Heidgen, Koch, Köhler (Hg.) Permanentes Provisorium Michael Heidgen, Matthias Koch, Christian Köhler (Hg.) Permanentes Provisorium Hans Blumenbergs Umwege Wilhelm Fink Gedruckt mit Unterstützung der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn Umschlagabbildung: Andreas Cellarius: Harmonia Macrocosmica, Amsterdam, 1661, Bildtafel 4. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. 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Die cartesische Selbstbehauptung und die Funktion von Weltmodellen ..... 37 RÜDIGER ZILL Auch eine Kritik der reinen Rationalität. Hans Blumenbergs Anti-Methodologie ...................................................... 53 *** ALEXANDER FRIEDRICH Daseinsgrundprobleme. Blumenbergs Metaphorologie als Kultur- und Technikphilosophie ........... 75 MICHAEL MAKROPOULOS Blumenberg und die Ontologie des ästhetischen Gegenstands ................... 93 6 INHALT ANDREAS PRIBERSKY „Sichtbarkeit“: Hans Blumenbergs Umweg in die Moderne? ............................................. 113 SEBASTIAN TRÄNKLE Die Vernunft und ihre Umwege. Zur Rettung der Rhetorik bei Hans Blumenberg und Theodor W. Adorno ............................................... 123 SANDRA MARKEWITZ Umwege der Grammatik. Über Blumenberg und Wittgenstein ........................................................... 145 PIERRE MATTERN „Ich habe Nessy gesehen.“ Zur Fremd- und Selbstreferenz in Blumenbergs Anekdotenglossen .......... 159 *** MARTINA PHILIPPI Phänomenologische Beschreibung der Phänomenologie? Blumenbergs Perspektivenwechsel ............................................................ 173 MARION SCHUMM Blumenberg und die Intermittenz des Bewusstseins .................................. 189 *** NICOLA ZAMBON Wie ein erloschener Stern, der nachleuchtet. Marginalien zu Hans Blumenbergs Matthäuspassion ................................ 207 INHALT 7 PHILIPP STOELLGER Die Passion als ‚Entlastung vom Absoluten‘. Negative Christologie im Zeichen der Tränen Gottes ................................. 225 PETER SCHALLENBERG Säkularisierter Schiffbruch und provisorische Moral. Anmerkungen zu Hans Blumenberg aus Sicht der Theologie .................... 259 ABBILDUNGSVERZEICHNIS .......................................................................... 275 ÜBER DIE AUTORINNEN UND AUTOREN ...................................................... 277 MICHAEL HEIDGEN, MATTHIAS KOCH, CHRISTIAN KÖHLER PERMANENTES PROVISORIUM. HANS BLUMENBERGS UMWEGE: ZUR EINLEITUNG „Nur wenn wir Umwege einschlagen, können wir existieren.“ Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, S. 137 Mit den Umwegen fokussiert Hans Blumenberg eine Figur, die einem modernen Ökonomieverständnis scheinbar zuwiderläuft; „denn im strengsten Sinne erhält nur der kürzeste Weg das Gütesiegel der Vernunft, und alles rechts und links daran entlang und vorbei ist das der Stringenz nach Überflüssige, das sich der Frage nach seiner Existenzberechtigung so schwer zu stellen vermag“.1 Entgegen dieser ratio-konformen Bestimmung im strengsten Sinne weist Blumenberg den Umweg nicht als unvernünftige und damit zu tilgende Abirrung aus, sondern vielmehr als eine grundlegende Figur menschlicher Selbstbehauptung. Blumenbergs Umweg-Überlegungen sind auf mehreren Ebenen anzusiedeln. Der Umweg ist – erstens – Bestandteil seiner Kulturtheorie und, die obigen Zitate deuten es an, eine existenzielle Angelegenheit für das Kulturtier Mensch. Er ist an den im weitesten Sinne rhetorischen Zugriff des Menschen auf seine Umwelt gebunden und steht in engem Verhältnis zu zeitlichen Figuren wie Verzögerung oder Antizipation. Als Leistung der menschlichen Weltorientierung und -ermächtigung verstanden, ist dem Umweg bei Blumenberg eine überhistorische anthropologische Dimension inne. Im Kontext des menschlichen Überlebensmanagements steht dem Umweg dabei das Provisorische im Spannungsfeld von Distanzierung und Handlungsermächtigung zur Seite; wo Ersterer einer Ökonomie des angemessenen Verhaltens (scheinbar) widerspricht, ermöglicht Letzteres ein Verhalten unter dem Modus, als ob man wüsste, was eigentlich der richtige Weg wäre. Einer anthropologischen, allgemeinen Begründung von Umweg und Provisorium steht – zweitens – eine historische Perspektive zur Seite, aus der sich die beiden Figuren als Elemente eines besonderen, und zwar modernen Problemfeldes zu erkennen geben. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei, wie der kommende Abschnitt darlegt, seiner kritischen Auseinandersetzung mit Descartes und dessen morale par provision zu. Anhand dieser Spannung zwi1 Hans Blumenberg, „Umwege“, in: ders., Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt am Main, 1987, S. 137. 10 MICHAEL HEIDGEN, MATTHIAS KOCH, CHRISTIAN KÖHLER schen anthropologischen und historischen Aspekten lässt sich – drittens – darauf hinweisen, dass Umweg und Provisorium auch methodische Funktionen im Prozess der Erkenntnisgewinnung und -vermittlung haben: Der direkte Weg in der Argumentation ist nicht Blumenbergs Angelegenheit. Vielmehr bindet er seine Überlegungen ein in Makroerzählungen zur Wissenschaftsund Menschheitsgeschichte, arbeitet mit Abschweifungen und gelehrten Ausflügen in benachbarte Disziplinen, oder vermittelt seine Thematiken literarisiert in Glossen, Anekdoten und pointierten Reflexionen über Dinge und Personen von Interesse. Die Reichweite der Argumente steht dabei in enger Verbindung zu dieser Darstellungsweise, und zwar durchaus in Absehung davon, ob es sich um eine kleine Form oder ein großes Werk handelt. Manche kulturtheoretische These, pointierte Epochenskizze oder apodiktisch anmutende Aussage gibt sich als vorläufig, als eine Feststellung unter Vorbehalt. Dieser dreifachen Verortung des Umwegs – anthropologisch, historisch, methodisch – im Werke Blumenbergs versucht der Band sich anzunähern. I. Blumenbergs Philosophie des Provisoriums und des Umwegs gewinnt ihre Konturen im Besonderen durch die Reibung an Descartes, so auch hinsichtlich des für die beiden Denkfiguren zentralen Verhältnisses von Vorläufigkeit und Endgültigkeit. Blumenberg erhebt Descartes’ Konzept einer morale par provision zum maßgeblichen Programm der Moderne, allerdings in der Zurückweisung seiner Pointe einer morale definitive, die erst mit Vollendung der theoretischen Erkenntnis möglich werden und von einer provisorischen Moral zwischenzeitlich nur vertreten werden sollte. Der Fehlschluss, dem Descartes nach Blumenberg dabei unterlag, betraf nicht etwa die Hoffnung auf die tatsächliche Realisierbarkeit dieser morale definitive, sondern die Tatsache, dass er diese Zwischenzeit an dem philosophisch seit eh und je Verbindlichen normativ ausrichtete und das Vorläufige so de facto als Stillstand inszenierte: „Descartes erkannte nichts von der Rückwirkung des theoretischen Prozesses auf das vermeintliche Interim der provisorischen Moral.