BEING AFTER---KEIN GRUND ZUR RESIGNATION Rolf Sick Wer die modernen Embleme der Vernunft als Chiffren der Welterfahrung liest, riskiert einen Blick auf die Allegorien des Verderbens und nimmt teil „an der Himmelfahrt in den toten Raum.“1 Denn die Vernunft, inkorporiert im Subjekt, „stößt sich im hoffnungslos wiederholten Versuch,“ den Ariadnefaden zu finden, „den Kopf ein, wie ein Insekt, das gegen die Scheibe nach dem Licht fliegt.“2 Begann für Hegels Eule der Minerva der Flug mit der einbrechenden Dämmerung, wenn der Tag müde, die Zeit alt geworden war, so stürzen sich bei dem französischen Philosophen Paul Virilio die dromokratischen Subjektprojektile im Kamikaze-Flug ins gleißende Ziel. Heute fällt es leichter diese Figuren des Zerfalls im Lichterglanz der Wahrheit als Selbstimmunisierungsstrategien zu deuten, die Adorno expressis verbis an Menschen richtet, die nur noch als “eingebildete Zeugen“ (Th. W. Adorno) auf der Weltbühne in Erscheinung treten; als Inkognito der Theologie, die Erlösung nur um den Preis einer „unendlich sich aufschiebenden Negativität“3versprach. Being after heisst, solche wunderbaren Phantasmen in Literatur aufzulösen und mit gelockerter Bewusstseinsmuskulatur abgeklärter und eleganter zu beobachten. Wir „können jetzt der Eule Mut zusprechen, nicht länger im Winkel zu schluchzen, sondern ihren Nachtflug zu beginnen. Wir haben Geräte, um ihn zu überwachen und wissen, dass es um Erkundung der modernen Gesellschaft geht.“4 Zaungäste nennt Reinhard Mohr die Generation, die nach der Revolte kam, zu jung um als Barrikadenhelden mit Sendungsbewusstsein in die hall of fame der Revolution einzugehen und zu alt um die Medienfaszination der Bits und Bytes der Computerfreaks zu teilen. Für sie stellen die Insulationen der grossen Erzählungen nur noch Spezialignoranzen dar. Aber Wissenschaft enttäuscht im Blick auf Erwartungen den, der sie für selbstverständlich hält. In seinem Buch “Die Vollzähligkeit der Sterne“ gibt Hans Blumenberg den Hinweis auf die Gründung einer Akademie zur Verarbeitung von Enttäuschungen der Vernunft. 1 Dietmar Kamper, Philosophie als Trauerarbeit, in: Tumult 9, Berlin 1987, S. 81 Theodor W. Adorno, Stichworte, Frankfurt a. M. , 1987, S. 45 3 Norbert Bolz, Philosophie nach ihrem Ende, 1992, S. 83 4 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt a. M. , 1988, S. 661 2 -1- Ich weiß nicht, ob es jemals zur Grundsteinlegung dieser Akademie gekommen ist, geschweige denn, wer ihr als ständige Vertreter angehört hätte. Allein ihr Arbeitspensum wäre angesichts vielfältiger Verlusterfahrungen und Täuschungen enorm, weil das Maß der Enttäuschungen von der Größe der ihr zugrundeliegenden Erwartungen abhängt. Leider stellt sich im Zuge der Reduzierung von Täuschungen keine Wahrheit ein, sondern sie vergrößert nur das Dunkel unserer Ratlosigkeit. Aber darin läge vielleicht die Chance eines abgeklärten Denkstils, der das Rauschen auf dem Monitor unserer Erwartungen ohne Heilsversprechungen neu formatiert, denn „unsere Zukunft kann nie wieder so sein wie unsere Vergangenheit. Deshalb müssen wir, was Handeln betrifft, entscheiden und, was Erkennen betrifft, beschreiben. - Wie schwer dies zu akzeptieren ist, kann man an dem Entstehen fundamentalistischer Gegenbewegungen erkennen, an dem verzweifelten Verlangen nach Sinn und nach Selbstverwirklichung.“5 Im jetzt folgenden möchte ich Sie auf drei Randgänge entführen, die ich kurz thesenartig erläutere: 1.) Säkularisierung ist eine „Kategorie des geschichtlichen Unrechts.“6 Erst durch die Dekonstruktion des Begriffs Säkularisierung offenbart sich die Legitimität der Moderne, die die “Kontingenz als Stimulans“ (H.Blumenberg) der technischen Welteroberung anerkennt. 2.) Kontingenz wird “zum Fluch“ (Th. W. Adorno) weil, so die These, die Erwartungen nicht erfüllt werden können, die als Erblast des Christentums auf uns ruhen. Statt zur Mäßigung unserer Erwartungen kommt es zur “Tribunalisierung“ (O. Marquard) des Menschen. Gott wird durch den Begriff der Gesellschaft umbesetzt. 3.) Aber auch die Säkularreligionen konnten den Glauben an die Erlösung durch Gesellschaft nicht erfüllen und das Erwachen aus den prophetischen Träumen provoziert postmodern die reflexive Suche nach individuellen Sinnformen. Durch das radikale “Ausgesetztsein in die Kontingenz“ (N. Luhmann) ist das Heil nur noch im individuellen Selbstvollzug gestaltbar. Die Gesellschaft wird durch das Individuum umbesetzt. 1.) Säkularisierung der Säkularisierung Die Neuzeit als Epoche der humanen Selbstbehauptung beginnt, folgt man Hans Blumenberg, mit dem Sturz Gottes als Kultzentrum. 5 6 Niklas Luhmann, Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien, 1996, S. 59 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. , S. 9 -2- Der theologische Absolutismus verspielt seine Macht paradoxerweise durch die Steigerung derselben. Gott wird in dem Maße fragwürdig wie sein absoluter Wille für die menschliche Vernunft unberechenbar wird. „Der theologische Absolutismus verweigert dem Menschen den Einblick in die Rationalität der Schöpfung.