Stichworte zur Entwicklung des internationalen Systems 1648-1990 Skript zur Vorlesung „Grundlagen der Internationalen Beziehungen“ im 2. Studienjahr des Bachelor-Studiengangs Politische Wissenschaft Univ.-Prof. Dr. Ralph Rotte Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen Oktober 2006 © Ralph Rotte, 2006 2 Inhalt 1. Einführung - 5 - 2. Prinzipien historischer internationaler Systeme - 8 - 3. Das Westfälische System nach 1648 - 10 - 4. Das Napoleonische System - 14 - 5. Das Restaurationssystem nach 1815 - 19 - 6. Das Bismarcksche System nach 1871 - 26 - 7. Das wilhelminisches System vor 1914 - 33 - 8. Das Versailler System - 43 - 9. Globale Rahmenbedingungen 1945-1990 - 51 - 10. NATO und Warschauer Pakt - 57 - 11. Europäische Integration - 67 - 12. Die Deutsche Frage - 78 - 13. Rüstungskontroll- und Entspannungspolitik - 83 - 14. Die Auflösung des Systems des Kalten Krieges - 88 - 15. Exemplarische (Überblicks-) Literatur - 96 - 3 4 1. Einführung 1.1 Ziele Χ Kenntnisse der historischen Entwicklung und der Probleme des internationalen Systems seit 1648 (Etablierung des „Westfälischen Systems“) Χ Schwerpunkte: Entwicklung des europäischen Systems (bis 1918 /1945 richtungsweisend für die Weltpolitik) und Perspektive der Sicherheitspolitik (typisches und vordringliches Perzeptionsmuster in Theorie und Praxis internationaler Politik bis zum Ende des Kalten Krieges) Χ Betonung der historischen Hintergründe: aktuelle Bezüge (z.B. Rolle historischer Erfahrungen bei gegenwärtigen Entscheidungen) und parallele Konstellationen (z.B. Globalisierung) Χ prinzipielle Übersicht über bleibende Probleme des internationalen Systems, Ansätze zu ihrer Lösung und Erfahrung mit den Ansätzen 1.2 Aufbau Χ Historische Sicherheitssysteme 1648 - 1945 Ende des Dreißigjährigen Krieges: Durchsetzung des Souveränitätsgedankens jenseits von „supranationalen“ Ideen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und des Papsttums („respublica christiana“) Staaten als zentrale Akteure der internationalen Politik Χ Kalter Krieg und Systemtransformation nach 1945 Χ Aktuelle Probleme einer neuen “Sicherheitsarchitektur” und Stabilität des Systems 1.3 Begriffe Χ Sicherheit = Abwesenheit oder Kontrolle (Schutz) vor Gefährdung autonomer Zukunftsgestaltung objektiv: Abwesenheit von Gefahr (z.B. TÜV) subjektiv: Abwesenheit von Gefahr oder Schutz davor (z.B. Deiche) subjektiv: Kombination im Hinblick auf wahrgenommenen politischen Gestaltungsspielraum Χ Verbindung mit Freiheit und Selbstbestimmung klassisch: Autarkie Relativierung von Selbstbestimmung mit wachsender internationaler Verflechtung (Globalisierung, europäische Integration) traditionell: Dominanz militärischer Sicherheit 5 - bei Reduzierung militärischer Bedrohung und wachsender Interdependenz Bedeutungszunahme anderer Komponenten: politische, ökonomische, ökologische Sicherheit Bedeutung subjektiver Perzeption: unterschiedliche Sicherheitspolitiken bei gleichen Gegebenheiten, daher notwendige Einbeziehung immaterieller Faktoren in die sicherheitspolitische Analyse Χ Rolle von Krieg und Frieden funktionierendes internationales System = i.d.R. Kriegsvermeidung = Friedenssicherung positiver und negativer Frieden: Befriedigung sozialer Bedürfnisse im internationalen Rahmen (allgemeine Rechtsordnung) vs. Abwesenheit von Krieg = Gewaltanwendung zwischen Staaten (völkerrechtlich) aber: Stabilität kann auch mit Gewalt funktionieren, ja auf Gewaltpotential beruhen: z.B. Definition von begrenzten Auseinandersetzungen als Nichtkrieg (Österreich - Osmanisches Reich; Indien - Pakistan) oder Abschreckungssystem Χ Machtbegriffe relationale Macht = Fähigkeit, andere gegen deren Willen zum Handeln im Interesse des Mächtigen zu zwingen, z.B. durch ökonomischen Druck und militärische Drohungen/Gewaltanwendung (vgl. Max Weber) strukturelle Macht = Fähigkeit, die Handlungsoptionen anderer so vorzuprägen, dass sie auch ohne Druck im Interesse des Mächtigen handeln, weil sie sich quasi automatisch auf dessen Bedürfnisse einstellen, z.B. aufgrund der dominanten Position in Wirtschaft, Finanzen, Technologie, Gesellschaft, Kultur (Wissenschaft, Popkultur), Ideologie (vgl. Susan Strange) „soft power“ = **** (vgl. Joseph Nye) 1.4 Zentrale Elemente historischer internationaler Systeme Χ Militärpotential/-technologie/-strategie/-taktik Fähigkeiten der Staaten und Planungen z.B. eskalationsfördernde Wirkung von Offensivstrategie (vgl. Julikrise 1914) Χ internationale Konstellation Bündnisse internationale Organisationen Χ Ökonomie und Demographie internationale Verflechtung und Kriegskosten (Argument des “Liberalen Friedens”) Verteilungsfragen (Ressourcen) Verbindung zu Konfliktpotentialen 6 Χ Geographie und Umwelt Umweltbedingungen und Konfliktursachen (z.B. Wasser) “Lebensraum” Χ Ideologie/Kultur/politisches System Einfluß auf Einschätzung von Absichten und Konfliktkosten Argument des “Demokratischen Friedens” kulturell und ideologisch bedingte PerzeptionsNormenunterschiede (vgl. “Clash of Civilizations”-Argument) und Χ Sicherheit i.w.S. als zentrales Thema der Internationalen Beziehungen und der Außenpolitik 1.5 Europabezug Χ 1648 - 1918/1945: europäisches System als Weltsystem Kolonialismus, Imperialismus, Kultur, Wirtschaft, Militär Aufstieg europäisierter Staaten bis 1918: USA, Japan Abschwächung der Weltdominanz nach dem Ersten Weltkrieg Χ 1945-89: europäisches System als Spiegelbild des Weltsystems Entkolonisierung und bipolares System (USA, UdSSR) Verlust europäischer Hegemonie, aber zentraler Schauplatz des OstWest-Konfliktes Χ seit 1990: Europa als Region unter anderen Ende der Supermächte und der Blockkonfrontation Auftreten neuer Mächte (China) Europa als Weltregion mit besonders fortschrittlichen und stabilen Sicherheitsstrukturen tw. Renaissance von historischen Problemen und Strukturen 1.6 Schwerpunkte Χ 19./20. Jh., insbesondere Jahrhundertwende Χ Periode mit den größten strukturellen Ähnlichkeiten zu heute Handels- und Finanzverflechtung transnationaler Austausch Idee der Konkurrenz von Volkswirtschaften (“internationale Wettbewerbsfähigkeit”) Idee eines “Kampfes der Kulturen” Abwesenheit umfassender Ideologien wie 1918-89, jedoch gleichzeitig große Unterschiede in immaterieller Hinsicht (Nationalismus) 7 2. Prinzipien historischer internationaler Systeme 2.1 Zentrale Akteure Χ souveräne Staaten Vertreter organisierter Gesellschaften nach außen Regierungshandeln als Folge interner Entscheidungsprozesse (z.B. Verfassung, Interessengruppen) Einbettung in internationale Strukturen und transnationale Verflechtung Χ völkerrechtliche Elemente Staatsgebiet Staatsvolk Staatsgewalt Χ Wechselwirkung zwischen Staaten und internationaler Struktur staatliches Verhalten als Ursache internationaler Struktur internationale Struktur als Rahmen und Determinante staatlichen Verhaltens Staat zugleich als Subjekt und Objekt internationaler Politik Χ transnationale Beziehungen = grenzüberschreitende Beziehungen nichtstaatlicher Akteure (Wirtschaft, Interessengruppen, Kommunikation etc.) Χ internationale Beziehungen = i.e.S. Beziehungen zwischen Staaten (Regierungen) und staatlichen Organen; i.w.S. alle grenzüberschreitenden, politisch relevanten Beziehungen 2.2 Idealtypische Konstellationen Χ Gleichgewicht Vermeidung eines Übergewichts eines Staates oder einer Staatengruppe prinzipielle Gleichverteilung der Macht, evtl. durch Bündnisse Zusammenschluss gegen potentielle Vormacht, auch in wechselnden Allianzen (z.B. Großbritannien im 18. und 19. Jh.) Χ Hegemonie: Vorherrschaft einer Macht durch i.e.L. militärische und ökonomische Mittel Resultat eines Scheiterns der Gleichgewichtsidee (z.B. Frankreich 1807-12, Deutschland 1940-43) Χ Integration: Aufgabe der wechselnden Allianzen Vermeidung von Hegemonie durch organisierten Zusammenschluß 8 - Souveränitätsverzicht und institutionelle Verankerung (inter- und supranationale Organisationen) Idee der Nachkriegsordnungen nach 1918 und insbesondere nach 1945 2.3 Interaktionen und Zwischensysteme Χ Gleichgewicht - Hegemonie Umschlag durch Krieg oder Bündnisse bei saturierter Hegemonialmacht Garantie des europäischen Gleichgewichts (z.B. Großbritannien im 19. Jh., tw. Deutschland unter Bismarck) Χ Gleichgewicht - Integration kollektives Sicherheitssystem, z.B. Vereinte Nationen völkerrechtlich: Übereinkommen einer Gruppe von Staaten zur gemeinsamen Verteidigung gegen einen Aggressor aus der eigenen Mitte vgl. kollektive Verteidigung: Übereinkommen zur gemeinsamen Verteidigung gegen Aggression durch Dritte Gleichgewichtsgedanke als Element der Organisation von Integrationssystemen (vgl. EGKS, EWG, EU) Χ Hegemonie - Integration Integrationsförderung und Stabilisierung durch Hegemonialmacht, z.B. Förderung europäischer Integration durch USA nach 1945 Integration als Machtinstrument des Hegemons, z.B. geplante Wirtschaftsintegration Mitteleuropas unter Herrschaft Deutschlands 1914-18 Χ Bedeutung des Krieges insbesondere bei Gleichgewichts- und Hegemonialsystemen zentrale Rolle von militärischer und ökonomischer Macht und Krieg (Kriegsdrohung) zur Stabilisierung des Systems Ziel des Integrationssystems: Überholung des Krieges als politisches Mittel weiterhin bestehende Souveränität der Staaten und völkerrechtliche Bindung inter- und supranationaler Organisation an das Völkerrechtssubjekt Staat: bleibende Bedeutung militärischer Macht als Rückversicherung (ultima ratio) 9 3. Das Westfälische System nach 1648 3.1 Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges Χ Auseinandersetzung um Macht im Reich: Kaiser gegen Fürsten Χ Protestanten gegen Katholiken (vgl. Religionsfrieden) Χ Involvierung der europäischen Mächte Χ überkonfessionelle Allianzen: Machtkrieg Χ Konstellation: protestantische deutsche Fürsten (Union) + Frankreich + Schweden + Niederlande + Großbritannien + Dänemark gegen Österreich + Spanien + katholische deutsche Fürsten (Liga, inbes. Bayern) 3.2 Frieden von Münster und Osnabrück 1648 Χ erste umfassende europäische Friedensordnung (Kongress) Χ Durchsetzung des Souveränitätsgedankens (Grotius) National-) Staaten als Hauptakteure des Systems; Nichteinmischung Rückgang der Bedeutung umfassender Organisationen (Reich, Kirche) Beendigung der Konfessionskriege zugunsten des Machtgedankens Überholung des mittelalerlichen Begriffes der Christenheit als politische Einheit Ende der äußeren Macht der Kirche: keine Beteiligung an europäischen Friedensschlüssen oder Schiedsrichterrolle mehr, nurmehr (teilweise) Vermittlung Entmachtung des Kaisers; Zersplitterung des Reichs in Partikularsouveränitäten Χ Unabhängigkeit der Niederlande und der Schweiz: Gleichberechtigung von Republiken mit Monarchien Χ Zurückdrängung der spanischen Weltmacht (vgl. Armada 1588); Konkurrenz von Niederlande und Großbritannien als See- und Handelsmächte Χ Verzicht auf gegenseitige Reparationsansprüche und Revanchismus Χ Einfluss ausländischer Mächte auf das Deutsche Reich Schweden über Personalunion im Reich Frankreich als Garantiemacht der neuen Reichsverfassung später Großbritannien über Personalunion im Reich (1714) Χ Gebietsgewinne Frankreich: Elsaß, Teile des Breisgaus, Rheingrenze 10 - Schweden: Ostseeraum 3.3 Ergänzungen Χ Pyrenäenfrieden 1659 (Spanien mit Frankreich) Ende der spanischen Großmachtrolle in Europa spanische Niederlande an Frankreich Χ Friede von Olivia 1660 (Polen + Brandenburg + Österreich mit Schweden) Entmachtung Polens erstes (militärisches) Auftreten Brandenburgs Garantiemacht Frankreich Χ Türkenkriege externe Bindung Österreichs Bündnis Frankreich - Osmanisches Reich 3.4 Rahmenbedingungen Χ ökonomisch: Bedeutungszunahme des Handels und Fernhandels: Niederlande und Großbritannien Kapitalakkumulation durch Handelsmonopole und Geldgeschäfte (Niederlande) Merkantilismus (Frankreich): Exportförderung, Importbeschränkung, Geld als staatliche Machtbasis Zufuhr von Silber und Gold aus Übersee: monetäre Expansion, damit Inflation und Wirtschaftswachstum Intensivierung der Landwirtschaft; Manufakturfertigung (Produktionssteigerung) Χ gesellschaftlich-politisch: demographisches Wachstum und Verstädterung Absolutismus (Bodin): Macht- und Realpolitik ohne politische oder ethische Beschränkung außerhalb der Persönlichkeit des Herrschers (vgl. Machiavelli) Zentralisierung der politischen Organisation (Bürokratie) Kolonialismus: Niederlande, Großbritannien, Frankreich (Staatsnachfrage, Handel) Χ militärisch: Durchsetzung von Artillerie und Feuerwaffen für die Infanterie Ablösung von Landsknechttaktik (Gewalthaufen, Karree) zugunsten der Lineartaktik (besonders negativ für Spanien und die Schweiz) Notwendigkeit einer Rüstungsindustrie zur Versorgung (Staatsnachfrage) stehende Heere statt saisonaler Rekrutierung: verbesserte Ausbildung (Disziplin, Drill) und Organisation 11 3.5 Resultierende Strukturen Χ Großmächte als zentrale Akteure Frankreich als kontinentale Vormacht Niederlande und Großbritannien als konkurrierende Gegenmächte zur See Schweden als militärische Großmacht Österreich als europäischer Puffer gegen das Osmanische Reich Χ andere Mächte Spanien (Kolonien, Gold und Silber) Bayern (zentraler Reichsstaat neben Österreich) Brandenburg, später Preußen (aufstrebende Militärmacht, bald zweitstärkstes Land im Reich) Russland (modernisierender Staat, wachsende Nutzung des bestehenden Potentials durch Peter d.Gr.) Χ Prinzipien wechselnde Allianzen Konkurrenz unter den Staaten (Entwicklung der Diplomatie) Nichteinmischung in innere Angelegenheiten (aber: Erbfolge) Allianzbildung gegen potentielle Hegemonialmacht; Krieg als Mittel der Politik Gleichgewichtsgedanke, insbesondere bei Seemächten Niederlande und Großbritannien territoriale und personelle Beschränkung des Krieges (vgl. aber z.B. Erschöpfung Preußens im Siebenjährigen Krieg) Kompromiss- und Friedensbereitschaft (wechselnde Konstellationen und potentielle Verbündete) Entscheidung der Regierungen ohne Einfluss der Völker (Absolutismus, Kabinettskriege) Abrundung des Systems durch territoriale Kompromisse (vgl. spätere Teilungen Polens 1772, 1793, 1795) 3.6 Entwicklung des Systems Χ Eindämmung französischer Hegemonialbestrebungen Ludwigs XIV. Krieg um Holland und den Oberrhein (Réunion) 1672-79: Großbritannien + Frankreich + Schweden gegen Niederlande + Reich + Österreich + Brandenburg Pfälzischer Krieg 1688-97: Frankreich + Schweden gegen Niederlande + Spanien + Reich + Österreich + Großbritannien Spanischer Erbfolgekrieg 1701-14: Frankreich + Bayern gegen Niederlande + Großbritannien + Österreich + Preußen (Rangerhöhung 1701) “Barrierevertrag” 1715 (Österreich + Großbritannien + Niederlande): spanische Niederlande an den Kaiser, gemeinsames stehendes Heer 12 von 30-40.000 Mann in Pufferstaat gegen Frankreich (vgl. spätere Rolle Belgiens) Χ Ablösung Schwedens durch Russland Nordischer Krieg Karls XII. 1700-21: Schweden gegen Dänemark + Polen/Sachsen (Personalunion) + Russland Schweden verliert Gebiete außerhalb Skandinaviens Russland erhält Teile des Baltikums und Finnlands (Ostseemacht) Beginn der russischen Expansion nach Zentralasien und gegen Osmanisches Reich Χ Österreich als europäische Großmacht Erfolge gegen die Türken; Expansion auf dem Balkan (Ungarn) Entstehung des Dualismus Preußen-Österreich Behauptung als Großmacht unter Maria Theresia im Österreichischen Erbfolgekrieg 1740-48 (Preußen + Frankreich + Spanien + Sachsen + Bayern gegen Österreich + Großbritannien) Χ Aufstieg Preußens Friedrich Wilhelm I.: Staatsorganisation, Finanzen, Aufrüstung Friedrich II.: preußische Expansion und Großmachtstatus (Schlesische Kriege 1740-42 und 1744-45) Behauptung des Großmachtstatus im Siebenjährigen Krieg 1756-63: Preußen + Großbritannien gegen Österreich + Frankreich + Rußland (“1. Weltkrieg”) Χ Aufstieg Großbritanniens zur europäischen Vormacht Durchsetzung zur See gegen die Niederlande Durchsetzung gegen Frankreich in Übersee (Indien, Nordamerika; damit weltweite Bedeutung der europäischen Konstellation) Interesse am Gleichgewicht in Europa zur Sicherung und Expansion in Übersee Rückschlag in Übersee durch amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775-83), zusätzliche geringfügige Gebietsverluste in der Karibik und in Afrika; gleichzeitig aber generelle Behauptung der Position in Europa 13 4. Das Napoleonische System 4.1 Ursachen und Verlauf der Französischen Revolution Χ Verfall des Ancien Régime Prestigeverlust des Königs und außenpolitische Mißerfolge Aufstieg des Bürgertums mit wirtschaftlicher Entwicklung Privilegien des Adels Auflösung der zentralen Bürokratie Auseinandersetzung zwischen Krone und ständischen Gerichtshöfen (Parlamenten) Entstehung eines städtischen Industrieproletariats (Auflösung des Handwerks durch Manufakturwesen) wachsende Schicht besitzloser Landarbeiter durch Feudalisierung des Grundbesitzes wachsendes Staatsdefizit durch Kriege und Hofhaltung bei gleichzeitiger faktischer Steuerbefreiung von Adel und Klerus wachsende Opposition durch Gedankengut der Aufklärung (Freiheitsund Gleichheitsidee, getragen von Oberschicht und Bürgertum und gefördert durch Erfolg der Amerikanischen Revolution) Hungersnöte (Missernten) und Industriekrisen (englische Konkurrenz) Scheitern von Finanzreformen (Freigabe der Getreidepreise, Beseitigung von Feudalrechten, Einführung einer allgemeinen Grundsteuer, Deckung der Kriegsdefizite durch öffentliche Anleihen) an Arbeiterrevolten, Widerstand des Adels und des Hofes; Staatsbankrott 1788 Χ Erste Phase der Revolution (1789-91) Einberufung der Generalstände zur Steuerreform Bildung der Nationalversammlung durch den Dritten Stand (Bürgertum) Abschaffung der Feudalordnung und Bauernbefreiung Erklärung der Menschenrechte Verstaatlichung der Kirchen-, Kron- und Emigrantengüter gegen Ausgabe von Papiergeld (Inflation) Zivilverfassung für den Klerus, teilweise Enteignung der Kirche neue Verfassung (konstitutionelle Monarchie, Zensuswahl, Beamtenwahl, Departementgliederung) Χ Konventsherrschaft (1791-93) Parteienkämpfe in der Nationalversammlung Kriegserklärung an Österreich Wahl eines Nationalkonvents; Machtübernahme durch Girondisten Absetzung des Königs; Erklärung der Republik; Todesstrafe für Ludwig XVI. Staatsnotstand: militärische Niederlagen, Hungersnot, Inflation, royalistische Bauernaufstände 14 Χ Terrorherrschaft (1793-94) Machtübernahme durch Jakobiner; Diktatur Wohlsfahrtsausschusses (Robespierre) Justizterror und Säuberungen durch Revolutionstribunal Ausrottungskrieg in Vendée und Bretagne gegen Oppositionelle Abschaffung des Christentums (stattdessen Zivilreligion) Sturz Robespierres Χ Direktoriumsherrschaft (1795-99) neue Verfassung mit schwacher Exekutive Schwäche des Direktoriums gegen Aufstände von rechts und links Staatsstreich durch Barras 1797 4.2 Reaktionen der europäischen Mächte Χ zunächst Geringschätzung des neuen Regimes Χ Preußen und Österreich: unkoordinierte Gegenmaßnahmen ab 1792 (Kanonade von Valmy) Konzentration auf Konkurrenz bei Teilung Polens Χ Großbritannien: Intervention 1793 Kolonialdualismus mit Frankreich Bedrohung des europäischen Gleichgewichts französischer Bedrohung der Rheinmündung (strategische Gefährdung der britischen Inseln) praktisch ununterbrochener Krieg mit Frankreich bis 1815 4.3 Behauptung und Expansion Frankreichs Χ Erster Koalitionskrieg (1792-97) Frankreich + Spanien (ab 1796) gegen Preußen + Österreich + Niederlande + Großbritannien + Spanien (bis 1795) + Portugal + Reich + Kirchenstaat + Neapel französische Anfangserfolge 1792, dann Rückschläge 1793 Neuorganisation des Heeres (levée en masse, politische Kommissare, Tirailleur- und Kolonnentaktik) französische Erfolge ab 1793 in Belgien, Holland und Italien Sonderfrieden von Basel 1795: Verzicht Preußens auf linkes Rheinufer für rechtsrheinische Kompensation; Neutralisierung Norddeutschlands bis 1806 Frieden von Campo Formio 1797 (Österreich - Frankreich): Abtretung des linken Rheinufers an Frankreich; Österreich verliert Belgien und Mailand und gewinnt Venedig; System von Tochterrepubliken Frankreichs: Niederlande, Mailand, Genua, Schweiz, Rom, Neapel Scheitern von Napoleons Ägyptenfeldzug an britischer Seemacht 1798/99 15 des Χ Zweiter Koalitionskrieg (1799-1802) Großbritannien + Österreich + Russland + Portugal + Osmanisches Reich gegen Frankreich Bestätigung des Friedens von Campo Formio Isolierung Großbritanniens, das seine Seeherrschaft durch Angriff auf die Nordische Koalition zum Schutz des neutralen Handels (Dänemark + Schweden + Russland + Preußen) 1801 sichert Verzicht Großbritanniens auf überseeische Eroberungen im Frieden von Amiens (1802) Χ Dritter Koalitionskrieg (1805) Großbritannien + Österreich + Russland + Schweden gegen Frankreich + Bayern + Baden + Württemberg Sicherung der britischen Seeherrschaft (Trafalgar) Österreich verliert Oberitalien und Westösterreich und gewinnt Salzburg; Bayern und Württemberg werden Königreiche; Bayern gewinnt Tirol und Vorarlberg Χ Vierter Koalitionskrieg (1806-7) Preußen + Russland gegen Frankreich völliger Kollaps Preußens (Jena und Auerstedt) Rettung der preußischen Staatlichkeit durch Intervention Russlands (Frieden von Tilsit 1807) Χ Fünfter Koalitionskrieg (1809) Großbritannien + Österreich gegen Frankreich Scheitern der österreichischen Erhebung Einbindung Österreichs und Preußens Hegemonialsystem in französisches 4.4 Konsulat und Empire Χ Staatstreich Napoleons 1799 Χ Konsulatsverfassung Napoleon als Erster Konsul auf 10 Jahre (später auf Lebenszeit) alleinige Gesetzesinitiative Ernennung aller Beamten Bestätigung der faktischen