“2 Dessen bildhaftes Beispiel für einen Anwendungsfall seiner provisorischen Einstellung verdeutlicht dieses Problem: Verirrt sich ein Spaziergänger im Wald, so wird ihm die mathematische Versicherung, dass alle Wälder endlich seien, in der konkreten Situation kaum weiterhelfen, denn das Axiom liefert keinerlei Orientierungswissen – mit eventuell fatalen Folgen. Überleben ist im Wald eine Frage des Handelns unter Zeitdruck, eine Frage der richtigen und immer wieder neuen Einschätzung der Situation. Und in einer konkreten Situation der (wie auch immer gearteten) Orientierungslosigkeit bedarf es, statt des vermeintlich gera2 Hans Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart, 1981, S. 104-136, hier: S. 110. PERMANENTES PROVISORIUM 11 den Wegs, der auf ein hier doch bereits aus den Augen verlorenes oder aufgegebenes Ziel ausgerichtet ist, unter Umständen eines oder mehrerer Umwege. Nach Blumenberg bedeutet die Empfehlung der formalen Entschlossenheit für die provisorische Moral, und in genau diese Falle geht Descartes, daher ein „Verbot der Betrachtung aller konkreten Merkmale der Situation und ihrer Veränderungen“3. Um genau diese müsste es aber in pragmatischer Hinsicht doch gehen. Es ist dieses für die morale par provision charakteristische Nebeneinander von Vorläufigkeit und Endgültigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit, Normativität und Pragmatik, das Descartes in Blumenbergs Rückschau einerseits zu einer wesentlichen Figur an der Schwelle zur Neuzeit macht und das andererseits verdeutlicht, warum er zu einer wichtigen Referenz von Blumenbergs eigener Reflexion des Provisorischen wird. Zur Spezifik der Neuzeit erklärt Blumenberg mit der provisorischen Moral nun gerade dasjenige, was von Descartes nur als notwendiger, aber letztlich zu überwindender Zwischenzustand gedacht war: Die Feststellung unter Vorbehalt wird, angesichts einer durch viele Faktoren ausgelösten, tiefgreifenden Wandlung der Zeit- und Weltwahrnehmung, zum maßgeblichen Programm menschlicher Weltorientierung. Der Rationalist Descartes wird so zum unfreiwilligen Geburtshelfer der Epoche des permanenten Provisoriums, in die auch Blumenberg sich und seine Arbeit noch gestellt sieht. Der Umweg ist hier – man denke an Descartes’ Wald – nicht kontraproduktive Abirrung im Vergleich zum sturen Weg geradeaus, sondern ein der Situation durchaus angemessenes Abtasten – wenn nicht aller, so doch – mehrerer Möglichkeiten: „Alles hat Aussicht, erlebt zu werden, wenn es gelingt, alle auf Umwegen gehen zu lassen.“4 II. Wie eingangs angedeutet, besteht das für Blumenbergs Arbeiten charakteristische Spannungsverhältnis darin, dass die historisch lokalisierbare Denkfigur eines permanenten Provisoriums, die in Verwandtschaft zu Blumenbergs drittem Wirklichkeitsbegriff steht, auch im Sinne einer (tendenziell ahistorischen) anthropologischen Grundannahme verstanden wird, die zudem ethische Handlungsmuster leitet. Ein beispielhaftes Feld der Verknüpfung historischer, anthropologischer und ethischer Einsätze des Provisorischen und des Umwegs findet sich im Programm der Blumenberg’schen Metaphorologie: Die Rehabilitierung der Metapher führt hier einerseits dazu, dass sie in Entsprechung zu dem in der Philosophie traditionell privilegierten Begriff zu einem Verlegenheitsmittel (hinsichtlich der allenfalls über Umwege zugänglichen Wirklichkeit) des Erkenntnisgewinns aufrückt und in ihrer je historischen Ge3 4 Ebd., S. 111. Blumenberg, „Umwege“, S. 137. 12 MICHAEL HEIDGEN, MATTHIAS KOCH, CHRISTIAN KÖHLER stalt als Indikator einer kulturspezifischen Formung der Wirklichkeit (im Sinne einer Begriffsgeschichte) fungiert. Andererseits weitet sich die Metapher zu einer grundlegenden anthropologischen Kategorie aus, indem ihr eine überhistorische pragmatische Funktion zuerkannt wird. Als konstitutiv für die Metapher gilt, dass „das Gesagte für das zu Sagende nur provisorisch und doch unüberbietbar, also [...] ebenso vorläufig wie endgültig einsteht“5. Blumenbergs absolute Metapher, die im Sinne von Kants Symbolbegriff als Hypotypose verstanden werden kann, ist somit in sich provisorisch. Ihre pragmatische Funktion liegt nun darin, die konstitutive Unverfügbarkeit jener Totalitäten zu handhaben, die für die menschliche Weltorientierung (trotz oder wegen ihrer Unverfügbarkeit) grundlegend sind: etwa Welt, Gott, Sein oder Geschichte. Als „Technik des mythischen Grenzverkehrs“ dient die metaphorische Eingliederung der Integration des „an der Peripherie auftretenden Unbekannten“, dessen Bedrohung des lebensweltlichen Horizonts neutralisiert und in „wiedererkennbare Identität“ überführt wird.6 Eine absolute Metapher ist somit – im Sinne ihrer obenstehenden Verortung zwischen Vorläufigkeit und Unüberbietbarkeit – einerseits Metapher eines Absoluten, eines auch im etymologischen Wortsinne Losgelösten und Unverfügbaren. Sie macht auf sprachlichen Umwegen etwas vorstellig, vorstellbar und handhabbar, das sich einer begrifflichen Fassung entzieht und dem keine Anschauung entspricht. Dass es hier deshalb nur um vorläufige, niemals definitive terminologische Fassungen gehen kann, ist offenkundig. Vielmehr ist es gerade die temporale Binnenstruktur der Metaphern, die „ohne Negation nicht auf Erfüllung aus sind“, die sie in die Lage versetzen, Totalitäten zur Repräsentation zu bringen.7 Das „nie übersehbare Ganze der Realität“8 kann, gerade aufgrund der Zeitlichkeit menschlicher Wahrnehmung, nie zur Evidenz gebracht werden. Nur im provisorischen Charakter der Metapher, die die Zeit ausklammert, können Totalitäten, wie vorübergehend auch immer, gefasst werden – dies ist der „Evidenzeffekt“9 der Metapher, auf der ihre pragmatische Funktion fußt.10 Eine absolute Metapher ist andererseits selbst absolut, insofern sie eine leitende Vorstellung des jeweiligen Unverfügbaren abgibt; und es ist Aufgabe der historischen Untersuchung, anhand des Materials sol5 6 7 8 9 10 Ralf Konersmann, „Metapher“, in: Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft: Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hg. von Christian Bermes und Ulrich Dierse, Hamburg, 2010, S. 267-278, hier: S. 276. Hans Blumenberg, „Selbstverständlichkeit, Selbstaufrichtung, Selbstvergleich“, in: ders., Theorie der Lebenswelt, hg. von Manfred Sommer, Berlin, 2010, S. 133-148, hier: S. 135ff. Antonio Roselli, „Actio per distans und provisorische Erfüllung: Zur zeitlichen Struktur des Begriff bei Hans Blumenberg“, in: Claudia Öhlschläger und Lucia Perrone Capano (Hg.), Figuren des Temporalen. Poetische, philosophische und mediale Reflexionen über Zeit, unter Mitarbeit von Leonie Süwolto, Göttingen, 2013, S. 29-43, hier: S. 42. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt am Main, 1998, S. 25. Ulrich von Bülow, Dorit Krusche, „Nachwort“, in: Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, hg. von Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Berlin, 2012, S. 271-285, hier: S. 278f. Vgl. Roselli, „Actio per distans“, S. 42f. PERMANENTES PROVISORIUM 13 che zu einem gewissen Zeitpunkt oder für einen gewissen Zeitraum bestehenden Alleinvertretungsansprüche ausfindig zu machen. Der Versuch, die im Sinne des Kollektivsingulars ungegenständliche Geschichte gleichzeitig mit organizistischen und mechanistischen Metaphern zu fassen, würde bspw. einige Spannung mit sich bringen. Den Metaphorologen interessieren solche Spannungen – ganz wie im Falle der Figur Descartes – dabei genauso wie die vorläufige Unüberbietbarkeit einer absoluten Metapher; weisen sie doch darauf hin, dass ein bestimmter, qua absoluter Metapher geschaffener Evidenzeffekt seine Funktion auch einbüßen und durch einen anderen ersetzt werden kann. Absolute Metaphern haben also Geschichte, und ihre Verlaufsform hat Blumenberg anhand des Konzepts der Umbesetzungen theoretisch zu fassen versucht. Ein entscheidender Punkt dabei ist, dass miteinander unvereinbare absolute Metaphern ihren gemeinsamen Nenner darin finden können, dass sie dieselbe Systemstelle innerhalb „eines intakt bleibenden und funktional vorausgesetzten Stellenrahmens, der partielle Veränderungen nicht nur ‚erträglich‘, sondern vor allem ‚plausibel‘ macht“11, auf unterschiedliche Weise besetzen können. Die Kontinuität des Stellenrahmens wird zur Grundlage diskontinuierlicher Besetzungen. Hierzu lässt sich auch Blumenbergs anthropologisch grundierte Aussage in Beziehung setzen, absolute Metaphern würden „jene vermeintlich naiven, prinzipiell unbeantwortbaren Fragen [beantworten], deren Relevanz ganz einfach darin liegt, daß sie nicht eliminierbar sind, weil wir sie nicht stellen, sondern als im Daseinsgrund gestellte vorfinden.“12 Die pragmatische Funktion absoluter Metaphern entspricht damit einer Orientierungshilfe, einer Technik der Vorsorge (provisio) und der menschlichen Selbstbehauptung im Angesicht existentiell drängender Fragen. In historischer Absicht ließe sich zugleich sagen, dass ein vorausgesetzter Stellenrahmen, dessen Dauer offenbar diejenige seiner metaphorischen Besetzungen übersteigt, genau diesen Eindruck von Vorfindlichkeit erzeugen würde. Zu fragen ist im Sinne einer Problemgeschichte, wie Blumenberg sie verfolgt, also nicht nur nach der Geschichtlichkeit absoluter Metaphern, sondern auch nach der Geschichtlichkeit jener Totalitäten, die ihre metaphorische Vergegenständlichung provozieren. III. Die Auffassung, bei Wirklichkeit könne es sich allenfalls um etwas vorläufig Erkanntes handeln, bestimmt nach Blumenberg einen neuzeitlichen Weltzugriff. Für diesen in Blumenbergs Schema aufgeführten dritten Wirklichkeitsbegriff gilt 11 12 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt am Main, 1975, S. 596. Blumenberg, Paradigmen, S. 23. 14 MICHAEL HEIDGEN, MATTHIAS KOCH, CHRISTIAN KÖHLER Realität als Resultat einer Realisierung, als sukzessiv sich konstituierende Verläßlichkeit, als niemals endgültig und absolut zugestandene Konsistenz, die immer noch auf jede Zukunft angewiesen ist, in der Elemente auftreten können, die die bisherige Konsistenz zersprengen und das bis dahin als wirklich Anerkannte in die Irrealität verweisen könnten.13 Als Merkmale einer spezifischen Haltung zur Welt haben das permanente Provisorium und die Umwege daher, wie erwähnt, einerseits einen deutlichen historischen Index. Auf anthropologischer Ebene deutet Blumenberg das Provisorische andererseits als Grundstruktur der sich bildenden menschlichen Vernunft. „Vernunft ist ganz wesentlich ein Organ von Erwartungen und der Ausbildung von Erwartungshorizonten, ein Inbegriff präventiver Dispositionen und provisorisch-antizipatorischer Einstellungen. Darin bleibt sie sich gleich vom ersten bis zum letzten ihrer irdischen Tage.“14 Das Provisorische im Sinne der Vorsorge und, in Verbindung damit, die Privilegierung des Umwegs als Modus der Auseinandersetzung mit Welt sind hier gleichsam evolutionär erworben worden. Der Mensch verfügt über diesen spezifischen Typ von „Vernunft, weil er gelernt hat, sich das Zögern und Zaudern zu leisten“.15 Von den vielen Beispielen, die sich hier anführen ließen, sei nur die historisch-anthropologische Beschreibung einer kulturgeschichtlich zentralen Technik der Vorsorge genannt, die Blumenberg in Höhlenausgänge liefert: Die Phantasie, diese Fähigkeit „Geschichten zu erzählen, ohne dabeigewesen zu sein [und nach dem] Prinzip der Fernwirkung, der Handlung in absentia et per distans“16, einen bildenden Effekt zu erzielen, sei einst entstanden, als die Menschen sich angesichts weltlicher Unbill vorsorglich in Höhlen zurückzogen und dort begannen, jene Schrecken über die stellvertretende Funktion der Einbildungskraft zu bannen. Im Rahmen einer ethischen Reflexion über Handlungsbedingungen lässt sich das Provisorische als Korrektiv verstehen: Handeln unter Zeitdruck verlangt nach vorläufigen Richtlinien, weil man nicht Zeit für unendliche Erwägungen hat. Darin liegt zugleich ein Eingeständnis menschlicher Fehlbarkeit. Eine solche Abkürzung von Abwägungen aufgrund von Zeitdruck entspricht dabei gerade nicht einer „Barbarei“17 der kürzesten Wege, wie sie von Blumenberg der Kritik unterzogen wird. Denn gerade solche geradlinige Barbarei ist im Prinzip nur vor dem Hintergrund einer langfristigen Perspektive und ausgeprägter Erwartungssicherheit (bzw. Erwartungshaltung) denkbar. Und eben dies ist unter den Bedingungen eines permanenten Provisoriums nicht (mehr) gegeben, weswegen sich Blumenbergs ethische Perspektive auch in 13 14 15 16 17 Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main, 2001, S. 47-73, hier: S. 52. Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Frankfurt am Main, 2006, S. 561. Ebd., S. 559 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main, 1989, S. 30. Blumenberg, „Umwege“, S. 137. PERMANENTES PROVISORIUM 15 seinem Lob der Vorläufigkeit jeder Geschichte zeigt: „Zu unserem Glück, denn, daß es kein Ziel der Geschichte gibt, bewahrt uns davor, auf ein solches Ziel hin ‚vorläufig‘ zu bleiben, aufgefordert zu werden, ihm als Mittel dienstbar zu sein.“18 Die Beschleunigung, die für das Abwägen und Handeln unter Zeitdruck charakteristisch ist, verdankt sich gegenüber einer solchen teleologischen Haltung gerade der Horizontbeschränkung. Sie verlangt daher – und auch diese Spannung löst Blumenberg bewusst nicht – nach wiederholter Reflexion, erneutem Ansetzen und pragmatischer Verfahrenskritik. Darin liegt auch eine Neubestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Praxis, positiv als Handeln unter Zeitdruck verstanden, fordert neben Zeitgewinn auch Distanznahme ein. In diesem Sinne versteht Blumenberg den allgemeinen Prozess der Technisierung19 und den Einzelfall der Rhetorik als Strategien, die eine Verkürzung der Wege ermöglichen (z. B. durch Rekurs auf standardisierte Formeln und Abläufe, auf bewährte Methoden, erprobte Argumentationsregeln). Sie erzeugen vorübergehende „Institutionen, wo Evidenzen fehlen“20. Zugleich schaffen sie Freiräume für Umwege, denn der Zeitgewinn wirkt als distanzierende Entlastung und somit als strukturelle Voraussetzung für die reine Anschauung der Theorie. Gegenüber einer Dichotomie von Theorie und Praxis kann mit Blumenberg die These aufgestellt werden, dass die Praxis Voraussetzung für Theorie wird und die Theorie wiederum in ihrer standardisierten Form – in ihrer Funktionalisierung als Methode – auf die Regulierung von Praxen zurückwirkt. Nicht ausschließlich also ist Blumenbergs „Apologie einer Kultur der Umwege [...] anthropologischer Natur“21 oder mit anthropologischen Fragen befasst. So enthierarchisiert die Absage an eine Teleologie der Geschichte ihre zeitliche bzw. nur chronologisch gedachte Abfolge und plädiert für eine Würdigung auch des bisher Abseitigen. Und ebenso wie die Rhetorik auch für die Verzögerung von Handlungen einsteht, hat moderne Theorie in ihrem Erkenntnisstreben immer das Bewusstsein möglicher Alternativen präsent zu halten und ihren Wert gerade in der kritischen und verzögernden Distanz zum Praxisgebrauch zu finden. In diesem von der Phänomenologie her beeinflussten Paradigma der immer wieder neu einsetzenden Entselbstverständlichung liegt der Kern der Philosophie Blumenbergs. Gerade die Kritik an der Geschichtsphilosophie lässt die Paradoxie des Provisorischen deutlich werden: In einer teleologisch kodierten Geschichte ist das Jetzt immer defizitär im Vergleich zum Ziel. Durch die Abkehr von einem Geschichtstelos dagegen wird das Provisorische zum paradoxen Gebilde, da es sich nicht mehr in Relation 18 19 20 21 Hans Blumenberg, „Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg“, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart, 1981, S. 163-172, hier: S. 168f. Vgl. Hans Blumenberg, „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 7-54. Blumenberg, „Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik“, S. 110. Kurt Röttgers, Metabasis. Philosophie der Übergänge, Magdeburg, 2002, S. 76. 