BEING AFTER---KEIN GRUND ZUR RESIGNATION

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BEING AFTER---KEIN GRUND ZUR RESIGNATION
Rolf Sick
Wer die modernen Embleme der Vernunft als Chiffren der Welterfahrung liest,
riskiert einen Blick auf die Allegorien des Verderbens und nimmt teil „an der
Himmelfahrt in den toten Raum.“1
Denn die Vernunft, inkorporiert im Subjekt, „stößt sich im hoffnungslos
wiederholten Versuch,“ den Ariadnefaden zu finden, „den Kopf ein, wie ein
Insekt, das gegen die Scheibe nach dem Licht fliegt.“2
Begann für Hegels Eule der Minerva der Flug mit der einbrechenden
Dämmerung, wenn der Tag müde, die Zeit alt geworden war, so stürzen sich bei
dem französischen Philosophen Paul Virilio die dromokratischen
Subjektprojektile im Kamikaze-Flug ins gleißende Ziel.
Heute fällt es leichter diese Figuren des Zerfalls im Lichterglanz der Wahrheit
als Selbstimmunisierungsstrategien zu deuten, die Adorno expressis verbis an
Menschen richtet, die nur noch als “eingebildete Zeugen“ (Th. W. Adorno) auf
der Weltbühne in Erscheinung treten; als Inkognito der Theologie, die Erlösung
nur um den Preis einer „unendlich sich aufschiebenden Negativität“3versprach.
Being after heisst, solche wunderbaren Phantasmen in Literatur aufzulösen und
mit gelockerter Bewusstseinsmuskulatur abgeklärter und eleganter zu
beobachten. Wir „können jetzt der Eule Mut zusprechen, nicht länger im Winkel
zu schluchzen, sondern ihren Nachtflug zu beginnen. Wir haben Geräte, um ihn
zu überwachen und wissen, dass es um Erkundung der modernen Gesellschaft
geht.“4
Zaungäste nennt Reinhard Mohr die Generation, die nach der Revolte kam, zu
jung um als Barrikadenhelden mit Sendungsbewusstsein in die hall of fame der
Revolution einzugehen und zu alt um die Medienfaszination der Bits und Bytes
der Computerfreaks zu teilen.
Für sie stellen die Insulationen der grossen Erzählungen nur noch
Spezialignoranzen dar. Aber Wissenschaft enttäuscht im Blick auf Erwartungen
den, der sie für selbstverständlich hält.
In seinem Buch “Die Vollzähligkeit der Sterne“ gibt Hans Blumenberg den
Hinweis auf die Gründung einer Akademie zur Verarbeitung von
Enttäuschungen der Vernunft.
1
Dietmar Kamper, Philosophie als Trauerarbeit, in: Tumult 9, Berlin 1987, S. 81
Theodor W. Adorno, Stichworte, Frankfurt a. M. , 1987, S. 45
3
Norbert Bolz, Philosophie nach ihrem Ende, 1992, S. 83
4
Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a. M. , 1988, S. 661
2
-1-
Ich weiß nicht, ob es jemals zur Grundsteinlegung dieser Akademie gekommen
ist, geschweige denn, wer ihr als ständige Vertreter angehört hätte.
Allein ihr Arbeitspensum wäre angesichts vielfältiger Verlusterfahrungen und
Täuschungen enorm, weil das Maß der Enttäuschungen von der Größe der ihr
zugrundeliegenden Erwartungen abhängt. Leider stellt sich im Zuge der
Reduzierung von Täuschungen keine Wahrheit ein, sondern sie vergrößert nur
das Dunkel unserer Ratlosigkeit.
Aber darin läge vielleicht die Chance eines abgeklärten Denkstils, der das
Rauschen auf dem Monitor unserer Erwartungen ohne Heilsversprechungen neu
formatiert, denn „unsere Zukunft kann nie wieder so sein wie unsere
Vergangenheit. Deshalb müssen wir, was Handeln betrifft, entscheiden und, was
Erkennen betrifft, beschreiben. - Wie schwer dies zu akzeptieren ist, kann man
an dem Entstehen fundamentalistischer Gegenbewegungen erkennen, an dem
verzweifelten Verlangen nach Sinn und nach Selbstverwirklichung.“5
Im jetzt folgenden möchte ich Sie auf drei Randgänge entführen, die ich kurz
thesenartig erläutere:
1.) Säkularisierung ist eine „Kategorie des geschichtlichen Unrechts.“6
Erst durch die Dekonstruktion des Begriffs Säkularisierung offenbart sich die
Legitimität der Moderne, die die “Kontingenz als Stimulans“ (H.Blumenberg)
der technischen Welteroberung anerkennt.
2.) Kontingenz wird “zum Fluch“ (Th. W. Adorno) weil, so die These, die
Erwartungen nicht erfüllt werden können, die als Erblast des Christentums auf
uns ruhen. Statt zur Mäßigung unserer Erwartungen kommt es zur
“Tribunalisierung“ (O. Marquard) des Menschen. Gott wird durch den Begriff
der Gesellschaft umbesetzt.
3.) Aber auch die Säkularreligionen konnten den Glauben an die Erlösung durch
Gesellschaft nicht erfüllen und das Erwachen aus den prophetischen Träumen
provoziert postmodern die reflexive Suche nach individuellen Sinnformen.
Durch das radikale “Ausgesetztsein in die Kontingenz“ (N. Luhmann) ist das
Heil nur noch im individuellen Selbstvollzug gestaltbar. Die Gesellschaft wird
durch das Individuum umbesetzt.
1.) Säkularisierung der Säkularisierung
Die Neuzeit als Epoche der humanen Selbstbehauptung beginnt, folgt man Hans
Blumenberg, mit dem Sturz Gottes als Kultzentrum.
5
6
Niklas Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien, 1996, S. 59
Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. , S. 9
-2-
Der theologische Absolutismus verspielt seine Macht paradoxerweise durch die
Steigerung derselben. Gott wird in dem Maße fragwürdig wie sein absoluter
Wille für die menschliche Vernunft unberechenbar wird.