“7 Die Schöpfung wird grundlos. Gott ist plötzlich nicht mehr der Vollstrecker eines lesbaren Weltplanes, in dessen Wirklichkeitskonstruktionen der Mensch sich aufgehoben sieht, sondern wird zur potentia absoluta. In ihr steigert sich die uneingeschränkte Willensmacht zur souveränen Willkürfreiheit. Gott ist für den Menschen nicht mehr erreichbar, für die menschliche Vernunft uninterpretierbar, und damit sowohl unzuverlässig als auch unergründlich. In der Formel, „dass der Schöpfer sein Werk zu keinem anderen Zweck als dem geschaffen habe, seine Macht zu demonstrieren“ lässt er „den Menschen aus der Bestimmung des Weltsinnes ganz herausfallen.“8 Ist die Welt nur noch „pures Faktum verdinglichter Allmacht“, dient sie nur noch als Schaubühne für „die Demonstration unbeschränkter Souveränität eines unbefragbaren Willens“9, dann gerät der Sakralkonsensus in Gefahr. Solange der eine Sinn das Fundament bildet, den Grund heiligt auf dem man steht, ruht der Mensch in der Selbstevidenz Gottes, im sinnvollen Gefüge des Kosmos. Die Gottesidee ist die nicht weiter befragbare Letztbegründung aller Handlungen, die „Transformation unbestimmbarer in bestimmbare Komplexität.“10 Der Ausfluss einer höheren Vernünftigkeit in die Sphären der irdischen Vollzüge kommt ins Stocken. Die Welt erweist sich mehr und mehr als radikal kontingent und kontingent ist, was auch anders möglich ist. Und es ist auch anders möglich, weil sie keinen notwendigen Existenzgrund mehr hat. „Existieren heißt“ jetzt „Hineingehaltenheit in die Nicht-Kommunion.“11 Die Symbiose mit Gott ist aufgebrochen und erfordert neue Markierungen der Orientierung. Systemtheoretisch formuliert wurde Gott als Zentralphantasma der Prämoderne auf einem first-order Niveau installiert. „In gewisser Weise könnte man von einem geradezu technischen Level der Weltbeobachtung reden“, der in seinem reibungslosen Vollzug - so und so ist es, „folglich müssen wir..., und dann kommt das..., und an jenes muss man denken,“12 reflexionsfrei funktionierte. 7 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, a. a. O. , S. 167 ebenda, S. 194 9 ebenda, S. 194 10 Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a. M. , 1996, S. 20 11 Peter Sloterdijk, Nicht gerettet – Versuche nach Heidegger, Frankfurt a. M. , 2001, S. 98 12 Peter Fuchs, Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne, Konstanz, 2001, S. 74 8 -3- Die Beobachtung erster Ordnung sieht, was sie sieht, weil sie im Rahmen der Unterscheidung nur eine Seite markieren kann. Sie arbeitet, so könnte man formulieren, natural. Ihr Beobachter ist ein monokularer Beobachter, „dem die Unterscheidung selbst entgeht, durch die er erkennt, was er erkennt.“13 Als hohe Komplexität ermöglichende Vereinfachung schützt sich darin die Gesellschaft vor dem endlosen Kreisen in unbeantwortbaren Fragen Der Mensch träumt halbwach unter einem „Schleier...gewoben aus Glauben, Kinderbefangenheit und Wahn.“14 Diese Welt des Dämmerlichts schützt vor der Vielfalt der Optionen und bietet dafür hohe Integration, starke Bindung und Immobilität. Der so seiner metaphysischen Garantien beraubte Mensch ist gezwungen sich „eine Gegenwelt von elementarer Rationalität und Verfügbarkeit“15 selbst zu konstruieren. Er tritt aus dem Schatten der Kathedralen heraus und verkündet sein Programm der Selbstbehauptung. Auf diese Weise stellt er wieder ein Einverständnis mit der Welt her und ist seitdem gezwungen über den Umweg seiner Techniken Orientierung zu generieren. Im Überraschungsfeld seiner Welt ist Selbstbehauptung der Kompass sicheren navigierens. „Der Spielraum seiner Daseinschancen“16 entgrenzt sich und bietet der theoretischen Neugierde die unendliche Erweiterung ihrer Spielräume. Freiheit gebrauchen heißt jetzt „in den Aufstand zu geraten und sich für die eigene existentielle Freisetzung...zu entscheiden.“17 In der Metaphorik der Seefahrt als Grenzverletzung beschreibt H. Blumenberg diese Freiheit zur Distanz. Sie wird jetzt zur „fast natürlichen Dauerbefindlichkeit des Lebens.“18 Das Schiff, so M. Foucault, birgt auch das „größte Imaginationsarsenal“, es sei die „Heterotopie schlechthin.“19 Der geschlossene Raum bricht auf, die Raumgrenze wird überwunden und das Offene erscheint am geweiteten Horizont. In seinem Möglichkeitsspektrum konstituiert sich erst die “Kultur der Kontingenz“ (H. Blumenberg). Durch den Begriff Säkularisierung kennzeichnet Blumenberg den „Schwund religiöser Bindungen, transzendenter Einstellungen, lebensjenseitiger Erwartungen, kultischer Verrichtungen und festgeprägter Wendungen im privaten wie täglich – öffentlichen Leben.“20 Doch die “Schwächung des ontologischen Standorts“ (H. Plessner) birgt im folgenden Probleme der Interpretation. 13 Peter Fuchs, Die Skepsis der Systeme, in: Hrsg. H. Gripp – Hagelstange, Niklas Luhmanns Denken, Konstanz, 2000, S. 57 14 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Gesammelte Werke Bd. III, Berlin, 1869, S. 89 15 Hans Blumenberg, a. a. O. , S. 197 16 ebenda, S. 206 17 Peter Sloterdijk, a. a. O. , S. 98 18 Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a. M. , 1997, S. 22 19 Michel Foucault, Andere Räume, in: Idee, Prozess, Ergebnis, Berlin, 1987, S. 340 20 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, a. a. O. , S. 11 -4- So widerspricht H. Blumenberg der Auffassung, die Säkularisierung selbst als Realisierung wesentlicher Gesichtspunkte des Christentums zu deuten. In dieser Figur, die nach dem Modell der Enteignung konstruiert ist, situiere sich der Befund, wonach den legitimen Eigentümern ein ihnen ursprüngliches Gut entzogen worden sei. Die Neuzeit wird mit einer Schuld belastet, die in einer widerrechtlichen Aneignung einer kulturellen Identität bestünde. Die Einschätzung der Moderne als säkularisierte Hinterlassenschaft ist für H. Blumenberg unannehmbar und der Versuch, den Erben der Theologie ein Schuldbewusstsein aufzubürden. Die Gedanken der Distanz und des Fortschritts sind nicht ein ursprünglich der christlichen Theologie zugehöriges Gut, dessen sie mit Gewalt beraubt worden wäre, sie sind keine Umsetzungen „authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung.“21 Aber sie befinden sich im Sog semantischer Strudel und werden zu Sorgenkinder der klassischen Metaphysik. „Keine Entfremdungstheorie konnte bisher auf das Motiv der Distanzschuld in bezug auf eine angenommene UrNähe verzichten.“22 Erst das metaphysische Einheitsvorurteil, so P. Sloterdijk, „zwingt dazu, Fremdheit als Entfremdung zu denken und so der Vielheit ihre ontologische Würde mitsamt ihrer praktischen Schuldlosigkeit zu rauben.“23 H. Blumenberg beharrt darauf, dass der Begriff Säkularisierung Entfremdung bedeutet. In ihm überwintern jene Gehalte einer kryptotheologischen Botschaft, die die geheime Sehnsucht nach Rückkehr in einen Urgrund am Leben erhält. Der Prozess dieser Umwandlung und Verformung genuin theologischer in weltliche Gehalte wäre dann Säkularisierung erster Potenz und die Resultate jener Umbesetzungen dann deren Vervielfältigung. Sie halten durch ihre verdeckten Sinnlatenzen extreme Erwartungen aufrecht, die nach dem Absturz Gottes als Vakanzen fortbestehen, ohne angemessen ausgefüllt werden zu können. Es kommt nicht zum Verstummen der Religion, sondern im Gegenteil zu ihrer vermehrten Ausbreitung. Der Neuzeit entschwindet zwar der Ideenhimmel, der in der Prämoderne ein transzendentales Obdach geboten hat, aber seine Leerstelle wird umbesetzt. Ein “Problemasyl“ (O. Marquard) von Erklärungen kümmert sich jetzt um „die Umbesetzung vakant gewordener Positionen.“24 So muss etwa die neuzeitliche Geschichtsphilosophie als der Versuch gesehen werden, „eine mittelalterliche Frage mit den nachmittelalterlich verfügbaren Mitteln zu beantworten.“25 Dabei geht es nicht um eine substantielle Ersetzung 21 Hans Blumenberg, ebenda, S. 75 Peter Sloterdijk, a. a. O. ,S. 99 23 ebenda, S. 99 24 Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, a. a. O. , S. 75 25 ebenda, S. 59 22 -5- theologischer Gehalte in moderne semantische Konstruktionen, sondern um die Übernahme ihrer Funktionen. Da die neuzeitlichen Begriffe unter der Last „der großen und allzu großen Fragen“26 zusammenbrechen, weil deren Antworten abhanden gekommen sind, erhöhen sich im weiteren Verlauf die Enttäuschungskapazitäten. Deshalb müsste man, um die Religion zu neutralisieren, die Säkularisierung säkularisieren. Einer Säkularisaton zweiter Potenz fiele die Aufgabe zu, die „Bedürftigkeit eines an den Fragen und großen Hoffnungen überdehnten und dann enttäuschten Bewusstseins“27 zu korrigieren. Auch S. Freuds Unterscheidung zwischen Melancholie und Trauer zielt in diese Richtung. Der Melancholiker ist durch die enge Identifikation mit seinem verlorenen Objekt vollständig absorbiert. Er ist nicht in der Lage seine Libido von den alten Besetzungen zu lösen und sie anderem zufließen zu lassen. Das verlorene Objekt geistert durch das Leben, bannt das Subjekt und entleert es wie die Welt. Trauer dagegen weiß, was sie verlor und wappnet sich gegen das Verlorene durch Aufarbeitung des Vermissten. Erst dann kommt Trauerarbeit zum Abschluss, und der Trauernde ist in der Lage, die neue Situation zu akzeptieren. Die Säkularisierung zweiter Potenz müsste sich von den alten Besetzungen trennen und es vermeiden, die Moderne als Verfallsgeschichte zu lesen. 2.) Being after „Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte.“28 Unter dem Stichwort Entzauberung findet diese unterkühlte Beobachtung Eingang in die moderne Bewusstseinslage. Der Einzelne wird aus den selbstverständlichen Lebenssphären herausgerissen und zunehmend gezwungen Sinn und Existenzfragen selbst zu beantworten. Am Anfang steht die methodisch rationale Berufserfüllung, mit der der gleichsam gottverlassene Puritaner sein Heil zu erlangen sucht. Durch diese schafft er die Voraussetzung für den modernen Kapitalismus. Er versagt sich den Genuss, um den Luxus besser verteufeln zu können. Zum Schluss resultiert daraus eine Lebensform, die mittels harter Disziplinierung und asketischer Selbstbeherrschung den Weg zur Selbsterlösung gefunden zu haben scheint. Erst die Ausrichtung der Triebcharaktere durch eine religiös gestaltete, methodische Lebensführung befreite die Menschen aus den Arsenalen ihrer magischen Befangenheit. Die Selbstbefriedigungsverbote bändigen die irrationalen Triebe, prägen den Lebensstil und werden so zu 26 ebenda, S. 59 ebenda, S. 99 28 Max Weber, Politik als Beruf, Stuttgart, 1992, S. 82 27 -6- Motoren einer aufgeschobenen Erfüllung. In diesem Credo gründet die Übereinkunft von christlicher Askese und kapitalistischem Geist. Die Arbeit steht im Mittelpunkt und bildet den Gegenpol zum “unbefangenen Genießen des Daseins und dessen, was es an Freuden zu bieten hat.