Militärdiktatur durch Plebiszit Χ Reformen Berufsbeamtentum (Spezialisten) Öffnung aller staatlichen Laufbahnen zentralisiertes staatliches Schulwesen Verwaltungszentralismus Stabilisierung der Wirtschaft durch Inflationsbekämpfung (Zentralbank), Schutzzölle, Staatsaufträge Code Civil 16 - Wehrpflicht Kriegführung: operative Geschwindigkeit durch Vermeidung langer Nachschubwege (Requirierung statt Magazine), Artilleriekonzentration, Divisions- und Korpsgliederung, Schocktaktik (Masse und Kolonne) Χ Kaiserreich ab 1804 Titelerhöhungen regimetreuer Neuadel 4.5 Das französische Hegemonialsystem in Europa Χ Auflösung des Deutschen Reiches Reichsdeputationshauptschluss 1803 (Säkularisierung und Aufteilung der Kirchengebiete und Reichsstädte) Mediatisierung 1804 (Aufhebung der Reichsunmittelbarkeit von Reichsritterschaften) Rangerhöhungen 1805/6 (z.B. Königreich Bayern) Rheinbund unter französischem Protektorat 1806 Verzicht des Kaisers von Österreich (seit 1804) auf Kaiserkrone des Reiches (1806) Χ Staatensystem ab 1807 napoleonische Familienstaaten (z.B. Holland, Westfalen, Spanien) abhängige Vasallenstaaten (z.B. Rheinbund, Schweiz) Verbündete (z.B. Österreich, Preußen) Χ Aufteilung Europas in französische und russische Interessensphäre (1807) russische Gewinne auf dem Balkan gegen das Osmanische Reich und im Norden (Finnland) Grenze der Interessenräume: Njemen Χ Kontinentalsperre gegen Großbritannien seit 1806 (einschließlich Rußlands und Skandinaviens) Χ militärische Besetzungen Portugal 1807 Rom 1808 Norddeutschland 1810 Χ Erfassung aller deutscher Staaten außer Preußen und Österreich im Rheinbund bis 1812 4.6 Nationale Reformen Χ durch Ideen der Revolution und Fremdherrschaft Verbreitung liberaler Ideen und Entstehung von Nationalismus 17 Χ Preußen seit 1808 Bauernbefreiung kommunale Selbstverwaltung Verwaltungsreformen Heeresreform (Taktik, rotierende Kurzausbildung und Reservenaufbau, Privilegienabbau, Offiziersausbildung) Bildungsreform (Universität, Gymnasien) Χ Österreich Nationalitätenprobleme Heeresreform (Wehrpflicht ab 1808) Χ Rheinbundstaaten französisches Vorbild, insbesondere in Bayern und Baden einheitliche Bürokratie Grundfreiheiten (Gewerbe, Religion) Rechtsgleichheit staatliche Kirchen- und Schulaufsicht 4.7 Kollaps des Systems Χ nationale Erhebung in Spanien seit 1808 Guerillakrieg und Terrormethoden Unterstützung durch britische Berufsarmee Χ Russlandfeldzug Napoleons 1812 Anlass: Aufgabe der Kontinentalsperre durch Russland, territoriale Differenzen Frankreich + Preußen + Österreich + Rheinbund gegen Russland + Schweden militärische Katastrophe der Grande Armée Χ Befreiungskriege 1813/14 Erhebung Preußens 1813 Beitritt Österreichs und Großbritanniens zur Koalition Völkerschlacht bei Leipzig 1813 Auflösung des Rheinbundes und des Satellitenstaatensystems Abdankung Napoleons 1814 Erster Pariser Frieden (Frankreich in den Grenzen von 1792) Χ Hundert Tage Napoleons 1815 militärisches Scheitern (Waterloo) innenpolitischer Widerstand und zweite Abdankung Napoleons Zweiter Pariser Frieden (kleinere Gebietsverluste Frankreichs; Reparationen; temporäre Besatzung von Festungen) 18 5. Das Restaurationssystem nach 1815 5.1 Bestimmungen des Wiener Kongresses Χ Frankreich Gebietsstand von 1792 zusätzliche Eindämmung durch Pufferstaaten (Schweden mit Norwegen, Vereinigte Niederlande, Sardinien-Piemont mit Savoyen) Χ Österreich Verlust der spanischen Niederlande Gebietsgewinne in Galizien, Oberitalien und Dalmatien Dominanz über Italien Vielvölkerstaat über Deutschland hinaus Χ Preußen Gewinn der Rheinprovinzen, Westfalens und von Teilen Sachsens verstärktes Gewicht in Deutschland unmittelbare Gegenmacht zu Frankreich (“Wacht am Rhein”) Χ Großbritannien Gewinn bzw. Wiederherstellung von Hannover, Malta, Ceylon, Kapkolonie und Helgoland Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts unbestrittene Seeherrschaft Χ Russland Gewinn von “Kongresspolen” (mit eigener Verfassung) Aufstieg zur führenden Kontinentalmacht Χ Deutschland Fehlen starker Reichsgewalt (preußisch-österreichischer Dualismus, Fürstensouveränität) Bestätigung der Säkularisierung; Verzicht auf Wiederherstellung der Ordnung vor 1792 Deutscher Bund mit 39 Mitgliedern, einschl. Hannover (brit.), Holstein (dän.) und Luxemburg (niederl.) konföderative Strukturen (Bundestag der Regierungsgesandten und Bundesversammlung der Fürsten) mit gemeinsamem Bundesheer; Führung Österreichs 5.2 Grundprinzipien des Systems Χ Grundsätze des Wiener Kongresses: Restauration: Wiederherstellung des Zustandes von 1792 Legitimität: politischer Anspruch der Regierenden von 1792 (Ancien Régime) 19 - Solidarität: gemeinsames Handeln der Mächte zur Stabilisierung des Systems Χ Europäisches Gleichgewicht fünf Großmächte: Frankreich, Großbritannien, Österreich, Preußen, Russland (Pentarchie) Zurückhaltung und Vertragstreue der Mächte auch bei Interessendivergenzen Verzicht auf bzw. gemeinsame Eindämmung von einseitigem Machtzuwachs einer Großmacht Χ Konzert der Mächte Vertrag von Chaumont 1814 (Großbritannien + Rußland + Österreich + Preußen): Verpflichtung zur dauerhaften Ausgestaltung des Bündnisses auch nach dem Sieg über Napoleon Abstimmung zwischen den Fünf Mächten gemeinsames Handeln zur Wahrung der Stabilität Ausgleich durch Verhandlungen und Kompromisse bei Interessenunterschieden Χ “Heilige Allianz” Zusammenschluss von Österreich, Preußen und Rußland 1815 (Beitritt Frankreichs 1818) Ziel der Aufrechterhaltung von Monarchie und Gottesgnadentum gegen nationale und liberale Bewegungen in Europa (Interventionismus) 5.3 Rahmenbedingungen Χ ökonomisch Industrialisierung: seit zweiter Hälfte des 18. Jh.s in England, seit Anfang/Mitte des 19. Jh.s verstärkt auch in Kontinentaleuropa; Investition von Privatkapital; liberale Wirtschaftsauffassung; technischer Fortschritt; Mechanisierung der Arbeit; Entstehung des Fabriksystems mit Unternehmer und Proletarier (Schwerindustrie) Protektionismus und Freihandel: Getreideschutzzölle in England 1815; Abschaffung 1846; allmähliche Durchsetzung des Freihandelsgedankens in Europa wirtschaftliche Integration: Deutscher Zollverein (1834); Entwicklung eines Weltmarktes zunehmende Bedeutung von transnationalen Kapitalströmen und Finanzinvestitionen (Aktiengesellschaften) gravierende Wirtschaftskrisen nach 1815, 1845-47 („Great Famine“ in Irland, Radikalisierung des Proletariats in Frankreich), 1857 (erste „Weltwirtschaftskrise“, ausgehend von Überproduktion in den USA) 20 Χ gesellschaftlich-politisch demographisches Wachstum (Verdoppelung der europäischen Bevölkerung zwischen 1800 und 1900 auf ca. 400 Mio); Verstädterung und Landflucht Soziale Frage; Anfänge der staatlichen Sozialpolitik in Frankreich, Großbritannien und Preußen (Beschränkungen der Kinder- und Frauenarbeit) politische Ideologien: Konservatismus, Liberalismus, nationale Bewegung, demokratische Bewegung, Sozialismus, Anarchismus Restauration und Reaktion: Unterdrückung antikonservativer Strömungen durch Polizeistaat und Repression in Österreich, Russland und Preußen Entscheidungsfreiheit der Regierungen: begrenzter Einfluss der öffentlichen Meinung, der Rüstungslobby und des Militärs Χ militärisch Waffentechnologie: gezogener Lauf und Hinterlader für Infanterie- und Artilleriewaffen; Schiffspanzerung Logistik: Eisenbahnwesen, Dampfschiffe; damit umfassendere Versorgungsmöglichkeiten (quantitativ und räumlich) zunehmende taktische Auflockerung; wachsende Feuerkraft und Beweglichkeit zunehmende Bedeutung von Generalstabsarbeit 5.4 Bewährung des Systems bis 1848 Χ Interventionen in Süd- und Osteuropa österreichische Intervention in Italien 1821: Unterdrückung nationaler Erhebung französische Intervention in Spanien 1823: Wiederherstellung der konservativen Monarchie (gegen Willen Großbritanniens) österreichische Intervention in Italien 1831: Unterdrückung von liberalen und nationalen Aufständen österreichische Intervention in Polen 1846 (Krakau): Unterdrückung nationaler Erhebung französische Intervention im Kirchenstaat 1849: Frankreich als Schutzmacht des Papstes Χ Unterstützung des griechischen Freiheitskampfes griechischer Nationalaufstand gegen die Türken seit 1821 Unterstützung griechischer Autonomie durch Russland, Großbritannien und Frankreich im Londoner Vertrag von 1827 (gegen Willen Österreichs) russisch-britisch-französische „humanitäre Intervention“ 1827 Frieden von Adrianopel 1829 (Russland - Osmanisches Reich): Russland als Schutzmacht der Griechen; Abtretung der Donaumündung an Russland 21 - Anerkennung der griechischen Unabhängigkeit durch die Londoner Konferenz 1830 Χ Lösung der Belgienfrage Unabhängigkeitsbestrebungen der südlichen Niederlande seit 1815 Aufstand und Unabhängigkeit 1830 Londoner Protokoll 1831: Anerkennung der Selbständigkeit und ewige Neutralität Intervention Frankreichs gegen niederländischen Angriff 1831-32 Anerkennung Belgiens durch Holland im Londoner Vertrag 1839 Χ Intervention gegen die Revolution 1849 Intervention Russlands in Ungarn Intervention Preußens in Baden Χ Unterdrückung des polnischen Freiheitskampfes faktische Akzeptanz des russischen Vorgehens gegen Aufstände 1830-32 Annexion Krakaus durch Österreich 1846 preußisch-russische Kooperation gegen polnischen Aufstand 1863 (europaweite Proteste) Χ Geplante Intervention in der Schweiz 1847 Sonderbundskrieg: konservative Kantone gegen liberale Kantone um Umwandlung der Schweiz von einer Konföderation in einen Bundesstaat Intervention der Garantiemächte der immerwährenden Neutralität von 1815 unterbleibt durch Verzögerungstaktik Großbritanniens und schnellen Sieg der föderalen Kräfte 5.5 Strukturelle Probleme Χ Rolle des Konzerts der Mächte britische Auffassung: keine Einmischung in innere Angelegenheiten (positiv gegenüber liberalen Revolutionen) Auffassung der Heiligen Allianz: Intervention zur Aufrechterhaltung der traditionellen inneren Ordnung Konsequenz: Beschränkung der britischen Teilnahme am institutionalisierten Konzert der Mächte seit 1820, aber weiterhin Engagement zur Krisenbewältigung und Gleichgewichtswahrung Χ Weltanschauliche Gegensätze liberaler “Westblock”: Großbritannien, Frankreich konservativer “Ostblock”: Russland, Österreich, Preußen Konsequenz: Schwächung (jedoch nicht Aufhebung) übergreifenden Konsenses über die europäische Stabilität 22 des Χ Innenpolitische Probleme Julirevolution 1830: Absetzung des reaktionären Bourbonenkönigs durch Arbeiter und Bürger; Bürgertum setzt konstitutionelle Monarchie durch Folgen der Julirevolution 1830: Verfassungen u.a. in Sachsen, Hannover und Belgien wachsender Widerstand gegen Regierungen in Deutschland, Polen, Italien, der zu weiter verstärkter Repression führt Folgen der Revolution von 1848: Furcht vor radikalen Arbeitern; Bündnis zwischen Bürgertum und Obrigkeit; Durchsetzung der Reaktion in Deutschland; Konzentration auf nationale Frage wachsender Einfluss der öffentlichen Meinung, besonders in Frankreich und Großbritannien Χ Nationale Realpolitik nach 1848 zunehmende Entfernung der Entscheidungsträger (Generationenwechsel) von den Prinzipien des Wiener Systems russisch-österreichischer Gegensatz in der “Orientfrage” (Expansionsbestrebungen Russlands auf dem Balkan und gegen Osmanisches Reich), daher Auflösung der Heiligen Allianz französischer Revisionismus : Beanspruchung der Rheingrenze und Orientkrisen um Ägypten 1831-41 (Frankreich gegen Großbritannien + Russland + Preußen); Expansionspolitik Napoleons III. seit 1852 russisch-britischer Gegensatz um die Meerengen (Dardanellenvertrag 1841) Konflikt um dänische Annexion Holsteins 1848: Unterbindung des Vorgehens Preußens gegen Dänemark (Russland + Großbritannien + Frankreich gegen Preußen + Österreich) Interessengegensatz um Polen 1863 (Preußen + Russland gegen Frankreich + Großbritannien + Österreich) Konsequenz: weitgehende Anarchie in der Pentarchie Χ neue Staaten und Nationalbewegungen Belgien (seit 1830), Serbien (faktisch unabhängig seit 1817, formal autonom seit 1829), Griechenland (seit 1829) Machtvakuum Osmanisches Reich: Unabhängigkeitsbestrebungen auf dem Balkan Bestrebungen zur Beseitigung des deutschen und des italienischen Machtvakuums 5.6 Auflösung des Systems Χ Revolutionen von 1848 Februarrevolution 1848: Absetzung des “Bürgerkönigs”; Frankreich Republik; Niederschlagung von Arbeiteraufständen; Louis Napoleon Präsident Märzrevolution 1848 in Deutschland: zunächst Erfolge der Revolutionäre; Erlass von Verfassungen; Einberufung einer 23 - - Verfassungsgebenden Nationalversammlung (Frankfurt); Streit um Verfassung (Grundrechte, Gewaltenteilung, Bundesstaat), groß- und kleindeutsche Lösung militärische Niederschlagung der Revolution und der nationalen Bewegungen in Österreich 1949; Auflösung der deutschen und der preußischen Nationalversammlung 1849; Niederschlagung der Revolution im restlichen Reich Behauptung der österreichischen Hegemonie über Italien 1848/49 Χ Krimkrieg Staatsstreich Louis Napoleons 1851 und Zweites Kaiserreich ab 1852 (Napoleon III:); außenpolitische Zielsetzung: Revision des Wiener Systems, französische Hegemonialstellung in Europa französische Expansion in Afrika (Algerien, Senegal) Konfrontation mit Russland, das gegenüber dem Osmanischen Reich expandieren will (formaler Anlass: Konfessionsstreitigkeiten) russischer Einmarsch in Donaufürstentümer 1853 Intervention Frankreichs, Großbritanniens und Sardinien-Piemonts (ab 1855); 1854 Landung auf der Krim (Sewastopol, erster moderner Stellungskrieg); Besetzung der Donaufürstentümer durch Österreich; Stillhalten Preußens Frieden von Paris 1856: Russland verliert das Donaudelta; Neutralisierung des Schwarzen Meeres Konsequenz: Frankreich als Vormacht und Schiedsrichter Europas; österreichisch-russischer Gegensatz auf dem Balkan; Reformversuche von oben in Russland Χ Italienische Einigung Aufrüstung und Unterstützung Sardiniens durch Frankreich ab 1858 österreichische Kriegserklärung an Sardinien 1859, französische Unterstützung für Sardinien; österreichische Niederlagen bei Magenta und Solferino (erster Eisenbahnaufmarsch) Frieden von Zürich 1859 (beschleunigt durch Furcht Napoleons III. vor Eingreifen Preußens): Österreich verliert die Lombardei, behält jedoch Venetien (entgegen französisch-sardischer Abmachungen) Vertrag von Turin 1860 (Frankreich - Sardinien-Piemont): Frankreich tauscht die Lombardei gegen Nizza und Savoyen Eroberung Süditaliens durch Garibaldi und Anschluss an Sardinien 1860-61; Proklamation des Königreichs Italien 1861 Militärbündnis mit Preußen 1866; Erwerb Venetiens nach der österreichischen Niederlage Verhinderung der Eingliederung des Kirchenstaates durch Frankreich bis 1870 Χ Deutsche Einigung Bismarck preußischer Ministerpräsident 1862; Heeresreform Roons Militärkonvention Preußens mit Russland 1863 24 - - - - - Deutsch-Dänischer Krieg 1864 nach Annexion Schleswigs durch Dänemark (1863) Deutscher Krieg 1866 nach Differenzen über Schleswig-Holstein (Preußen + Italien gegen Österreich + Hannover + süddeutsche Staaten); österreichische Niederlage bei Königgrätz Frieden von Prag: keine Gebietsverluste Österreichs an Preußen; Auflösung des Deutschen Bundes; preußische Annexion der gegnerischen deutschen Staaten nördlich des Mains außer Sachsen und Hessen-Darmstadt Gründung des Norddeutschen Bundes 1867; Schutz- und Trutzbündnisse des süddeutschen Staaten mit Preußen außenpolitische Misserfolge und innenpolitische Schwächung Napoleons III.: Scheitern der Mexiko-Expedition 1860-66 (Interventionsdrohung der USA nach dem Ende des Sezessionskrieges 1861-65); Scheitern von Kompensations-wünschen für Stillhalten im Deutschen Krieg (Belgien, Luxemburg, Pfalz); Scheitern des Kaufs von Luxemburg (von den Niederlanden), das neutralisiert wird (1867); Zugeständnisse an Opposition und liberale Reformen (“Empire libéral”) 1864-70; Bemühungen um außenpolitischen Prestigeerfolg Krise um die spanische Thronkandidatur 1870: Forderungen Napoleons III. nach Garantien für den Verzicht des HohenzollernKandidaten; Emser Depesche Bismarcks; französische Kriegserklärung auf Druck der öffentlichen Meinung Deutsch-französischer Krieg 1870/71 (Preußen + Bayern + Baden + Württemberg + Sachsen gegen Frankreich): französische Niederlagen bei Sedan und Metz; Sturz Napoleons III.; Volkskrieg der Dritten Republik Proklamation des Deutschen Reiches 1871; Frieden von Frankfurt: Verlust Elsass-Lothringens; extrem hohe Reparationen durch Frankreich und temporäre Besetzung Ostfrankreichs 25 6. Das Bismarcksche System nach 1871 6.1 Ausgangslage Χ Akteure zentrale Großmächte: Deutschland, Großbritannien, Russland wiederaufstrebende Großmacht: Frankreich (nach Begleichung der Reparationen und deutschem Truppenabzug 1873) neue Großmacht: Italien absteigende Großmächte: Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich neue, kleinere Staaten (Katalysatoren des Systems): Serbien, Bulgarien, Rumänien Χ Deutschland als Zentralmacht Europas Kontinentalmacht: stärkste Militärmacht; hohes Selbstbewusstsein nach 1870/71 politisches System: Militarismus; Hegemonie Preußens in Deutschland; starke Exekutive; beschränkte Demokratie (Reichstagskompetenzen, Wahlrecht) Innenpolitik: innerer Reichsausbau (Vereinheitlichung); Bekämpfung der katholischen Kirche (Kulturkampf 1871-86) und der SPD (Sozialistengesetze 1878) Χ Deutsch-französischer Antagonismus Annexion Elsass-Lothringens (Reichsland) französischer Revanchismus für Niederlage von 1870/71 Χ Zweitrangige Großmächte Italien: innenpolitische Krise nach der Einigung; „Große Politik“ seit 1882 (Expansion in Afrika und im östlichen Mittelmeer); IrredentaBewegung (Südtirol, Triest) Österreich-Ungarn: Ausgleich 1867; Nationalitätenprobleme in der Folge großmagyarischen Chauvinismus’ Osmanisches Reich: Staatsbankrott 1875; Jungtürkische Bewegung (liberal und national) seit 1860; Aufhebung der ersten Verfassung von 1876; Unabhängigkeitsbewegungen auf dem Balkan und im Nahen Osten 6.2 Zentrale Prinzipien Χ Primat der Außenpolitik Versuch der Loslösung deutscher Außenpolitik von innenpolitischen Differenzen Nichteinbeziehung der öffentlichen Meinung durch Geheimdiplomatie Χ Saturiertheit Deutschlands 26 - keine Territorialansprüche des Deutschen Reiches in Europa oder Übersee (Ablehnung großdeutscher oder kolonialer Ideen) Rolle als „ehrlicher Makler“ Χ Isolation Frankreichs Vermeidung von Bündnissen zur Realisierung der Revanche Deutschland als Zentrum bestehender Bündnisse ohne Frankreich Χ Ausgleich mit Frankreich: Unterstützung der kolonialen Expansion Ablenkung von Elsass-Lothringen zur Entspannung des deutschfranzösischen Verhältnisses Förderung des französisch-britischen und französisch-italienischen Antagonismus in Afrika Χ Unterstützung Großbritanniens Anerkennung britischer See- und Weltmacht Unterstützung der britischen Expansion in Afrika und Nahem Osten gegen neutralisierenden britischen Einfluss auf Frankreich und Italien (indirekte Unterstützung Deutschlands und Österreichs gegen Russland) Kooperation bei der Wahrung des europäischen Gleichgewichts gemeinsames Krisenmanagement Χ Europäischer Ausgleich Ziel der Vermeidung eines Krieges zwischen Großmächten, insbesondere solchen der Pentarchie (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland, Österreich) Vermeidung der Kriseneskalation (Balkan): Weltkriegsgefahr Kongressdiplomatie Bewahrung formaler Großmächte (Osmanisches Reich, ÖsterreichUngarn) gegenüber Auflösungsbestrebungen (Russland, Balkanstaaten) 6.3 Rahmenbedingungen Χ ökonomisch beschleunigte Industrialisierung Abwendung vom Freihandel Aufstieg Deutschlands zur Weltwirtschaftsmacht Weltwirtschaftskrise 1873; Große Depression 1873-95 Durchsetzung der Idee einer direkten Kontrolle von Rohstoffen und Überseemärkten (Imperialismus) Χ gesellschaftlich-politisch weiteres massives Bevölkerungswachstum Soziale Frage: Arbeiterbewegung; Anarchismus; Sozialismus Verstärkung staatlicher Sozialpolitik aus innenpolitischen militärischen Erwägungen 27 und - Öffentliche Meinung: Bedeutung der Presse Lobbyismus: Landwirtschaft (Junker); Schwerindustrie; Rüstungsindustrie; Kolonialismus Imperialismus: Ideologie nationaler Expansion (Sendungsbewusstsein, Prestige, Wirtschaft) Χ militärisch fortschreitende Industrialisierung der Kriegführung und Aufrüstung politisch relevante Planungsaktivität der Generalstäbe (deutsche Präventivkriegsgedanken seit 1887) 6.4 Ausgestaltung durch internationale Verträge Χ Drei-Kaiser-Bund 1872 Deutschland + Österreich + Russland ideologische Nähe (Konservatismus, Monarchismus) Belastung durch Differenzen mit Russland, aber Wiederannäherung nach Abschluss des Zweibundes 1879 Erneuerung 1881, aber Scheitern am österreichisch-russischen Gegensatz in der Bulgarienkrise 1885-87 Χ Zweibund 1879 Deutschland + Österreich offiziell geheimes Defensivbündnis gegen Russland; Neutralitätsabkommen bei Angriff anderer Macht Abschreckung Russlands; Basis zuverlässiger Konservatismus Österreichs und Tradition des alten Reiches erstes europäisches Dauerbündnis seit dem Krimkrieg Χ Dreibund 1882 Deutschland + Österreich + Italien italienische Suche nach Absicherung im Kolonialkonflikt mit Frankreich (Besetzung Tunesiens 1881) Bündnisfall nur bei Angriff mehrerer Großmächte; Neutralität der anderen bei eigenem Angriff auf Dritten Instabilität wegen österreichisch-italienischem Gegensatz und Misstrauen gegenüber politischem System Italiens Χ Erweiterung des Dreibundes 1883 Deutschland + Österreich + Italien + Rumänien verstärkter deutscher Einfluss auf dem Balkan; gleichzeitig