„Der theologische Absolutismus verweigert dem Menschen den Einblick in die
Rationalität der Schöpfung.“7 Die Schöpfung wird grundlos. Gott ist plötzlich
nicht mehr der Vollstrecker eines lesbaren Weltplanes, in dessen
Wirklichkeitskonstruktionen der Mensch sich aufgehoben sieht, sondern wird
zur potentia absoluta.
In ihr steigert sich die uneingeschränkte Willensmacht zur souveränen
Willkürfreiheit. Gott ist für den Menschen nicht mehr erreichbar, für die
menschliche Vernunft uninterpretierbar, und damit sowohl unzuverlässig als
auch unergründlich.
In der Formel, „dass der Schöpfer sein Werk zu keinem anderen Zweck als dem
geschaffen habe, seine Macht zu demonstrieren“ lässt er „den Menschen aus der
Bestimmung des Weltsinnes ganz herausfallen.“8
Ist die Welt nur noch „pures Faktum verdinglichter Allmacht“, dient sie nur
noch als Schaubühne für „die Demonstration unbeschränkter Souveränität eines
unbefragbaren Willens“9, dann gerät der Sakralkonsensus in Gefahr.
Solange der eine Sinn das Fundament bildet, den Grund heiligt auf dem man
steht, ruht der Mensch in der Selbstevidenz Gottes, im sinnvollen Gefüge des
Kosmos.
Die Gottesidee ist die nicht weiter befragbare Letztbegründung aller
Handlungen, die „Transformation unbestimmbarer in bestimmbare
Komplexität.“10
Der Ausfluss einer höheren Vernünftigkeit in die Sphären der irdischen
Vollzüge kommt ins Stocken. Die Welt erweist sich mehr und mehr als radikal
kontingent und kontingent ist, was auch anders möglich ist. Und es ist auch
anders möglich, weil sie keinen notwendigen Existenzgrund mehr hat.
„Existieren heißt“ jetzt „Hineingehaltenheit in die Nicht-Kommunion.“11
Die Symbiose mit Gott ist aufgebrochen und erfordert neue Markierungen der
Orientierung.
Systemtheoretisch formuliert wurde Gott als Zentralphantasma der Prämoderne
auf einem first-order Niveau installiert. „In gewisser Weise könnte man von
einem geradezu technischen Level der Weltbeobachtung reden“, der in seinem
reibungslosen Vollzug - so und so ist es, „folglich müssen wir..., und dann
kommt das..., und an jenes muss man denken,“12 reflexionsfrei funktionierte.
7
Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, a. a. O. , S. 167
ebenda, S. 194
9
ebenda, S. 194
10
Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. , 1996, S. 20
11
Peter Sloterdijk, Nicht gerettet – Versuche nach Heidegger, Frankfurt a. M. , 2001, S. 98
12
Peter Fuchs, Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne, Konstanz, 2001, S. 74
8
-3-
Die Beobachtung erster Ordnung sieht, was sie sieht, weil sie im Rahmen der
Unterscheidung nur eine Seite markieren kann. Sie arbeitet, so könnte man
formulieren, natural. Ihr Beobachter ist ein monokularer Beobachter, „dem die
Unterscheidung selbst entgeht, durch die er erkennt, was er erkennt.“13
Als hohe Komplexität ermöglichende Vereinfachung schützt sich darin die
Gesellschaft vor dem endlosen Kreisen in unbeantwortbaren Fragen
Der Mensch träumt halbwach unter einem „Schleier...gewoben aus Glauben,
Kinderbefangenheit und Wahn.“14 Diese Welt des Dämmerlichts schützt vor der
Vielfalt der Optionen und bietet dafür hohe Integration, starke Bindung und
Immobilität.
Der so seiner metaphysischen Garantien beraubte Mensch ist gezwungen sich
„eine Gegenwelt von elementarer Rationalität und Verfügbarkeit“15 selbst zu
konstruieren. Er tritt aus dem Schatten der Kathedralen heraus und verkündet
sein Programm der Selbstbehauptung.
Auf diese Weise stellt er wieder ein Einverständnis mit der Welt her und ist
seitdem gezwungen über den Umweg seiner Techniken Orientierung zu
generieren. Im Überraschungsfeld seiner Welt ist Selbstbehauptung der
Kompass sicheren navigierens. „Der Spielraum seiner Daseinschancen“16
entgrenzt sich und bietet der theoretischen Neugierde die unendliche
Erweiterung ihrer Spielräume. Freiheit gebrauchen heißt jetzt „in den Aufstand
zu geraten und sich für die eigene existentielle Freisetzung...zu entscheiden.“17
In der Metaphorik der Seefahrt als Grenzverletzung beschreibt H. Blumenberg
diese Freiheit zur Distanz. Sie wird jetzt zur „fast natürlichen
Dauerbefindlichkeit des Lebens.“18 Das Schiff, so M. Foucault, birgt auch das
„größte Imaginationsarsenal“, es sei die „Heterotopie schlechthin.“19 Der
geschlossene Raum bricht auf, die Raumgrenze wird überwunden und das
Offene erscheint am geweiteten Horizont. In seinem Möglichkeitsspektrum
konstituiert sich erst die “Kultur der Kontingenz“ (H. Blumenberg).
Durch den Begriff Säkularisierung kennzeichnet Blumenberg den „Schwund
religiöser Bindungen, transzendenter Einstellungen, lebensjenseitiger
Erwartungen, kultischer Verrichtungen und festgeprägter Wendungen im
privaten wie täglich – öffentlichen Leben.“20
Doch die “Schwächung des ontologischen Standorts“ (H. Plessner) birgt im
folgenden Probleme der Interpretation.
13
Peter Fuchs, Die Skepsis der Systeme, in: Hrsg. H. Gripp – Hagelstange, Niklas Luhmanns Denken, Konstanz,
2000, S. 57
14
Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Gesammelte Werke Bd. III, Berlin, 1869, S. 89
15
Hans Blumenberg, a. a. O. , S. 197
16
ebenda, S. 206
17
Peter Sloterdijk, a. a. O. , S. 98
18
Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a. M. , 1997, S. 22
19
Michel Foucault, Andere Räume, in: Idee, Prozess, Ergebnis, Berlin, 1987, S. 340
20
Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, a. a. O. , S. 11
-4-
So widerspricht H. Blumenberg der Auffassung, die Säkularisierung selbst als
Realisierung wesentlicher Gesichtspunkte des Christentums zu deuten.