16 MICHAEL HEIDGEN, MATTHIAS KOCH, CHRISTIAN KÖHLER zum Endgültigen definiert, sondern auf Dauer gesetzt wird. Dieses permanente Provisorium wird von Blumenberg nicht im Sinne einer Verlusterfahrung beschrieben, sondern konstruktiv auf seine Möglichkeiten hin ausgelotet. Sich im Vorläufigen der Umwege und des Provisorischen einzurichten, bedeutet auch, das Bewusstsein offen zu halten für das immer Unvollendete der menschlichen Existenz. „Umwegskultur“22 und permanentes Provisorium bilden somit inhaltlich genauso zwei Seiten einer Medaille wie Blumenbergs historisches und anthropologisches Vorgehen. IV. Dies spiegelt sich auch in Blumenbergs Arbeit als Philosoph wider. Philosophie unter diesen Bedingungen kann kein Lieferant von Letztbegründungen sein, sondern nur von „unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptungen, die unter dem Gesichtspunkt ihrer Leistungsfähigkeit ausgewählt worden sind“23. Darin der absoluten Metapher ähnlich, handelt es sich bei diesen Behauptungen um „nichts anderes als Hypothesen“, die allerdings keine Handlungsanleitungen für Experimente naturwissenschaftlicher Prägung bieten, sondern die Funktion haben, „ausschließlich etwas [...] verstehen [zu] lassen, was uns sonst als ganz und gar Unbekanntes und Unheimliches gegenüberstehen müßte“.24 Das ethische Moment des Provisorischen findet seine Realisierung auch in Blumenbergs eigener Praxis, die das „unausrottbare Bedürfnis, Antwort auf letzte und umfassendste Fragen zu verlangen“25, immer wieder zurückweist. Im Angesicht eines „philosophisch in seiner Notwendigkeit bewußt gewordene[n] Weltbildverzicht[s]“ wird diese Zurückhaltung allerdings zur „höchste[n] Rücksicht auf ein Wesen, daß sich die letzten und endgültigen Gewißheiten versagen muß, um seine eigene Wahrheit als Freiheit zu finden und zu leben“.26 Blumenbergs Philosophieren ist daher ein „Philosophieren in Bewegung“, ein „Suchen, das ebenso offen ist wie die Situation, in die es den Menschen hineingestellt sieht“.27 Diese Suche musste zwingend auch über die festgefahrenen Grenzen einer disziplinären Philosophie hinausgehen, um nicht nur in anderen Gebieten ihre Leistungsfähigkeit zu beweisen, sondern um von dort auch die Irritationen zu beziehen, die ein Neuansetzen erzwingen und ermöglichen. 22 23 24 25 26 27 Ralf Konersmann, „Geduld zur Sache“, in: Neue Rundschau, 109. Jg., Heft 1, S. 30-46, hier: S. 38. Blumenberg, Höhlenausgänge, S. 22. Ebd. Hans Blumenberg, „Die Bedeutung der Philosophie für unsere Zukunft“, in: Die voraussehbare Zukunft. Europa-Gespräch 1961. Wien: Verlag für Jugend und Volk (Wiener Schriften, 16), S. 127–140, hier: S. 140. Ebd. Konersmann: „Geduld zur Sache“, S. 45. PERMANENTES PROVISORIUM 17 Als Gründungsmitglied der Forschergruppe Poetik und Hermeneutik partizipierte er daher an den Weichenstellungen mancher kulturwissenschaftlichen Debatte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zwar war Blumenberg genuin Philosoph, doch überschreiten seine Thesen und Beschreibungen die (zu seiner Zeit) traditionellen Grenzen der Philosophie; so etwa, wenn er literaturwissenschaftlich relevante Fragen der Gattungsgenese bearbeitet,28 in seinen technikphilosophischen Texten historiographische Methoden entwirft,29 Bachs Matthäuspassion30 auf das Verhältnis von Ästhetik und Theologie hin untersucht oder Fragen nach den Funktionsverhältnissen von Metaphern, Mythen und Rhetorik im Horizont philosophischer Anthropologie31 bearbeitet. In dieser Vorgehensweise liegt ein Grund für die Skepsis, der Blumenbergs Werk in philosophischen Kreisen teilweise begegnet(e). Blumenberg selbst kommentiert die möglichen Effekte interdisziplinären Vorgehens an einer der eher seltenen Stellen, die sich auf zeitgenössische Forschungspraxen beziehen. Die Einsicht in die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung ist nicht immer begleitet von vorsichtigen Erwartungen dessen, was dabei passieren kann. Der Vorteil, den man der Sache verschaffen zu können glaubt, schließt Zugeständnisse ein, die man der Logik machen muss. [...] Das interdisziplinäre Unternehmen muss hier notwendig zunächst enttäuschend wirken, indem es den Gegenstand in seiner wohldefinierten und bewährten Abgrenzung nicht akzeptiert. [...] Am Ende stehen die Anstifter solcher neuer Unbestimmtheiten etwas ratlos vor den Trümmern ihrer vagen Konzeption, aber doch zugleich mit der Chance und der Aufgabe, die Durchkreuzung ihrer Vermutungen und Erwartungen als eine Information über den thematischen Sachverhalt zu verstehen und zu erschließen. [...] Der Ausgangszustand möglicher Versuche muß immer wieder einmal wiederhergestellt werden.32 Interdisziplinäre Forschung erscheint hier gleichsam als Beispiel für wissenschaftliche Arbeit unter Bedingungen eines permanenten Provisoriums. Der letzte Satz des Zitats reicht dabei an unsere Gegenwart heran: Gut ein halbes Jahrhundert, nachdem etwa die Forschergruppe Poetik und Hermeneutik ihre Arbeit aufnahm, ist Interdisziplinarität längst zum Schlagwort geronnen und es macht sich eine Tendenz zu kulturwissenschaftlicher Wissenschaftsgeschichtsforschung bemerkbar, die ganz in Blumenbergs Sinne danach fragt, was sie eigentlich wissen wollten. 28 29 30 31 32 Vgl. etwa den bereits zitierten Aufsatz „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“. Vgl. Hans Blumenberg, Geistesgeschichte der Technik, hg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Frankfurt am Main, 2009. Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt am Main, 1988. Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main, 1979. Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos“, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt am Main, 2001, S. 327-405, hier: S. 327f. 18 MICHAEL HEIDGEN, MATTHIAS KOCH, CHRISTIAN KÖHLER Nicht zuletzt spiegeln sich das Provisorische und die produktiven Umwege auch in den narrativen Strategien Blumenbergs wider. Sowohl in seinen großangelegten „Problemkrimis“33 als auch den Glossen, Anekdoten und Essays gleichen seine Texte einer „littérature provisoire“34, die sich in ihrer Rhetorik bewusst unabgeschlossen und z. T. spielerisch gibt. Und ganz offensiv setzt Blumenberg, wie er im Klappentext von Die Sorge geht über den Fluß bemerkt, „Vertrauen auf die Unbestimmtheit der Gattung, zu der seine Texte geschlagen werden könnten“; ein Vertrauen, das man nicht nur auf die dort publizierten Glossen wird übertragen können. Nicht die möglichst präzise und eindeutige Darlegung einer Antwort steht für Blumenberg also im Mittelpunkt der Reflexion und Textproduktion, sondern die immer wieder neu einsetzende Offenlegung, Bearbeitung und Entselbstverständlichung auch der Fragen: „Was war es, was wir wissen wollten?