten
den Kanzler, die FDP spielte die Rolle des sprichwörtlichen „Züngleins an der
Waage“ und entschied zumeist, welche Koalition mit ihr die Regierung stellte.
Bürgerinnen und Wähler im Wandel der Zeit
11
Die 1980er und 1990er dokumentieren zunächst die allmähliche Etablierung der
Grünen und dann der Linkspartei und damit einen graduellen Zuwachs der „kleinen“ Parteien auf Kosten der Großparteien. Als Folgen des oben beschriebenen
Säkularisierungsprozesses, der Bildungsexpansion, der Emanzipation der Frauen,
des Wertewandel, der Erfahrung der neuen sozialen Bewegungen sowie anlässlich der Nachrüstungsdebatte etablierten sich Anfang der 1980er die Grünen als
vierte Kraft im deutschen Parteiensystem. Seit diesem Zeitpunkt sprach man von
einem System, in dem sich zwei Lager gegenüberstehen und in Konkurrenz um
Regierungsmacht kämpften: CDU/CSU und FDP auf der einen Seite, SPD und die
Grünen auf der anderen.
Die Bürger der neuen Bundesländer brachten andere Erfahrungen und Erwartungen an das politische System mit ein. Auch auf diese Wählerklientel aufbauend etablierte sich die aus der ehemaligen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED)
hervorgegangene PDS, die sich später nach dem Zusammenschluss mit der westdeutschen WASG als Linkspartei neu formierte. Auch nach dem Zusammenschluss hat
sie bis heute ihr Kernklientel auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Hier allerdings
ist sie häufig an Landesregierungen beteiligt, inzwischen stellt sie sogar – ebenso wie
die Grünen – einen Ministerpräsidenten. Damit trug die Linkspartei nachhaltig zur
Regionalisierung des deutschen Parteiensystems bei (Niedermayer 2012). Die neue
Mobilität der Parteienlandschaft ließ sich auch im Kontext der Bundestagswahl 2013
erkennen: Nicht auszuschließen ist zum derzeitigen Zeitpunkt, dass sich mit der Alternative für Deutschland (AfD) angesichts der anhaltenden europäischen Schuldenkrise
eine erste Euro- und EU-skeptische Partei im deutschen System zumindest kurzfristig etablieren konnte. Welche Spuren die Flüchtlingsmassen, die seit Sommer 2015
nach Europa aber insbesondere auch nach Deutschland strömen, im politischen Gefüge hinterlassen werden, ist zum derzeitigen Zeitpunkt nicht abzusehen. Gleichzeitig
zeigte sich, dass selbst langfristig etablierte und die Entwicklung der Bundesrepublik
maßgeblich mitbestimmende Parteien wie die FDP sich ihrer Wahl in den Bundestag nicht sicher sein können. Damit wird das Parteienangebot für die Wähler nicht
nur vielschichtiger und reichhaltiger, sondern es entstehen auch neue Ansprüche an
strategische Überlegungen. Dies zeigte auch der im Vergleich sehr hohe Anteil abgegebener Stimmen, die mangels Überschreiten der 5-Prozenthürde bei der Vergabe
der Mandate zum Bundestag nicht berücksichtigt wurden und die absolute Mehrheit
der Abgeordneten für die Unionsparteien in den Bereich des Möglichen brachten. Die
Auswahl einer bestimmten Regierung wird für den Wähler also umso schwieriger, je
mehr Parteien kandidieren und je unübersichtlicher die Koalitionssituation vor Wahlen ist (siehe dazu die Beiträge von Huber sowie Debus und Müller in diesem Band).
Diese Fragmentierung des Parteiensystems ist nicht zuletzt der bereits beschriebenen schwindenden Bindungskraft der beiden Großparteien geschuldet. Im Zuge
der Auflösung der sozialen Milieus und dem numerischen Schwund der Kernwähler-Segmente sind zunehmend größere Anteile der Wählerschaft nicht länger fest
12
S. Roßteutscher et al.
100
90
80
Anteile in %
70
60
50
40
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20
10
0
1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 2013
Wahljahr
Volksparteien
Kleine Parteien (im Bundestag vertreten)
Abb. 5 Schwindende Bindungskraft der Großparteien (in Prozent der Stimmen). (Quelle:
Bundeswahlleiter 2013)
an eine Partei gebunden und daher – zumindest prinzipiell – auch für neue Parteien
rekrutierbar (siehe Abb. 5 und 6).