In dieser Figur, die nach dem Modell der Enteignung konstruiert ist, situiere sich
der Befund, wonach den legitimen Eigentümern ein ihnen ursprüngliches Gut
entzogen worden sei. Die Neuzeit wird mit einer Schuld belastet, die in einer
widerrechtlichen Aneignung einer kulturellen Identität bestünde. Die
Einschätzung der Moderne als säkularisierte Hinterlassenschaft ist für H.
Blumenberg unannehmbar und der Versuch, den Erben der Theologie ein
Schuldbewusstsein aufzubürden.
Die Gedanken der Distanz und des Fortschritts sind nicht ein ursprünglich der
christlichen Theologie zugehöriges Gut, dessen sie mit Gewalt beraubt worden
wäre, sie sind keine Umsetzungen „authentisch theologischer Gehalte in ihre
säkulare Selbstentfremdung.“21
Aber sie befinden sich im Sog semantischer Strudel und werden zu
Sorgenkinder der klassischen Metaphysik. „Keine Entfremdungstheorie konnte
bisher auf das Motiv der Distanzschuld in bezug auf eine angenommene UrNähe verzichten.“22
Erst das metaphysische Einheitsvorurteil, so P. Sloterdijk, „zwingt dazu,
Fremdheit als Entfremdung zu denken und so der Vielheit ihre ontologische
Würde mitsamt ihrer praktischen Schuldlosigkeit zu rauben.“23
H. Blumenberg beharrt darauf, dass der Begriff Säkularisierung Entfremdung
bedeutet. In ihm überwintern jene Gehalte einer kryptotheologischen Botschaft,
die die geheime Sehnsucht nach Rückkehr in einen Urgrund am Leben erhält.
Der Prozess dieser Umwandlung und Verformung genuin theologischer in
weltliche Gehalte wäre dann Säkularisierung erster Potenz und die Resultate
jener Umbesetzungen dann deren Vervielfältigung. Sie halten durch ihre
verdeckten Sinnlatenzen extreme Erwartungen aufrecht, die nach dem Absturz
Gottes als Vakanzen fortbestehen, ohne angemessen ausgefüllt werden zu
können. Es kommt nicht zum Verstummen der Religion, sondern im Gegenteil
zu ihrer vermehrten Ausbreitung.
Der Neuzeit entschwindet zwar der Ideenhimmel, der in der Prämoderne ein
transzendentales Obdach geboten hat, aber seine Leerstelle wird umbesetzt.
Ein “Problemasyl“ (O. Marquard) von Erklärungen kümmert sich jetzt um „die
Umbesetzung vakant gewordener Positionen.“24
So muss etwa die neuzeitliche Geschichtsphilosophie als der Versuch gesehen
werden, „eine mittelalterliche Frage mit den nachmittelalterlich verfügbaren
Mitteln zu beantworten.“25 Dabei geht es nicht um eine substantielle Ersetzung
21
Hans Blumenberg, ebenda, S. 75
Peter Sloterdijk, a. a. O. ,S. 99
23
ebenda, S. 99
24
Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, a. a. O. , S. 75
25
ebenda, S. 59
22
-5-
theologischer Gehalte in moderne semantische Konstruktionen, sondern um die
Übernahme ihrer Funktionen.
Da die neuzeitlichen Begriffe unter der Last „der großen und allzu großen
Fragen“26 zusammenbrechen, weil deren Antworten abhanden gekommen sind,
erhöhen sich im weiteren Verlauf die Enttäuschungskapazitäten. Deshalb müsste
man, um die Religion zu neutralisieren, die Säkularisierung säkularisieren.
Einer Säkularisaton zweiter Potenz fiele die Aufgabe zu, die „Bedürftigkeit
eines an den Fragen und großen Hoffnungen überdehnten und dann enttäuschten
Bewusstseins“27 zu korrigieren.
Auch S. Freuds Unterscheidung zwischen Melancholie und Trauer zielt in diese
Richtung. Der Melancholiker ist durch die enge Identifikation mit seinem
verlorenen Objekt vollständig absorbiert. Er ist nicht in der Lage seine Libido
von den alten Besetzungen zu lösen und sie anderem zufließen zu lassen.
Das verlorene Objekt geistert durch das Leben, bannt das Subjekt und entleert es
wie die Welt. Trauer dagegen weiß, was sie verlor und wappnet sich gegen das
Verlorene durch Aufarbeitung des Vermissten. Erst dann kommt Trauerarbeit
zum Abschluss, und der Trauernde ist in der Lage, die neue Situation zu
akzeptieren.
Die Säkularisierung zweiter Potenz müsste sich von den alten Besetzungen
trennen und es vermeiden, die Moderne als Verfallsgeschichte zu lesen.
2.) Being after
„Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht
von eisiger Finsternis und Härte.“28
Unter dem Stichwort Entzauberung findet diese unterkühlte Beobachtung
Eingang in die moderne Bewusstseinslage. Der Einzelne wird aus den
selbstverständlichen Lebenssphären herausgerissen und zunehmend gezwungen
Sinn und Existenzfragen selbst zu beantworten. Am Anfang steht die
methodisch rationale Berufserfüllung, mit der der gleichsam gottverlassene
Puritaner sein Heil zu erlangen sucht. Durch diese schafft er die Voraussetzung
für den modernen Kapitalismus.
Er versagt sich den Genuss, um den Luxus besser verteufeln zu können.
Zum Schluss resultiert daraus eine Lebensform, die mittels harter
Disziplinierung und asketischer Selbstbeherrschung den Weg zur Selbsterlösung
gefunden zu haben scheint. Erst die Ausrichtung der Triebcharaktere durch eine
religiös gestaltete, methodische Lebensführung befreite die Menschen aus den
Arsenalen ihrer magischen Befangenheit. Die Selbstbefriedigungsverbote
bändigen die irrationalen Triebe, prägen den Lebensstil und werden so zu
26
ebenda, S. 59
ebenda, S. 99
28
Max Weber, Politik als Beruf, Stuttgart, 1992, S. 82
27
-6-
Motoren einer aufgeschobenen Erfüllung. In diesem Credo gründet die
Übereinkunft von christlicher Askese und kapitalistischem Geist.