jedoch auch zusätzliche Frontposition gegen Russland (russisch-rumänischer Territorialstreit) Χ Rückversicherungs-Vertrag 1887 Deutschland + Russland nach Scheitern des Dreikaiser-Bundes Sicherung nach Osten 28 - geheimes Zusatzprotokoll: deutsche Unterstützung für russische Expansion zu den Meerengen Χ Mittelmeerabkommen (Orient-Dreibund) 1887 Großbritannien + Italien + Österreich Schutz des Osmanischen Reiches gegen Russland Bewahrung des Status quo im Mittelmeer 6.5 Bewährung des Systems Χ Pontus-Konferenz 1871 Revision des Pariser Friedens von 1856 mit deutscher Unterstützung Durchfahrtsrechte für russische Schiffe durch Bosporus und Dardanellen Χ Berliner Kongress 1878 deutsche Vermittlung zwischen Großbritannien + Österreich + Osmanisches Reich und Russland Selbständigkeit von Rumänien, Serbien und Montenegro; Bulgarien wird autonomes Fürstentum und geteilt; Bosnien-Herzegowina wird österreichisch verwaltet; Großbritannien gewinnt Zypern Beschränkung der Expansion russischen Einflusses auf dem Balkan; weiterhin nationale Probleme auf dem Balkan Χ Berliner Afrika-Konferenz 1884/5 Bindung Großbritanniens durch Engagement in Ägypten seit 1882 (Mahdi-Aufstand); koloniale Expansion Frankreichs und Initiierung des deutschen Kolonialismus deutsch-französische Kooperation gegen Großbritannien zur außereuropäischen Ableitung französischer Ressentiments Beteiligung der Großmächte einschließlich der USA (als Beobachter) Beginn des “Scramble for Africa” Kongo wird belgisch und damit neutralisiert (gegen Ansprüche Großbritanniens) Χ Kooperation bei internationalen Krisen Internationale Finanzkontrolle, z.B. Ägyptens nach Staatsbankrott diplomatische Vermeidung der Kriseneskalation Großmachtkonflikten bei 6.6 Strukturelle Probleme Χ Komplexität Unüberschaubarkeit von Bündnisbindungen Notwendigkeit und wachsende Schwierigkeit von Geheimdiplomatie Notwendigkeit ständigen Taktierens teilweise Widersprüche und Einschränkungen: Österreich und Russland 29 Χ Deutsch-russische Entfremdung Unterstützung Deutschlands für Begrenzung der russischen Expansion (Balkan, Osmanisches Reich) russische Ressentiments gegen deutsche Vermittlung 1878 Wirtschaftskrieg seit Anfang der achtziger Jahre Χ Französischer Revanchismus Χ „Splendid isolation“ Großbritanniens Nichteinbeziehung in kontinentale Bündnisse Scheitern von Bündnisabsichten Bismarcks 1879-81 Ablehnung eines Bündnisses mit Deutschland 1887 und 1889 Χ Balkan-Problematik dauerhafter Antagonismus zwischen Österreich und Russland Stellvertreterfunktion der Balkanstaaten; Eskalationspotential Bedeutung nationaler Bewegungen für Innenpolitik Österreichs Χ Ideologisierung wachsender Nationalismus Imperialismus und Konkurrenz zwischen Staaten zunehmend sozialdarwinistische Politikauffassung Förderung durch sensationslustige Presse Χ innenpolitische Probleme Arbeiterbewegung und sozialistische Opposition (Gewerkschaftsbildung und Streiks, I. Internationale 1864, II. Internationale 1889; Sozialistengesetze in Deutschland; Syndikalisten in Frankreich) Wirtschaftskrise und Protektionismus Katholizismus nach dem II. Vatikanischen Konzil 1870 (strenger Zentralismus der katholischen Kirche: „Ultramontanismus“, Kulturkampf in Deutschland) anarchistische Gewalt, besonders in Russland polizeistaatliche Repression (Russland, Deutschland) Scheitern von Reformen und Hungerkatastrophen in Russland Nationalitätenprobleme in Österreich (Südslawen, Rumänen), Osmanischem Reich (Balkanvölker), Russland (Polen), Deutschland (Polen), Großbritannien (Irland) wachsender Antisemitismus 6.7 Entwicklung und Krisen des Systems Χ Krieg-in-Sicht-Krise 1875 deutsche Sorgen um Annäherung Österreichs, Frankreichs und Russlands 30 - Scheitern von Ideen zur Teilung Österreichs (zwischen Deutschland und Russland, Kompensation Frankreichs durch Wallonien) französische Wiederaufrüstung; Präventivkriegsdrohung Deutschlands Interventionsdrohung Russlands und Großbritanniens bei deutschem Angriff auf Frankreich Χ Balkankrise (Große Orientkrise) 1875-78 Finanzkrise des Osmanischen Reiches: Steueraufstände in der Herzegowina 1875 militärische Intervention Serbiens und Montenegros russisch-österreichisches Geheimabkommen 1876: freie Hand für Österreich in Bosnien-Herzegowina und für Russland in Bulgarien nach militärischer Niederlage Serbiens gegen Türken 1876 Intervention Russlands mit Rumänien und Bulgarien (russischtürkischer Krieg 1877/8) Interventionsdrohung Großbritanniens und Österreichs nach türkischen Niederlagen und Diktatfrieden durch Russlands deutsche Vermittlung und Kriegabwendung durch den Berliner Kongress 1878 Χ Afghanistan-Krise 1885-87 ergebnislose Grenzverhandlungen zwischen Großbritannien und Russland in Zentralasien seit 1882 russisches Vordringen; Kriegsvorbereitungen auf beiden Seiten (Großbritannien + Osmanisches Reich); Verbindung mit Balkankrise deutsches Dringen auf türkische Neutralität (Eskalationsgefahr auf dem Balkan) Χ Bulgarien-Krise 1885-87 Versuch der Emanzipation von Russland durch liberale Regierung; Unterstützung durch Großbritannien Vereinigung des autonomen Fürstentums Bulgarien und der autonomen Provinz Ost-Rumelien 1885 Angriff Serbiens auf Bulgarien zur territorialen Kompensation; Niederlage Serbiens; Stellvertreterkrieg für Österreich (Serbien) und Russland (Bulgarien) Interventionsdrohung Großbritanniens; britische Suche nach einem kontinentalen Partner gegen Russland (Deutschland) deutsche Neutralität (zugunsten Russlands); Unterstützung für Einsetzung einer russophilen bulgarischen Regierung Χ Boulanger-Krise 1885-89 politischer Erfolg bonapartistisch-nationalistischer Bewegung General Boulangers in Frankreich Gefährdung der Dritten Republik und verstärkter Revanchismus gegen Deutschland Gefahr eines Revanchekrieges gegen Deutschland; Präventivkriegsbereitschaft in Deutschland 31 - zusammen mit der Bulgarien- und Afghanistan-Krise Potenzial einer Eskalation (Deutschland + Österreich + Großbritannien gegen Russland + Frankreich) Ernüchterung in Frankreich durch deutsche Warnungen; Wahlsieg der französischen Republikaner Χ deutscher Protektionismus Schutzzölle auf (russische) Getreideimporte 1879, verschärft 1885-87 Schutzzölle für die Industrie gegen Großbritannien und Frankreich seit 1879 Lombardverbot 1887: keine ausländischen (russischen) Anleihen mehr Konsequenz: Behinderung der russischen Industrialisierung; russische Finanzkooperation mit Frankreich („Revanche-Anleihen“) Χ Anfänge deutscher Kolonialpolitik Kamerun, Togo 1884 Südsee 1884/5 Ostafrika 1885 32 7. Das Wilhelminische System bis 1914 7.1 Ausgangslage Χ Akteure in Europa zentrale Großmächte: Deutschland, Großbritannien, Russland, Frankreich weitere Großmächte: Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich, Italien kleinere Mächte (Katalysatorfunktion): Serbien, Montenegro, Bulgarien, Rumänien, Albanien, Belgien Χ weltpolitischer Rahmen imperialistische Konkurrenz der Mächte Aufteilung Afrikas und Asiens Grenzen der Verteilungs- und Kompensationsmöglichkeiten, damit direkte Konfrontation der Mächte neue Akteure: USA (offener Imperialismus seit 1898) und Japan (Imperialmacht seit 1894/95 und Großmacht seit 1904/05) Χ Deutsche Position stärkste Kontinentalmacht: Militär, Wirtschaft, Selbstbewusstsein “Neuer Kurs” Wilhelms II.: Aufgabe der Saturiertheit, Weltmachtanspruch Deutschlands; imperiale Macht; Kolonien und Flottenbau innenpolitische Stützung der Weltmachtpolitik: Alldeutscher Verband (1891), Flottenverein (1898); Rüstungs- und Wirtschaftslobby Überzeugung, auch Frankreich und Russland zusammen gewachsen zu sein 7.2 Prinzipien Χ Eindämmung Deutschlands Deutsche Politik als Gefährdung des europäischen Gleichgewichts Bündnispolitik der übrigen Mächte gegen deutsche Hegemonie Auflösung der Isolation Frankreichs Χ “Nibelungentreue” Bindung der deutschen Außenpolitik an Österreich verstärkte Involvierung Deutschlands in Balkanproblematik (inbes. österreichisch-russischer Antagonismus) Χ Blocksystem Herausbildung fester Allianzen mit Bündnisautomatik Deutschland + Österreich gegen Russland + Frankreich (+ Großbritannien) Ergänzung durch panslawistische Verbindung (Russland + Serbien + Montenegro) und deutsch-türkische Annäherung 33 - unsichere Haltung Italiens, Rumäniens und Bulgariens Χ Risikopolitik Konfrontation der Großmächte bis hin zur Kriegsdrohung Krisengewöhnung der Diplomatie; entsprechend Unterschätzung der Eskalationspotenziale militärisch-politischer Fatalismus; wachsender Einfluss des Militärs Präventivkriegsgedanken (Österreich gegen Serbien; Deutschland gegen Frankreich und Russland) Χ Wettrüsten Flottenrüstung (Deutschland gegen Großbritannien) Heereserweiterungen und -reformen in Deutschland, Frankreich und Russland 7.3 Rahmenbedingungen Χ ökonomisch Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum rasante Industrialisierung und technischer Fortschritt Zunahme internationaler Interdependenz und Idee des Liberalen Friedens Vorstellung eines Verdrängungswettkampfes zwischen nationalen Volkswirtschaften Betonung der Bedeutung imperialer Großräume (Autarkie) Χ gesellschaftlich-politisch Chauvinismus und Imperialismus als Massenideologien Sozialismus, Sozialpolitik und Arrangements mit politischen Verhältnissen vermehrte transnationale Bewegungen (Frauenbewegungen, Pazifismus, Arbeiterbewegung) Χ militärisch neue Technologien: rauchloses Pulver, Maschinengewehr, Großkampfschiffe, Flugzeuge, Magazingewehr, Rohrrücklauf (Feuergeschwindigkeit der Artillerie), schwere Artillerie Offensivdoktrin; Doktrin des Primats des Angriffwillens strategische und operative Bindung an Vorausplanungen ohne Rücksicht auf politische Probleme (Schlieffenplan 1905) 7.4 Bündnisstrukturen Χ Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages 1890 Ablehnung russischen Verlängerungswunsches Bereinigung des Widerspruches zwischen Russlandorientierung 34 Österreich- und - deutsches Engagement in russischen Interessensgebieten (Persien, Osmanisches Reich) Χ Zweibund (Frankreich + Russland) 1892/94 Neuorientierung der russischen Außenpolitik Finanzierung der russischen Industrialisierung, Infrastrukturausbau und Aufrüstung durch französische Anleihen Ende der französischen Isolierung automatische Beistandspflicht bei Angriff oder Mobilmachung einer Dreibundmacht (Zweifrontenkrieg gegen Deutschland) Χ Britisch-japanisches Bündnis 1902 Ziel der Eindämmung der russischen Expansion in Ostasien Japan als Juniorpartner Großbritanniens nach Ablehnung Deutschlands Χ Französisch-italienische Abkommen 1902 Ausgleich der Interessen in Nordafrika (Marokko, Libyen) Neutralitätsabkommen Χ Entente cordiale 1904 Beilegung französisch-britischer Kolonialdifferenzen Aufgabe der “splendid isolation” in Europa zur Eindämmung des deutschen Konkurrenten und zur Besitzstandswahrung kein formales Bündnis Χ Triple Entente 1908 Britisch-russischer Ausgleich 1907 (Aufteilung Persiens, Neutralisierung Afghanistans)) kein formales Bündnis schrittweiser Ausbau zu einer Allianz bis 1914 (Kooperation der Militärs) Χ Russisch-italienischer Vertrag 1909 Erhaltung des Status quo auf dem Balkan Orientierung gegen Österreich Χ Britisch-französische Marinekonvention 1912 Übernahme der Sicherung des Mittelmeers durch Frankreich im Kriegsfall Sicherung der Kanalküste durch Großbritannien und Konzentration der britischen Home Fleet im Nordseeraum (Blockade) Χ Erneuerung des Dreibundes 1912 Χ Balkan-Bund 1912 Balkanstaaten gegen Osmanisches Reich Serbien + Bulgarien + Montenegro + Griechenland 35 Χ Deutsch-türkisches Bündnis 1914 7.5 Strukturelle Probleme Χ Balkanfrage Unabhängigkeits- und Expansionsstreben der Balkanstaaten gegen Osmanisches Reich innenpolitische Gefährdung Österreichs durch russisch unterstützten Panslawismus Österreich und Russland als Konkurrenten um die Beerbung des Osmanischen Reiches Χ Französischer Revanchismus Revanche für 1870/71 und Wiedergewinn Elsass-Lothringens als Konstante französischer Außenpolitik keine Ableitung durch koloniale Expansion Χ Deutsche Flottenrüstung und Weltpolitik Tirpitz’ “Risikotheorie” (Abschreckungswirkung einer starken Flotte) wird von Großbritannien als Gefährdung seiner Seeherrschaft betrachtet britische Gegenmaßnahmen führen zum Flottenwettrüsten seit 1900 deutsche Weltpolitik kollidiert mit Interessensphären Großbritanniens, Frankreichs und Russlands wirtschaftliche Konkurrenz Deutschlands für Großbritannien (Ablösung als größte europäische Handels- und Industriemacht) deutscher Aufstieg gefährdet europäisches Gleichgewicht Χ innenpolitische Probleme Nationalitätenprobleme in Deutschland (Polen, Elsass), Österreich (Südslawen) und Großbritannien (Irland) Einfluss von Großindustrie, Großagrariern und Rüstungslobby auf Regierungen (koloniale Expansion) Widerstand gegen innenpolitische Reformen (Demokratisierung in Deutschland und Russland; nationale Autonomie in Großbritannien und Österreich) Frage der Einbindung der Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft (Sozialismus) Χ Ideologie Nationalismus und Chauvinismus Politik als Sozialdarwinismus Militarismus und Kriegsverherrlichung Sendungsbewusstsein aller europäischer Mächte Χ Deutsche Selbstüberschätzung 36 - Überzeugung, auch Frankreich und Russland zusammen gewachsen zu sein Illusion einer möglichen Wahl zwischen “Wal” (Großbritannien) und “Bär” (Russland) als Bündnispartner Weltmachtanspruch bei gleichzeitiger See- und Landrüstung (Verschuldung, Verzettelung) Χ Bündnisautomatik formelle Beistandsverpflichtungen Eskalationsgefahr bei Krisen großer Spielraum für Österreich und Russland in ihren Allianzen 7.6 Entwicklung des Systems Χ Italienisch-abessinischer Krieg 1894-96 italienische Expansion in Afrika seit 1887 Niederlage von Adua 1896 und Scheitern der Expansion in Ostafrika Anlass zum Ausgleich mit Frankreich (Nordafrika) und Neuorientierung im Mittelmeerraum Χ Europäische Intervention in Asien 1895 japanisch-chinesischer Krieg 1894/95 und geplante Expansion Japans Beschränkung der japanischen Gewinne durch gemeinsamen Widerstand Großbritanniens, Frankreichs und Deutschland (Interesse an Kolonien in China) Χ Dreyfus-Affäre 1894-1906 Verurteilung jüdischen Offiziers aufgrund gefälschter Dokumente Spaltung der Nation: Rechte (Nationalisten, Monarchisten, Bonapartisten, Antisemiten und Armee) gegen Linke (Sozialisten, Republikaner, Antiklerikale und Pazifisten) Rehabilitierung Dreyfus’ 1906: Durchsetzung der zivilen Gewalt gegenüber dem Militär Schwächung Frankreichs durch innenpolitische Krise am Rand eines Bürgerkrieges Χ Deutsch-türkische Annäherung seit 1895 Orientbesuche Wilhelms II. 1898 Engagement deutscher Banken Bau der Bagdadbahn seit 1903 türkische Heeresreform unter deutscher Führung seit 1913 Χ Faschoda-Krise 1898 Zusammenstoß zwischen Frankreich (Ost-West-Orientierung) und Großbritannien (Nord-Süd-Orientierung, “Kap-Kairo-Linie”) im Südsudan Nachgeben Frankreichs angesichts militärischer Überlegenheit der Briten (Zerstörung des Mahdi-Reiches 1898) 37 - Ausgleich 1899 (Sudan, Ägypten, Marokko) ermöglicht Annäherung Χ Deutsch-britische Bündnisverhandlungen 1898-1901 Streitpunkt Flottenrüstung: deutsche Flottengesetze von 1898 und 1900 streben 60 Schlachtschiffe und -kreuzer bis 1920 an Scheitern wegen britischen Zögerns und deutscher Absicht einer formalen Erweiterung des Dreibundes um Großbritannien Χ Burenkrieg 1899-1902 Grenzen der militärischen Leistungsfähigkeit der ersten Weltmacht deutsch-britische Entfremdung wegen deutscher Unterstützung für die Buren Folgen: Armeereform und Suche nach Verbündeten Χ Russisch-japanischer Krieg 1904/05 militärische Niederlage Russlands Revolution in Russland 1905 außenpolitische Lähmung Reorientierung auf den Balkan Bündnisversuche Deutschlands Frankreichs scheitern an der Einbindung Χ Erste Marokkokrise 1905-06 französische Intervention in Marokko, entgegen internationalen Abmachungen (Prinzip der “offenen Tür”) und deutschen Wirtschaftsinteressen deutsches Ziel einer neuen Isolierung des innenpolitisch geschwächten Frankreichs angesichts des temporären Ausfalls Russlands als Großmacht (Frankreich als “Geisel Deutschlands”) Konferenz von Algeciras: Verhinderung einer kompletten französischen Besetzung Marokkos, aber keine Verurteilung und Isolierung Deutschlands (mit Österreichs) aufgrund des Misstrauens der übrigen Mächte (Großbritannien) Folge: Festigung der Entente; prinzipielle deutsche Abneigung gegen internationale Konferenzen zur Krisenbeilegung (vgl. Julikrise 1914) und Vorbereitung einer militärischen Lösung (Schlieffenplan) Χ “Dreadnought”-Sprung 1906 britischer Großkampfschiffbau entwertet bisherige Schlachtflotten, technischer Vorsprung verbessert jedoch britische Position Verschärfung des deutsch-britischen Rüstungswettlaufs durch Notwendigkeit zusätzlichen Ressourcenaufwandes Χ Zweite Haager Konferenz 1907 Festlegung von Kriegsführungsregeln und Verbot bestimmter Waffen auf der Ersten Haager Konferenz 1899 russische Initiativen zur Rüstungsbeschränkung oder Abrüstung (eigener qualitativer und quantitativer Rückstand) sowie zur 38 - Einrichtung obligatorischer internationaler Schiedsgerichtsbarkeit zur Kriegsverhinderung Scheitern am Widerstand Deutschlands (Bewahrung der “Aktionsfreiheit”) Beschränkung auf Haager Landkriegsordnung (Kodifizierung des Kriegsvölkerrechts) Χ Bosnien-Krise 1908-09 Jungtürkische Revolution mit dem Ziel einer liberalen Verfassung (Gleichberechtigung für alle Untertanen) Unabhängigkeitserklärung Bulgariens Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich zur Vermeidung von Rückgabeforderungen Ablehnung der britischen Forderung einer internationalen Konferenz durch Österreich; Zurückhaltung Frankreichs aus militärischer Schwäche serbischer Widerstand (mit russischer Unterstützung) wird durch österreichisches Ultimatum und eine deutsche Kriegsdrohung gegen Russland beseitigt Konsequenz: verstärkte russische Aufrüstung; stärkere Bindung Deutschlands an Österreich Χ Zweite Marokkokrise 1911 Erweiterung des französischen Einflusses in Marokko und deutscher Protest durch “Panthersprung von Agadir” (Kanonenboot) deutsche Absicht einer neuerlichen Gefügigmachung Frankreichs durch militärische Drohung; Unterstützung durch alldeutsche Kriegstreiberei britische Interventionsdrohung zugunsten Frankreichs Rückzug Deutschlands und offizielle Kompensation der französischen durch Gebiete in Zentralafrika Konsequenz: wachsende Kriegsbereitschaft in Deutschland wegen Scheiterns der “friedlichen” Weltpolitik; verstärkte französische Aufrüstung; Entente-Erwartung einer militärischen Auseinandersetzung mit Deutschland, hervorgerufen durch einen Angriff auf Frankreich Χ Italienisch-türkischer Krieg 1911-12 italienische Annexion von Tripolis (formal türkisch) Italien gewinnt Libyen und besetzt die Dodekanes (östl. Ägäis) Χ Scheitern deutsch-britischer Flottenverhandlungen 1912 deutsches Ziel einer freien Hand auf dem Kontinent; dazu Notwendigkeit britischer Neutralität (bis zum Abschluss des Flottenbaus) britisches Angebot: Neutralität bei französischem Angriff, nicht bei deutschem Angriff Scheitern der Verhandlungen an deutschen Forderungen nach unbedingter britischer Neutralität in deutsch-französischem Krieg und 39 - nach Anerkennung eines 3:2-Schlüssels für die britisch-deutschen Flottenstärken deutsche Flottennovelle 1912: Anheizen des Rüstungswettlaufs Χ Erster Balkankrieg 1912-13 Balkanbund gegen Osmanisches Reich militärischer Kollaps der Türken Eskalation zur internationalen Krise: Serbien (mit Russland) fordert Adria-Zugang (gegen Italien); Italien will Annexion Albaniens; Griechenland will Räumung der Dodekanes durch Italien; Österreich (mit Italien) ist gegen jeden serbischen Machtzuwachs und unterstützt bulgarische Forderung nach Makedonien (gegen Serbien), die von Russland abgelehnt wird Beilegung der Krise durch deutsch-britische Kooperation: Räumung Europas durch die Türkei bis auf Vorfeld Konstantinopels; Zurückhaltung Österreichs durch Deutschland (noch ungenügende Flottenrüstung und zu geringfügiger Anlass für einen Großkrieg) und Russlands durch Großbritannien (drohende Unterlassung von Hilfeleistung im Kriegsfall) Χ Zweiter Balkankrieg 1913 Angriff Bulgariens auf Serbien zur Eroberung Makedoniens Unterstützung Serbiens durch Montenegro, Griechenland, Rumänien und Osmanisches Reich; bulgarische Niederlage internationale Krise: Interventionsdrohung Österreichs gegen Serbien zur Rettung Bulgariens erneute Mäßigung durch Deutschland (mit Italien) und Großbritannien Friede von Bukarest: bulgarische Gebietsverluste (Mittelmeerzugang); Erweiterung der europäischen Türkei, Gebietsgewinne Serbiens, Griechenlands und Rumäniens; Albanien wird unabhängig Abkühlung des österreichisch-rumänischen Verhältnisses (auch wegen rumänischer Minderheit in Siebenbürgen) Ende der Kompensationsmöglichkeiten auf türkische Kosten Χ Kriegsvorbereitungen 1912/13 österreichische Heeresvermehrung von 385.000 auf 470.000, außerdem Modernisierung der Artillerie russische Heeresverstärkung von 1.200.000 auf 1.450.000 (geplant bis 1917: 1.800.000), außerdem beschleunigter Ausbau der Eisenbahn in Polen deutsche Heeresvermehrung von 644.000 auf 780.000 (geplant bis 1915; realisiert bis 1914: 748.000) Erhöhung der Wehrpflicht in Frankreich von zwei auf drei Jahre (1914: 750.000) Kassierung des deutschen Ostaufmarschplanes 1913; ausschließliche Konzentration auf den Schlieffenplan Forderung des deutschen Heeres nach baldigem Krieg gegen Deutschland; Marine: nicht vor Juni 1914 (Mindestrüstung zur See; U40 