“29 Sie wird zum „Selbstzweck des Lebens überhaupt“30, zum Beweis für die Gnade Gottes. Am Ende erfasst der entfesselte Kapitalismus mit seinen „kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen“31 jedes Gattungsexemplar und bannt es im „stahlharten Gehäuse“32 seiner unentrinnbaren Macht. Alle geheimnisvollen Mächte wurden entthront und Bestand hat jetzt einzig die Überzeugung, dass alles durch Berechenbarkeit beherrscht werden kann. Gehäuse, Verhängnis, Unentrinnbarkeit - das sind die Metaphern, mit denen M. Weber Nietzsches Lehre vom Letzten Menschen ausschmückt, der sich nun in den versteinerten Wüsten einer entzauberten Welt einrichten muss. Sie bringen eine Welt zum Ausdruck, die uns ausweglos im Schraubstock rationaler Weltbewältigung eingespannt hält; zwischen der Rationalisierung aller Lebensvollzüge auf der einen und der Herrschaft des rechnenden Denkens auf der anderen Seite, während die Menschen ohne Erkenntnis ihrer Situation den Frösten heilloser Neutralisierungen ausgeliefert sind. Technischer Fortschritt, das blinde Funktionieren eindeutiger Algorithmen, ohne Referenz auf den einen verbürgenden Sinn, ersetzt das religiöse Vakuum der Geschichte. Stellt man die Frage nach der Bedeutung von Sinn, stößt man auf die Wortwurzeln, die Hinweise geben auf “reisen“ und “eine Richtung“ einschlagen. Aufbrechen bedeutete einst, jene Orte der Grenzerfahrung zu suchen, an denen der Mensch die Ordnung des profanen Alltags verließ und sich für die Berührung des Absoluten öffnete. Am Ziel erhoffte er sich eine Steigerung seines Lebens, eine Verausgabung seiner selbst. Durchbrochen werden sollte die Diskontinuität des Lebens – gesucht der Übergang ins Kontinuum, letztendlich das Heil seiner Seele. Modernisierung dagegen heißt Verlust an auratischer Bedeutsamkeit, Entzauberung heißt der Verlust erlösender Rettung. Erst im Schweigen der Sphärenmusik Gottes vernimmt man die Dissonanzen der Wissenschaften. In ihren Resonanzräumen ist der Mensch müde geworden und träumt von einem wohltemperierten Leben. Neue Möglichkeiten des Wissens gibt es nur um den Preis unendlicher Enttäuschungen. Die Wissenschaften sind von dem paradoxen Wunsch besessen sich immer wieder durch das Neue, d.h. die Neutralisierung des Veralteten herausfordern und überholen zu lassen. 29 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I , Tübingen, 1988, S. 183 ebenda, S. 171 31 ebenda, S. 561 32 ebenda, S. 203 30 -7- M. Weber nimmt Abschied vom Ideal der faustischen Gelehrsamkeit zugunsten eines berufsspezifischen Fachmenschentums. Das ist der Tribut an die moderne Zeit. „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es sein.“33 Wir müssen uns entscheiden und das heißt, dass diese Entscheidungen nicht einfach zu treffen sind, weil sie niemals nur eine Wahl für etwas sind, sondern immer auch ein gegen etwas implizieren. Im entzauberten Polytheismus der unterschiedlichen Wertsphären ist der Kosmos in Fragmente zerfallen. Ausdifferenzierung nennt das die Systemtheorie. Das Schöne, Gute und Wahre brechen unwiederbringlich auseinander. Nach dem Verlust des Kultzentrums des einen Gottes, der die Einheit der Welt garantierte, ist es der Beliebigkeit des Einzelnen überantwortet, welchen neopaganen Göttern er jetzt huldigen will. Im Blick auf die Theorie von M. Weber hat sich die kritische Theorie der Frankfurter Schule in Stellung gebracht. Ihr Grundtext, die “Dialektik der Aufklärung“, formuliert im Kern den Umschlag von Aufklärung in Positivismus. „Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils..., Technik ist das Wesen dieses Wissens. Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital.“34 Th. W. Adorno und M. Horkheimer bestätigen vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Terrors M. Webers Thesen zur abendländischen Weltentzauberung. Das stahlharte Gehäuse der Wirklichkeit gerinnt zur geschlosssenen verwalteten Welt, Zweckrationalität wird interpretiert als instrumentelle Vernunft, und der Polytheismus der Wertreihen ist der Umschlag von Aufklärung in Mythos. Die Ambivalenz gegenüber Rationalisierungsprozessen, die bei M. Weber noch ins Blickfeld rückt, wird aufgehoben. Und nicht nur das. “Die Dialektik der Aufklärung“ kehrt auch Marxens positive Einschätzung der Entwicklung der Technik um. „Wissenschaft und Technik, für Marx ein unzweideutig emanzipatorisches Potential, werden selbst zum Medium gesellschaftlicher Repression.“35 Indem Th. W. Adorno und M. Horkheimer diese Ambivalenz des Rationalisierungsprozesses löschen, sind sie in der Lage, dessen Entzauberungpotential dialektisch umzudeuten. Die Entmythologisierung im Namen der Vernunft hatte Erfolg. Jetzt leben wir in einer vom Schein befreiten Welt. Der Prozess wurde historisch gewonnen, aber die Vorzeichen haben sich umgedreht. „Die Scheinlosigkeit ist das Strahlen des Unheils.“36 33 Max Weber, ebenda, S. 203 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. , 1969, S. 7 und 8 35 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. , 1981, S. 208 36 Norbert Bolz, Philosophie nach ihrem Ende, a. a. O. , S.73 34 -8- Jetzt ist alles verdreht, denn die Entzauberung webt selbst an ihrem undurchdringlichen Zauber. Dem entspricht die Inthronisierung einer neutralen Vernunft, die die Welt mit ihrem Koordinatennetz unentrinnbarer Zweckmäßigkeit bis in den letzten Winkel unseres Daseins erfasst. Vernunft erstarrt, wird indifferent gegen jeden Zweck und gerinnt zur modernen Schicksalsmacht. „Das hoffnungslose Wissen der Aufklärung ist die neue Geburt der Verblendung in der vom Schein befreiten Welt.