Die Arbeit steht im Mittelpunkt und bildet den Gegenpol zum “unbefangenen
Genießen des Daseins und dessen, was es an Freuden zu bieten hat.“29 Sie wird
zum „Selbstzweck des Lebens überhaupt“30, zum Beweis für die Gnade Gottes.
Am Ende erfasst der entfesselte Kapitalismus mit seinen „kalten Skeletthänden
rationaler Ordnungen“31 jedes Gattungsexemplar und bannt es im „stahlharten
Gehäuse“32 seiner unentrinnbaren Macht. Alle geheimnisvollen Mächte wurden
entthront und Bestand hat jetzt einzig die Überzeugung, dass alles durch
Berechenbarkeit beherrscht werden kann.
Gehäuse, Verhängnis, Unentrinnbarkeit - das sind die Metaphern, mit denen M.
Weber Nietzsches Lehre vom Letzten Menschen ausschmückt, der sich nun in
den versteinerten Wüsten einer entzauberten Welt einrichten muss. Sie bringen
eine Welt zum Ausdruck, die uns ausweglos im Schraubstock rationaler
Weltbewältigung eingespannt hält; zwischen der Rationalisierung aller
Lebensvollzüge auf der einen und der Herrschaft des rechnenden Denkens auf
der anderen Seite, während die Menschen ohne Erkenntnis ihrer Situation den
Frösten heilloser Neutralisierungen ausgeliefert sind.
Technischer Fortschritt, das blinde Funktionieren eindeutiger Algorithmen, ohne
Referenz auf den einen verbürgenden Sinn, ersetzt das religiöse Vakuum der
Geschichte.
Stellt man die Frage nach der Bedeutung von Sinn, stößt man auf die
Wortwurzeln, die Hinweise geben auf “reisen“ und “eine Richtung“
einschlagen. Aufbrechen bedeutete einst, jene Orte der Grenzerfahrung zu
suchen, an denen der Mensch die Ordnung des profanen Alltags verließ und sich
für die Berührung des Absoluten öffnete. Am Ziel erhoffte er sich eine
Steigerung seines Lebens, eine Verausgabung seiner selbst. Durchbrochen
werden sollte die Diskontinuität des Lebens – gesucht der Übergang ins
Kontinuum, letztendlich das Heil seiner Seele. Modernisierung dagegen heißt
Verlust an auratischer Bedeutsamkeit, Entzauberung heißt der Verlust
erlösender Rettung.
Erst im Schweigen der Sphärenmusik Gottes vernimmt man die Dissonanzen der
Wissenschaften. In ihren Resonanzräumen ist der Mensch müde geworden und
träumt von einem wohltemperierten Leben. Neue Möglichkeiten des Wissens
gibt es nur um den Preis unendlicher Enttäuschungen. Die Wissenschaften sind
von dem paradoxen Wunsch besessen sich immer wieder durch das Neue, d.h.
die Neutralisierung des Veralteten herausfordern und überholen zu lassen.
29
Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I , Tübingen, 1988, S. 183
ebenda, S. 171
31
ebenda, S. 561
32
ebenda, S. 203
30
-7-
M. Weber nimmt Abschied vom Ideal der faustischen Gelehrsamkeit zugunsten
eines berufsspezifischen Fachmenschentums. Das ist der Tribut an die moderne
Zeit.
„Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es sein.“33
Wir müssen uns entscheiden und das heißt, dass diese Entscheidungen nicht
einfach zu treffen sind, weil sie niemals nur eine Wahl für etwas sind, sondern
immer auch ein gegen etwas implizieren. Im entzauberten Polytheismus der
unterschiedlichen Wertsphären ist der Kosmos in Fragmente zerfallen.
Ausdifferenzierung nennt das die Systemtheorie. Das Schöne, Gute und Wahre
brechen unwiederbringlich auseinander. Nach dem Verlust des Kultzentrums
des einen Gottes, der die Einheit der Welt garantierte, ist es der Beliebigkeit des
Einzelnen überantwortet, welchen neopaganen Göttern er jetzt huldigen will.
Im Blick auf die Theorie von M. Weber hat sich die kritische Theorie der
Frankfurter Schule in Stellung gebracht. Ihr Grundtext, die “Dialektik der
Aufklärung“, formuliert im Kern den Umschlag von Aufklärung in
Positivismus. „Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen
Unheils..., Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht auf Begriffe und
Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der
Arbeit anderer, Kapital.“34
Th. W. Adorno und M. Horkheimer bestätigen vor dem Hintergrund des
nationalsozialistischen Terrors M. Webers Thesen zur abendländischen
Weltentzauberung. Das stahlharte Gehäuse der Wirklichkeit gerinnt zur
geschlosssenen verwalteten Welt, Zweckrationalität wird interpretiert als
instrumentelle Vernunft, und der Polytheismus der Wertreihen ist der Umschlag
von Aufklärung in Mythos.
Die Ambivalenz gegenüber Rationalisierungsprozessen, die bei M. Weber noch
ins Blickfeld rückt, wird aufgehoben. Und nicht nur das. “Die Dialektik der
Aufklärung“ kehrt auch Marxens positive Einschätzung der Entwicklung der
Technik um.
„Wissenschaft und Technik, für Marx ein unzweideutig emanzipatorisches
Potential, werden selbst zum Medium gesellschaftlicher Repression.“35
Indem Th. W. Adorno und M. Horkheimer diese Ambivalenz des
Rationalisierungsprozesses löschen, sind sie in der Lage, dessen
Entzauberungpotential dialektisch umzudeuten. Die Entmythologisierung im
Namen der Vernunft hatte Erfolg. Jetzt leben wir in einer vom Schein befreiten
Welt. Der Prozess wurde historisch gewonnen, aber die Vorzeichen haben sich
umgedreht. „Die Scheinlosigkeit ist das Strahlen des Unheils.“36
33
Max Weber, ebenda, S. 203
M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. , 1969, S. 7 und 8
35
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. , 1981, S. 208
36
Norbert Bolz, Philosophie nach ihrem Ende, a. a. O. , S.73
34
-8-
Jetzt ist alles verdreht, denn die Entzauberung webt selbst an ihrem
undurchdringlichen Zauber. Dem entspricht die Inthronisierung einer neutralen
Vernunft, die die Welt mit ihrem Koordinatennetz unentrinnbarer
Zweckmäßigkeit bis in den letzten Winkel unseres Daseins erfasst.