35
30
Anteile in %
25
20
15
10
5
0
1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 1990 1994 1998 2002 2005 2009 2013
Wahljahr
Nichtwähler
Sonstige Parteien (unter 5 Prozent)
Abb. 6 Nichtwähler und „Sonstige“ (in Prozent der Stimmen). (Quelle: Bundeswahlleiter 2013)
Bürgerinnen und Wähler im Wandel der Zeit
13
Parallel zu den Stimmengewinnen der kleinen Parteien steigt der Anteil der
Nichtwähler am Elektorat erneut an. Beide Prozesse – prozentualer Zugewinn der
Kleinen auf Kosten der Großen und Anstieg der Nichtwähler – setzten sich im
ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts fort. Das größere Parteienangebot geht also
im Aggregat mit sinkender Wahlbeteiligung einher und nicht, wie man vermuten
könnte, mit einer höheren Attraktivität des Parteiensystems durch Abbildung zuvor
wenig thematisierter Anliegen im repräsentativen System (dazu auch Huber in diesem Band). Zudem gelingt es insbesondere sozialdemokratischen Parteien immer
weniger, ihre eigentliche Kernklientel, die Arbeiterschaft, an sich zu binden. Hierzu trägt nicht nur die Konkurrenz seitens neuer linker Angebote wie der Linkspartei bei, sondern auch die potentielle Affinität sogenannter Modernisierungsverlierer und solcher Bevölkerungsgruppen, die von ökonomischen Krisen am stärksten
betroffen sind, zu rechtspopulistischen Alternativen (siehe dazu den Beitrag von
Arzheimer in diesem Band).
Diese facettenreichen Veränderungen im gesellschaftspolitischen Kontext haben Auswirkungen auf die Einstellungen der Bürger und ihr Verhalten gegenüber
dem politischen System. Langanhaltende wirtschaftliche Krisen wecken die Zweifel an der Problemlösungskompetenz der politischen Akteure und unterminieren
langfristig das Vertrauen in das politische System. Die Bürger sind aufgrund längerer Verweildauer in höheren Schullaufbahnen zwar einerseits kompetenter. Andererseits müssen sie ihre Einstellungen und Entscheidungen in einer hochgradig
komplexen Informationsumwelt finden bzw. treffen. Zudem hat sich auch das Angebot diversifiziert. Je mehr Parteien zur Wahl stehen, desto komplexer ist der Entscheidungsprozess. Dies gilt insbesondere für den wachsenden Teil der Wähler, der
sich aufgrund sozialen Wandels nicht länger an die Parteien gebunden fühlt. Hinzu
treten alternative politische Partizipationsformen insbesondere unter der Nutzung
neuer Medien. Kurzum: Prinzipiell kompetentere Bürger müssen ein Vielfaches
an teils widersprüchlichen Informationen verarbeiten, um eine Auswahl zwischen
einer stetig steigenden Anzahl an Optionen der Mitbestimmung zu treffen. Dies
müssen sie vermehrt als Individuum oder im Kontext privater Netzwerke leisten,
da die Parteien – insbesondere die Großparteien sowie Gewerkschaften und Kirchen als deren jeweilige Vorfeldorganisationen – immer weniger Menschen binden
und in ihren politischen Entscheidungen leiten. Der Wähler entscheidet also vermehrt unter Unsicherheit und in zunehmender Komplexität. Die Auswirkungen
dieses gesellschaftspolitischen Wandels auf die politischen Orientierungen und das
Wahlverhalten der Bürger und Wähler steht im Fokus der folgenden Kapitel.
14
S. Roßteutscher et al.
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Oxford: Oxford University Press.
Teil I
Wahlen und Wahlverhalten
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