“37 Seitdem leben wir im Strahlenglanz der entzauberten Welt, der uns an die Gefängnismauer einer sinnentleerten Ordnung schmiedet und dessen Licht eigentlich Finsternis ist. Und der Weg ist vorgezeichnet, denn er führt stetig in den Fortschritt unmenschlicher Erkenntnis. Wahrheit verkommt zum disponierenden Denken, zur rationalen Bändigung aller irrationalen Antriebe. Aus der „rationalen Temperierung des irrationalen Triebs“38 bei M. Weber wird die innermenschliche Naturbeherrschung bei Th. W. Adorno und M. Horkheimer. In ihr gibt sich das abstrakte Selbst seine identitätsstiftende Form. „Selbstbehauptung qua Selbstbeherrschung ist virtuell Selbstvernichtung.“39 Die Urgeschichte der Subjektivität ist in dieser Trinität verankert. Um ein Selbst zu werden, muss der Mensch den Zwang zur Entsagung am eigenen Leib praktizieren. Er entringt sich der Natur nur um den Preis des Lebens, das er rettet. Die innere Natur wird geopfert, weil die Opferung die Bedingung für die Beherrschung der äußeren Natur ist. Herrschaft ist Kontrolle und ihr Ziel ist die Entfaltung d.h. “die Beseitigung des Faltenreichen und die Herstellung einer rätsellosen, überwachbaren und von Schattenspielen befreiten Oberfläche.“40 Bürgerlichkeit – die Kultur des Einfältigen – ist nichts anderes als mythisch verstrickte Selbstbehauptung. Wir können die mit den Beschwörungsformeln der Dialektik entworfene Logik des Zerfalls anders lesen. Wenn die Welt alles ist, was der Fall ist, dann ist dieser Fall in theologischer Lesart der Sündenfall. In ihm überwintert die Verheißung auf Erlösung. Für den Melancholiker ist die Moderne die Katastrophe und die Leiderfahrung eine Art archimedischer Punkt. „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“41 Erst indem ein Punkt außerhalb der Geschichte, der ihren Sinn verbürgt, angenommen wird, kann das leidvolle Wesen der Geschichte sichtbar werden. In der Idee der Erlösung als Ende, als Eschaton, erschließt sich alles, was in der 37 Norbert Bolz, Entzauberung der Welt und Dialektik der Aufklärung, in: Hrsg. Peter Kemper, Macht des Mythos – Ohnmacht der Vernunft? ,Frankfurt a. M. , 1989, S. 231 38 Norbert Bolz, Philosophie nach ihrem Ende, a. a. O. , S. 117 39 Norbert Bolz, ebenda, S. 69 40 Hans-Dieter Bahr, Über den Umgang mit Maschinen, Tübingen, 1983, S. 16 41 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a. M. , 1987, S. 333 -9- Zeit entsteht und vergeht. Wenn die Zeit aber regiert, regiert auch der Tod. Die Ordnung der Welt ist dann dem Tod verfallen, dem, wie M. Heidegger es so treffend ausdrückt, “großen Vorbei“. Am Horizont der Ästhetik erscheint bei Th. W. Adorno jener Punkt, in dem der Tod nicht das letzte Wort hat. Am Ende der Entfremdung enthüllt sich die Allegorie der Auferstehung allerdings im Inkognito der Kunst. Apokalypse heißt eigentlich Enthüllung. In theologischer Auslegung ist immer an die Offenbarung einer anderen Zukunft gedacht, wenn von Apokalypse geredet wird. Dass dem die Zerstörung des irdischen Jammertals vorausgeht, wird nicht als dramatisch, sondern als befreiend empfunden. Die Apokalypse ist, wenn man so will, die Einheit der Differenz zweier Seiten: Zerstörung und Offenbarung. Sie ist die dem Eschaton entsprechende Bewegungsform. Wenn sich die Geschichte im Eschaton selbst übersteigt, so ist es die Apokalypse, die von diesem Grenzbereich kündet. Heute kann man sehen, dass die Bonisierung der Weltfremdheit durch Denunziation der Welt ein schlechter Traum von einer besseren Welt war. Being after beschreibt jenes Gefühl, das „die Hinterlassenschaften der Moderne als Denkmäler wahrnimmt,“42 und von den Projekten mit “Glückszwangsangebot“(N. Bolz) erlösen. Diese neue Zeit, etikettiert mit dem Label Post, ist aber kein neues epochales Projekt. „Nicht zu wissen, was kommt, erscheint als eigenster Reiz eines Lebens.“ Postmoderne, so N. Bolz, „ist das ironische Arrangement mit der Unmöglichkeit, die Zukunft zu imaginieren.“43 Wissenschaft enttäuscht, weil sie die überspannten Erwartungen nicht erfüllen kann. Sie ist nicht in der Lage, die unbeantwortbaren Fragen, auf die wir nicht verzichten können, in ihrem Rahmen zu beantworten. Die Antworten müssen immer wieder umbesetzt werden. Jede Zeit ist belastet mit der „Hypothek der vorgegebenen Fragen“ und steht unter „Antwortzwang.“44 Unveränderlich stehen, so H. Blumenberg, die unverzichtbaren Weltsätze im Raum, und die Realität der Geschichte hat ihre Evidenz in der jeweiligen Umbesetzung, die sich rhetorisch vollzieht. Postmoderne, Posthistoire, Zweite Moderne, - die Reihe ließe sich beliebig fortführen - , sind Sprachfiguren mit denen sich das Geschichtssubjekt semantisch zu konfigurieren sucht. Die Wissenschaft verstummt und nur die Philosophie spricht als Auswahl von Antworten über die Zonen des Spekulativen. „Als Rhetorik signalisiert die 42 Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit, Berlin, Heidelberg, New York, 1992, S. 78 Norbert Bolz, Die Zeit nach dem Ende der Geschichte, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie Heft 2, 1993, S. 82 44 Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit, a. a. O. , S. 75 und 347 43 - 10 - Philosophie Gewissheiten, auf die man nicht verzichten, die man aber auch nicht haben kann.