Vernunft erstarrt, wird indifferent gegen jeden Zweck und gerinnt zur modernen
Schicksalsmacht. „Das hoffnungslose Wissen der Aufklärung ist die neue
Geburt der Verblendung in der vom Schein befreiten Welt.“37
Seitdem leben wir im Strahlenglanz der entzauberten Welt, der uns an die
Gefängnismauer einer sinnentleerten Ordnung schmiedet und dessen Licht
eigentlich Finsternis ist. Und der Weg ist vorgezeichnet, denn er führt stetig in
den Fortschritt unmenschlicher Erkenntnis.
Wahrheit verkommt zum disponierenden Denken, zur rationalen Bändigung
aller irrationalen Antriebe. Aus der „rationalen Temperierung des irrationalen
Triebs“38 bei M. Weber wird die innermenschliche Naturbeherrschung bei Th.
W. Adorno und M. Horkheimer. In ihr gibt sich das abstrakte Selbst seine
identitätsstiftende Form.
„Selbstbehauptung qua Selbstbeherrschung ist virtuell Selbstvernichtung.“39
Die Urgeschichte der Subjektivität ist in dieser Trinität verankert. Um ein Selbst
zu werden, muss der Mensch den Zwang zur Entsagung am eigenen Leib
praktizieren. Er entringt sich der Natur nur um den Preis des Lebens, das er
rettet. Die innere Natur wird geopfert, weil die Opferung die Bedingung für die
Beherrschung der äußeren Natur ist. Herrschaft ist Kontrolle und ihr Ziel ist die
Entfaltung d.h. “die Beseitigung des Faltenreichen und die Herstellung einer
rätsellosen, überwachbaren und von Schattenspielen befreiten Oberfläche.“40
Bürgerlichkeit – die Kultur des Einfältigen – ist nichts anderes als mythisch
verstrickte Selbstbehauptung.
Wir können die mit den Beschwörungsformeln der Dialektik entworfene Logik
des Zerfalls anders lesen. Wenn die Welt alles ist, was der Fall ist, dann ist
dieser Fall in theologischer Lesart der Sündenfall. In ihm überwintert die
Verheißung auf Erlösung. Für den Melancholiker ist die Moderne die
Katastrophe und die Leiderfahrung eine Art archimedischer Punkt.
„Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu
verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom
Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“41
Erst indem ein Punkt außerhalb der Geschichte, der ihren Sinn verbürgt,
angenommen wird, kann das leidvolle Wesen der Geschichte sichtbar werden. In
der Idee der Erlösung als Ende, als Eschaton, erschließt sich alles, was in der
37
Norbert Bolz, Entzauberung der Welt und Dialektik der Aufklärung, in: Hrsg. Peter Kemper, Macht des
Mythos – Ohnmacht der Vernunft? ,Frankfurt a. M. , 1989, S. 231
38
Norbert Bolz, Philosophie nach ihrem Ende, a. a. O. , S. 117
39
Norbert Bolz, ebenda, S. 69
40
Hans-Dieter Bahr, Über den Umgang mit Maschinen, Tübingen, 1983, S. 16
41
Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a. M. , 1987, S. 333
-9-
Zeit entsteht und vergeht. Wenn die Zeit aber regiert, regiert auch der Tod. Die
Ordnung der Welt ist dann dem Tod verfallen, dem, wie M. Heidegger es so
treffend ausdrückt, “großen Vorbei“.
Am Horizont der Ästhetik erscheint bei Th. W. Adorno jener Punkt, in dem der
Tod nicht das letzte Wort hat. Am Ende der Entfremdung enthüllt sich die
Allegorie der Auferstehung allerdings im Inkognito der Kunst.
Apokalypse heißt eigentlich Enthüllung. In theologischer Auslegung ist immer
an die Offenbarung einer anderen Zukunft gedacht, wenn von Apokalypse
geredet wird. Dass dem die Zerstörung des irdischen Jammertals vorausgeht,
wird nicht als dramatisch, sondern als befreiend empfunden. Die Apokalypse ist,
wenn man so will, die Einheit der Differenz zweier Seiten: Zerstörung und
Offenbarung.
Sie ist die dem Eschaton entsprechende Bewegungsform. Wenn sich die
Geschichte im Eschaton selbst übersteigt, so ist es die Apokalypse, die von
diesem Grenzbereich kündet.
Heute kann man sehen, dass die Bonisierung der Weltfremdheit durch
Denunziation der Welt ein schlechter Traum von einer besseren Welt war.
Being after beschreibt jenes Gefühl, das „die Hinterlassenschaften der Moderne
als Denkmäler wahrnimmt,“42 und von den Projekten mit
“Glückszwangsangebot“(N. Bolz) erlösen. Diese neue Zeit, etikettiert mit dem
Label Post, ist aber kein neues epochales Projekt. „Nicht zu wissen, was kommt,
erscheint als eigenster Reiz eines Lebens.“
Postmoderne, so N. Bolz, „ist das ironische Arrangement mit der
Unmöglichkeit, die Zukunft zu imaginieren.“43
Wissenschaft enttäuscht, weil sie die überspannten Erwartungen nicht erfüllen
kann. Sie ist nicht in der Lage, die unbeantwortbaren Fragen, auf die wir nicht
verzichten können, in ihrem Rahmen zu beantworten. Die Antworten müssen
immer wieder umbesetzt werden. Jede Zeit ist belastet mit der „Hypothek der
vorgegebenen Fragen“ und steht unter „Antwortzwang.“44 Unveränderlich
stehen, so H. Blumenberg, die unverzichtbaren Weltsätze im Raum, und die
Realität der Geschichte hat ihre Evidenz in der jeweiligen Umbesetzung, die
sich rhetorisch vollzieht.
Postmoderne, Posthistoire, Zweite Moderne, - die Reihe ließe sich beliebig
fortführen - , sind Sprachfiguren mit denen sich das Geschichtssubjekt
semantisch zu konfigurieren sucht.