Χ Boothafen Helgoland, Nord-Ostsee-Kanal; „Kriegsrat“ von Kaiser, Generalstabschef und Marinechef 1912) russische Planung: Abschluss der Rüstungsvorbereitungen 1917 letzte britisch-deutsche Verständigungsversuche 1913/14 Teilung des Baus der Bagdadbahn Übereinkommen zur Teilung der portugiesischen (Arrondierung der deutschen Afrikakolonien zu “Mittelafrika”) keine Lösung der Flottenfrage Kolonien 7.7 Kollaps des Systems im Ersten Weltkrieg Χ Julikrise 1914 Ermordung des österreichischen Thronfolgers; österreichisches Ultimatum an Serbien (Furcht vor weiterem Prestigeverlust und Chance zum Vorgehen gegen südslawischen Nationalismus; Sicherung der Position auf dem Balkan gegenüber Russland; Einmischung in innere Angelegenheiten Serbiens); Teilannahme durch Serbien deutsche Unterstützung für raschen österreichischen Angriff auf Serbien (innenpolitische Stützung Österreichs; Schließung der strategischen Lücke zwischen Deutschland und der Türkei; Zurückdrängung Russlands auf dem Balkan; Wertlosigkeit des russisch-französischen Bündnisses oder militärische Lösung gegen Frankreich und Russland vor Abschluss der russischen Aufrüstung; Hoffnung auf Neutralität Großbritanniens) russische Unterstützung Serbiens (Vermeidung einer Verdrängung vom Balkan; Entwertung des französisch-russischen Bündnisses; Furcht von deutscher Hegemonialmacht auf dem Kontinent) französische Unterstützung Russlands (Furcht vor neuer Isolierung gegenüber einem gestärkten Deutschland; nationaler Konsens gegen Deutschland) britische Unterstützung Frankreichs und Russlands (Ablenkung von drohendem irischen Bürgerkrieg; Furcht vor deutscher Hegemonie in Europa; Verletzung belgischer Neutralität) italienische Neutralität aufgrund des Konfliktes mit Österreich britische Vermittlungsversuche; deutsche Bemühungen um britische Neutralität und Lokalisierung des Krieges; Zurückhaltung Frankreichs; Mobilmachungsmechanismus (militärischer Druck auf politische Entscheidungsträger) Eskalation: regionaler Krieg (Österreich - Serbien), Kontinentalkrieg (Deutschland - Russland, Frankreich), Weltkrieg (Großbritannien Deutschland) Χ Bündnisse Mittelmächte: Deutschland + Österreich + Türkei (1914) + Bulgarien (1915) 41 - Entente-Mächte: Russland + Frankreich + Serbien + Montenegro + Belgien + Großbritannien + Japan (1914) + Italien (1915) + Rumänien (1916) + Griechenland (1917) + USA (1917) Χ Kriegsverlauf 1914: Scheitern der Offensivpläne (Marne, Lothringen und Ardennen, Galizien, Tannenberg) und Stellungskrieg 1915: alliierte Offensiven im Westen und Süden; deutsche Vorstöße im Westen; deutsch-österreichische Offensive im Osten; Niederwerfung Serbiens; alliierte Dardanellenoperation 1916: deutsche Offensive im Westen (Verdun); alliierte Offensiven im Westen (Somme), Osten (Brussilow) und Süden (Isonzo); Niederwerfung Rumäniens; österreichische Offensive im Süden; Friedensangebot Deutschlands; Vermittlungsversuche der USA 1917: alliierte Offensiven im Westen (Champagne, Flandern) und Süden (Isonzo); unbeschränkter U-Boot-Krieg; Kriegseintritt der USA; russische Februarrevolution und Offensive (Kerenski); russische Oktoberrevolution; Kollaps der sowjetischen Front; deutschösterreichische Offensive im Süden (Caporetto); Friedensbemühungen Österreichs und des Papstes 1918: Wilsons “Vierzehn Punkte”; “Brotfriede”; Frieden von BrestLitowsk; deutsche Offensiven im Westen (Ludendorff); österreichische Offensive im Süden; alliierte Gegenoffensiven im Westen, Süden und Südosten; Kollaps Bulgariens, der Türkei und Österreich-Ungarns; Novemberrevolution in Deutschland; Waffenstillstand zwischen Deutschland und den Alliierten Χ Deutsches Mitteleuropa-Konzept deutsche Kriegsziele: Sicherheitsgarantien und Expansion im Westen (völlige militärische Niederwerfung Frankreichs; Annexionen in Frankreich und Belgien); erweiterte Einflusszone im Osten; Schaffung eines Wirtschaftsraumes mit Österreich, Osteuropa und dem Balkan); Erweiterung der deutschen Kolonien in Afrika Umsetzung des Mitteleuropa-Konzeptes: militärisch-politische Dominanz der Mittelmächte; Proklamation eines unabhängigen Polen 1916; “Brotfriede” 1918 (Anerkennung der Ukraine); Friede von BrestLitowsk (Anerkennung Finnlands, Baltikum, Polen und Ukraine als deutsche Einflusssphäre, Reparationen); Unabhängigkeit Weißrusslands, Georgiens, Armeniens und Aserbeidschans 1918 unter deutscher Führung (deutscher Vormarsch bis zum Don); Frieden von Bukarest 1918 (wirtschaftliche Ausbeutung Rumäniens durch Deutschland, Gebietsverluste an Bulgarien) 42 8. Das Versailler System 8.1 Der Frieden von Versailles Χ Hintergrund der “Vierzehn Punkte” wesentliche Punkte: Abschaffung der Geheimdiplomatie, Freiheit der Meere, Nationalitätenprinzip, Rückgabe Elsass-Lothringens, Wiederherstellung der deutsch besetzten Staaten, polnischer Staat mit Meereszugang, Völkerbund Wilsons Friedenskonzept: Misstrauen gegenüber dem europäischen Gleichgewichtssystem und Geheimdiplomatie; Vorstellung des Liberalen Friedens (Demokratie und Handel); Ziel der Integration der Staaten in einem kollektiven Sicherheitssystem (Völkerbund) Positionen der Alliierten: grundsätzliche Härte der Franzosen; Verhärtung der amerikanischen Position nach dem Frieden von BrestLitowsk; britische und französische Macht-, Sicherheits- und Kolonialinteressen (Reparationen, Garantie gegen Deutschland, Auflösung des Osmanischen Reiches) Χ Wichtige Bestimmungen des Versailler Vertrages (1919) Völkerbund: Gewaltverzicht; Gleichberechtigung der Mitglieder, Einstimmigkeitsprinzip; Streitschlichtung, Vermittlung; Haager Ständiger Internationaler Gerichtshof (assoziiert); kollektive Sicherheit (wirtschaftliche und militärische Sanktionen durch 2/3 der Mitglieder) territoriale Bestimmungen: Verwaltung der deutschen Kolonien und des Saargebiets durch Völkerbund (Mandatssystem); Rückgabe Elsass-Lothringens; Abtretung Westpreußens, Posens und von Teilen Schlesiens an Polen deutsche Rüstungsbeschränkung: Berufsheer von 100.000 Mann; Entmilitarisierung des Rheinlandes; Auslieferung des Kriegsmaterials; Beschränkung der Marinerüstung Reparationen: Sachlieferungen (Handelsflotte, Vieh, Kohle, Maschinen u.a.) und Geldleistungen, festgesetzt auf 269 Mrd. Goldmark in 42 Jahresraten (1921) alleinige Kriegsschuld Deutschlands Garantie durch temporäre Besetzung des linken Rheinufers für 5-15 Jahre Χ Ergänzungen durch die anderen Vorortverträge (1919/20) Österreich: Gebietsverluste, insbesondere an Italien; Anerkennung der Selbständigkeit der Tschechoslowakei, Ungarns, Polens und Jugoslawiens; Anschlussverbot an Deutschland; Berufsheer von 30.000 Mann Ungarn: Gebietsverluste, insbesondere an Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien; Heeresstärke von 35.000 Mann Osmanisches Reich: Reduzierung auf Türkei; Gebietsabtretungen insbesondere an Frankreich, Großbritannien und Griechenland; 43 - Selbständigkeit Armeniens; Autonomie Kurdistans; Heeresstärke von 50.000 Bulgarien: Gebietsverluste an Griechenland; Heerestärke von 20.000 Mann 8.2 Prinzipien des Systems Χ Isolation und Schwächung Deutschlands militärische Entwaffnung und teilweise Besetzung ökonomische Abhängigkeit und Reparationslast Verhinderung der Einbindung Deutschlands in Bündnissysteme Χ Isolation der Sowjetunion Ausschluss aus Bündnissystemen, insbesondere durch Großbritannien Stützung antikommunistischer Staaten in Osteuropa Χ Kollektive Sicherheit Völkerbundsystem Gewaltverzicht und Kriegsächtung Χ Sicherheit durch militärische Macht französisches Bündnissystem zur Sicherung gegen Deutschland zusätzliche Bündnisse gegen Revisionismus Ungarns und gegen Sowjetunion Ablehnung europäischer Abrüstung ohne Sicherheitsgarantien durch Frankreich Χ graduelle Verständigung mit Deutschland Lösung der Reparationsfrage und wirtschaftlicher Wiederaufbau allmähliche Anerkennung Deutschlands als gleichberechtigter Partner, insbesondere durch Großbritannien deutsch-französische Annäherung (Briands Europaideen seit 1929) Beitritt Deutschlands zum Völkerbund 1926 (Austritt 1933) 8.3 Rahmenbedingungen Χ ökonomisch Kriegsverluste und -kosten Aufgabe der Goldwährung Reparationslast Deutschlands, Hyperinflation Verschuldung der europäischen Mächte bei den USA Orientierung Großbritanniens innerhalb des Empire/Commonwealth neue Zollgrenzen durch neue Staaten; Protektionismus der europäischen Staaten Planwirtschaftliche Ideen und Autarkiebestrebungen Weltwirtschaftskrise seit 1929/30: Überproduktion in den USA; Börsencrash und Einstellung der Kreditvergabe; Preisverfall, Deflation und Arbeitslosigkeit; nach Scheitern der Deflationspolitik 44 - Arbeitsbeschaffung und Verstaatlichung der Industrie, Preiskontrollen, Devisen- und Rohstoffbewirtschaftung Sonderkonjunktur durch Aufrüstung in Europa Χ gesellschaftlich-politisch innenpolitische Unruhen, insbesondere in den mittel- und osteuropäischen Staaten Auseinandersetzung zwischen sozialistischen und nationalen Kräften Durchsetzung autoritär-faschistischer Regimes verstärkter Nationalismus verstärkte Rolle sozialistischer Parteien in Westeuropa Pazifismus in Westeuropa Χ militärisch strategische Folgerungen aus dem Ersten Weltkrieg: Festungsdenken (Maginotlinie), Luftkrieg und mechanisierte Kriegsführung technologische Entwicklungen: Panzerwaffe, Luftwaffe 8.4 Bündnisstrukturen Χ Völkerbund 1919 Χ Französisch-britischer Garantievertrag 1919 französisches Streben nach Sicherheit über Versailles hinaus (Rheinlinie) Nichtratifizierung britisch-amerikanischer Garantie im Fall eines deutschen Angriffs durch USA britischer Rückzug aus dem Garantievertrag begründet französische Bündnispolitik Χ Französische Militärbündnisse 1920-26 Militärkonvention mit Belgien 1920 Bündnis mit Polen 1921 Bündnis mit Tschechoslowakei 1924 Bündnis mit Rumänien 1926 Χ Kleine Entente 1920/21 Tschechoslowakei + Jugoslawien 1920 Tschechoslowakei + Rumänien 1921 Rumänien + Jugoslawien 1921 Ziel einer Eindämmung des ungarischen Revisionismus Organisationspakt 1933 Χ Deutsch-russische Verständigung Vertrag von Rapallo 1922: Reparationsverzicht, Handelsbeziehungen Berliner Vertrag 1926: Vertiefung wirtschaftlicher Kontakte; politische Konsultation; Neutralität bei Angriff Dritter 45 Χ Ausbildung deutschen Militärs in der Sowjetunion gegen deutsche Rüstungshilfe Baltische Entente 1922 Polen + Estland + Lettland + Finnland Nichtangriffs- und Konsultativpakt mit Ziel des Sowjetunion Ergänzung des polnisch-rumänischen Vertrags (1921) Schutzes vor Χ Adria-Pakt und italienische Freundschaftsverträge 1924-30 formale Anerkennung des Status quo auf dem Balkan Italien + Ungarn + Rumänien + Bulgarien + Albanien + Österreich Unterstützung des ungarischen Revisionismus gegen Jugoslawien Abhängigkeit Albaniens von Italien Χ Vertragswerk von Locarno 1925 Sicherheitspakt (Frankreich + Großbritannien + Italien + Belgien + Deutschland): deutsche Garantie der Westgrenze Schiedsabkommen Deutschlands mit Belgien, Frankreich, Polen und Tschechoslowakei keine Fixierung der deutschen Ostgrenze Χ Briand-Kellogg-Pakt (Kriegsächtungspakt) 1928 Χ Dreierpakt 1934 Italien + Ungarn + Österreich italienische Unterstützung einer Totalrevision des Versailler Systems Χ Balkanpakt 1934 Jugoslawien + Griechenland + Rumänien + Türkei Furcht vor sowjetischen Balkaninteressen und Revisionismus bulgarischem Χ Französisch-sowjetischer Vertrag 1935 Scheitern eines französischen Vorschlags eines “Ost-Locarno” an Deutschland (1934) Unterstützung Frankreichs für sowjetischen Völkerbundsbeitritt (1934) Beistandspakt gegen Deutschland Ergänzung durch Beistandspakt zwischen Tschechoslowakei und Sowjetunion (Hilfe bei Hilfe durch Frankreich) 8.5 Strukturelle Probleme Χ Krisen der Demokratie Ursachen: soziale Veränderungen (Massendemokratien); psychologische Wirkungen des Krieges (Machtgedanke); Enttäuschung über den Frieden; neue Probleme und Konflikte 46 - - (Weltwirtschaftskrise); Nationalitätenprobleme; Furcht vor dem Kommunismus Durchsetzung autoritärer Regimes in Europa: Sowjetunion (1917), Türkei (1922), Italien (1922), Albanien (1925), Polen (1926), Portugal (1926), Jugoslawien (1929), Österreich (1933), Deutschland (1933), Estland (1934), Lettland (1934), Bulgarien (1934), Litauen (1936), Griechenland (1936), Spanien (1938), Rumänien (1938) verbleibende Demokratien 1939: Großbritannien, Irland, Frankreich, Schweiz, Schweden, Dänemark, Finnland, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Tschechoslowakei, Ungarn Χ Revisionismus Bestrebungen der Revision des Vertragssystems von Versailles durch die Verliererstaaten, insbesondere durch Deutschland und Ungarn Expansionspolitik Italiens Minderheitenprobleme und Territorialkonflikte, insbesondere in Osteuropa Χ Nichtbeteiligung der USA Isolationismus und Nichtbeitritt zum Völkerbund Nichtratifikation des Versailler Vertrages (Sonderfrieden mit Deutschland 1921) Untergrabung von Ansätzen zur europäischen Integration durch Unterstützung Deutschlands gegen Frankreich (Sorge vor antiamerikanischer Blockbildung) Beharren auf Rückzahlung der Kriegskredite an die Verbündeten Χ Uneinigkeit und Zögern der Westmächte koloniale Differenzen zwischen Großbritannien und Frankreich britische Konzentration auf Commonwealth unterschiedliche Vorstellungen zur Behandlung Deutschlands Scheitern französischer Forderungen zum effektiven Ausbau des Völkerbundes an britischem Widerstand (keine Gleichberechtigung kleiner Staaten) französische Hegemonialbestrebungen zur Sicherung gegen Deutschland Appeasementpolitik der Westmächte, insbesondere Großbritanniens, dem Frankreich mangels Macht folgen muss Χ wirtschaftliche und innenpolitische Probleme Wirtschaftskrisen und Arbeitslosigkeit Nationalitätenkonflikte Durchsetzung des Faschismus in Süd- und Osteuropa 8.6 Die Entwicklung des Systems Χ Befreiung der Türkei 1920-22 Wiedereingliederung der armenischen Gebiete 47 - Vertreibung der Griechen Rückzug der Franzosen Revision des Vertrags von Sèvres durch den Frieden von Lausanne Χ Polnisch-russischer Krieg 1920-21 Expansion Polens in die Ukraine Behauptung gegenüber sowjetischer Gegenoffensive durch französische Unterstützung Frieden von Riga 1921: Verschiebung der polnischen Ostgrenze über Nationalitätengrenze (“Curzon Line”) hinaus Χ Konferenz von Washington 1921-22 Tonnagebegrenzung der Flottenrüstung; Verlust britischer Dominanz zur See durch Gleichberechtigung der USA (USA, Großbritannien : Japan : Frankreich, Italien = 3 : 1,8 : 1) Ergänzung durch Londoner Flottenabkommen (weiterhin USA : Großbritannien : Japan = 5 : 5 : 3) Χ Reparationsfrage 1921-32 Londoner Ultimatum 1921: Senkung der Reparationen auf 132 Mrd. Goldmark; Forderung nach zügiger Umsetzung des Versailler Vertrages (Auslieferung der Kriegsverbrecher, Entwaffnung, Zahlung der ersten Rate); Drohung mit Besetzung des Ruhrgebietes bei Nichterfüllung französisch-belgischer Einmarsch ins Ruhrgebiet (1923) nach deutschen Versäumnissen bei Holz- und Kohlelieferungen; passiver deutscher Widerstand im Ruhrkampf Dawes-Plan (1924): Zahlung von 5,4 Mrd. Goldmark bis 1928, ab 1929 jährlich 2,5 Mrd. Goldmark (ohne zeitliche Befristung) Räumung des Ruhrgebietes 1925 Young-Plan (1930): Zahlung von 34,5 Mrd. Goldmark bis 1988; Möglichkeit einer Herabsetzung bei entsprechender Erleichterung der Schuldentilgung unter den Alliierten selbst Räumung der Garantiezone links des Rheins 1930 Konferenz von Lausanne (1932): deutsche Schlusszahlung von 3 Mrd. Goldmark; Ende der Reparationen Χ Bündnisse der Sowjetunion 1929/32 Moskauer Ostpakt: Sowjetunion + Estland + Lettland + Litauen + Polen + Rumänien + Türkei + Persien; Vorbeugung gegen antisowjetische Allianz der Briand-Kellogg-Pakt-Staaten Nichtangriffspakte 1932 mit Finnland, Estland, Lettland, Frankreich und Polen Χ Scheitern der deutsch-österreichischen Zollunion 1931 geplantes Mittel zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise und zur Annäherung zwischen Deutschland und Österreich 48 - Widerstand Frankreichs und Polens, die Vorstufe zur Vereinigung befürchten Χ Abrüstungskonferenzen 1932-33 Scheitern an Forderungen Deutschlands (Gleichberechtigung) und Frankreichs (Sicherheitsgarantien, Völkerbundsarmee) Ablehnung des britischen Vorschlags zur Heeresverringerung bzw. Aufstockung der Reichswehr auf 200.000 Χ Deutscher Austritt aus dem Völkerbund 1933 Χ Deutsch-polnischer Nichtangriffspakt 1934 Aushöhlung des französischen Bündnissystems Vorbereitung der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland 1935 Χ Deutsch-britisches Flottenabkommen 1935 Festlegung der Flottenstärken im Verhältnis 100 : 35 faktische Anerkennung der deutschen Aufkündigung der Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages 1935 durch Großbritannien Χ Kündigung des Locarno-Vertrages 1936 Beendigung der deutschen Anerkennung des Status quo im Westen Vorbereitung des Einmarsches in das entmilitarisierte Rheinland Χ Antikominternpakt 1936 Beginn der deutsch-japanischen Kooperation gegen die Sowjetunion Beitritt Italiens 1937 und Spaniens 1939 8.7 Der Kollaps des Systems Χ Abessinienkrieg 1935-36 Eroberung und Annexion Abessiniens durch Italien Versagen des Völkerbundes: trotz Sanktionen Lieferungen der USA und Deutschlands an Italien (Austritt 1937) Χ Spanischer Bürgerkrieg 1936-39 Militärputsch mit monarchistischer, katholischer und faschistischer Unterstützung gegen gewählte Volksfrontregierung (Republikaner, Kommunisten, Sozialisten, Syndikalisten, Anarchisten) Unterstützung der Aufständischen durch Italien und Deutschland, der Regierung durch Frankreich und die Sowjetunion massive Militärhilfe durch Italien und Deutschland; vorsichtiges Verhalten Frankreichs und Großbritanniens Anerkennung des Franco-Regimes durch Deutschland und Italien 1938, durch Frankreich, Großbritannien und die USA 1939 49 Χ Anschluss Österreichs 1938 Χ Britisch-italienisches Abkommen 1938 britische Anerkennung der italienischen Annexion Abessiniens Rückzug der Italiener aus Spanien faktische Anerkennung des Scheiterns des Völkerbundes durch Großbritannien Χ Münchener Konferenz 1938 Deutschland + Italien + Frankreich + Großbritannien Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland Druck der Westmächte auf Tschechoslowakei zur Annahme des Abkommens Χ Besetzung der “Rest-Tschechei” 1939 erstmalige Eingliederung “nichtdeutscher” Gebiete in das Reich Verstoß gegen das Münchener Abkommen Folge: Aufgabe der britischen Appeasement-Politik (Aufrüstung, allgemeine Wehrpflicht) Χ Deutsch-italienischer “Stahlpakt” 1939 Χ Kündigung des deutsch-polnischen Freundschaftsvertrages 1939 Χ Kündigung des deutsch-britischen Flottenabkommens 1939 Χ Polnisch-britischer Beistandspakt 1939 Χ Englisch-französische Garantieerklärungen Griechenland, die Türkei und Belgien 1939 Χ Hitler-Stalin-Pakt 1939 Scheitern der Verhandlungen der Sowjetunion mit Frankreich und Großbritannien (sowjetische Territorialvorstellungen, Widerstand Rumäniens und Polens gegen sowjetische Durchmarschrechte) deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt geheime Aufteilung Osteuropas in Interessensphären Χ Deutscher Angriff auf Polen 1939 und Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 50 für Polen, Rumänien, 9. Globale Rahmenbedingungen 1945-1990 9.1 Historische Erfahrungen Χ Scheitern des Versailler Systems Revisionismus (Deutschland; Sowjetunion; Mittel- und Osteuropa) Ideologien und Schwäche der Demokratien (Nationalismus, Sozialismus, Faschismus, Nationalsozialismus; ökonomische Probleme) Scheitern des Völkerbundes (Nichtbeteiligung der USA; Uneinigkeit von Frankreich und Großbritannien; Opposition von Deutschland, Italien, Sowjetunion und Japan; Wirkungslosigkeit gegen italienische und japanische Aggression) Appeasement und Konzessionspolitik (Kriegsfurcht und Defensivkonzept in Frankreich; Akzeptanz des deutschen Revisionismus durch Großbritannien und Zugeständnisse an Deutschland; Münchener Abkommen 1938) Χ Erfahrung des Zweiten Weltkrieges Besatzungspolitik und Kriegsschäden in Europa Verluste der Sowjetunion und Deutschlands Massenmord und Versklavung im Zuge der NS-Ideologie 9.2 Sicherheitssystem der Vereinten Nationen Χ Hintergrund Briand-Kellogg-Pakt 1928 (Kriegsächtungspakt) Völkerbund 1919 (Sanktionen mit 2/3 der Mitglieder; keine starke Exekutive) Atlantik-Charta 1941 (USA und Großbritannien; liberales Modell der Friedenssicherung: Demokratie und Freihandel) Jalta 1945: Prinzipien der Nachkriegsordnung (liberales Modell nach USA und Großbritannien; gleichzeitig machtpolitischer Kompromiss der Großmächte als Spielraum der Sowjetunion) Χ Organe der VN Generalversammlung: gleichberechtigte Mitglieder; Empfehlungen, keine rechtsverbindlichen Beschlüsse; Unterstützung durch Wirtschafts- und Sozialrat sowie Treuhandrat Sicherheitsrat: 5 ständige Mitglieder mit Vetorecht (USA, Großbritannien, Frankreich, Sowjetunion, China); 10 wechselnde Mitglieder (gewählt von der Generalversammlung für zwei Jahre) Generalsekretär: Unterstützung der Organe; Chef der VN-Verwaltung Internationaler Gerichtshof: 15 unabhängige Richter (gewählt von Sicherheitsrat und Generalversammlung für 9 Jahre, Neuernennung von 5 Richtern jeweils alle 3); Staaten als Parteien; Voraussetzung des Einverständnisses der Staaten 51 Χ Sicherheitsrat Hauptverantwortung für die internationale Sicherheit (Art. 24 SVN) völkerrechtlich bindende Wirkung der Beschlüsse (Art. 25 SVN) Beschlussfassung (Art. 27 SVN): generell mit Mehrheit von 9 Stimmen inkl. aller 5 ständigen Mitglieder; mit Mehrheit von 9 beliebigen Stimmen bei Verfahrensfragen (aber: Entscheidung, ob