“35 V. Eine erkenntnisleitende Funktion hat die Denkfigur des permanenten Provisoriums und der Umwege somit einerseits bei der Erschließung von Blumenbergs Schriften. Andererseits ergäbe sich daraus – und tendenziell über Blumenberg hinaus – auch die Möglichkeit, die herauspräparierte Denkfigur in einem erweiterten philosophischen und vor allem auch sozialhistorischen Kontext zu verorten. Gerade in dem schon erwähnten Epochenwechsel hin zur Neuzeit und Moderne erodieren bisherige Konstanten der menschlichen Weltund Selbsterklärungen, womit ein prekäres Zusammenspiel von begrenzter Erkenntnis und erhöhter Handlungsbeschleunigung provoziert wird. Im Verblassen metaphysischer Unendlichkeitshorizonte und übergeordneter Legitimationsstrukturen gewinnen die innerweltlichen und zeitnahen Herausforderungen an neuer, akuter Brisanz. Die damit verbundenen Aspekte der Kurzzeitigkeit und Vorläufigkeit werden aus kulturwissenschaftlicher Sicht etwa unter dem Stichwort des Ephemeren verhandelt. Ephemer ist dabei dasjenige, dessen Verschwinden sich erwarten, aber nicht genau vorhersehen lässt.36 Wenn also die „Identifizierung des Modernen mit dem Ephemeren“37 33 34 35 36 37 Odo Marquard, „Entlastung vom Absoluten“, in: Franz Josef Wetz, Hermann Timm (Hg.), Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, Frankfurt am Main, 1999, S. 17-27, hier: S. 22. Rüdiger Zill, „Der Fallensteller. Hans Blumenberg als Historiograph der Wahrheit“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, H. I/3 (2007), S. 21-38, hier: S. 38. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main, 1981, S. 9. Vgl. Immanuel Chi, Susanne Düchting und Jens Schröter, „Ephemer_Temporär_Provisorisch“, in: dies. (Hg.), ephemer_temporär_provisorisch. Aspekte von Zeit und Zeitlichkeit in Medien, Kunst und Design, Essen, 2002, S. 6-7. Joachim Krausse, „Ephemer“, in: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs und Friedrich Wolfzettel (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 2: Dekadent – Grotesk, Stuttgart und Weimar, 2001, S. 240-260, hier: S. 244. PERMANENTES PROVISORIUM 19 vollzogen wird, so heißt dies auch, dass sich der Mensch seit der Moderne in einer Umwelt wiederfindet, die sich aufgrund ihrer Kurzlebigkeit seiner Einflussnahme weitgehend entzieht. Dieser Ohnmacht gegenüber Beschleunigungstendenzen wird im europäischen Raum traditionell mit transzendentalen Konzepten des Dauerhaften, wie z. B. dem Menschen, dem Geist oder der Seele, begegnet. Auf diese Weise wird ein Pol der Stabilität errichtet, der die Ausflucht aus dem ephemeren Dasein erlauben soll.38 Mit Blumenberg kann in dem oben beschriebenen Sinne jedoch ein anderer Aspekt des Vorläufigen stark gemacht werden. Wenn er den Endzustand zugunsten einer auf Dauer gestellten Vorläufigkeit verabschiedet, so kommt dies der Aufforderung gleich, sich produktiv unter den Bedingungen der Moderne einzurichten. Erst die unter diesen Umständen notwendige Einsicht in die Permanenz des Provisorischen und die Notwendigkeit des Einschlagens von Umwegen erlaubt eine in diesem Sinne zeitgemäße Form der Existenz. Sie verschafft sich Ausdruck in einer fortlaufenden Infragestellung der Reichweite historischer Beschreibungen, der Angemessenheit ethischer Prämissen und der Verfasstheit der conditio humana. VI. Der vorliegende Band unternimmt den Versuch, anhand der titelgebenden Denkfiguren einige bisher unerforschte Bezüge, sowohl innerhalb des Blumenberg’schen Werks als auch zwischen verschiedenen Disziplinen, hervorzuheben. Er setzt sich aus Beiträgen von langjährigen Blumenbergforscherinnen und -forschern sowie Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zusammen und dokumentiert die Arbeitstagung Permanentes Provisorium. Hans Blumenbergs Umwege, die vom 14.-16. März 2012 an der Universität Paderborn stattfand. Ausgerichtet wurde sie von der ebendort gegründeten Nachwuchsforschergruppe theorie denken – bestehend aus Sebastian Ostermann, Henning Siekmann, Antonio Roselli sowie den Herausgebern. Im eröffnenden Beitrag zeichnet Manfred Sommer Blumenbergs Kritik an der These nach, neuzeitliche Geschichtsphilosophie sei die säkularisierte Form christlicher Eschatologie. Im Übergang von mittelalterlicher Scholastik zu neuzeitlicher Denkweise – mit Descartes als letztem Agenten des Mittelalters – ändert sich das Verständnis von Wirklichkeit. Aus der Welt als einer creatio continua eines schöpferischen Gottes wird eine Welt, die durch immanente, naturwissenschaftlich beglaubigte Regeln und Gesetzmäßigkeiten ihren Wirklichkeitsstatus erhält. Die neuzeitliche oder moderne Wirklichkeit – als Art und Weise eines menschlichen Weltbezugs – wird, so Sommer, von Blu38 Vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt am Main, 1970, S. 48ff; Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt am Main, 1989, S. 188. 20 MICHAEL HEIDGEN, MATTHIAS KOCH, CHRISTIAN KÖHLER menberg in Abgrenzung zum Mittelalter und im Vergleich zur Antike gedacht, aufgespannt zwischen unmittelbarer Evidenz (Antike) und phänomenologischer Wahrnehmung im Horizont der Zeit und unter Vorbehalt (Moderne). Jürgen Goldstein diskutiert in „Rationale Provisorien. Die cartesische Selbstbehauptung und die Funktion von Weltmodellen“ die These, dass der „Cartesianismus als Rationalismus ein Moment des Provisorischen“ hat. Ein Bezugspunkt seiner philosophiehistorischen Einordnung ist dabei Blumenbergs Skepsis gegenüber der Idealisierung Descartes’ als einem Neuerer, der seinen Rationalismus voraussetzungsfrei errichtet habe. Letzterer zeigt sich vielmehr als Resultat der, so Goldstein, „Problembewältigung historischer Altlasten“, die sich aus dem Nominalismusstreit ergeben: Gerade das Schisma zwischen göttlichem Willen und menschlichem Weltverständnis öffnet den Raum für eine rationale Weltbewältigung, die somit eher als Akt der Selbstbehauptung denn als Selbstbestimmung anzusehen ist. Die voluntaristische Auffassung von der absoluten Uneinsehbarkeit des göttlichen Willens und den damit verbundenen „Teleologieschwund“ voraussetzend, errichtet Descartes eine kontingente, hypothetische „Welt der Rationalität als zweite Ordnung“. Sein Rationalismus wird so als Indiz für den historischen Übergang von einem spätmittelalterlichen „Seinsbegriff hin zu einem Operieren mit einem Wirklichkeitsbegriff“ erkennbar, dessen konstruktiver Charakter in hypothetischen Weltmodellen zutage tritt. Eine solcherart hergeleitete Neuzeit zeichnet es daher aus, „von einer permanenten Abfolge von Provisorien ausgehen zu müssen, da wir es mit dem zu tun haben, was man einen Etappenrealismus nennen kann [...]