Die Wissenschaft verstummt und nur die Philosophie spricht als Auswahl von
Antworten über die Zonen des Spekulativen. „Als Rhetorik signalisiert die
42
Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit, Berlin, Heidelberg, New York, 1992, S. 78
Norbert Bolz, Die Zeit nach dem Ende der Geschichte, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie Heft 2,
1993, S. 82
44
Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, a. a. O. , S. 75 und 347
43
- 10 -
Philosophie Gewissheiten, auf die man nicht verzichten, die man aber auch nicht
haben kann.“45 Sie ist die Agentur mit “Sinnlosigkeitsbeseitigungsanspruch“ (N.
Luhmann).
Wir haben gelernt, den Götterkampf der Wertreihen zum Wettkampf der
Sprachspiele zu temperieren und die Geschichte als Alptraum selbst als
Geschichte zu lesen, die die Moderne überholt hat. Postmoderne ist der variety
pool vieler Geschichten und unterschiedlicher Zeitinseln.
Nach F. Nietzsche hat der Mensch „eine wahre Wollust darin, sich durch
übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen.“46
Für uns sind sie die Resultate einer schädlichen Welteindeutigkeit, die im Fallen
ihren Betriebsmodus der monokularen Unterscheidung offenbart, die „aus der
Gabe der Freiheit das Gift der Schuld machen musste.“47
3.) Umwege
„Der Mensch begreift sich nur über das, was er nicht ist, hinweg.“48
Er ist nicht in der Lage, zu sich selbst oder zur Welt ein Verhältnis der
Unmittelbarkeit zu installieren. In diesem Sinn ist er Anti-Physis, sprich
künstlich.
A. Gehlen spricht vom Mängelwesen Mensch, einem Wesen, dem Wesentliches
mangelt und dessen Natur paradoxerweise darin besteht, keine zu haben. „Seine
Konstitution ist potentiell metaphorisch.“49
Der Ausgangspunkt bildet die Frage, wie dieses Wesen trotz Instinktarmut, d.h.
dem Mangel an spezifischen Dispositionen, zu existieren vermag. Die Antwort
ist „indem es sich nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit einlässt. Der
menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv
und vor allem „metaphorisch“.50 In der Metapher offenbart sich dem Menschen
seine Natur und die Rhetorik ist seine Anthropologie. Die Natur ist feindlich und
darum muss der Mensch den Umweg über Vertretungen nehmen. „Das animal
symbolicum beherrscht die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie
vertreten lässt,“51 und bannt gleichzeitig den Schrecken, indem es ihm zum
Ausdruck verhilft.
Befallen sind die Menschen von „der Unheilbarkeit (ihrer) Anthropozentrik“52,
aber lächelnd können sie sich eingestehen „man ist nicht wichtig, zugegeben;
aber nichts ist wichtiger als man.“53
45
Norbert Bolz, Das Gesicht der Welt, in: Hrsg. Josef Kopperschmidt, Rhetorische Anthropologie, München,
2000, S. 93
46
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I und II, KSA 2, 1988, S. 131
47
Peter Sloterdijk, a. a. O. , S. 100
48
Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, a. a. O. , S. 134
49
ebenda, S. 135
50
ebenda, S. 115
51
ebenda, S. 116
52
Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, a. a. O. , S. 503
53
Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a. M., 1989, S. 11
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O. Marquard hat den Grundgedanken von H. Blumenberg auf den Punkt
gebracht, als er ihn als Entlastung vom Absoluten, als Arbeit an der Distanz
kennzeichnete.
Für die Aufklärung ist das natürlich ein Ärgernis, denn sie hat sich als das
Bedürfnis inthronisiert, die Schleier der Geheimnisse zu lüften und als nackte
Wahrheit dem Leben erst Grund verschaffen zu wollen.
Wir Zaungäste allerdings wissen, dass die Fundierung der Wissenschaftswelt
einen hohen Preis gefordert hat: den Verlust des auratischen Zaubers.
Seitdem begleiten Metaphern die verschlungenen Pfade der Vernunft.
Es geht nicht mehr um Klartext, sondern um Beobachtung.
“Rhetorik aus Not“ vor der tödlichen Unmittelbarkeit, so F. Nietzsche, zwingt
zu einem künstlich-formalen Spiel mit der Welt, das uns vor den großen Fragen
entlastet.
Wir bleiben auf Rhetorik angewiesen trotz der Forderung nach Klartext.
Als Kunst des Indirekten ist sie Übertragung und kein Mittel der Repräsentation.
Die Dinge entschwinden hinter einer ersetzenden Unterscheidung, die
bezeichnet, indem sie auszeichnet. Deutlich erscheinen nicht die Dinge, sondern
nur unsere Beziehungsmuster.
In der modernen Welt der Kontingenz, in der was ist, auch anders möglich sein
kann, weil sie keinen notwendigen Existenzgrund mehr hat, liefern Metaphern
Kontingenzbewältigungsschemata. Sie bieten damit genau das, was wir in einer
entzauberten Welt vermissen: den Zauber der Dichte, der Bedeutsamkeit und der
Prägnanz. Metaphern geben unserer Weltinterpretation Außenhalt und es
könnte, so H. Blumenberg, „der Sinn des Sinnverlustes sein, uns zu
beschäftigen.“54
Öffnen sich die Scheren von Herkunft und Zukunft, von Lebenszeit und
Weltzeit, tritt der Mensch aus seinen Traditionen heraus. Die Zukunft befreit
sich von den Fesseln ihrer Herkunft und provoziert die Sinnfrage, „wir sind
nicht mehr, was wir waren, und werden nicht mehr sein, was wir sind.“55
Die Schlüsselwörter unserer Zeit, Komplexität, Kontingenz und Intransparenz
bieten keine Sicherheiten. Die Gesellschaft, so die Systemtheorie, kann nicht
mehr als Einheit beobachtet werden, sondern nur noch im Modus der Differenz.