“45 Sie ist die Agentur mit “Sinnlosigkeitsbeseitigungsanspruch“ (N. Luhmann). Wir haben gelernt, den Götterkampf der Wertreihen zum Wettkampf der Sprachspiele zu temperieren und die Geschichte als Alptraum selbst als Geschichte zu lesen, die die Moderne überholt hat. Postmoderne ist der variety pool vieler Geschichten und unterschiedlicher Zeitinseln. Nach F. Nietzsche hat der Mensch „eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen.“46 Für uns sind sie die Resultate einer schädlichen Welteindeutigkeit, die im Fallen ihren Betriebsmodus der monokularen Unterscheidung offenbart, die „aus der Gabe der Freiheit das Gift der Schuld machen musste.“47 3.) Umwege „Der Mensch begreift sich nur über das, was er nicht ist, hinweg.“48 Er ist nicht in der Lage, zu sich selbst oder zur Welt ein Verhältnis der Unmittelbarkeit zu installieren. In diesem Sinn ist er Anti-Physis, sprich künstlich. A. Gehlen spricht vom Mängelwesen Mensch, einem Wesen, dem Wesentliches mangelt und dessen Natur paradoxerweise darin besteht, keine zu haben. „Seine Konstitution ist potentiell metaphorisch.“49 Der Ausgangspunkt bildet die Frage, wie dieses Wesen trotz Instinktarmut, d.h. dem Mangel an spezifischen Dispositionen, zu existieren vermag. Die Antwort ist „indem es sich nicht unmittelbar mit dieser Wirklichkeit einlässt. Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem „metaphorisch“.50 In der Metapher offenbart sich dem Menschen seine Natur und die Rhetorik ist seine Anthropologie. Die Natur ist feindlich und darum muss der Mensch den Umweg über Vertretungen nehmen. „Das animal symbolicum beherrscht die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten lässt,“51 und bannt gleichzeitig den Schrecken, indem es ihm zum Ausdruck verhilft. Befallen sind die Menschen von „der Unheilbarkeit (ihrer) Anthropozentrik“52, aber lächelnd können sie sich eingestehen „man ist nicht wichtig, zugegeben; aber nichts ist wichtiger als man.“53 45 Norbert Bolz, Das Gesicht der Welt, in: Hrsg. Josef Kopperschmidt, Rhetorische Anthropologie, München, 2000, S. 93 46 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I und II, KSA 2, 1988, S. 131 47 Peter Sloterdijk, a. a. O. , S. 100 48 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, a. a. O. , S. 134 49 ebenda, S. 135 50 ebenda, S. 115 51 ebenda, S. 116 52 Hans Blumenberg, Die Vollzähligkeit der Sterne, a. a. O. , S. 503 53 Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a. M., 1989, S. 11 - 11 - O. Marquard hat den Grundgedanken von H. Blumenberg auf den Punkt gebracht, als er ihn als Entlastung vom Absoluten, als Arbeit an der Distanz kennzeichnete. Für die Aufklärung ist das natürlich ein Ärgernis, denn sie hat sich als das Bedürfnis inthronisiert, die Schleier der Geheimnisse zu lüften und als nackte Wahrheit dem Leben erst Grund verschaffen zu wollen. Wir Zaungäste allerdings wissen, dass die Fundierung der Wissenschaftswelt einen hohen Preis gefordert hat: den Verlust des auratischen Zaubers. Seitdem begleiten Metaphern die verschlungenen Pfade der Vernunft. Es geht nicht mehr um Klartext, sondern um Beobachtung. “Rhetorik aus Not“ vor der tödlichen Unmittelbarkeit, so F. Nietzsche, zwingt zu einem künstlich-formalen Spiel mit der Welt, das uns vor den großen Fragen entlastet. Wir bleiben auf Rhetorik angewiesen trotz der Forderung nach Klartext. Als Kunst des Indirekten ist sie Übertragung und kein Mittel der Repräsentation. Die Dinge entschwinden hinter einer ersetzenden Unterscheidung, die bezeichnet, indem sie auszeichnet. Deutlich erscheinen nicht die Dinge, sondern nur unsere Beziehungsmuster. In der modernen Welt der Kontingenz, in der was ist, auch anders möglich sein kann, weil sie keinen notwendigen Existenzgrund mehr hat, liefern Metaphern Kontingenzbewältigungsschemata. Sie bieten damit genau das, was wir in einer entzauberten Welt vermissen: den Zauber der Dichte, der Bedeutsamkeit und der Prägnanz. Metaphern geben unserer Weltinterpretation Außenhalt und es könnte, so H. Blumenberg, „der Sinn des Sinnverlustes sein, uns zu beschäftigen.“54 Öffnen sich die Scheren von Herkunft und Zukunft, von Lebenszeit und Weltzeit, tritt der Mensch aus seinen Traditionen heraus. Die Zukunft befreit sich von den Fesseln ihrer Herkunft und provoziert die Sinnfrage, „wir sind nicht mehr, was wir waren, und werden nicht mehr sein, was wir sind.