“. ‚Nachdenklichkeit‘ als Methode, die sich bewusst von der Effizienzforderung des ‚Denkens‘ in geraden Wegen vom Problem zur schnellstmöglichen Lösung abgrenzt, ist der Ausgangspunkt von Rüdiger Zills „Auch eine Kritik der reinen Rationalität. Hans Blumenbergs Anti-Methodologie“. Blumenbergs kurze Dankesrede Nachdenklichkeit angesichts der Verleihung des SigmundFreud-Preises für wissenschaftliche Prosa aus dem Jahre 1980 als Schlüsseltext nehmend, skizziert Zill in historischer Perspektive das Methodenverständnis Blumenbergs. Die Metaphorik des Denkens im Bild des Nach- und Vor-Gehens impliziert die Möglichkeit der Umwege, die in Blumenbergs Philosophie eine positive Umdeutung erfahren. Ausgehend hiervon sind für Blumenberg Philosophie und Wissenschaft, wie Zill im Kapitel zu ‚Weltbilder‘ und ‚Weltmodelle‘ aufführt, als unabhängige Kräfte der menschlichen Weltorientierung und -manipulierung zu verstehen. Im Kontext von Blumenbergs zunehmend anthropologisch ausgerichteten Schriften rückt dabei die Distanznahme des Menschen zur Wirklichkeit ins Blickfeld, was von Zill als eine Philosophie des Umwegs interpretiert wird, die vor allem das Werk des ‚späten‘ Blumenbergs charakterisiert. Alexander Friedrichs Beitrag rekonstruiert aus Blumenbergs Werk die Problemkonstellation, auf die dessen Metaphorologie als Kultur- und Technikphilosophie antwortet. Er sieht diese als Teil der Frage nach dem Verhält- PERMANENTES PROVISORIUM 21 nis des Menschen zur Welt, um die sich zahlreiche von Blumenbergs Arbeiten drehen, seien sie phänomenologisch, anthropologisch, kultur-, technik- oder geschichtsphilosophisch. Als die beiden Fluchtpunkte von Blumenbergs Denken identifiziert Friedrich dabei auf der einen, phänomenologischen Seite die Lebenswelt und auf der anderen, anthropologischen Seite den Absolutismus der Wirklichkeit. Zwischen diesen beiden ahistorischen Grenzbegriffen, selber wiederum „die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichte“, kann sich Kultur immer nur als historischer Kompromiss formieren. Friedrich arbeitet im Weiteren heraus, wie sich daraus eine dialektische Struktur in Blumenbergs Beschreibung des Technisierungsprozesses ableitet, die zwischen den Motiven der Selbstbehauptung und der Selbstüberforderung des Menschen vermitteln muss. Die Metapher wird damit zum privilegierten Instrument der Vermittlung zwischen diesen Polen und ihre historische Untersuchung durch die Metaphorologie zu einer „Form kulturkritischer Praxis“. Blumenbergs Beschäftigung mit der Ontologie des ästhetischen Gegenstands geht Michael Makropoulos in seinem Beitrag nach. Neben den beiden Möglichkeiten, Kunstwerke in ihrem Bezug auf Wirklichkeit oder als Konstruktion von Wirklichkeit zu verstehen, sieht er Blumenbergs Bestreben darin, eine dritte Alternative jenseits der Wirklichkeitsbindung von Kunst zu erkunden: „die Bestimmung des Kunstwerks als geradezu materiellen Inbegriff der Kontingenz“. Durch die systematische wie historische Entfaltung des Kontingenzbegriffs, sowohl in philosophiegeschichtlicher als auch werksgeschichtlicher Hinsicht, kann Makropoulos zeigen, dass es Blumenberg vor dem Hintergrund eines neuzeitlichen Wirklichkeitsbegriffs darum geht, „das Provisorische des Konstruktiven als funktionelle Struktur eines neuen, auf Selbstbehauptung und Selbstlegitimierung gegründeten Weltverhältnisses zu positivieren“. Die essentielle Kontingenz des Kunstwerks wäre damit als ein permanenter „Einspruch der Möglichkeit gegen den Absolutismus der Wirklichkeit“ zu verstehen. Sichtbarkeit als werkübergreifende Thematik bei Blumenberg impliziert zweierlei: das (technisch geleitete) Sehen als Zugriff des Menschen auf den ihn umgebenden Kosmos und das Gesehen-werden als anthropologische Bedingung des aufrecht gehenden Menschen. In „‚Sichtbarkeit‘: Hans Blumenbergs Umweg in die Moderne?“ stellt Andreas Pribersky in diesem Kontext die Frage, inwiefern in Blumenbergs Skizzierung der neuzeitlichen Epochenschwelle dem Fernrohr eine emblematische Funktion zukommt. Als historisches Artefakt ist es aufgeladen mit einem symbolischen Mehrwert, das über den Umweg der Sichtbarwerdung von bisher Unsichtbarem menschliche Selbst- und Weltbilder konstituiert. Zugleich steht es als Motiv innerhalb der Werke Blumenbergs aber auch pars pro toto für eine rhetorische Strategie, in der Bild und Text nicht in einem hierarchischen Illustrationsverhältnis stehen, sondern sich in einem offenen Wechselverhältnis ergänzen. 22 MICHAEL HEIDGEN, MATTHIAS KOCH, CHRISTIAN KÖHLER Sebastian Tränkle bringt in seinem Beitrag zwei Denker zusammen, die bislang kaum zusammen gelesen wurden. In einer vergleichenden Lektüre von Blumenbergs und Theodor W. Adornos sprachphilosophischen Arbeiten geht er den Affinitäten, aber auch den Kontrasten zwischen beiden Autoren nach. Zwar träfen sich beide Positionen in ihrer Frage nach den Umwegstrukturen der Vernunft und einer praktischen Begründung der Rhetorik, doch zöge sich Blumenberg auf einen „rhetorischen Relativismus“ zurück, der den kritischen Gehalt der Rede von Umwegen zurücknimmt, indem im Umweg nur eine neue, rhetorische oder metaphorische Vernunft eingesetzt wird. Dieser „Fetischisierung der Umwege“ setzt Tränkle mit Adorno eine ideologiekritische Sprachkritik entgegen, die sich als „Kritik am Primat der direkten Wege“ versteht und nach den ideologischen Funktionen von Sprachformen der Direktheit und Unmittelbarkeit fragt. In sprachphilosophischer Perspektive führt Sandra Markewitz Blumenberg und Wittgenstein zusammen. Die Sprache in ihrer instrumentellen Funktion und in ihrer notwendig abstrahierenden Dimension als intersubjektiv verbindliches Set an Ausdrucksregeln ist geprägt von – blumenbergianisch – actio per distans und intentionaler Vergegenwärtigung. Sprache und Kultur als Angelegenheiten der Vielen, nicht der Wenigen, sind maßgebliche Modi der Identitätsbildung über den Umweg der Anderen. In „Umwege der Grammatik. Über Blumenberg und Wittgenstein“ markiert Markewitz Grammatik als Erkenntnishaltung, die konstruktivistisch und potenziell reversibel Weltzugänge und -urteile zugleich fixiert und unter Vorbehalt stellt. Pierre Mattern nimmt in „‚Ich habe Nessie gesehen.‘ Zur Fremd- und Selbstreferenz in Blumenbergs Anekdotenglossen“ aus gattungsspezifischer Sichtweise Blumenbergs Adaption der Anekdotenstruktur in den Blick. In ihrer historisch gewachsenen literarischen Kurzform steht die Anekdote als Gegen- oder Korrekturdiskurs der Geschichtsschreibung zur Seite und bündelt gleichsam geschichtliche wie literarische und philosophische Problematiken. Doch wo die klassische Anekdote auf Evidenz aus ist, bevorzugt Blumenberg die Erzeugung von Differenz, Irritation und setzt ‚Denkwürdigkeiten‘ an die Stelle von rhetorisch suggerierten Selbstverständlichkeiten. Das ‚Immer-wieder-Anfangen‘ in der Phänomenologie Husserls ist ein wiederkehrender Reflexionspunkt Blumenbergs, der sich durch seine Schaffensphasen hindurchzieht. In „Eine Anthropologie der Phänomenologie? Blumenbergs Perspektivenwechsel“ zeigt Martina Philippi auf, wie das Konzept der Phänomenologie von Blumenberg unter anthropologischen Prämissen neu perspektiviert wird. Die ‚Selbstbeobachtung des Phänomenologen‘ als unverzichtbarer Grundpfeiler seiner Methode wird von Blumenberg um eine Beobachtung nächsthöheren Grades erweitert; den Phänomenologen bei seiner Selbstbeobachtung zu beobachten, – d. h. konkret die Randbemerkungen an Manuskripten, Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus dem Nachlass als Teil des Programms der Selbstbeobachtung aufzuwerten – ist hier die eine Seite der Agenda Blumenbergs. Die andere Seite ist, die Phänomenologie in ei- PERMANENTES PROVISORIUM 23 nen anthropologischen Hintergrund einzubetten. Der Anspruch der Phänomenologie steht in einem Spannungsverhältnis einer praktischen Verankerung des Menschen in der Lebenswelt. Methodisch tritt Blumenberg dabei nicht als Phänomenologe im argumentativen Sinne auf, sondern als rhetorisch begnadeter Kommentator, der in Anekdoten, Exkursen und pointierten Zuspitzungen bisherige Selbstverständlichkeiten unverbindlich neu kontextualisiert und sie einbettet in ein allgemein-menschliches Streben nach Weltordnung durch – fehleranfällige – Theorie. Das Problemverhältnis von Identität und Bewusstsein in Blumenbergs Husserl-Auseinandersetzung steht im Fokus von Marion Schumms Beitrag. In Abgleich zu Husserl, der das Bewusstsein als wesentlich intentional und ‚wach‘ begreift, steht hier ein Bewusstsein im Vordergrund, das durch Abbrüche und Unterbrechungen bestimmt ist. Der Welterfassungsmodus eines solchen Bewusstseins ist, worauf Schumm mit Blumenberg hinweist, wesentlich episodisch, vermittelnd und, auf unterschiedliche Sinne gestützt, diskontinuierlich. Blumenberg argumentiert, im Gegensatz zu Husserl und wie Schumm u. a. unter Verweis auf die Nachlassschrift Blumenbergs Beschreibung des Menschen herausstellt, genuin anthropologisch. Blumenberg erweist sich hier als Vermittler verschiedener Traditionslinien, wenn er Nietzsche und Husserl in Verbindung setzt. Anhand der Phänomene Vergessen, Erinnerung und Schlaf sowie in der Kritik an der Metapher des ‚Bewusstseinsstroms‘ zeigt sich, wie sich das Bewusstsein pragmatisch gerade aus seinen Verlegenheiten heraus seine Identität im Akt der ‚Reparatur‘ bestimmt. Die Passionsgeschichte und ihre nachchristliche Hörerschaft stehen im Zentrum von Blumenbergs Matthäuspassion. Nicola Zambon kommentiert dies in „Wie ein erloschener Stern, der nachleuchtet. Marginalien zu Hans Blumenbergs Matthäuspassion“ hinsichtlich der Bedeutung der Musik als Vehikel eines ästhetischen Nachvollzugs der Passionsgeschichte. Die Vertonung, als unbegriffliche Vergegenwärtigung des Passionsgeschehens, überschreitet die Dimension der bibelkritischen Lektüre und macht den Text als unbestimmtes Erlebnis rezipierbar; im Zentrum hierbei steht weniger die Frage nach Gott, als vielmehr die Frage nach dem Menschen und seiner Selbstverortung. Philipp Stoellger setzt Blumenbergs Lesart der Matthäuspassion in das Zentrum seines Beitrags „Die Passion als ‚Entlastung vom Absoluten‘. Negative Christologie im Zeichen der Tränen Gottes“. Das u. a. von Blumenberg skizzierte Bild eines eifersüchtigen Gottes wird hier in rezeptionshistorischer Perspektive auf breiter Front kritisch verortet. Ausgehend von dieser Kritik bietet Stoellger eine Lesart an, die das Verhältnis von Vater und Hörer – der Hörer in und nach der Passion gleichermaßen wie der christliche und nachchristliche Hörer – der Passion neu bestimmt. Aus einer genuin theologisch-christlichen Blickrichtung heraus perspektiviert Peter Schallenberg Blumenbergs Bild des Schiffbruchs mit Zuschauer. In „Säkularisierter Schiffbruch und provisorische Moral. Anmerkungen zu Hans Blumenberg aus der Sicht der Theologie“ untersucht Schallenberg, in- 24 MICHAEL HEIDGEN, MATTHIAS KOCH, CHRISTIAN KÖHLER wiefern auch in einer säkularisierten Denk- und Lebenswelt die ‚Hypothese Gottes‘ als sinnstiftendes Element angenommen werden könnte. Um diese Annahme zu ermöglichen, bedarf es einer Umdeutung des Bildes vom Schiffbruch nicht als eines Moments des Scheiterns, sondern als eines notwendigen Schrittes hin zur Verwirklichung eines eigenen Lebens. Das Kreuz, als Sinnbild für die Umwertung der Werte und Signum des Triumphes der Liebe Gottes über den Tod, und die vielfältige Verwendung der Schiffsbruch- und Seefahrermetaphorik im Christentum stehen hierbei Pate. MANFRED SOMMER WIRKLICHKEIT AUF WIDERRUF? Der unvergängliche Kosmos Spinnen – nicht die Tiere, sondern die nach ihnen benannte Tätigkeit – hat einen Anfang, kann dann aber endlos weitergehen. Es sei denn, man reißt den schon gesponnenen, doch immer weiterspinnbaren Faden ab. Vorläufig aber wird fortgesponnen. Von den drei Moiren der griechischen Mythologie – den Schicksalsgöttinnen – ist die erste Klotho, die Spinnerin, die zweite Lachesis, die das Los Zumessende, und die dritte Atropos, die als Unabwendbare den zuvor gesponnenen und zugemessenen Schicksalsfaden abschneidet. Das Leben der Sterblichen ist ein ‚Abschnitt‘. Und das der Unsterblichen? Zu den Vorstellungen, auf die Hans Blumenberg in unterschiedlichsten Kontexten immer wieder zurückkommt, gehört Platons Mythos von der Herstellung des Kosmos durch den göttlichen Demiurgen. Einem Spinnfaden gleich, hat die sichtbare Welt einen Anfang, aber kein Ende. Immerhin ist der Philosoph Platon, der diesen Mythos erfindet, doch so konsequent, den erzählenden Timaios einräumen zu lassen, als gewordener sei der Kosmos grundsätzlich auch vergänglich. Dennoch vergehe er nicht. Einerseits ist er nämlich „autark“.1 Er braucht nichts außer sich, um, nachdem er einmal da ist, auch weiterhin bestehen zu können. Es gibt keine Instanz, von der er abhängig wäre und die, indem sie ihre Erhaltungsaktivitäten oder Unterhaltleistungen einstellte, Siechtum, Schwund und Ende des Kosmos, der für Platon lebendig und göttlich ist, herbeiführen könnte. Andererseits heißt, auf solche Weise von selbst fortbestehen zu können, noch lange nicht, auch unzerstörbar zu sein. Der Kosmos könnte auch durch destruktive Einwirkung von außen zerstört werden. Und zwar, weil er nichts außer sich hat, nur von dem, der ihn gemacht hat: vom Demiurgen. So teilt der Kosmos die Weise, da zu sein, mit den gleichfalls vom Demiurgen erst gebildeten Göttern: Sie sind, „als entstanden, nicht unsterblich“, gleichwohl werden sie „nicht wieder aufgelöst werden noch dem Schicksal (moira) des Todes anheimfallen“. Der Grund ist: Allein der Demiurg selbst könnte, was er gefügt hat, auch wieder auflösen – ob seiner Gutheit aber ist das ausgeschlossen.2 Da wäre also Widerruf möglich, aber der einzige, der ihn ausüben könnte, ist wegen seines Wesens dazu nicht in der Lage. Die geschaffenen Götter und die 1 2 Platon, Timaios 33d. Ebd., 41a-b, 29e. 26 MANFRED SOMMER selbst göttliche Welt leben endlos weiter. Das Leben des Kosmos kennt keinen ‚Abschnitt‘. Hinsichtlich dessen, was er voraussetzt, ist der platonische Demiurg vom christlichen Schöpfergott himmelweit verschieden. Denn dieser setzt nichts voraus, jener alles. Der allmächtige Schöpfer schafft mit seinem Willen und kraft seines Befehls „Es werde“ aus dem Nichts (ex nihilo); der Demiurg aber hat – wie Blumenberg betont – alle rhetorische Mühe, die vorausgesetzte mythische Macht namens ‚Notwendigkeit‘ zu überreden, und er ist überdies an ein Vorbild gebunden, an die Idee von Welt, den unentstandenen, unveränderlichen und unvergänglichen kosmos noetos, nach dessen Muster er unseren wahrnehmbaren kosmos aisthetos bildet, so gut er es eben vermag.3 So wiederholt sich beim späten Platon der ontologische Dualismus von Ideenwelt und Erscheinungswirklichkeit in der Kosmologie. In