Die Theorie schaltet neokybernetisch um auf Beobachtung zweiter Ordnung und
beobachtet, was und wie andere beobachten und wird dabei von anderen
beobachtet. Sie ist immer auch eine Beobachtung erster Ordnung, weil auch sie
eine Unterscheidung benutzen muss. Aber sie beobachtet die andere
Beobachtung. Sie unterscheidet Unterscheidungen, die der Beobachter erster
Ordnung benützt und sieht deswegen auch in welcher Rahmung die
Beobachtung ausgewählt wurde. Das erzeugt Kontingenz, den Blick auf ein
54
55
Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt a. M., 1988, S. 91
Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen, 1992, S. 15
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Auch - Anders - Möglichsein. Diese Freiheit einer polykontextural verfassten
Gesellschaft verbaut jeden Weg zu einer ontologischen Weltbeobachtung.
Das ist der nichttechnische Grund für die Sinnkrise. Darauf antwortet
kompensatorisch die Welt des Individuellen.
Mit den Mitteln der Beobachtung erster Ordnung versucht sie hinter der Artistik
der Kosmetik die wahre Tiefe des Selbst auszuloten, als Suche nach
Selbsterlösung.
Die Individuen leiden zum einen daran, dass auch alles anders möglich wäre, am
Universum der Optionen und zum anderen am Wegfall einer
“Totalkonditionierung“ (A. Nassehi), am Fluch der schwachen Bindungen.
Adressabilität bezeichnet seitdem „das Doppelproblem, dass auf der einen Seite
die Kommunikation Adressen erzeugt, auf der anderen Seite psychische
Systeme mit den Effekten von Adressenbildung auskommen, dass sie damit
leben müssen und ihre eigenen Strukturen an eben diesem Problem
entlangfädeln und ausprägen müssen.“56
Selbstkonditionierung wird damit radikal auf Selbstreferenz verwiesen, auf die
Orientierung und Aufrechterhaltung von Individualität jenseits der Gesellschaft.
Als Inklusion beschreibt N. Luhmann jenen Mechanismus, nach dem „im
Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant
gehalten werden.“57 Wie Kommunikation auf Menschen zugreift, d h. wie sie in
verschiedenen Funktionszusammenhängen unterschiedlich als Personen
thematisiert werden drückt sich in diesem Begriff aus. Um sinnvoll mit diesem
Begriff zu beobachten, schlägt N. Luhmann vor, den Komplementärbegriff ins
Auge zu fassen, um den Informationswert besser abschätzen zu können.
„Inklusion bezeichnet dann die innere Seite der Form, deren äußere Seite
Exklusion ist. Von Inklusion kann man also nur sprechen, wenn es Exklusion
gibt.“58
Abseits der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Teilsystemen begründet sich
Individualität. „Das Individuum kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur
noch durch Exklusion definiert werden.“59 Individualität ist Exklusion. Sie ist
aus der Gesellschaft ausgeschlossen und nur als Person nehme ich an
Gesellschaft teil, wie gesagt als Adresse.
Ausgeschlossen wie weiland Gott wird sie transzendent durch Exklusion.
Die Kluft zwischen der Eigenwelt der Kommunikation und der Eigenwelt des
Menschen ist nicht mehr zu überbrücken. Auf diese Spaltung antwortet
kompensatorisch die Welt des Individuellen.
„Gegen die Kontingenz der eigenen Existenz immunisiert uns die
Selbstverwirklichung.“60 Wer sich selbst verwirklichen will, weigert sich diese
56
Peter Fuchs, Das seltsame Problem der Weltgesellschaft, Opladen, 1997, S. 115
Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 6 ,a. a. O., S. 241
58
ebenda, S. 241
59
Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt a. M., 1989, S. 158
60
Norbert Bolz, Die Konformisten des Andersseins, München, 1999, S. 112
57
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Kontingenz anzuerkennen. Ich bin nicht, was ich bin – und die Gesellschaft hat
das anzuerkennen.
“Individualität ist Unzufriedenheit“ heißt es lapidar bei N. Luhmann.
Wir leiden mehr an der eigenen Existenz, denn an Sinnverlust, denn Sinn ist
formal betrachtet nur das Formkorsett für die Erlebnisverarbeitung jedes
Einzelnen und erschließt sich in der Form dieser Verarbeitung. Doch in der
Form des Sinns bleibt Sinn immer unbestimmt und inhaltsleer und verweist
daher immer auf andere Möglichkeiten. Erst der „einstimmig – monotone
Gesang vom Sinnverlust“61 erzeugt den Imperativ der Selbstverwirklichung. In
ihm taucht die Sinnfrage als Problem des Ich-Seins immer wieder neu auf.
Emphatischer Sinn sucht sich, in der Reise nach Sich-Selber. Er findet sich nicht
im Funktionssinn der Systeme oder im passionierten Sinn für etwas. Sinn des
Lebens meint mehr und dieses Mehr ist paradoxerweise ein Mangel, eine Suche
nach der vermeindlich verlorengegangenen Einheit. Er hegt und pflegt einen
Illegimitätsverdacht gegenüber dem eigenen Selbst. In der Metapher des Heils
soll der Spalt geschlossen, die Unterschiede getilgt werden. Im Glanz der
imaginierten Erlösung wird uns deutlich wie leidend wir wirklich sind.
Das Heil entwirft das Glück als Entropie; alle Unterscheidungen sind
verschwunden aber „die historische Desavouierung der großen Heilsversprechen
hat das Thema nicht obsolet gemacht“62 so N. Bolz. Es wurde nur umbesetzt,
und die Schauplätze haben gewechselt. Erst Gott, dann die Gesellschaft und jetzt
das Individuum.
“Kein Grund zur Resignation“ beinhaltet, dass unsere Kultur einen
Themenkatalog bereitstellt, der uns nicht mehr verpflichtet, einer bestimmten
Meinung zuzustimmen, sondern die Optionsvielfalt eröffnet. Unser Nein ist ein
Nein, das zur Differenz von Lebenschancen beiträgt und kein Nein mit
gnostischen Vorzeichen.
Wir Zaungäste erkennen, dass wir aus krummen Holz geschnitzt sind und
deshalb können wir nicht mehr die ganze Welt ablehnen. Wir operieren
innerhalb eines Spektrums von Wahlmöglichkeiten und mussten lernen, dass die
Aufgabe des Archimedes unlösbar geworden ist. Die heroischen Neinsager
hatten jenen erhöhten Punkt außerhalb der Welt gefunden, von dem aus das
große überblickende Nein formulierbar geworden ist, ohne selbst von der
Negativität des Verblendungszusammenhangs infiziert zu sein.