“55 Die Schlüsselwörter unserer Zeit, Komplexität, Kontingenz und Intransparenz bieten keine Sicherheiten. Die Gesellschaft, so die Systemtheorie, kann nicht mehr als Einheit beobachtet werden, sondern nur noch im Modus der Differenz. Die Theorie schaltet neokybernetisch um auf Beobachtung zweiter Ordnung und beobachtet, was und wie andere beobachten und wird dabei von anderen beobachtet. Sie ist immer auch eine Beobachtung erster Ordnung, weil auch sie eine Unterscheidung benutzen muss. Aber sie beobachtet die andere Beobachtung. Sie unterscheidet Unterscheidungen, die der Beobachter erster Ordnung benützt und sieht deswegen auch in welcher Rahmung die Beobachtung ausgewählt wurde. Das erzeugt Kontingenz, den Blick auf ein 54 55 Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt a. M., 1988, S. 91 Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen, 1992, S. 15 - 12 - Auch - Anders - Möglichsein. Diese Freiheit einer polykontextural verfassten Gesellschaft verbaut jeden Weg zu einer ontologischen Weltbeobachtung. Das ist der nichttechnische Grund für die Sinnkrise. Darauf antwortet kompensatorisch die Welt des Individuellen. Mit den Mitteln der Beobachtung erster Ordnung versucht sie hinter der Artistik der Kosmetik die wahre Tiefe des Selbst auszuloten, als Suche nach Selbsterlösung. Die Individuen leiden zum einen daran, dass auch alles anders möglich wäre, am Universum der Optionen und zum anderen am Wegfall einer “Totalkonditionierung“ (A. Nassehi), am Fluch der schwachen Bindungen. Adressabilität bezeichnet seitdem „das Doppelproblem, dass auf der einen Seite die Kommunikation Adressen erzeugt, auf der anderen Seite psychische Systeme mit den Effekten von Adressenbildung auskommen, dass sie damit leben müssen und ihre eigenen Strukturen an eben diesem Problem entlangfädeln und ausprägen müssen.“56 Selbstkonditionierung wird damit radikal auf Selbstreferenz verwiesen, auf die Orientierung und Aufrechterhaltung von Individualität jenseits der Gesellschaft. Als Inklusion beschreibt N. Luhmann jenen Mechanismus, nach dem „im Kommunikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden.“57 Wie Kommunikation auf Menschen zugreift, d h. wie sie in verschiedenen Funktionszusammenhängen unterschiedlich als Personen thematisiert werden drückt sich in diesem Begriff aus. Um sinnvoll mit diesem Begriff zu beobachten, schlägt N. Luhmann vor, den Komplementärbegriff ins Auge zu fassen, um den Informationswert besser abschätzen zu können. „Inklusion bezeichnet dann die innere Seite der Form, deren äußere Seite Exklusion ist. Von Inklusion kann man also nur sprechen, wenn es Exklusion gibt.“58 Abseits der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Teilsystemen begründet sich Individualität. „Das Individuum kann nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden.“59 Individualität ist Exklusion. Sie ist aus der Gesellschaft ausgeschlossen und nur als Person nehme ich an Gesellschaft teil, wie gesagt als Adresse. Ausgeschlossen wie weiland Gott wird sie transzendent durch Exklusion. Die Kluft zwischen der Eigenwelt der Kommunikation und der Eigenwelt des Menschen ist nicht mehr zu überbrücken. Auf diese Spaltung antwortet kompensatorisch die Welt des Individuellen. „Gegen die Kontingenz der eigenen Existenz immunisiert uns die Selbstverwirklichung.“60 Wer sich selbst verwirklichen will, weigert sich diese 56 Peter Fuchs, Das seltsame Problem der Weltgesellschaft, Opladen, 1997, S. 115 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 6 ,a. a. O., S. 241 58 ebenda, S. 241 59 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3, Frankfurt a. M., 1989, S. 158 60 Norbert Bolz, Die Konformisten des Andersseins, München, 1999, S. 112 57 - 13 - Kontingenz anzuerkennen. Ich bin nicht, was ich bin – und die Gesellschaft hat das anzuerkennen. “Individualität ist Unzufriedenheit“ heißt es lapidar bei N. Luhmann. Wir leiden mehr an der eigenen Existenz, denn an Sinnverlust, denn Sinn ist formal betrachtet nur das Formkorsett für die Erlebnisverarbeitung jedes Einzelnen und erschließt sich in der Form dieser Verarbeitung. Doch in der Form des Sinns bleibt Sinn immer unbestimmt und inhaltsleer und verweist daher immer auf andere Möglichkeiten. Erst der „einstimmig – monotone Gesang vom Sinnverlust“61 erzeugt den Imperativ der Selbstverwirklichung. In ihm taucht die Sinnfrage als Problem des Ich-Seins immer wieder neu auf. Emphatischer Sinn sucht sich, in der Reise nach Sich-Selber. Er findet sich nicht im Funktionssinn der Systeme oder im passionierten Sinn für etwas. Sinn des Lebens meint mehr und dieses Mehr ist paradoxerweise ein Mangel, eine Suche nach der vermeindlich verlorengegangenen Einheit. Er hegt und pflegt einen Illegimitätsverdacht gegenüber dem eigenen Selbst. In der Metapher des Heils soll der Spalt geschlossen, die Unterschiede getilgt werden. Im Glanz der imaginierten Erlösung wird uns deutlich wie leidend wir wirklich sind. Das Heil entwirft das Glück als Entropie; alle Unterscheidungen sind verschwunden aber „die historische Desavouierung der großen Heilsversprechen hat das Thema nicht obsolet gemacht“62 so N. Bolz. Es wurde nur umbesetzt, und die Schauplätze haben gewechselt. Erst Gott, dann die Gesellschaft und jetzt das Individuum. “Kein Grund zur Resignation“ beinhaltet, dass unsere Kultur einen Themenkatalog bereitstellt, der uns nicht mehr verpflichtet, einer bestimmten Meinung zuzustimmen, sondern die Optionsvielfalt eröffnet. Unser Nein ist ein Nein, das zur Differenz von Lebenschancen beiträgt und kein Nein mit gnostischen Vorzeichen. Wir Zaungäste erkennen, dass wir aus krummen Holz geschnitzt sind und deshalb können wir nicht mehr die ganze Welt ablehnen. Wir operieren innerhalb eines Spektrums von Wahlmöglichkeiten und mussten lernen, dass die Aufgabe des Archimedes unlösbar geworden