dieser platonischen Kosmologie des Timaios gibt es immer wieder Stellen, an denen die Differenz zwischen dem hergestellten Kosmos und seinem Hersteller, aber auch zwischen dem noetischen Vorbild und der sinnlich wahrnehmbaren Nachbildung zu verschwinden scheint. Da ist Platon seinem Schüler Aristoteles nahe, wenn er nicht sogar schon von ihm gelernt hat. Aristoteles aber hat bekanntlich das, was bei Platon jenseitige Idee war, als Wesen der Sache in diese selbst hineinverlegt. So gibt es, aufs Ganze gesehen, für ihn nur die eine ewige Welt und in ihr beides: Bewegung und Ruhe. Alle Bewegung in ihr kommt von dem selbst unbewegten Beweger, dem Gott des Aristoteles. Dieser ist weder Demiurg noch Schöpfer, sondern nur die Instanz, welche die äußerste Sphäre des Kosmos – die der Fixsterne – in anfangs- und endloser Bewegung hält. Diese Bewegungssicherung geschieht nicht durch Überredung, nicht durch Befehl, nicht durch Handlung. Unbewegt bewegt der Gott den Kosmos auf die Weise, wie ein Geliebter den bewegt, der ihn liebt; unpathetisch gesagt: wie der Geliebte den Liebenden, auch ohne ihn wieder zu lieben, ständig auf Trab hält. Dieser Kosmos hat nichts, aber auch gar nichts Vorläufiges, geschweige denn Hinfälliges. Das Ende der Welt steht bevor: Eschatologie Die Beständigkeit, die den antiken Kosmos ausgezeichnet hat, findet im Christentum ihr Ende. Das geschieht in zwei Phasen. Die erste Änderung geschieht im frühen Christentum: es geht um den Erlösergott und die Welterlösung. Die zweite Änderung geschieht im späten Mittelalter: es geht um den Schöpfergott und die Welterhaltung. 3 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main, 1966, S. 79ff.; ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart, 1981, S. 68: „Der Demiurg ist nicht schöpferisch.“ WIRKLICHKEIT AUF WIDERRUF? 27 In der Legitimität der Neuzeit zeigt Blumenberg, dass das Konzept der Säkularisierung unterstellt, die Neuzeit sei eigentlich nichts anderes als die illegitime Fortsetzerin des Mittelalters. Zu den Thesen, die Blumenberg abweist, gehört die, dass die moderne Geschichtsphilosophie nur die säkularisierte, also verweltlichte und somit innerweltliche Gestalt der christlichen Eschatologie sei. Blumenberg macht darauf aufmerksam, dass es – jenseits der Frage von Immanenz und Transzendenz – bereits der Form nach einen so gravierenden Unterschied gibt, dass das andere nicht aus dem einen entstanden sein kann. Denn die neuzeitliche Geschichtsphilosophie rechnet mit einem unendlichen Fortschritt, die Eschatologie hingegen mit einem unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt. Naherwartung, Parusieverzögerung, Institutionalisierung: das sind die drei Phasen, in denen sich die christliche Urgemeinde zur Kirche fortbildet. Bekanntlich erwarteten die ersten Jünger die Wiederkehr des Herrn binnen kurzer Frist. Doch dann wurde die Zeit, in der sich nichts dergleichen tat, lang und länger, und das Warten – mit Wilhelm Busch gesagt – bang und bänger. Schließlich richtete die neue Gemeinschaft sich dauerhaft in der Welt ein mit kanonischen Schriften, festen Ritualen und tradierbaren Ämtern. Blumenberg bringt das so auf den Punkt: „Hatte die Urgemeinde noch nach dem Kommen ihres Herrn gerufen, so bittet die Kirche alsbald pro mora finis, um Aufschub des Endes.“4 Ob anfangs ersehnt oder später gefürchtet: das Ende der Welt ist in jedem Falle etwas, das kommen wird. Die erlebte Wirklichkeit wird so zu etwas Vorläufigem und Aufhebbarem. Da liegt, als Verführung, auch Gnosis mit ihrem Dualismus von Schöpfergott und Erlösergott nahe. Wie kann es ein und derselbe Gott sein, der als Erlöser mit seiner Wiederkehr das Ende jener Welt einleitet, von der er als Schöpfergott, das vollendete Werk betrachtend, selbst noch gesagt hatte, dass sie gut sei? Wichtiger als diese theologischen Fragen ist für ein philosophisches Verständnis von Wirklichkeit die Art von Vorläufigkeit, die sich hier zeigt. Es muss eigens etwas getan werden, wenn es mit allem zu Ende gehen soll. Die Welt endet, indem der Erlösergott – der damals freilich noch nicht so heißt – aktiv wird: Wiederkehr des Menschensohnes, Jüngstes Gericht etc. Fazit: Wenn und solange Gott nichts tut, besteht die Welt weiter. Das sollte sich im späten Mittelalter grundlegend ändern: Eine neue Art von Vorläufigkeit der Wirklichkeit tritt auf. Ständige Neuschöpfung: creatio continua Nun haben wir es nicht mehr mit Gott, dem Erlöser, sondern mit Gott, dem Schöpfer, zu tun. Dieser hatte am siebten Tage nicht nur sein Werk für gut befunden, sondern sich, nach vollbrachter Tat, auch zur Ruhe gesetzt. Was er 4 Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, S. 31. 28 MANFRED SOMMER geschaffen hatte, war nun also da – und es blieb da, hatte Bestand. Doch die mittelalterliche Schöpfungstheologie – so wie Blumenberg sie sieht – mag nicht mehr glauben, dass die Welt auf diese Weise von selbst fortbesteht; das wäre zu viel Eigenständigkeit und Eigenmächtigkeit für die geschaffene Welt. Sie wäre autark: etwas, das allein für sich zu bestehen und sich selbst zu erhalten vermag. Weil es die Allmacht, die die voluntaristische Theologie des späten Mittelalters Gott zuschreibt, einschränken, nämlich an das nun einmal Vorhandene binden würde, kann dieser Gott die Welt nicht etwa ein für allemal geschaffen haben; vielmehr erhält er sie kraft seines Willens von Augenblick zu Augenblick im Dasein. Seine Erhaltungsleistung ist deshalb nichts anderes als die permanente Wiederholung des ursprünglichen Schöpfungsaktes in seiner vollkommenen Freiheit. In jedem Augenblick schafft Gott die Welt immer wieder neu so, wie er will: Die göttliche conservatio mundi ist eine creatio continua.5 Jede augenblickliche Neuschöpfung ist – doch ohne so sein zu müssen – um genau jenes Wenige anders, das uns glauben lässt, es habe in der Wirklichkeit eine Veränderung stattgefunden: Das Vorspiel dazu finden wir im ruhenden Pfeil der Eleaten, das Nachspiel im Kino. Der Pfeil des Zenon von Elea bewegt sich nicht, sondern ruht immer, allerdings immer an einer anderen Stelle; und ganz ähnlich vermag die sehr schnelle Frequenz ruhender Bilder, die der Film ist, uns den Eindruck von Bewegung zu vermitteln. In jedem Augenblick ist die Welt genau so, wie Gott sie in diesem Augenblick will. Man beachte die Differenz in der Vorläufigkeit: Für die frühchristliche Eschatologie hätte das fortwährende Provisorium namens Welt enden sollen, indem der Erlösergott durch sein Tun dieses Ende herbeiführt. Für die spätmittelalterliche Theologie hingegen wäre die Welt, so der Schöpfergott es wollte, augenblicklich vernichtet durch sein Nichtstun. Gott hört einfach auf. Punkt. Das Ende wäre nicht eine göttliche Tat in einer sei’s nahen, sei’s fernen Zukunft, sondern die Einstellung der welterhaltenden Aktivität. Indem durch göttliche Willensakte der Weltuntergang ständig um Haaresbreite noch verhindert wird, erweist sich Haltlosigkeit und Hinfälligkeit als inneres Konstitutionsmoment der Wirklichkeit selbst. – Und am Ende dieser Tradition steht, ihr zugehörig, Descartes. 5 Ebd., Zweiter Teil; Hans Blumenberg, „Selbsterhaltung und Beharrung“, in: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Geistes- und sozialwissenschaftliche Klasse 11 (1969), S. 333-383.