Das gelang nur durch virtuose Zauberkunststücke einer negativen Dialektik.
Uns bleibt nur das simple Nein, das nur eine strukturell eingebaute Operation
der Kommunikation ist.
Aber wir können in einen spielerischen Umgang mit diesem Nein eintreten und
Kommunikation steigern. Dabei ermöglicht das flottierende Spiel der
Beobachtung die eigenen Sichtverlustnotwendigkeiten zu erfassen, die eigene
61
62
Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a. a. O. , S. 362
Norbert Bolz, Willem van Reijen Hrsg. Heilsversprechen, München, 1998, S. 7
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Blindheit sichtbar zu machen. „Dies hat zur Folge, dass sich kein Standpunkt
mehr festlegen lässt, von dem aus das Ganze, mag man es Staat oder
Gesellschaft nennen, richtig beobachtet werden kann.“63
Kontingenz heißt dann nicht Mangel sondern Komplexitätsaufnahme, die
Chance für die Kreativität anderer Möglichkeiten.
4.) Splitter
Unsere vertraute Semantik ist zerbrochen und der Trost der Überschaubarkeit ist
zerronnen. Die enttäuschende Erfahrung, dass Wissen unsere Unwissenheit
erhöht, gehört, wie gesagt, zu den Insignien der Moderne.
Das gilt in zunehmendem Maß auch für das Lernen. Weil Erfahrung im Sinne
der Tradition nicht mehr genügt, wird das Lernen selbst ein Prozess ständigen
Umlernens. Lernen muss auf Dauer gestellt werden, und was es zu lernen hat ist
also sich selber. „Zu lernen ist die Dauerbereitschaft, Neuem durch Änderung
von bereits gelernten Erwartungsmustern zu begegnen.“64
Gelernt werden muss also das Entlernen, das aktive Verlernen, die laufende
Revision von Enttäuschungen.
„Wissen und Lernen sind daher Gegensätze. Wo Wissen bewahrt wird, wird
Lernen verhindert...Lernen zerstört Wissen, indem es verhindert, dass alte
Unterscheidungen weiter vollzogen werden.“65 Wissen und Erfolg führen
automatisch in die Lernbehinderung. Ohne Misserfolg - kein Lernbedarf.
Sozialarbeit/Sozialpädagogik darf sich nicht als olympischer
Trainingsstützpunkt missverstehen. Training, nach der “Ritter Sport“ Devise:
quadratisch, praktisch, gut, macht aus den Menschen triviale - Input gleich
Output - Maschinen, quasi behavioristische Stimulus – Response Homunkuli.
Die Ausbildung nicht - trivialer Maschinen erfordert nicht die Orientierung an
sozialen Routinen, sondern Problemsensibilität, nicht die Eindeutigkeit von
Handlungsrichtlinien, sondern abgeklärtes Komplexitätsmanagment - das sich
Einlassen auf offenen Fragen.
Bildung wollte immer autonome, verantwortliche Menschen erziehen und d.h.
Mut zur Selbstselektion. Wer dagegen hohe Fremdselektion akzeptiert und sich
dadurch eine Zukunftssicherheit verspricht delegiert das Selektionsproblem an
Dritte. Praxisnahe Ausbildung operiert mit der Sicherheit des Als - Ob.
Denn die Pragmatiker sind, ich bitte um Verzeihung, lernbehindert, weil sie ihre
Spezialignoranzen pflegen. Ihnen kann man nichts mehr vormachen, weil ihr
Weltbild bereits das Ergebnis von Enttäuschungen ist. Hier reagieren dann nur
noch die Sachzwänge; die Welt ist wie sie ist, ohne Punkt und Komma.
63
Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a. a. O. , S. 629
N. Luhmann, K. E. Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt a. M. , 1988, S. 86
65
Fritz B. Simon, Die Kunst, nicht zu lernen, in: Hrsg. H. R. Fischer, Die Wirklichkeit des Konstruktivismus,
Heidelberg, 1998, S. 363
64
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Soziale Arbeit scheint momentan in ihrer Ausrichtung auf wirtschaftliche
Optimierbarkeit überlagert zu sein durch Motive der Wirtschaft. Es kommt, so
scheint es, zu einer „Kopplung zwischen sozialer Arbeit und Wirtschaft“66 und
das erzeugt so etwas wie Imitationseffekte in der sozialen Arbeit. P. Fuchs
spricht davon, dass soziale Arbeit warenförmig werden könnte.
Soziale Arbeit kann ihre Eigenständigkeit nicht im Schatten von Wissenschaft
suchen, sondern sie muss sich begreifen als eine Art der Sichtung, als
Reflexionsfunktion, als Spiel der Beobachtungen, das Alternativen konstruiert.
„Sie könnte sich durch Entwicklungen in den Wissenschaften irritieren und
stimulieren, nicht aber determinieren lassen.“67
Ihre Identität bestünde gerade „im Scheitern an der Aufgabe, den für sie
verbindlichen Text selbst zu erzeugen.“68
Aber das ist ein Vorteil. Sie ist lernfähig, denn sie muss ihre
„Komplexitätsunterlegenheit durch Lernen kompensieren.“69
Zu lernen wäre das Vermögen, mit Unsicherheit auf eine Art und Weise
umzugehen, die diese in den Horizont unserer Möglichkeiten einarbeitet, ohne
das Resultat mit tödlicher Sicherheit zu verwechseln.
Für uns heißt das, die Zukunft nicht mehr als Ausdruck der Erwartung, sondern
als Ausdruck der Überraschung zu begrüßen.
Das ist kein Grund zur Resignation, sondern erfordert den Mut zur Gestaltung
von Freiheit, erfordert “die heuristische Konstruktion von Alternativen.“70
66
Peter Fuchs, Systemtheorie und Soziale Arbeit, in: Systemtheorie Sozialer Arbeit, Opladen, 2000, S. 172
N. Luhmann, K. E. Schorr, a. a. O. ; S. 368
68
ebenda, S. 368
69
ebenda, S. 367
70
Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen, 2000, S. 109
67
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