ist. Die heroischen Neinsager hatten jenen erhöhten Punkt außerhalb der Welt gefunden, von dem aus das große überblickende Nein formulierbar geworden ist, ohne selbst von der Negativität des Verblendungszusammenhangs infiziert zu sein. Das gelang nur durch virtuose Zauberkunststücke einer negativen Dialektik. Uns bleibt nur das simple Nein, das nur eine strukturell eingebaute Operation der Kommunikation ist. Aber wir können in einen spielerischen Umgang mit diesem Nein eintreten und Kommunikation steigern. Dabei ermöglicht das flottierende Spiel der Beobachtung die eigenen Sichtverlustnotwendigkeiten zu erfassen, die eigene 61 62 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a. a. O. , S. 362 Norbert Bolz, Willem van Reijen Hrsg. Heilsversprechen, München, 1998, S. 7 - 14 - Blindheit sichtbar zu machen. „Dies hat zur Folge, dass sich kein Standpunkt mehr festlegen lässt, von dem aus das Ganze, mag man es Staat oder Gesellschaft nennen, richtig beobachtet werden kann.“63 Kontingenz heißt dann nicht Mangel sondern Komplexitätsaufnahme, die Chance für die Kreativität anderer Möglichkeiten. 4.) Splitter Unsere vertraute Semantik ist zerbrochen und der Trost der Überschaubarkeit ist zerronnen. Die enttäuschende Erfahrung, dass Wissen unsere Unwissenheit erhöht, gehört, wie gesagt, zu den Insignien der Moderne. Das gilt in zunehmendem Maß auch für das Lernen. Weil Erfahrung im Sinne der Tradition nicht mehr genügt, wird das Lernen selbst ein Prozess ständigen Umlernens. Lernen muss auf Dauer gestellt werden, und was es zu lernen hat ist also sich selber. „Zu lernen ist die Dauerbereitschaft, Neuem durch Änderung von bereits gelernten Erwartungsmustern zu begegnen.“64 Gelernt werden muss also das Entlernen, das aktive Verlernen, die laufende Revision von Enttäuschungen. „Wissen und Lernen sind daher Gegensätze. Wo Wissen bewahrt wird, wird Lernen verhindert...Lernen zerstört Wissen, indem es verhindert, dass alte Unterscheidungen weiter vollzogen werden.“65 Wissen und Erfolg führen automatisch in die Lernbehinderung. Ohne Misserfolg - kein Lernbedarf. Sozialarbeit/Sozialpädagogik darf sich nicht als olympischer Trainingsstützpunkt missverstehen. Training, nach der “Ritter Sport“ Devise: quadratisch, praktisch, gut, macht aus den Menschen triviale - Input gleich Output - Maschinen, quasi behavioristische Stimulus – Response Homunkuli. Die Ausbildung nicht - trivialer Maschinen erfordert nicht die Orientierung an sozialen Routinen, sondern Problemsensibilität, nicht die Eindeutigkeit von Handlungsrichtlinien, sondern abgeklärtes Komplexitätsmanagment - das sich Einlassen auf offenen Fragen. Bildung wollte immer autonome, verantwortliche Menschen erziehen und d.h. Mut zur Selbstselektion. Wer dagegen hohe Fremdselektion akzeptiert und sich dadurch eine Zukunftssicherheit verspricht delegiert das Selektionsproblem an Dritte. Praxisnahe Ausbildung operiert mit der Sicherheit des Als - Ob. Denn die Pragmatiker sind, ich bitte um Verzeihung, lernbehindert, weil sie ihre Spezialignoranzen pflegen. Ihnen kann man nichts mehr vormachen, weil ihr Weltbild bereits das Ergebnis von Enttäuschungen ist. Hier reagieren dann nur noch die Sachzwänge; die Welt ist wie sie ist, ohne Punkt und Komma. 63 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, a. a. O. , S. 629 N. Luhmann, K. E. Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Frankfurt a. M. , 1988, S. 86 65 Fritz B. Simon, Die Kunst, nicht zu lernen, in: Hrsg. H. R. Fischer, Die Wirklichkeit des Konstruktivismus, Heidelberg, 1998, S. 363 64 - 15 - Soziale Arbeit scheint momentan in ihrer Ausrichtung auf wirtschaftliche Optimierbarkeit überlagert zu sein durch Motive der Wirtschaft. Es kommt, so scheint es, zu einer „Kopplung zwischen sozialer Arbeit und Wirtschaft“66 und das erzeugt so etwas wie Imitationseffekte in der sozialen Arbeit. P. Fuchs spricht davon, dass soziale Arbeit warenförmig werden könnte. Soziale Arbeit kann ihre Eigenständigkeit nicht im Schatten von Wissenschaft suchen, sondern sie muss sich begreifen als eine Art der Sichtung, als Reflexionsfunktion, als Spiel der Beobachtungen, das Alternativen konstruiert. „Sie könnte sich durch Entwicklungen in den Wissenschaften irritieren und stimulieren, nicht aber determinieren lassen.“67 Ihre Identität bestünde gerade „im Scheitern an der Aufgabe, den für sie verbindlichen Text selbst zu erzeugen.“68 Aber das ist ein Vorteil. Sie ist lernfähig, denn sie muss ihre „Komplexitätsunterlegenheit durch Lernen kompensieren.“69 Zu lernen wäre das Vermögen, mit Unsicherheit auf eine Art und Weise umzugehen, die diese in den Horizont unserer Möglichkeiten einarbeitet, ohne das Resultat mit tödlicher Sicherheit zu verwechseln. Für uns heißt das, die Zukunft nicht mehr als Ausdruck der Erwartung, sondern als Ausdruck der Überraschung zu begrüßen. Das ist kein Grund zur Resignation, sondern erfordert den Mut zur Gestaltung von Freiheit, erfordert “die heuristische Konstruktion von Alternativen.“70 66 Peter Fuchs, Systemtheorie und Soziale Arbeit, in: Systemtheorie Sozialer Arbeit, Opladen, 2000, S. 172 N. Luhmann, K. E. Schorr, a. a. O. ; S. 368 68 ebenda, S. 368 69 ebenda, S. 367 70 Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen, 2000, S. 109 67 - 16 -