Verfahrensfrage, ist keine Verfahrensfrage; daher Vetomöglichkeit im Vorfeld); Enthaltung der Streitparteien bei friedlicher Streitbeilegung; Abwesenheit eines ständigen Mitgliedes ist kein Veto Χ Sicherheitspolitische Grundsätze (Art. 2 SVN) souveräne Gleichheit und Nichteinmischung in innere Angelegenheiten Gewaltanwendungsverbot und friedliche Streitbeilegung Bindung von Nichtmitgliedern der VN Unterstützung von Maßnahmen des Sicherheitsrates (Art. 49 SVN) Χ Ausnahmen vom Gewaltverbot individuelles und kollektives Selbstverteidigungsrecht (Art. 51 SVN): extensivere Auslegung durch ergänzendes (eigentlich nicht SVNkonformes) Gewohnheitsrecht (Webster-Formel, Caroline-Kriterien: unmittelbar bevorstehender, überwältigender Angriff, gegen den kein anderes Mittel zur Verfügung steht als Gewalt; damit legaler Präventivkrieg) Maßnahmen des Sicherheitsrates zur Friedenserhaltung oder Friedensherstellung (Art. 42, 43 SVN) Feindstaatenklausel (Art. 107 SVN) kollektive Sicherheitssysteme auf regionaler Ebene (Art. 52 SVN) mit Genehmigung von Zwangsmaßnahmen durch den Sicherheitsrat (Art. 53 SVN) Χ Möglichkeiten der Friedenserhaltung/-wiederherstellung durch den Sicherheitsrat Feststellung der Friedensgefährdung (Art. 39 SVN) friedliche Sanktionen (Wirtschaft, Verkehr; Art. 41 SVN) militärische Sanktionen (Art. 42 SVN) Verpflichtung zur Bereitstellung von Truppen durch Sonderabkommen (Art. 43); Übergangsregelung: Konsultation und Kooperation der 5 ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates (Art. 106 SVN) Anwendung von Waffengewalt auf Beschluss/Empfehlung des Sicherheitsrates: Koreakrieg 1950 (Beistandsempfehlung durch Sicherheitsrat und Generalversammlung); Rhodesienblockade 1966 (Ermächtigung Großbritanniens); Golfkrieg 1990/91 (Wiederherstellung der Souveränität Kuwaits) Gewaltanwendung bei Aufweichung des Souveränitätsgedankens zugunsten der Menschenrechte: Somalia-Intervention 1992; BosnienIntervention 1995; Flugverbotszonen im Irak (völkerrechtlich umstrittene Auslegung der Irak-Resolutionen durch USA und Großbritannien); Kriegsverbrechertribunal seit 1993 52 9.3 Ursachen des Kalten Krieges Χ Kooperationsinteressen nach 1945 USA: Kostenersparnis durch Abrüstung; Stützung auf wirtschaftliche Überlegenheit („kooperative Suprematie“) Sowjetunion: Ausgleich der Kriegsschäden; Wiederaufbau des westlichen Landesteils Großbritannien: Einflussbewahrung nach Verlust der Weltmachtrolle; Kolonialinteressen Χ Divergierende US-Interessen geopolitische Prägung der US-Außenpolitik: Verhinderung einer europäischen Hegemonie oder eines eurasischen Blocks „One World“-Konzept Roosevelts 1941: Demokratie, Freihandel und Abrüstung (gegen Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus) geplante US-Dominanz in friedlicher Kooperation: Atomwaffenmonopol (Baruch-Plan 1946 zur VN-Kontrolle aller Atomanlagen); ökonomische Dominanz; gleichzeitig keine externe Einmischung in westliche Hemisphäre (Monroe-Doktrin) traditioneller Antikommunismus (z.B. Intervention in den russischen Bürgerkrieg 1919-21) Ziel der Vermeidung eines zweiten Versailles: kein Isolationismus, sondern Engagement gegen totalitäre, expansionistische Systeme Χ Divergierende Interessen der Sowjetunion Gleichberechtigung mit den USA als Weltmacht Cordon-sanitaire-Politik (Trauma von 1941) Expansionismus: machtpolitisches Erbe Russlands (Balkan, Zentralasien); ideologische Komponente (Beschleunigung der weltweiten Durchsetzung des Sozialismus) innenpolitische Stabilisierung durch Beseitigung demokratischer Systeme an der Peripherie und Verweis auf externe Bedrohung Χ Zusätzliche Bedingungen US-Erbe des British Empire: Konfrontation im Mittleren Osten (Iran) Machtvakuum in Europa und Asien unbestimmte Einflusszonen (z.B. Griechenland wegen Churchill-StalinÜbereinkommen 1944) Χ Perzeptionsprobleme und gegenseitige Images grundsätzlicher ideologischer Gegensatz (Demokratie gegen Sozialismus); Defensivorientierung als eigentliche Grundstimmung, aber Überschätzung der Aggressivität des anderen Fehleinschätzungen der USA: Übersehen von sich anbahnenden Konflikten durch Roosevelt; kein Gegensteuern gegen sozialistische 53 - - - Χ Lagerbildung; keine rechtzeitige Akzeptanz des Gleichgewichtsstrebens der Sowjetunion Fehleinschätzungen der Sowjetunion: ideologische Annahme einer Krise des Kapitalismus nach dem Sieg über den Nationalsozialismus; Erwartung der historischen Unausweichlichkeit des Wachstums des sozialistischen Lagers; Erwartung von breiter Unterstützung aus der Dritten Welt Verschlechterung der sowjetischen Perzeption durch vermeintliche Brüskierungen: Gefühl, beim Aufbau der zweiten Front in Frankreich ab 1943 im Stich gelassen worden zu sein; Duldung von Exilregierungen in den USA (baltische Staaten); Kündigung der USUnterstützung kurz nach Kriegsende; mangelnde US-Gegenleistung für Truppenrückzug aus dem Iran und Nachgeben im Triest-Konflikt (keine Unterstützung jugoslawischer Gebietsforderungen an Italien); Nichtbeteiligung der Sowjetunion bei der Besetzung Japans; amerikanische Dominanz in den VN; keine Teilhabe am USAtomwaffenmonopol; Marshall-Plan Verschlechterung der US-Perzeption durch vermeintliche Brüskierungen: Nichterfüllung der Schuldenrückzahlung durch die Sowjetunion; Intervention der Sowjetunion im Spanischen Bürgerkrieg; sowjetischer Überfall auf Finnland und Kooperation mit NSDeutschland; stalinistische Polen-Politik nach 1939; Unterstützung kommunistischer Guerilleros in Griechenland; Satellitisierung und Sowjetisierung Osteuropas und der SBZ; sowjetische Unnachgiebigkeit bei den Reparationen und indirekte Finanzierung durch die USA (westdeutsche Reparationen) Auslösende Ereignisse Versuch der USA, die Sowjetunion durch wirtschaftlichen Druck auf die eigene Linie zu zwingen („Sie brauchen uns mehr als wir sie!“) durch Kündigung des Leih- und Pachtabkommens 1946 und durch Stellen von Bedingungen für Kredite (Mitsprache in Osteuropa) Interessenkonflikt in Polen: territoriale und politische Eingriffe durch die Sowjetunion; Lobbyismus osteuropäischer Emigranten in den USA ungeklärte Lage in Deutschland (Reparationen, zukünftiger Status, Besatzungspolitik in der SBZ) Bürgerkrieg in Griechenland Ablehnung territorialer Forderungen der Sowjetunion an die Türkei „langes Telegramm“ Kennans im Februar 1946: Sowjetunion als Bedrohung der westlichen Demokratie und als Feind, mit dem kein Arrangement möglich ist Churchill: „Eiserner Vorhang“ im März 1946 Containment-Politik und Truman-Doktrin im März 1947: globaler Konflikt mit der Sowjetunion und weltweite Unterstützung von Staaten gegen kommunistische Bedrohung Marshall-Plan im Dezember 1947: wirtschaftlicher Wiederaufbau Westeuropas und Stabilisierung der Demokratie; Ablehnung der Beteiligung Osteuropas durch die Sowjetunion 54 9.4 Grundelemente des Systems des Kalten Krieges Χ Weltmächte als antagonistische Systemzentren Definitorische Charakteristika einer Weltmacht: industrielle Fähigkeit zur Produktion qualitativ höchstentwickelter Waffensysteme ohne Know-how-Transfer; ausreichende militärische Stärke zur Selbstbehauptung gegenüber nächstgrößter Militärmacht (durch glaubhafte Abschreckung oder Krieg); ausreichendes Machtpotential zum gleichzeitigen politischen, ökonomischen und militärischen Engagement in mehreren Weltregionen; akzeptiertes oder erzwungenes Führungszentrum regionaler Bündnissysteme Zurückhaltung der USA: keine Ausschaltung der Sowjetunion als Konkurrent solange es noch möglich war Χ Entwicklung umfassender Bündnissysteme Geflecht politischer und militärischer Allianzen, bilateraler Beistandsverträge und vorgeschobener Stützpunkte für Land-, Luftund Seestreitkräfte globale Orientierung US-amerikanischer Bündnispolitik, z.B. Rio-Pakt 1947 (Südamerika); NATO 1949 (Westeuropa); ANZUS 1951 (Australien/ Ozeanien); SEATO 1954 (Südostasien); BagdadPakt/CENTO 1955/59 (Mittlerer Osten) weitgehende Beschränkung der Sowjetunion auf Europa und Ostasien, insbesondere Warschauer Pakt 1955 Flankierung durch ökonomische Kooperation: westliche Organisationen als Weltwirtschaftsorganisation (z.B. Bretton WoodsSystem, OEEC/OECD, IWF, GATT); Autarkiekurs des sowjetischen Lagers (z.B. RGW) Χ Globaler Konkurrenzkampf der Blöcke weltweite, machtpolitisch orientierte Unterstützung freundlicher Regimes durch ökonomische, militärische und geheimdienstliche Hilfeleistungen, weitgehend unabhängig von deren Innenpolitik Parteiergreifung in Bürgerkriegen und internationalen Konflikten bis hin zur Entsendung eigener Truppen (z.B. Korea, Vietnam, Mittelamerika, Afghanistan) oder solcher enger Verbündeter (z.B. Kubaner in Angola und Äthiopien) qualitativer und quantitativer Rüstungswettlauf mit wachsender Eigendynamik, angestoßen durch sowjetische Bestrebungen gleichzuziehen, technologischen Fortschritt, Ziel der glaubwürdigen Vertretung der Abschreckung, ökonomisch-militärische Eigeninteressen und Feindbilder Χ Interdependenzbedingte Interessenkohäsion seit Anfang der 70er Jahre System der „Mutual Assured Destruction“ (MAD) auf der Basis beiderseitiger nuklearer Zweitschlagfähigkeit 55 - - - potentielle Eskalationsdynamik bis hin zum allgemeinen Nuklearkrieg, z.B. durch enge Verflechtung zwischen USA und Westeuropa (Truppenstationierungen) historisch bedingte hohe Hemmschwellen vor einem Krieg in Europa beherrschendes gemeinsames Interesse einer direkten militärischen Konfrontation verhältnismäßig rationale Handhabung internationaler Krisen, z.B. Berlin-Blockade 1948/49, Korea-Krieg 1950-53, Berlin-Krise 1958-61, Kuba-Krise 1961 gegenseitige Akzeptanz von Einflusszonen gemäß „Monroe-Doktrin“ (z.B. Dominikanische Republik 1965, Grenada 1983, Panama 1989) und (später so formulierter) „Breschnew-Doktrin“ (z.B. DDR 1953, Ungarn 1956, CSSR 1968, Polen 1980) Vermeidung unmittelbarer Konfrontation US-amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte und verbesserte Kommunikation (z.B. „heißer Draht“ 1963, „Agreement on the Prevention of Incidents on the High Seas“ 1972); Rüstungskontrollbemühungen gemeinsame ablehnende Haltung bezüglich der Entwicklung neuer Weltmächte: z.B. gemeinsamer Druck auf Großbritannien und Frankreich in der Suez-Krise 1956 (Versuch der Wiederherstellung kolonialer Großmacht), US-Widerstand gegen Fouchet-Pläne 1962 (gaullistisches Europa als „dritte Kraft“), Überlegungen eines gemeinsamen Präventivschlages gegen China 1964 (fünfte Nuklearmacht), gemeinsame Hinderung Chinas an Intervention in den indisch-pakistanischen Krieg von 1965 (chinesische Expansion gegen Indien) Χ Scheitern von Emanzipationsversuchen der Dritten Welt Versuche, die entkolonialisierten Entwicklungsländer zu einer unabhängigen weltpolitischen Kraft zu machen: z.B. BandungKonferenz 1955, Blockfreienbewegung 1961; regionale Zusammenschlüsse: z.B. Arabische Liga 1945, OAU 1963 Ursachen des Scheiterns: weiterbestehende vertikale Abhängigkeit von den ehemaligen Kolonialmächten, die mit lokalen Eliten kooperieren (Neoimperialismustheorie, struktureller Imperialismus), die in die bestehenden Blöcke eingebunden waren; Konflikte aus der Kolonialzeit (Grenzziehung); Beharrung auf eben erlangter Souveränität und Machterhaltungswillen der Eliten; wirtschaftliche Konkurrenz untereinander als Rohstofflieferanten Ausnahme: zunehmende regionale Rolle Chinas nach Bruch mit Moskau Χ Neutralisierung der VN Vetoanwendung und -drohung im Sicherheitsrat Instrumentalisierung des Vorrangs regionaler Organisationen (Art.52 SVN) fehlende rechtliche Bindung durch Resolutionen der Generalversammlung 56 10. NATO und Warschauer Pakt 10.1 Die NATO Χ Hintergrund und Ziele zunehmende Spannungen zwischen Westmächten und Sowjetunion: alleinige Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei (Februar 1948); letzte gemeinsame Sitzung des Alliierten Kontrollrates (März 1948); finnisch-sowjetischer Beistands- und Freundschaftspakt (April 1948: „Finnlandisierung“); Beitritt Österreichs zum Marshall-Plan (Juli 1948); Spaltung Koreas durch Proklamation der Demokratischen Volksrepublik Korea (September 1948) Spaltung Deutschlands: separate Wirtschaftsplanung in der SBZ (Mai 1948); Vorschlag eines westdeutschen Staates auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz (Juni 1948); Währungsreform in den Westzonen (Juni 1948); Zusammentreten des Parlamentarischen Rates (September 1948) April 1949: Gründung der NATO in Washington Ziele: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“ Χ Mitglieder 1949: Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island (keine Streitkräfte), Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, USA 1952: Griechenland, Türkei 1955: Bundesrepublik Deutschland 1982: Spanien Χ Vertragsbestimmungen friedliche Streitbeilegung (Art.1 NATOV) wirtschaftliche Kooperation und Stabilisierung der Demokratie (Art.2 NATOV) Gewährleistung einzelner und gemeinsamer Verteidigungsfähigkeit (Art.3 NATOV) gegenseitige Beistandspflicht gemäß Art.51 SVN durch Maßnahmen, die „für erforderlich erachtet“ werden, um die Sicherheit wieder herzustellen, d.h. keine automatische militärische Beistandspflicht (Art.5 NATOV) geographischer Geltungsbereich: Europa und Nordamerika einschließlich atlantischer Inseln nördlich des Wendekreises des Krebses und französischer Departements in Algerien (Art.6 NATOV) keine gegenteiligen Vertragsabschlüsse (Art.8 NATOV) Errichtung eines Rates (Art.9 NATOV) Geltungsdauer: Revisionsmöglichkeit nach 10 Jahren; nach 20 Jahren Austrittsmöglichkeit mit einjähriger Kündigungsfrist (Art.12, 13 NATOV) 57 Χ Politische Organisation Allianz souveräner Staaten, daher kein supranationales Entscheidungsgremium (wie z.B. in der EU) und Konsensprinzip Nordatlantikrat (NC): höchstes Entscheidungsgremium; Rat der Ständigen Vertreter der Regierungen (Tagung einmal pro Woche); Rat der Minister (mindestens zweimal pro Jahr) Ausschüsse des NC, insbesondere Ausschuss für Verteidigungsplanung (DPC) mit Vertretern der an der militärischen Integration teilnehmenden Staaten (ohne Frankreich, Island und Spanien) Generalsekretär: Vorsitzender des NC, des DPC, des Ausschusses für Nukleare Verteidigungsfragen (NDAC) und der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) auf Ebene der Verteidigungsminister; Unterstützung durch Internationalen Stab Χ Militärische Organisation Militärausschuss (MC): höchste militärische Instanz; Stabschefs aller an der militärischen Integration beteiligten Staaten; Unterstützung durch Internationalen Militärstab; Sitzung mindestens zweimal pro Jahr auf Stabschefebene und einmal pro Woche auf Ebene der Nationalen Militärischen Vertreter Oberste Alliierte Befehlshaber: Kommandobereiche Europa, Atlantik, Ärmelkanal Kommandobereich Europa: Nord-, Mittel- und Südeuropa, britische Luftverteidigungsregion, beweglicher Eingreifverband, NATOFrühwarnung integrierte Kommandostruktur: gemeinsame Kommandobehörden bereits im Frieden (Stäbe); bereits im Frieden unterstellte Verbände (Eingreifverband, Flottenverbände Atlantik, Ärmelkanal und Mittelmeer, alarmbereite Luftwaffeneinheiten); im Verteidigungsfall Unterstellung der Masse der nationalen Verbände, ausgenommen Territorialverbände informeller Zusammenschluss der europäischen Integrationsmitglieder: EUROGROUP; seit 1976 Unabhängige Europäische Planungsgruppe (IEPG) zur Rüstungskoordination (mit Frankreich) Ursachen des französischen Austritts aus der militärischen Integration 1966: gaullistische Vorstellung nationaler Unabhängigkeit, insbesondere gegenüber US-amerikanischer Dominanz; Entspannung der Situation in Europa und geringere Rolle der NATO; Zweifel an der US-Nukleargarantie nach Erreichen interkontinentaler Nuklearkapazität durch die Sowjetunion; Eskalationsgefahr außereuropäischer Konflikte (Vietnam) und Einbeziehung Europas; automatischer Schutz durch NATO durch geographische „Windschattenlage“ Χ Flankierende bilaterale Abkommen der USA Verteidigungsabkommen mit Bundesrepublik (1955), Dänemark (1950), Frankreich (1950), Großbritannien (1950), Italien (1950), 58 - Kanada (1941, für Neufundland), Luxemburg (1950), Niederlande (1950), Norwegen (1950) und Portugal (1951) Stationierungsabkommen, z.B. mit Bundesrepublik (einschließlich Wartime Host Nation Support-Abkommen 1982), Griechenland, Großbritannien, Island, Niederlanden, Portugal (Azoren) 10.2 Der Warschauer Pakt Χ Hintergrund und Zielsetzung formal: Militärkoalition als Gegengewicht zur NATO nach dem Beitritt der Bundesrepublik (Gründung des Warschauer Paktes 1955) faktische Ziele: Instrument zur außen-, sicherheits- und innenpolitischen Führung der osteuropäischen Staaten durch die Sowjetunion Zusammenfassung aller militärischen Mittel des sozialistischen Lagers unter der Ägide der Sowjetunion Χ Mitglieder Bulgarien, DDR, Polen, Rumänien, Sowjetunion, Tschechoslowakei, Ungarn Austritt des Gründungsmitglieds Albanien 1968 Χ Vertragsbestimmungen (vgl. NATOV) friedliche Streitbeilegung (Art.1 WV) internationale Kooperation für Abrüstung und Abschaffung der ABCWaffen (Art.2 WV) geographischer Geltungsbereich: Europa (Art.4 WV) Beistandspflicht analog zum NATOV (Art.4 WV) Schaffung eines gemeinsamen Oberkommandos (Art.5 WV) Schaffung eines politischen Ausschusses (Art.6 WV) keine gegensätzlichen Bündnisse (Art.7 WV) wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit (Art.8 WV) Nichteinmischung in innere Angelegenheiten (Art.8 WV) Geltungsdauer: 20 Jahre; danach automatische Verlängerung um 10 Jahre bei Nichtaustritt (Art.11 WV); letzte Verlängerung: 1985 für 20 Jahre Χ Politische Organisation Politischer Beratender Ausschuss (PBA): höchstes Entscheidungsgremium; Erste Generalsekretäre der Zentralkomitees der Kommunistischen Parteien, Regierungschefs und Außenminister; Tagung durchschnittlich alle zwei Jahre („Gipfel der Warschauer-PaktStaaten“) Generalsekretär: Leiter des Vereinten Sekretariats mit verschiedenen Kommissionen (u.a. Verbindung zum Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe); Ausführungs- und Unterstützungsorgan des PBA Komitees der Verteidigungs- und Außenminister zur tatsächlichen politischen Leitung 59 Χ Militärische Organisation Komitee der Verteidigungsminister (seit 1969): Koordination aller militärisch relevanten Fragen; Verteidigungsminister, Oberkommandierender und Generalstabschef des Vereinten Oberkommandos; Unterstützung durch den Militärrat der stellvertretenden Verteidigungsminister (i.d.R. Generalstabschefs) Vereintes Oberkommando: Oberbefehlshaber ist Marschall der Sowjetunion und erster stellvertretender Verteidigungsminister der Sowjetunion Gemeinsamer Generalstab: Stabschef und damit erster Stellvertreter des Oberbefehlshabers ist General der Sowjetunion und erster Stellvertreter des Generalstabschefs der Sowjetunion integrierte Militärstruktur im Frieden: gemeinsame Führung, Koordination, Ausbildung und Dislozierung; zentralisiert in Moskau; ständig unterstellte Verbände (sowjetische Truppen in der DDR, CSSR, Polen und Ungarn; gesamte Nationale Volksarmee der DDR; gesamte Luftverteidigung des Warschauer Paktes; Vereinte Seestreitkräfte aus sowjetischer Baltischer Flotte, Volksmarine der DDR und polnischer Seekriegsflotte; einzelne Kontingente der Mitgliedsstaaten) im Krieg: komplette Unterstellung der Streitkräfte der Mitgliedsstaaten unter den sowjetischen Generalstab Χ Flankierende bilaterale Abkommen der Sowjetunion 1. Generation der Freundschafts-, Kooperation- und Beistandsverträge (1943-49): 23 Verträge mit allen osteuropäischen Staaten außer Albanien und DDR 2. Generation (1964-72): automatische militärische Beistandspflicht; keine geographische Begrenzung; vollständige Einbeziehung der DDR 3. Generation (mit der CSSR 1970 und der DDR 1975): gemeinsames Vorgehen gegen antisozialistische Umtriebe (Breschnew-Doktrin); ökonomische Integration im RGW; indirekte Bindung von Polen, Ungarn und Bulgarien durch deren Verträge mit der DDR Stationierungsabkommen: DDR (1950, 1957), Polen (1956), Ungarn (1957), CSSR (1968), Rumänien (1957, erloschen nach Abzug 1958) 10.3 Χ Militärstrategie Sowjetische Doktrin Hintergrund: Erfahrung ausländischer Interventionen und Invasionen (Bürgerkrieg, Erster und Zweiter Weltkrieg); geostrategische Einkreisung zwischen Westeuropa und China; wirtschaftliche Überlegenheit der USA; politische Instabilität der Verbündeten; sozialistische Ideologie; Abschreckungsidee durch militärische Stärke Konsequenz: unbedingte Offensivausrichtung der Doktrin; Defensive nur zur temporären Vorbereitung eines Angriffs (Konzentration etc.); weitgefasstes Aggressionsverständnis, damit Möglichkeit von 60 - - - Präventiv- und Präemptivkriegen; „Blitzkriegskonzeption“ und Geiselfunktion Westeuropas (Drohung schneller Eroberung im Kriegsfall als Abschreckung unterstellter Anreize begrenzter europäischer Kriegführung für die USA) in den 60er und 70er Jahren: offensive Kriegführung mit allen verfügbaren Mitteln (einschließlich Nuklearwaffen) zur weiträumigen Vernichtung des Militär- und Wirtschaftspotentials des Gegners in kürzester Zeit (Sokolowski) seit dem Ende der 70er Jahre: Konzentration auf konventionelle Offensive und Verhinderung nuklearer Eskalation; wachsendes Bewusstsein der Unmöglichkeit des Sieges im Nuklearkrieg und der Eskalationsgefahr eines begrenzten Krieges; Offenhalten eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen, aber Ziel, nukleare Schwelle durch konventionelle Überlegenheit zusammen mit strategischer Abschreckung zu unterlaufen generelles Ziel eines militärischen Übergewichts zum Schutz vor Aggression aufgrund geostrategischer Lage (Zwei-Fronten-Krieg) und innenpolitischer Aufgabe des Militärs (Stabilisierung der Regimes); Flankierung durch politische Lockerung der transatlantischen Allianz Χ Abschreckung und Vorneverteidigung in der NATO-Doktrin generelles Ziel: Kriegsverhinderung durch Abschreckung; dazu notwendig: ausreichende Machtmittel, Einsatzwillen und glaubwürdige Demonstration des Einsatzwillens Vorneverteidigung: Ziel, einen Angriff so grenznah wie möglich zu stoppen; notwendige konventionelle Stärke nur durch Stationierung von Bündnistruppen in Deutschland; bei Nichtgelingen Rückgriff auf Atomwaffen variierende Tiefe der Vorneverteidigung und Rolle von Nuklearwaffen: „Ostverschiebung“ der Hauptverteidigungs- und vorgelagerten Verzögerungszone im Zeitablauf Χ Phasen der NATO-Doktrin MC 14/1 („Forward Strategy“) von 1950: Verteidigung soweit östlich wie möglich (d.h. auf dem Boden des Nichtmitglieds Bundesrepublik); Verwendung auch nuklearer Systeme; unmittelbare Motivation: Erfahrung des Koreakrieges (extrem weites Vordringen der Nordkoreaner nach Überraschungsangriff) Schätzung für eine erfolgreiche konventionelle Abwehr 1952: ca. 96 Divisionen mit 9.000 Flugzeugen und Hubschraubern; Beschluß 1956: 26 Divisionen und 1.400 Flugzeuge und Hubschrauber; Ausgleich konventioneller Schwäche durch Nuklearwaffen MC 14/2 („Massive Retaliation“) von 1957: US-Doktrin von 1954 als Basis (sofortiges Zurückschlagen mit Mitteln und am Ort nach Wahl); „Schwert-Schild-Doktrin“ mit konventionellen Kräften und taktischen Atomwaffen als Schild (Abwehr begrenzter Angriffe, die Aggressor zu umfangreichen Vorbereitungen und Konzentration zwingt) und strategischen Nuklearwaffen als Schwert (massiver Gegenschlag) 61 - - Χ zwei Hauptfunktionen der Allianz laut Harmel-Bericht von 1967: ausreichende militärische Stärke und Solidarität zur Aufrechterhaltung der Abschreckung und gleichzeitig Suche nach Verständigung und Abrüstung MC 14/3 („Flexible Response“) von 1967 bis 1991: drei Reaktionen auf Aggression (Direktverteidigung auf gleicher Stufe wie der Angreifer mit dem Ziel schneller Kriegsbeendigung; politisch kontrollierte, vorbedachte Eskalation in horizontaler, d.h. räumlicher, oder vertikaler Richtung, d.h. durch selektiven Nukleareinsatz, auch Ersteinsatz, um Einstellung der Aggression zu bewirken; allgemeine nukleare Reaktion, d.h. Einsatz des strategischen Nuklearpotentials als letztes Mittel der Eskalation); Prinzip fehlender vorheriger Festlegung und damit Berechenbarkeit; Mittel der NATO-Triade (konventionelle Streitkräfte; nukleare Kurz- und Mittelstreckensysteme in Europa; interkontinentale Nuklearstreitkräfte), deren Elemente als nicht vollständig gegenseitig substituierbar angesehen werden; weiterhin Prinzip der Vorneverteidigung, daher Notwendigkeit hoher Präsenzstärke wegen geringer Vorwarnzeit Rolle der europäischen Verbündeten Deutschland: NATO-Aufmarschgebiet bereits im Frieden; bekanntes Gefechtsfeld; zentraler Anteil an den konventionellen Streitkräften im Abschnitt Zentraleuropa (Präsenzstärke der Bundeswehr; überdurchschnittlicher Anteil an schweren, gepanzerten Kräften) Großbritannien: Luftwaffenbasis und Nachschubzentrum für Verstärkung aus den USA; Beitrag der Rheinarmee Frankreich/Benelux: strategische Tiefe und unmittelbare Verstärkung im Verteidigungsfall französische und britische Nuklearwaffen: Verstärkung des Unsicherheitsfaktors für einen potentiellen Angreifer, damit Stärkung der Abschreckung; europäische Atomwaffen als potentieller Auslöser nuklearer Eskalation über die Geiselfunktion der US-Truppen in Europa hinaus, damit Abschwächung der Selbstabschreckung der USA (Selbstvernichtung ohne unmittelbare Bedrohung bei strategischer Eskalation eines europäischen Krieges), aber auch Risiko unbedachter Eskalation Türkei und Norwegen: Flankenbedrohung der Sowjetunion im Sinne einer horizontalen Eskalation 10.4 Probleme der NATO und Strategiediskussion in den 80er Jahren Χ Europäisch-amerikanische Interessengegensätze wachsende wirtschaftliche Konkurrenz: Erfolg der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Handelsstreitigkeiten (Protektionismus, Konkurrenz auf dem Weltmarkt) Reagans Abkehr von der Entspannungspolitik: stark ideologisch geprägte Verstärkung des Wettrüstens Anfang der 80er Jahre als Antwort auf sowjetische Expansionsversuche und Unterdrückung in 62 - - Χ Osteuropa (Afghanistan, Polen) gegenüber europäischen Interessen weiterer Entspannungsbemühungen (KSZE-Prozess, Friedensbewegung) europäische Zweifel an der US-Nukleargarantie: nach Akzeptanz strategischer Parität zwischen USA und Sowjetunion wachsende Befürchtungen in den USA, strategischen Selbstmord zu begehen, daher Intentionen einer „Abkoppelung“; europäische Befürchtungen, der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes allein ausgeliefert zu sein oder Schauplatz eines begrenzten Nuklearkrieges mit einseitiger Vernichtung zu werden (Überlegungen bezüglich eines „gewinnbaren“ Nuklearkrieges in den USA) Forderungen der USA nach einem besseren Lastenausgleich zwischen USA und Europäern „Reykjavik-Schock“ 1986: Ansätze einer Übereinkunft zwischen USA und Sowjetunion über nukleare Abrüstung und Sicherheit ohne Konsultation der europäischen NATO-Verbündeten Militärstrategische Probleme konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes: Konzentration auf nukleare Komponente der NATO-Abschreckung in den 60er und 70er Jahren; Vernachlässigung konventioneller Stärkung, insbesondere durch die Europäer, aufgrund der damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Kosten („Aufbau der europäischen Wohlfahrtsstaaten im Schatten des US-amerikanischen Nuklearschirms“); gleichzeitig seit Beginn der 70er Jahre massive quantitative und qualitative Verstärkung der konventionellen Streitkräfte des Warschauer Paktes, insbesondere der Ersten Strategischen Staffel; wachsende Zweifel an der Fähigkeit konventioneller Abwehr- oder Verzögerungsmöglichkeiten der NATO bis zum Eintreffen überseeischer Verstärkungen (überlegenes Mobilisierungspotential der Sowjetunion; verstärkte Vorbereitungen der Zweiten Strategischen Staffel; Überraschungseffekt; geringere Behinderungen bei der Zuführung von Reserven des Warschauer Paktes) Streitkräftevergleich 1984/85 (präsente konventionelle Streitkräfte in Europa, NATO gegen Warschauer Pakt einschl. westl. sowjet. Militärbezirke): 3,4 Mio Mann (davon 470.000 Franzosen und 330.000 Spanier) gg. 4,0 Mio; 110 Divisionen (15 frz., 7 span.) gg. 115; 15.400 Kampfpanzer (1.100 frz., 760 span.) gg. 26.900; 13.800 Artilleriesysteme (1.400 frz., 1.360 span.) gg. 19.900; 3.300 Hubschrauber (660 frz., 160 span.) gg. 2.300; 3.700 Flugzeuge (520 frz., 215 span.) gg. 7.400 Problem der nuklearen Mittelstreckenraketen: Modernisierung und Erweiterung der sowjetischen Nuklearkapazität mittlerer Reichweite (auf Europa beschränkt, aber hier von strategischer Bedeutung); wachsende Befürchtungen eines sowjetischen Nukleareinsatzes über den taktisch-operativen Rahmen hinaus ohne strategische Bedrohung 63 - der USA, und damit Möglichkeit eines auf Europa beschränkten Nuklearkrieges verstärkte sowjetische Marinerüstung: Erweiterung der globalen Reichweite (Expansion Richtung Weltmeere); Befürchtungen einer Unterbrechung der transatlantischen Verstärkungslinien Χ Ansätze zur Weiterentwicklung der MC14/3 generelle Ziele: Verringerung der konventionellen Unterlegenheit gegenüber dem Warschauer Pakt durch Betonung qualitativer und operativ-taktischer Aspekte; dadurch Verringerung der Notwendigkeit frühzeitigen Nuklearwaffeneinsatzes; Verbindung mit USAnstrengungen auf dem Gebiet der HighTech-Waffensysteme (besonders Lenkwaffen etc.) und Kommunikation/Überwachung mit dem Ziel überlegener konventioneller Kampffähigkeit auf globaler Ebene (z.B. „discriminate deterrence“) AirLandBattle 2000: US-Field Manual 100/5 „Operation“ von 1982 als Basis eines von den USA in die NATO eingebrachten Konzeptionsentwurf für die operativ-taktische Gefechtsführung; Betonung des Zieles der offensiven Zerschlagung des Gegners im Rahmen des „integrierten Gefechtsfeldes“ (grundsätzliche Verfügbarkeit aller Waffensysteme und Einstellung des Kampfes auch unter ABC-Bedingungen); keine strategische Neukonzeption Follow-on-forces Attack: 1984 vom DPC beschlossene langfristige Planungsrichtlinie; Betonung der Vernichtung der Zweiten Staffeln der Warschauer-Pakt-Truppen und ihrer Luftunterstützung bereits im Anmarsch, um Wirksamkeit der konventionellen Überlegenheit zu reduzieren (Konzept des „erweiterten Gefechtsfeldes“; weiträumiger Einsatz insbesondere von zielsuchenden Raketen und Marschflugkörpern tief im Hinterland des Gegners ohne Absicht der Besetzung feindlichen Territoriums); keine strategische Neukonzeption Strategic Defense Initiative (SDI): Ankündigung durch Reagan 1983; Ziel: Nutzung neuartiger Technologien für ein komplexes Abwehrsystem gegen ballistische Raketen in allen Flugphasen; USSicht: Reduzierung der Gefährdung durch strategische Nuklearwaffen der Sowjetunion, dadurch Stärkung der eigenen nuklearen Drohung; europäische Sicht: Problem der Handlungsfreiheit der USA (Begrenzung eines Nuklearkrieges auf Europa) bei US-Monopol; gleichzeitig weiterbestehende Bedrohung durch Kurz- und Mittelstreckenraketen; zentrale Bedeutung des konventionellen Ungleichgewichts bei analogem sowjetischen System und entsprechender Kriegsbegrenzung; Gefahr eines sowjetischen Präventivangriffs Χ Strategische Alternativkonzepte Grundgedanken: Misstrauen gegenüber sicherheitspolitischer und militärischer Bindung an die USA; Loslösung von Verteidigung und Abschreckung von der nuklearen Komponente, die als unglaubwürdig, selbstmörderisch, völkerrechtswidrig oder unmoralisch angesehen 64 - - - wird; nachhaltige Berücksichtigung sowjetischer Perzeption der NATOVorneverteidigung mit hoher Präsenzstärke als potentiell offensiv (Ziel der „strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ durch Truppenorganisation, Bewaffnung und Dislozierung); teilweise hoher Vertrauensvorschuss gegenüber dem Warschauer Pakt; militärische Aspekte unter Vorzeichen neuer HighTech-Defensivsysteme Raumverteidigung: z.B. „Konventionelle Abhaltung“ und „Heimatverteidigung“; Aufgabe schwerer Kampfverbände zugunsten flächendeckender Kampfgruppenorganisation leichter, mobiler Verbände mit modernen Defensivwaffen (insbesondere zur Panzerabwehr) und hochmobiler Artillerieunterstützung; Vermeidung von Konzentrationen, die Ziel sowjetischer Artilleriemassierungen oder Nuklearschläge sein könnten; Vorbereitung von Sperren, Hindernissen und Feuerzonen bereits im Frieden; Ziel: konventionelle Abschreckung ohne Verbände, die zu raumgreifenden (Gegen-) Angriffen fähig sind, durch verlustreiche Zersplitterung und Festrennen eines Angreifers im Gebiet der Bundesrepublik; Bezüge zur österreichischen und schweizerischen Defensivdoktrin Raumdeckung: „Raumdeckende Verteidigung“ und „Integrierte Vorneverteidigung“: Bezüge zur deutschen Defensivdoktrin von 1917 (Ersetzung der schmalen Verteidigungslinie durch tiefgestaffelte Verteidigungszone; Kampfgruppentaktik auf der Basis von MG-Nestern und Bunkern; Verzögerung des gegnerischen Angriffs durch Zwang zur Neukonzentration; Bereitstellung von Eingreifreserven für den Gegenangriff) und 1945 (tiefgestaffelte Verteidigung bis 40 km in mehreren Verteidigungsstreifen mit Stützpunkten, Feuerzonen, Minenfeldern und Sperren; mobile Infanterie- und Artillerieverbände; Zermürbung des Gegners und Zeitgewinn für Heranführung gepanzerter Verbände für den Gegenangriff); Grundidee einer Vertiefung der NATO-Abwehrzone zur Vermeidung operativer Durchbrüche; Verzögerung, Zersplitterung und Zermürbung des Angreifers im Verteidigungs-„Netz“ durch vorbereitete Sperren, Feuerzonen und leichte Verbände; Gegenangriff durch schwere „Schwertverbände“ mit massiver Artillerieund Luftwaffenunterstützung; teilweise Verbindung mit Raumverteidigungskonzepten (Tiefe der Verzögerungszone bzw. Raumdeckungsverbände als Auffangposition) und mit FOFA-Konzept (Zerschlagung der hinteren Feindstaffeln durch moderne Feuerwirkung); Nuklearwaffen nur zur Abschreckung eines sowjetischen Ersteinsatzes „Disengagement“ und soziale Verteidigung: Ideen nuklearwaffenfreier Zone in Europa; Abrüstung inklusive westlicher Vorleistungen zur Senkung des Kriegsrisikos und Schaffung von Vertrauen; weitgehende Auflösung militärischer Strukturen („strukturelle Gewalt“); Defensive auf der Basis passiven Widerstandes und Nichtkooperation statt Drohung 65 Χ Sicherheitspolitische Reaktionen NATO-Doppelbeschluss 1979: Entschluss zur Modernisierung und Stationierung der westlichen Mittelstreckensysteme; zugleich Angebot der Abrüstung der Systeme bei entsprechender sowjetischer Abrüstung; Beginn der Stationierung 1983 Stärkung der konventionellen Stärke der Allianz: FOFA-Konzeption; verstärkte Vorbereitung und Übung von Transport und Dislozierung transatlantischer Reserven; Verstärkung der HochtechnologieKomponente; Ausbau der konventionellen Streitkräfte Stärkung des europäischen Pfeilers der Allianz: z.B. Wiederbelebung der WEU 66 11. Europäische Integration 11.1 Die Westeuropäische Union Χ Hintergrund und Ziele Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg: wachsende Bedrohung durch die Sowjetunion und Vorbehalte gegenüber Deutschland Vorläufer: Vertrag von Dünkirchen (1947): Frankreich und Großbritannien gegen etwaige Wiederaufnahme der deutschen Aggression; Vertragsdauer 50 Jahre; unmittelbare Beistandspflicht bei deutschem Angriff; gemeinsame Maßnahmen zur Durchsetzung wirtschaftlicher Ansprüche gegenüber Deutschland Grundlage: Brüsseler Pakt (1948): Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg und Niederlande; Zusammenschluss europäischer Demokratien und Rechtsstaaten zur wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Kooperation sowie zum Widerstand gegen jegliche Angriffspolitik, insbesondere gegenüber einer Erneuerung der deutschen Angriffspolitik; Vertragsdauer 50 Jahre; automatische Beistandspflicht mit allen militärischen und sonstigen Mitteln (Art. 4 BP) vor dem Hintergrund des Koreakrieges wachsende Forderungen nach deutschem Beitrag zur Verteidigung gegen die Sowjetunion; nach dem Scheitern der EVG Beschluss zur Einladung der Bundesrepublik und Italiens in den geänderten Brüsseler Pakt (durch Pariser Verträge vom Oktober 1954) Χ Mitglieder der WEU Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg, Niederlande seit 1948 Beitritt Italiens und der Bundesrepublik 1954 Beitritt Spaniens und Portugals 1988 Χ Vertragsbestimmungen Zielsetzung wirtschaftlicher Erholung; wirtschaftliche Zusammenarbeit (Art.I WEUV) Zusammenarbeit und Konsultation im Bereich Sozialpolitik mit dem Ziel höherer Lebensstandards (Art.II WEUV) kulturelle Kooperation und Verbesserung des Verständnisses der gemeinsamen Zivilisation (Art.III WEUV) Kooperation mit den Organen der NATO; keine Parallelorganisation zur NATO (Art.IV WEUV) direkte gegenseitige militärische Beistandpflicht bei einem Angriff in Europa (Art.V WEUV) keine Beeinträchtigung der Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat (Art.VI WEUV) keine entgegenstehenden Verträge und keine Bündnisse gegen ein Mitgliedsland (Art.VII WEUV) 67 - - - - - Χ Einrichtung eines Rates der WEU und eines Amtes für Rüstungskontrolle; Einberufung des Rates auf Antrag eines Mitgliedes bei jeder Gefährdung des Friedens oder der wirtschaftlichen Stabilität; i.d.R. einstimmige Beschlussfassung (Art.VIII WEUV) jährliche Berichtspflicht des Rates gegenüber der parlamentarischen Versammlung der WEU, die aus den Vertretern der Mitgliedsstaaten bei der Beratenden Versammlung des Europarates besteht (Art.IX WEUV) Unterwerfung unter den IGH bei allen Streitigkeiten zwischen Mitgliedsländern (Art.X WEUV) Möglichkeit der Einladung jedes anderen Staates (Art.XI WEUV) Geltungsdauer des Vertrages: 50 Jahre (bis 1998), danach Möglichkeit des Austritts mit einjähriger Kündigungsfrist Protokoll I: Änderungen des Brüsseler Vertrages (Streichung der Passagen gegen deutsche Angriffspläne) Protokoll II: Festsetzung von Höchstgrenzen der Truppenstärken in Europa (Bundesrepublik: max. 500.000 Mann); britische Verpflichtung zur Stationierung von vier Divisionen und einer taktischen Luftflotte auf dem Kontinent Protokoll III: Rüstungskontrolle innerhalb der WEU; Beschränkung der Rüstungsproduktion in der Bundesrepublik (Art.1 und 2); Festsetzung des Stationierungsumfanges von ABC-Waffen in Europa durch einfache Ratsmehrheit (Art.3); Kontrolle der ABC- und konventionellen Rüstung durch WEU (Art.4); Änderungen der zur kontrollierenden Rüstungstypen nur einstimmig (Art.5) Anlagen zum Protokoll III: Verzicht der Bundesrepublik auf Herstellung von ABC-Waffen, Boden-Boden-Lenkwaffen, größere Kriegsschiffe (bis 1980) und strategische Bomber und Überwachung durch die WEU (Anlage I i.V.m. Anlage II und III; letzte Sonderbeschränkungen für die konventionelle deutsche Rüstung 1984 aufgehoben); WEURüstungsüberwachung u.a. im Bereich von ABC-Waffen, Artillerie über 90mm Kaliber einschl. Munition, Lenkwaffen, Kampfpanzern einschl. Türmen, Panzerfahrzeugen über 10t, Kriegsschiffen über 1.500 BRT, U-Booten, Fliegerbomben über 1.000kg, Kampfflugzeugen einschl. Flugzeugzellen und Triebwerken (Anlage IV) Protokoll IV: Errichtung des Amtes für Rüstungskontrolle in Paris Organisation der WEU Rat der Außen- und (seit 1984) Verteidigungsminister (Treffen zweimal pro Jahr); Ständiger Rat der Botschafter der WEU-Staaten in London Generalsekretär (London); Rüstungskontrollamt; Agenturen für Sicherheitspolitik (Rüstungskontrolle, Verteidigung und Strategie, Rüstungskooperation und Technologie) WEU-Versammlung mit fünf Ausschüssen zur Beratung (Fragen und Empfehlungen an den Rat) 68 Χ Versuche zur Belebung der WEU in den achtziger Jahren Ausgangslage: Schattendasein der WEU gegenüber der NATO (Bindung an die USA; fehlende militärische Infrastruktur); wachsende Suche der Europäer nach stärkerem eigenen Profil gegenüber den USA (besonders Frankreich); Problem des nichtmilitärischen Charakters der EG Absichtserklärung von Rom 1984: stärkere Abstimmung der Sicherheitspolitik; Rüstungskooperation; Stärkung des europäischen Beitrags zur NATO Reorganisation der WEU nach 1984: Zusammenfassung der Pariser Agenturen; stärkere Beteiligung der Verteidigungsminister; Erweiterter Ständiger Rat (seit 1986): Londoner Botschafter, Generalsekretär, Politische Direktoren der Außenministerien, Leiter der militärpolitischen Abteilung der Verteidigungsminister; Abstimmung der europäischen Position zu den Mittelstreckenraketen unter dem Eindruck von Reykjavik 1986/87; Erweiterung um Spanien und Portugal (1988) „WEU-Plattform“ auf Initiative Frankreichs (1987): Koordinierung der Sicherheitspolitik und Rüstung; Förderung des KSZE-Prozesses; Kooperation in außereuropäischen Krisen; Betonung der nuklearen Abschreckung und der transatlantischen Allianz; Rahmen für verstärkte deutsch-französische Kooperation deutsch-französische Europkorps-Initiative und Revitalisierung der WEU durch den Maastrichter Vertrag 1991/92 11.2 Stationen der europäischen Integration Χ Ausgangslage Kriegserfahrung und Notwendigkeit der Zusammenarbeit für den Wiederaufbau Misstrauen gegenüber Deutschland und der Sowjetunion trotz verschiedener Entwürfe in der Vergangenheit fehlende Vorläufer für institutionalisierte politische Kooperation seit Mitte des 19. Jahrhunderts unterschiedliche nationale Interessen und Traditionen Tradition des europäischen Gleichgewichtes mit wechselnden Allianzen Forderung Churchills nach Vereinigten Staaten von Europa 1946 (ohne Großbritannien und Commonwealth); europäische Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg Gründung des Europarates zur Förderung der Kooperation und Demokratie 1949 Χ Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) Hintergrund: wirtschaftlicher Wiederaufbau und Furcht vor deutscher Wiederaufrüstung; Ziel französischer Teilkontrolle über deutsche Schwerindustrie; deutsches Interesse an Integration und gleichberechtigter Kooperation in Westeuropa 69 - - Χ Schumann-Plan 1950: Kooperation im Kohle- und Stahlsektor zur Sicherung des Friedens (Gewährleistung materieller Unmöglichkeit eines deutsch-französischen Krieges); Gründung der EGKS (Montanunion) im April 1951 (Bundesrepublik, Frankreich, Benelux, Italien) zentrale Bestimmungen: Einführung eines gemeinsamen Marktes; Errichtung einer Hohen Behörde, die im Kohle- und Stahlsektor Regelungsbefugnis hat, teilweise nach Zustimmung des Ministerrates, der Verbindung zu den Regierungen aufrechterhält; Gemeinsame Versammlung ohne größere legislative Kompetenzen; starke Einschränkung nationaler Souveränität durch supranationale Behörde, die verbindliche Rechtsakte setzt (gemeinsame Ausübung von Souveränität durch drittes, supranationales Organ, weil einfacher bilateraler Kooperation misstraut wird) Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) Ausgangslage: Bedarf eines deutschen Verteidigungsbeitrages und Druck der USA, aber französische Bedenken gegen eine deutsche Wiederbewaffnung im Rahmen einer nationalen Armee in der NATO; Erfolg des EGKS-Modells Pleven-Plan zur Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft der EGKS-Staaten (1950): Aufstellung einer europäischen Armee mit nationalen Kontingenten in europäischen Armeekorps unter der militärischen Führung eines europäischen Generalstabes mit üblicherweise französischem Chef; politische Leitung durch ein supranationales Kommissariat (europäischer Verteidigungsminister) in Verbindung mit einem Ministerrat der gleichberechtigten Mitgliedsstaaten; Unterstützung durch eine Parlamentarische Versammlung und einen Gerichtshof; Beschränkung der deutschen Verbände auf Europa-Einheiten, Möglichkeit weiterbestehender nationaler Kontingente für die anderen Mitgliedsstaaten; enge Kooperation mit der NATO und Unterstellung unter NATO im Kriegsfall; Unterzeichnung des EVG-Vertrages im Mai 1952 gleichzeitige Initiativen zur Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft 1952/53: europäisches Parlament mit zwei Kammern; zweigleisige Exekutive (national und supranational); Unionskompetenzen in den Bereichen Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik Zustimmung des Bundestages zur EVG trotz innenpolitischen Widerstands gegen die Wiederbewaffnung und nationale Diskriminierung in der EVG im März 1953; Ablehnung des Vertrages durch die Nationalversammlung im Mai 1954; Ursachen: französische Befürchtungen einer neuen „Wehrmacht“, Widerstand gegen den supranationalen Charakter der EVG, befürchtete Unmöglichkeit einer festen Westbindung der Bundesrepublik angesichts der deutschen Teilung, generelle Ablehnung der deutschen Wiederbewaffnung als 70 - relative Schwächung Frankreichs in Europa, Widerstand gegen Stärkung des Westens (stalinistisch orientierte Kommunistische Partei Frankreichs), Vorstellung der Unmöglichkeit übernationaler oder internationaler Streitkräfte (nur die Nation kann und darf „höchstes Opfer“ von ihren Bürgern fordern; Position der Gaullisten); damit gleichzeitig Scheitern der EPG Ergebnis: WEU- und NATO-Beitritt der Bundesrepublik 1954/55 (deutscher Wehrbeitrag im Bündnis und mit Beschränkungen) Χ EWG und EURATOM (EAG) Hintergrund: Konferenz der Montanunion in Messina 1955 (Beschluss zu weiterer Kooperation und Integration in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht); Hoffnung auf „spill-overs“ im politischen Bereich; Interesse Frankreichs an einer sektoralen Integration analog zur EGKS, daher Projekt von EURATOM; Interesse der Niederlande, Belgiens, Italiens und der Bundesrepublik an Gemeinsamem Markt, daher Projekt der EWG; Zusammenführung beider Projekte durch Spaak-Kommission Ausgestaltung: Römische Verträge März 1957; supranationale Kommission mit beschränkter Weisungsbefugnis in bestimmten wirtschaftlichen Bereichen; Ministerrat der nationalen Regierungen als zentrales Entscheidungsorgan; Konsultationsrechte des Europäischen Parlamentes; Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof Entwicklung: zunächst Ablehnung einer Beteiligung Großbritanniens wegen der Zollunion und französischer Weigerung (Gegenprojekt der EFTA als Freihandelszone); Krisen durch französische Blockadepolitik 1965/66; Luxemburger Kompromiss 1966 (prinzipiell Mehrheitsentscheide im Rat, aber bei Fragen grundsätzlichen nationalen Interesses Einstimmigkeitsprinzip); Fusion der Organe von EGKS, EWG und EURATOM 1967; Verwirklichung der Zollunion 1968; 1969 Beschluss der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU); Erweiterung um Großbritannien, Irland und Dänemark (1973), Griechenland (1981) sowie Spanien und Portugal (1986); Revision der EG-Verträge durch Einheitliche Europäische Akte 1986: Binnemarktprojekt 1992, Änderung der Beschlussfassung und verstärkte Beteiligungsrechte des Europäischen Parlamentes Χ Europäische Politische Union (Fouchet-Pläne) Hintergrund: wachsendes Misstrauen de Gaulles gegenüber den Sicherheitsgarantien der USA für Europa; Ablehnung der französischen Forderung nach einem NATO-Direktorium für die Nuklearwaffen aus USA, Großbritannien und Frankreich 1958/59; französisches Interesse an einem unabhängigen (frankophilen) Europa als eigenständige Großmacht außerhalb des Konfliktes zwischen USA und Sowjetunion; Interesse der Bundesrepublik, Italiens und Luxemburgs an einer supranationalen politischen Weiterentwicklung der EWG; Bedenken Belgiens und der Niederlande wegen der Zukunft der NATO und einer französischen (oder französisch-deutschen) 71 - - - - - Führung in Europa; Bad Godesberger Erklärung vom Juli 1961 über die politische Kooperation und Einheit der EWG-Mitgliedsstaaten bei Offenheit für weitere Beitrittskandidaten (Großbritannien) und Bewahrung der NATO Fouchet I (1961): gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik einer unauflöslichen Union gleichberechtigter Mitgliedsstaaten in Kooperation mit anderen freien Völkern (Art.1, 2); Rat der Staats- und Regierungschefs als einziges beschlussfassendes Organ (Art.5) mit Einstimmigkeitsprinzip (Enthaltung möglich, Art.6); Unterstützung durch Europäische Politische Kommission aus Ministerialbeamten (Art.9, 10); Konsultations- und Informationsrechte des Europäischen Parlamentes (Art.7, 8); Revisionsmöglichkeit des Vertrages mit dem Ziel einer Zentralisierung der Gemeinschaften (Art.16); Beitritt automatisch über Beitritt zu Europarat, EGKS, EWG und EURATOM (Art.17); kein Gerichtshof; Prinzip enger zwischenstaatlicher Kooperation statt supranationaler Integration Verhandlungen: Begrüßung als Verhandlungsgrundlage durch Bundesrepublik, Italien und Luxemburg; Ablehnung durch Belgien und Niederlande aus Furcht vor einer Aufweichung der NATO und einer Hegemonie der großen EWG-Staaten Revision durch Fouchet II: explizite Nennung der NATO; Garantie der bestehenden supranationalen Organisationen; stärkere Beteiligung des Europäischen Parlaments bei der Revision; Einrichtung eines unabhängigen Generalsekretärs neben der vom Rat abhängigen Politischen Kommission; starke Annäherung der Positionen bis Ende 1961 Wandel der französischen Position: Einigung über Prinzipien der EWGAgrarpolitik Anfang 1962; Projekt einer transatlantischen Wirtschaftsgemeinschaft Kennedys nach einem EWG-Beitritt Großbritanniens; Vorlage von Fouchet III (Januar 1962) mit Ausklammerung der NATO, Wirtschaft als Unionszuständigkeit, Wegfall der Garantie für die bestehenden Gemeinschaften und des unabhängigen Generalsekretariats, separatem Beitritt durch einstimmige Aufnahme in die EPU; Gegenentwurf der Fünf (CattaniKommission); zunächst Zugeständnisse de Gaulles; im April 1962 jedoch britische Forderung nach direkter Beteiligung an den Verhandlungen, Garantie der Gemeinschaften und Verbindung der Union mit der NATO (mit belgischer und niederländischer Unterstützung); Scheitern der Verhandlungen am Interessengegensatz Frankreichs gegenüber den Niederlanden und Belgien Resultat: nationale französische Alleingänge (Verzögerung des britischen Beitritts zur EWG, Austritt aus der NATO, deutschfranzösischer Vertrag); Demonstration des Primats der NATO vor einer europäischen Konföderation und der Angst der kleinen EWG-Staaten vor Bevormundung durch Frankreich und Deutschland 72 Χ Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) Hintergrund: Wiederaufnahme des Ziels vertiefter außenpolitischer Koordination seit 1969; Luxemburger Bericht 1970: kontinuierliche Zusammenarbeit der Außenminister und Diplomaten; Konkretisierung durch Kopenhagener Bericht 1973; Einbeziehung des Europäischen Parlaments und der Sicherheitspolitik im Londoner Bericht 1981; völkerrechtlich verbindliche vertragliche Fassung durch die Einheitliche Europäische Akte von 1986 Ausgestaltung und Entwicklung: intergouvernmentale Organisation neben der EG; halbjährliche Treffen des Europäischen Rates der Staatsund Regierungschefs; vierteljährliche Treffen der Außenminister; Koordinierung durch Politisches Komitee hoher Beamten (Tagung einmal monatlich); Europäische Korrespondentengruppe (Beamten der Außenministerien) und Arbeitsgruppen zur tagespolitischen Umsetzung; Unterstützung der Präsidentschaft (identisch mit EG-Präsidentschaft) durch Sekretariat in Brüssel; direkte Verbindung durch Fernschreibernetz COREU; Teilnahme der EG-Kommission seit 1983; beratende Funktion des Europäischen Parlaments Leistungen und Defizite: gemeinsame Positionen bei humanitären Fragen (Südafrika), Abstimmung der europäischen Position in der KSZE, Friedensinitiativen im Nahen Osten, Waffenembargos gegen Terrorismusstaaten und im Falklandkonflikt gegen Argentinien; keine wirkliche gemeinsame europäische Außenpolitik, weiterhin Prinzip nationaler Souveränität, Kooperation auf zwischenstaatlicher Basis mit praktischer Ausblendung der supranationalen Institutionen Χ Europäische Union Hintergrund: Regierungskonferenz 1991; Unterzeichnung des EUVertrages von Maastricht Februar 1992 Prinzipien: Drei-Säulen-Konzept mit EG (Wirtschaftsund Sozialpolitik), GASP (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik als Nachfolgerin der EPZ) und Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres als Teilen der EU; dabei zweite und dritte Säule Kooperation zwischen den nationalen Regierungen außerhalb der supranationalen EG; GASP als faktische Fortsetzung der EPZ Sicherheitspolitisch relevante Vertragsbestimmungen von Maastricht: Titel V EUV; Europäischer Rat und Außenministerrat als zentrale Gremien; Prinzip der gegenseitigen Solidarität und Loyalität; gegenseitige Unterrichtung und Abstimmung; gemeinsame Standpunkte auf internationalen Konferenzen; WEU als Organisation zur Umsetzung verteidigungspolitischer Beschlüsse; Achtung der nationalen Sicherheitspolitik und der NATO; Möglichkeit engerer bioder multilateraler Kooperation; außenpolitische Vertretung der Union durch Präsidentschaft und Troika; Zusammenarbeit der diplomatischen und konsularischen Dienste; Beteiligung der EG-Kommission 73 11.3 Deutsch-französische Kooperation seit Beginn der 60er Jahre Χ Hintergrund zentrale Rolle der beiden Staaten in Kontinentaleuropa; Erfahrung der „Erbfeindschaft“ und dreier großer Kriege in 70 Jahren; Einsicht der gegenseitigen Abhängigkeit in Europa nach 1945 Besonderheiten französischer Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen: Betonung der Autonomie einer starken Verteidigung; Selbstbild der „Grande Nation“ und internationales Statusbewusstsein (UN-Sicherheitsrat, Atommacht), insbesondere gegenüber den Weltmächten und Deutschland; pragmatische Ausgestaltung der Sicherheitspolitik angesichts geographischer Besonderheiten und ökonomischer Begrenztheit: z.B. „Trittbrettfahrer“ der NATO-Nuklearabschreckung, Europapolitik als Potentialerweiterung für Frankreich, z.T. antiamerikanische Außenpolitik bei gleichzeitiger Verlässlichkeit in Krisensituationen, Sonderrolle in Afrika Besonderheiten bundesdeutscher Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen: Streben nach gleichberechtigter Souveränität und staatlicher Einheit; zurückhaltende, tw. idealistische Außenpolitik ohne militärische Mittel; Betonung von internationalem Konsens und wirtschaftlichen Instrumenten der Außenpolitik; existentielles Interesse am Ost-West-Ausgleich; enge Anlehnung an USA bei gleichzeitiger starker Europhilie zur Förderung der eigenen Gleichberechtigung und Interessen ohne nationale Exposition Χ Der deutsch-französische Vertrag (Elysée-Vertrag, 1963) Zielsetzung de Gaulles: deutsch-französische Aussöhnung; starkes, unabhängiges Europa eng kooperierender Nationalstaaten unter französischer Führung; nach dem Scheitern der Fouchet-Pläne Konzentration auf die Bundesrepublik; privilegierte bilaterale Beziehung als Kern eines unabhängigen Europas Zielsetzung Adenauers: deutsch-französische Aussöhnung; Souveränitätsgewinn für die Bundesrepublik; Vertiefung der europäischen Integration gegenüber der sowjetischen Bedrohung; kein Widerspruch zwischen enger atlantischer Bindung und europäischer Einigung; möglichst starke Einbindung der Bundesrepublik in den Westen Vertragsbestimmungen: institutionelle Verflechtung und regelmäßige Konsultationen (Abschnitt I DFV: zweimal Gipfeltreffen, viermal Außenund Verteidigungs- sowie Erziehungsministertreffen, sechsmal Generalstabschef- und Familienministertreffen pro Jahr; Kooperation der Behörden; ständige interministerielle Kommission); außenpolitische Zusammenarbeit (Abschnitt II.A DFV: Konsultation und Angleichung in allen wichtigen Fragen, insbesondere bezüglich europäischer Integration, Ost-West-Beziehungen, VN, NATO und WEU; Informationsaustausch; Abstimmung der Entwicklungshilfe; Kooperation im Gemeinsamen Markt und in allen Bereichen der Wirtschaftspolitik); verteidigungspolitische Kooperation (Abschnitt II.B 74 - Χ DFV: Angleichung der taktischen und strategischen Doktrin; Personalaustausch und Sprachschulung; gemeinsame Rüstungspolitik; Zusammenarbeit im Zivilschutz); Kooperation bei Erziehungs- und Jugendfragen (Abschnitt II C DFV: Sprachunterricht und Wissenschaftskooperation; deutsch-französisches Jugendwerk zum Austausch der Jugendlichen) „Verwässerung“ des Vertrages durch den Bundestag: durch eine Präambel zum Zustimmungsgesetz Betonung der Verbundenheit mit den USA, der gemeinsamen Verteidigung in der NATO und der Einigung Europas inklusive Großbritanniens Entwicklung der politischen Kooperation Krisen durch de Gaulle: französisches Veto gegen den EWG-Beitritt Großbritanniens 1963; EWG-Krise 1965/66 (französische Politik des „leeren Stuhles“ zur Erzwingung von Zugeständnissen bei der Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Verhinderung einer Stärkung der Kommission durch Mehrheitsentscheide im Ministerrat); NATO-Krise 1966 (Ausscheiden Frankreichs aus der militärischen Integration der NATO); de Gaulles Bestrebungen einer Annäherung an Moskau und einer Auflösung der Militärblöcke; Abkühlung der Beziehungen und fehlende Umsetzung des deutsch-französischen Vertrages Wandel der Beziehungen unter Pompidou und Brandt (1969-74): Scheitern gaullistischer Ostannäherung durch Prager Frühling 1968; pragmatischerer Stil Frankreichs; neue, flexiblere Ostpolitik der sozialliberalen Koalition; Annäherung in außenund sicherheitspolitischen Zielen, aber französische Vorbehalte wegen eines befürchteten neuen „Rapallo“; Beilegung der EG-Krise durch französische Akzeptanz eines Beitritt Großbritanniens; verbesserte Abstimmung der EG-Außenpolitiken durch EPZ ab 1970; weiterbestehende grundsätzliche gaullistische Ziele französischer Außen- und Sicherheitspolitik; gravierende Meinungsunterschiede auch bei der Bewältigung der Öl- und Währungskrisen von 1973 „Tandem“ Schmidt/Giscard (1974-81): gemeinsame Initiativen zur Bewältigung der Wirtschafts- und Währungsprobleme in der EG; Herausbildung der deutsch-französischen Kooperation; Koordinierung der Wirtschaftspolitik (abgestimmte Konjunkturprogramme; Europäisches Währungssystem seit 1978/79; Weltwirtschaftsgipfel der G-7 seit 1975); Einführung der Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979; dennoch weiterbestehende Interessendivergenzen bezüglich der europäischen Integration „Achse“ Paris-Bonn unter Mitterrand und Kohl (1982-1991): Kontinuität und Selbstverständlichkeit enger Kooperation und bilateralen Sonderverhältnisses; Verstärkung der sicherheitspolitischen Kooperation unter dem Eindruck der Nachrüstungsproblematik; verstärkte Bemühungen um Institutionalisierung der Kooperation; gemeinsame Initiativen zur Vertiefung der europäischen Integration und Kooperation (z.B. Fortentwicklung des EWS, EG-Außenhandelsund Technologiepolitik, Vorbereitung des Maastrichter Vertrages); 75 - Χ pragmatische Behandlung grundsätzlicher außenund sicherheitspolitische Divergenzen (Beziehungen zu den USA, französische Nuklearwaffen etc.) französische Rolle bei der Wiedervereinigung: zunächst massive französische Vorbehalte und Versuche einer neuen Gleichgewichtspolitik mit Polen und Großbritannien gegen Deutschland; nach Akzeptanz der deutschen Einheit kooperative Unterstützung des Prozesses und Bemühung um dauerhafte Einbindung Deutschlands in Europa; zu diesem Zweck auch Akzeptanz vertiefter Integration der EG und pragmatischer Souveränitätsverzicht Frankreichs bis auf existentielle sicherheitspolitische Fragen gegenüber wachsenden deutschen Vorbehalten gegenüber der europäischen Integration; französische Akzeptanz der NATO gegenüber eigenständigerer Rolle Deutschlands gegenüber den USA Militärische Kooperation Grundprobleme: starke deutsche Anlehnung an die USA zur Sicherung des Friedens in Europa und zur Selbstbehauptung gegenüber der Sowjetunion vs. französische Bestrebungen einer Beschränkung des US-Einflusses bis hin zu einem unabhängigen Europa als dritte weltpolitische Kraft; französische Vorbehalte gegenüber der deutschen Einheit vs. Einheit als zentrales Ziel deutscher Außenpolitik; Grenzen französischer Integrationsbreitschaft in Europa im Bereich als rein national aufgefasster Verteidigungs- und Großmachtpolitik vs. deutscher Bereitschaft weitgehender Integration in Europa; deutsche Vorbehalte gegenüber französischer Nuklearabschreckung, die im prästrategischen Bereich deutsches Gebiet betrifft (Pluton- und HadèsRaketen) 1982: Gründung des deutsch-französischen Ausschusses hoher ziviler und militärischer Beamte aus den Außenund Verteidigungsministerien 1983: Unterstützung Frankreichs für die NATO-Nachrüstung 1983/84: französische Vorschläge einer deutschen Beteiligung an der Stationierung der neuen Hadès-Kurzstreckenraketen mit faktischem Vetorecht der Bundesrepublik gegen den Einsatz prästrategischer französischer Systeme („Zwei-Schlüssel-Prinzip“); Ablehnung durch die Bundesregierung wegen Selbstbeschränkung im ABC-Bereich und fraglicher US-Position 1985: EUREKA-Projekt auf französische Initiative als europäische Antwort auf SDI 1986: Vereinbarung über Konsultationen für den Fall eines französischen prästrategischen Nukleareinsatzes auf deutschem Gebiet Bemühungen um Intensivierung der gegenseitigen Ausbildung und Interoperabilität, z.B. durch gemeinsame Großmanöver 1987 und 1989 76 - - 1987: Intensivierung der Rüstungskooperation (z.B. gemeinsamer Kampfhubschrauber); französischer Vorschlag, den Nuklearschirm auch offiziell auf die Bundesrepublik auszudehnen („sanctuaire élargi“) 1988: Ergänzungsprotokoll zum Elysée-Vertrag; mindestens halbjährlich tagender deutsch-französischer Verteidigungs- und Sicherheitsrat aus Staats- und Regierungschefs, Außen- und Verteidigungsministern und Generalinspekteur bzw. Generalstabschef; Aufgaben: Erarbeitung gemeinsamer Positionen zu Verteidigung und Sicherheit, Abstimmung der Verteidigungspolitik, Beschlussfassung über gemischte Militärverbände, Verbesserung der Interoperabilität 1988: Beschluss zur deutsch-französischen Brigade, seit 1991 einsatzbereit 1991: Anregung der Erweiterung multinationaler europäischer Verbände im Rahmen der WEU; Grundlage des Europkorps 77 12. Die Deutsche Frage 12.1 Hintergrund Χ Deutschland nach 1945 Jalta-Konferenz (Februar 1945): Festlegung der Curzon-Linie als polnische Ostgrenze und Entschädigung durch deutsche Ostgebiete (“Westverschiebung” Polens) Potsdamer Konferenz (August 1945): Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen; Ostgebiete als Teil der SBZ, vorbehaltlich eines Friedensvertrages Sowjetisch-polnischer Vertrag (August 1945): Grenzen unter Friedensvertragsvorbehalt, aber Versuch, vollendete Fakten zu schaffen Abtrennung des Saargebietes von der französischen Besatzungszone, “politische Unabhängigkeit von Deutschen Reich” und Wirtschaftsunion mit Frankreich 1946/47 Χ Entwicklung der beiden deutschen Staaten Berlinblockade 1948/49 Gründung der Bundesrepublik und der DDR 1949 Petersberger Abkommen zur Erweiterung der bundesdeutschen Souveränität 1949 “Byrnes-Plan” 1946: Beendigung der Besatzung, aber völlige Entmilitarisierung Deutschlands und deren Kontrolle durch die Siegermächte für 25 Jahre “Stalin-Note” an die Westmächte 1952: Angebot der Wiedervereinigung gegen Neutralisierung Deutschlandvertrag und Überleitungsvertrag zur Ablösung des Besatzungsstatuts 1952 Niederschlagung des Berliner Arbeiteraufstandes durch die Sowjets 1953 Eden-Pläne 1954/55: gesamtdeutsche Wahlen zu einer verfassungsgebenden Nationalversammlung und Bestimmung einer deutschen Regierung (jeweils unter Aufsicht der Vier Mächte); Abschluss eines Friedensvertrages; zugleich Zusicherung eines Vertrages über zu überwachende Rüstungsbeschränkungen Deutschlands (als NATO-Mitglied), Stationierungsbegrenzungen in Ostdeutschland, Gewaltverzicht und kollektives Sicherheitssystem mit Ziel einer Verhinderung neuerlicher deutscher Aggression Sowjetische Souveränitätserklärung für die DDR 1954 Inkrafttreten des Deutschlandvertrages 1955 Vertrag über die Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion 1955: formale Souveränität der DDR Aufnahme von Bundesrepublik und DDR in NATO bzw. Warschauer Pakt 1955 Volksabstimmung über das Saarstatut 1955: Ablehnung einer “Europäisierung” des Saargebiets 78 - - Χ Deutsch-französischer Vertrag über das Saargebiet 1956 Rückkehr des Saargebietes zur Bundesrepublik 1957 Sowjetischer Friedensvertragsentwurf 1959: Beendigung des Kriegszustandes und der Besatzung (Art.1); Abschluss mit DDR und Bundesrepublik als Teile Deutschlands bis zur Wiedervereinigung (Art.2); Nichteinmischung und Gewaltverzicht (Art.4); keine Mitgliedschaft in einem Militärbündnis, ausgenommen Mitgliedschaft aller Vier Mächte; Austritt aus Warschauer Pakt, WEU und NATO (Art.5); Grenzen zum 1. Januar 1959 (Art.8); Verzicht auf Gebietsansprüche im Osten (Art.9) und Westen (Art.12); Anschlussverbot Österreichs (Art.13); Rüstungsbeschränkung: keine ABC-Waffen, Raketen und Lenkwaffen, Bomber und Unterseeboote (Art.29) Herter-Plan 1959: Stufenplan zur Wiedervereinigung und gleichzeitigen Schaffung von sukzessive sinkenden Rüstungsobergrenzen in festzulegenden geographischen Gebieten in Deutschland und Europa sowie zwischen den Vier Mächten (besonders USA und Sowjetunion); Friedensvertrag mit einer gesamtdeutschen Regierung auf der Basis einer in einer gemeinsamen deutschen Kommission ausgearbeiteten Verfassung; ABC-Waffenverbot für Deutschland; Kontrolle von Rüstungsbeschränkungen durch die Vier Mächte Mauerbau 1961: Unterbindung der Ost-West-Wanderung durch die DDR Ostpolitik der Regierung Brandt seit Ende der 60er Jahre Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen 1972 Sicherheitspolitische Relevanz der Deutschen Frage Quelle von Interessengegensätzen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion rechtlich ungeklärte Grenzfragen (insbesondere deutsche Ostgebiete, polnische Grenzen) prinzipielle Spannungen zwischen europäischer Integration und deutscher Einheit als Zielen der Bundesrepublik Konkurrenzverhältnis der beiden deutschen Staaten Frage nach der Rolle eines vereinten Deutschland in Europa 12.2 Rechtsstellung Deutschlands bis 1990 (ohne Berlin) Χ DDR-Auffassung zunächst in Anlehnung an sowjetische Interessen einer weiteren Einflussnahme auf alle Besatzungszonen Festhalten an der deutschen Einheit; nach Gründung der Bundesrepublik Theorie, dass die DDR der Kern des weiterbestehenden Deutschlands ist mit fortschreitendem Legitimationsbedürfnis gegenüber der Bundesrepublik Übergang zur Theorie, das Deutsche Reich sei 1945 in Folge des Krieges untergegangen (“Debellation”); DDR und Bundesrepublik damit zwei selbständige Staaten 79 - Χ verstärkte Abgrenzung in den 60er Jahren (zwei Staaten mit zwei Völkern, aber Ziel einer sozialistischen deutschen Nation) und seit den 70er Jahren: Spaltung und Zerstörung der deutschen Nation durch die Bundesrepublik (Wiederaufrüstung, NATO etc.); daher DDR als eigener Nationalstaat Bundesdeutsche Auffassung Weiterbestehen des Deutschen Reiches (keine Debellation oder Dismembration, daher auch keine Sukzession): rein militärischer Charakter der bedingungslosen Kapitulation vom 7. und 8.5.1945; Weiterbestehen der deutschen Regierungsgewalt auf mittlerer und unterer Ebene auch nach Verhaftung der Regierung Dönitz am 23.5.1945; Übernahme der “obersten Regierungsgewalt” ohne Annexion Deutschlands durch die Siegermächte in der Berliner Erklärung vom 5.6.1945; Deutschland als Ganzes ist weiter existent, aber nicht handlungsfähig Beschränkte deutsche Souveränität: Besatzungsrecht als neben dem deutschen Verfassungsrecht stehend; Souveränitätsbeschränkung der Bundesrepublik und der DDR auch nach Inkrafttreten des Deutschland- (Grundlagen-) Vertrages bzw. des Vertrages zwischen der DDR und der Sowjetunion 1955, da sich die Westmächte ihre “Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung und einer friedensvertraglichen Regelung” (Art.2 DV) und die Sowjetunion die Funktionen zur Gewährleistung der Sicherheit und aus Verpflichtungen durch die Viermächteabkommen vorbehalten Verhältnis der beiden deutschen Staaten: keine Aufgabe der Einheit Deutschlands; Identitätstheorie (Bundesrepublik als Staatskern Gesamtdeutschlands, aber ohne tatsächliche Staatsgewalt im ganzen Staatsgebiet) oder Teilidentitätstheorie (Bundesrepublik und Deutsches Reich als Rechtssubjekte identisch, aber effektive Staatsgewalt nicht umfassend); Weiterführung der Verträge des Deutschen Reiches (einschließlich Schulden etc.); in den 50er und 60er Jahren Alleinvertretungsanspruch und “Hallsteindoktrin” (keine diplomatischen Beziehungen mit Staaten, die gleichzeitig solche Beziehungen mit der DDR unterhalten); pragmatische Position seit Ende der 60er Jahre (politische, aber keine rechtliche Anerkennung der DDR) Konsequenzen für die territorialen Fragen: bundesdeutsches Bestehen auf dem Gebietsstand des deutschen Reiches vom 31.12.1937 und keine Anerkennung der Abtretung der Ostgebiete (bestätigt durch Vertrag Polens mit der DDR 1950); endgültige Gebietsabtretungen nur durch eine friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland; Grenzverträge mit Belgien (1956), Luxemburg (1959), den Niederlanden (1960), Frankreich (1962) und der Schweiz (1964) stehen unter analogem Vorbehalt wie im “versteinerten Besatzungsrecht” nach Art.1 Überleitungsvertrag und Art.2 Deutschlandvertrag festgeschrieben; entsprechend keine rechtlich 80 endgültige Regelung der Ostgrenzen durch die Ostverträge (tw. explizite Friedensvertragsvorbehalte) 12.3 Völkerrechtliche Regelung der deutschen Einheit Χ 2+4-Verhandlungen von Bundesrepublik und DDR) Χ Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland (Moskau, 12.9.1990) als Ersatz für einen Friedensvertrag Bestätigung des Friedenszustandes mit Deutschland (Präambel VARD) endgültige Grenzen: Deutschland = BRD + DDR + Berlin (Art.1 I VARD); Verpflichtung zur völkerrechtlichen Bestätigung der OderNeiße-Grenze mit Polen (Art.1 II VARD); keine deutschen Gebietsansprüche (Art.1 III VARD); endgültige Bestätigung der Grenzen durch die Siegermächte (Art. 1 V VARD) Gewaltverzicht: Verfassungswidrigkeit und Strafbarkeit eines Angriffskrieges und seiner Vorbereitung; Waffengewalt nur in Übereinstimmung mit UN-Charta und Verfassung (Art.2 VARD) Rüstungsbeschränkung: Verzicht auf Herstellung, Besitz und Verfügungsgewalt von ABC-Waffen, Beachtung des Nichtverbreitungsvertrages (Art.3 I VARD); Kenntnisnahme der deutschen Selbstverpflichtung auf maximale BW-Stärke von 370.000 Mann, davon höchstens 345.000 in Heer und Luftwaffe (Art.3 II, III VARD) Verpflichtung zur vertraglichen Regelung des Abzuges der Roten Armee bis Ende 1994 (Art.4 VARD) Stationierungsbeschränkungen in der ehemaligen DDR: keine Truppen unter Bündnisbefehl bis zum Abzug der Sowjets (Art.5 I VARD); Aufrechterhaltung der westlichen Präsenz in Berlin bis zum Abzug der Sowjets (Art.5 II VARD); Stationierung von deutschen Truppen im Bündnis nach dem Abzug der Sowjets, aber keine ausländischen Truppen und keine Nuklearwaffenträger (Art.5 III VARD) keine Beschränkung, Bündnisse zu schließen (Art.6 VARD) Beendigung der Viermächterechte in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes (Art.7 I VARD); Anerkennung der vollen Souveränität Deutschlands (Art.7 II VARD) Ratifikation des Vertrages durch das vereinte Deutschland (Art.8 VARD) Χ Zusätzlich relevante und ergänzende Rechtsakte Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR vom 31.8.1990 Gemeinsamer Brief des Bundesaußenministers und des DDRMinisterpräsidenten an die Siegermächte vom 12.9.1990 (völkerrechtlich relevanter Bestandteil der Geschäftsgrundlage des 2+4-Vertrages): keine Rücknahme der Enteignungen in der SBZ 194549; Pflege der sowjetischen Denkmäler und Kriegsgräber in Mai bis 81 September 1990 (Siegermächte, - - - Ostdeutschland; Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung vor Wiederaufleben des Nationalsozialismus Suspendierungserklärung der Siegermächte vom 1.10.1990: Aussetzung der Vier-Mächte-Rechte bis zur Ratifikation des 2+4Vertrages Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3.10.1990 Deutsch-sowjetisches Abkommen über überleitende Maßnahmen vom 9.10.1990: Finanzierung des Truppenabzuges, eines Wohnungsbauprogrammes sowie von Umschulungsund Arbeitsmarktmaßnahmen durch Deutschland Deutsch-sowjetischer Vertrag über den sowjetischen Truppenabzug vom 12.10.1990 Deutsch-sowjetischer Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit vom 9.11.1990: Nichtangriffsbestimmungen (Art.3 DSV); gemeinsames Krisenmanagement und regelmäßige Konsultationen (Art.6, 7 DSV); gegenseitige Unterstützung in internationalen Organisationen (Art.20 DSV) Deutsch-polnischer Grenzvertrag vom 14.11.1990: Bestätigung der bestehenden Grenze (Art.1 DPGV); Unverletzlichkeit der Grenze (Art.2 DPGV); keine Gebietsansprüche (Art.3 DPGV) 82 13. Rüstungskontroll- und Entspannungspolitik 13.1 Ausgangslage Χ Globale Abrüstungsbemühungen Abrüstung und Vereinte Nationen seit 1945: Diskussion von Rüstungsfragen in Vollversammlung und Abrüstungskommission Conference on Disarmament: seit 1962 in Genf; Beteiligung von NATO, Warschauer Pakt, Neutralen und Blockfreien; einziges globaler, permanentes Forum mit allen fünf Veto-Mächten des Sicherheitsrates und den nicht paktgebundenen Staaten Χ Strategische Rahmenbedingungen MAD: seit Anfang der siebziger Jahre nuklearstrategische Zweitschlagfähigkeit von USA und Sowjetunion; Erfahrung der KubaKrise 1962 Bereitschaft der Sowjetunion, eigene Hegemonialzone militärisch aufrechtzuerhalten Konventionelles Ungleichgewicht in Europa Nukleare Kurz- und Mittelstreckensysteme: NATO-Doppelbeschluss 1979 13.2 Rüstungskontrollabkommen bis in die achtziger Jahre Χ USA - Sowjetunion „Heißer Draht“ 1963: ständige direkte Nachrichtenverbindung ABM-Vertrag 1972: Begrenzung von Systemen zur Abwehr ballistischer Raketen auf zwei Stellungsräume mit maximal 100 Systemen pro Land SALT I-Abkommen 1972: Begrenzung der Interkontinentalraketen für fünf Jahre Abkommen zur Verhinderung eines Atomkrieges 1973: gegenseitige Konsultationspflicht und Gewaltverbot SALT II 1979: Begrenzung interkontinentaler Trägersysteme auf je 2.250 Abkommen zur Verhinderung nuklearer Erpressung 1985: Verhaltensmaßregeln für nukleare Erpressungsversuche durch Terroristen Χ Frankreich - Sowjetunion „Heißer Draht“ 1966 Kriegsverhinderungsvereinbarung 1976: Verhütung eines ungewollten Atomkrieges und Konsultationspflicht Χ Großbritannien - Sowjetunion „Heißer Draht“ 1967 Kriegsverhinderungsabkommen 1977 83 Χ Multilaterale Abkommen Antarktisvertrag 1959: Entmilitarisierung der Antarktis Atomteststoppabkommen 1963: Verbot von Atomtests in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser Weltraumvertrag 1967: ABC-Stationierungsverbot im Weltraum Nichtverbreitungsvertrag 1968: keine Proliferation von Kernwaffen Meeresbodenvertrag 1971: keine Stationierung von Nuklearwaffen auf dem Meeresgrund B-Waffenkonvention 1972: Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung biologischer Waffen Umweltkriegsübereinkommen 1977: Verbot umweltverändernder Kriegstechniken Mondvertrag 1979: Entmilitarisierung des Mondes 13.3 Entspannung und Ostpolitik Χ Hintergrund 50er und 60er Jahre: sowjetische Versuche, eine europäische Konferenz zur Regelung der europäischen Beziehungen ohne USA einzuberufen nach 1968: Breschnew-Doktrin; Argumentation in Richtung Gleichberechtigung, Anerkennung der Souveränität, wirtschaftliche Kooperation; Ausschluss militärischer Fragen in den 70er Jahren: sowjetisches Ziel einer Anerkennung des Status quo; westliches Ziel eines friedlichen Wandels; beiderseitiger Wunsch nach Abbau von Konfrontation und Kriegsrisiko Χ Ostverträge Resultat bundesdeutscher Entspannungsbemühungen (Brandt) trotz weiterhin rechtlich ungeklärter Deutscher Frage; politische Anerkennung der Grenzen und der DDR Gewaltverzichtsvertrag mit der Sowjetunion (August 1970) Grundlagenvertrag mit Polen (Dezember 1970) Grundlagenvertrag mit der DDR (Dezember 1972) Vertrag mit der Tschechoslowakei (Dezember 1973) 13.4 KSZE-Prozeß (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) Χ Helsinki-Konferenz Dauer: 1973-75; Teilnehmer: alle europäischen Staaten außer Albanien, dazu USA und Kanada Prinzipien: kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern Regierungsabkommen, dadurch Flexibilität für Sowjetunion; pragmatische Gestaltung, insbesondere durch Europäer Verhandlungsbereiche: Korb 1 (sowjetisches Interesse): Sicherheitsfragen (Status quo); Korb 2 (westeuropäisches Interesse): Wirtschaft (Befriedung und Wandel durch Handel), Wissenschaft, 84 - - - Technik, Umwelt; Korb 3 (US-Interesse): menschliche Kontakte, Menschenrechte, Kultur Schlussakte von Helsinki 1975: Stärkung der Zusammenarbeit in Europa; Förderung der Beziehungen zwischen den Menschen und Achtung der Menschenrechte; wirtschaftliche, kulturelle und umweltpolitische Kooperation; vertrauensbildende Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit; gegenseitige Achtung der Grenzen und friedliche Streitbeilegung; Verzicht auf Drohung mit Waffengewalt und Intervention; Folgemaßnahmen (Konferenzen) positive Wirkung: Kommunikation zwischen den Blöcken und Festlegung von „Spielregeln“ zur Konfliktlösung; öffentliche Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen (von der Sowjetunion unterschätzt); Einbindung beider Weltmächte (auch USA); Akzeptanz des strategischen Status quo; größere Unabhängigkeit Europas; Vertrauensbildung zwischen den Blöcken; Initiierung eines Prozesses Konferenzprojekte aus den einzelnen Körben: konventionelle Abrüstung; Ost-West-Wirtschaftskonferenz; Menschenrechtskonferenz Χ KSZE-Folgetreffen Belgrad 1977/78: Schlagabtausch über Menschenrechtsfragen; Expertenkonferenzen zu den einzelnen Körben Madrid 1980-83: Mandat für die Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa (KVAE); trotz Afghanistan, Polen und Nachrüstung kein Ende des Prozesses; deutliche Diskrepanz zwischen EG-Staaten (Betonung humanitärer Erleichterungen und wirtschaftlicher Kooperation) und Nordamerikanern (Betonung grundsätzlicher Menschenrechte und der Afghanistanintervention); Expertenkonferenzen zu sachlich begrenzten Themen Wien 1986-89: Ziel einer Institutionalisierung des Prozesses; Begutachtung der KVAE-Ergebnisse; Wiener Dokument 90: militärisch relevante, verbindliche und verifizierbare vertrauensbildende Maßnahmen; Mandat für KSE-Verhandlungen (Konventionelle Stabilität in Europa) Pariser Gipfel (November 1990): „Charta von Paris für ein gemeinsames Europa“ Institutionalisierung (Gipfeltreffen alle 2 Jahre; jährliche Außenministertreffen; Einrichtung eines Konfliktverhütungszentrums in Wien; kommunikationstechnologische Verknüpfung der Regierungszentren der Mitgliedsländer); gemeinsame Deklaration von Warschauer Pakt und NATO; KSE-Abrüstungsvertrag Χ KVAE Teilnehmer: alle KSZE-Staaten; Ort: Stockholm; Dauer: 1984-86 Verhandlungsgegenstände: vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen in ganz Europa vom Atlantik bis zum Ural beschlossene Maßnahmen: Gewaltverzicht; Manöverankündigung (42 Tage wenn mehr als 13.000 Mann und 300 Kampfpanzer beteiligt); Manöverkalender für das folgende Jahr; Beschränkung des 85 Manöverumfangs (mehr als 40.000 Mann nur bei einem, mehr als 75.000 Mann nur bei zwei Jahren Vorankündigung); Inspektion der Maßnahmen vor Ort (drei Inspektionen pro Jahr und Land) Χ KSE Teilnehmer: Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts und der NATO; Ort: Wien; Dauer: 1989-90 Ziel: konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle; quantitative Parität durch asymmetrischen Abbau konventioneller Kräfte Ergebnis: KSE-Vertrag (November 1990) mit kollektiven Obergrenzen für Waffensysteme in geographischen Staatengruppen mit nationalen Maximalstärken (komplementäre Zentralzone, erweiterte Zentralzone und periphere Zone; geschlossene Flankenzone); Hinlänglichkeitsklausel: kein Staat mit mehr als ca. einem Drittel aller Systeme insgesamt; Durchführungsphasen zum Abbau überzähliger Systeme nach Inkrafttreten (Juli 1992): 25 Prozent in 16 Monaten; 60 Prozent in 28 Monaten; 100 Prozent in 40 Monaten Bestimmungen über Obergrenzen: insgesamt 20.000 Kampfpanzer, 30.000 gepanzerte Kampffahrzeuge, 20.000 Artilleriesysteme, 6.800 Kampfflugzeuge, 2.000 Kampfhubschrauber (davon nicht aktiv: 3.500 Kampfpanzer, 2.700 gepanzerte Kampffahrzeuge, 3.000 Artilleriesysteme); Zentralzone (Benelux, Deutschland, CSFR, Polen, Ungarn): 7.500 Kampfpanzer, 11.250 gepanzerte Kampffahrzeuge, 5.000 Artilleriesysteme; erweiterte Zentralzone (Zentralzone + Großbritannien, Frankreich, Dänemark, Italien, sowjetische Militärbezirke Baltikum, Weißrussland, Kiew und Karpaten): 10.300 Kampfpanzer, 19.260 gepanzerte Kampffahrzeuge, 9.100 Artilleriesysteme; Periphere Zone (erweiterte Zentralzone + Portugal, Spanien, sowjetische Militärbezirke Moskau und Wolga-Ural): 15.300 Kampfpanzer, 24.100 gepanzerte Kampffahrzeuge, 14.000 Artilleriesysteme; Flankenzone (Griechenland, europäische Türkei, Norwegen, Island, Bulgarien, Rumänien, übrige sowjetische Militärbezirke bis zum Ural): 7.500 Kampfpanzer, 11.250 gepanzerte Kampffahrzeuge, 5.000 Artilleriesysteme; einzelstaatliche Maximalstärke: 13.300 Kampfpanzer, 20.000 gepanzerte Kampffahrzeuge, 13.700 Artilleriesysteme, 5.150 Kampfflugzeuge, 1.500 Kampfhubschrauber Ergänzung durch KSE-Ia-Vertrag (1992): Obergrenzen für nationale Personalstärken Χ Vorläufer von KSE: MBFR (Mutual Balanced Forces Reduction Talks) Teilnehmer: Mitgliedsstaaten der NATO-Militärintegration und des Warschauer Paktes; Ort: Wien; Dauer: 1973 bis zum Aufgehen in KSE Ziel: konventionelle Truppenreduktion in Mitteleuropa (Belgien, Bundesrepublik, Niederlande, Luxemburg, CSSR, DDR, Polen) 86 13.5 Genfer Rüstungskontrollverhandlungen Χ Hintergrund Ausklammerung von nuklearen Systemen aus den europäischen Verhandlungen; bilaterale Verhandlungen zwischen USA und Sowjetunion nach dem NATO-Doppelbeschluss nach 1981 (zeitweise Unterbrechung 1983-85) Verhandlungsgegenstände: nukleare Mittelstreckensysteme kurzer und längerer Reichweite; strategische Nuklearsysteme; Raketenabwehrsysteme Χ Ergebnisse INF (Intermediate Nuclear Forces) 1987: nach bundesdeutschem Verzicht auf Pershing Ia „doppelte Nulllösung“ START (Strategic Arms Reduction Talks) 1991: Obergrenzen von je 1.600 ballistischen Raketen und 6.000 Sprengköpfen; verschiedene Zwischengrenzen und Dislozierungsverbote; Vor-Ort-Verifikation START II: Reduktion auf je 3.500 Sprengköpfe; Verbot landgestützter Interkontinentalraketen mit separat programmierbaren Mehrfachsprengköpfen 87 14. Die Auflösung des Systems des Kalten Krieges 14.1 Chronologie Χ 1979 Januar: Eroberung Kambodschas durch vietnamesische Truppen Februar: Islamische Revolution im Iran; chinesisch-vietnamesischer Grenzkrieg März: Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten Juni: erste Direktwahlen zum Europäischen Parlament; Unterzeichnung von SALT II Juli: Saddam Hussein Staatspräsident des Irak; Sturz Somozas in Nicaragua November: Besetzung der US-Botschaft in Teheran Dezember: NATO-Doppelbeschluss; Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan Χ 1980 Januar: Inkrafttreten des Transitabkommens zwischen Bundesrepublik und DDR; Verhängung von westlichen Sanktionen gegen die Sowjetunion April: US-Wirtschaftsboykott gegen den Iran; Scheitern der Befreiung der US-Geiseln in Teheran Mai: Tod Titos Juli: Erklärung Jerusalems zur Hauptstadt Israels; Warnung vor Umweltkatastrophen durch “Global 2000" September: Beginn der Wirtschaftsreformen in China; Militärputsch in der Türkei; irakischer Angriff auf den Iran, Beginn des Ersten Golfkriegs Oktober: gerichtliche Registrierung des freien Gewerkschaftsbundes “Solidarität” in Polen November: Wahl Ronald Reagans zum US-Präsidenten Χ 1981 Januar: Beitritt Griechenlands zur EG; Ende der Teheraner Geiselkrise Februar: General Jaruzelski Ministerpräsident April: Beginn der bundesdeutschen Ostermärsche gegen atomare Rüstung Mai: Wahl François Mitterrands zum französischen Staatspräsidenten Juni: Zerstörung des irakischen Atomreaktors Osirak durch Israel Oktober: Großdemonstration von 300.000 Menschen in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss November: Beginn der Verhandlungen über den Abbau der Mittelstreckenraketen in Europa Dezember: Kriegsrecht in Polen; Annexion der Golanhöhen durch Israel 88 • 1982 Februar: Verkündung von Finanz- und Waffenhilfe für alle nichtlinksgerichteten Regierungen Zentralamerikas durch Reagan April: Besetzung der Falklandinseln durch Argentinien; völlige Räumung des Sinai durch Israel; 500.000 Teilnehmer bei den bundesdeutschen Ostermärschen Mai: Beitritt Spaniens zur NATO Juni: Beginn des israelischen Libanonfeldzuges; Niederlage Argentiniens im Falklandkrieg; Beginn des amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über die Reduzierung strategischer Waffen; Großdemonstration von 500.000 Menschen in New York gegen Atomwaffen Juli: Unterzeichnung des “Erdgas-Röhren-Geschäfts” zwischen Bundesrepublik und Sowjetunion September: Ende der sozialliberalen Koalition, “Wende” in Bonn Oktober: Helmut Kohl Bundeskanzler November: Tod Breschnews; Andropow Staats- und Parteichef der Sowjetunion Dezember: Ende des Kriegsrechts in Polen • 1983 - März: Verkündung der SDI-Pläne durch Reagan April: 700.000 Teilnehmer bei den bundesdeutschen Ostermärschen August: französische Intervention im Tschad September: Ende der KSZE-Folgekonferenz in Madrid Oktober: massive Proteste der bundesdeutschen Friedensbewegung (1,3 Millionen Teilnehmer); US-Invasion in Grenada November: Genehmigung der Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen durch den Bundestag; Abbruch der INFVerhandlungen durch die Sowjetunion; freie Wahlen in der Türkei Dezember: Abbruch der START-Verhandlungen durch die Sowjetunion • 1984 Februar: Tod Andropows; Tschernenko Staats- und Parteichef der Sowjetunion April: Beginn einer sowjetischen Großoffensive in Afghanistan Juli: Jacques Delors Präsident der EG-Kommission Oktober: Verlängerung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik von 15 auf 18 Monate; Beschluss umfangreicher Wirtschaftsreformen in China November: Wiederwahl Ronald Reagans • 1985 März: Tod Tschernenkos; Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU; Beginn von “Glasnost” Aufforderung der Verbündeten zur aktiven Mitarbeit an SDI durch die US-Regierung Juni: Rückzug Israels aus dem Libanon (bis auf Pufferzone im Süden) September: Einstellung der sowjetischen Offensive in Afghanistan November: Gipfeltreffen zwischen Gorbatschow und Reagan in Genf 89 - Dezember: Binnenmarktprojekt der EG; Ablehnung einer deutschen Beteiligung an SDI • 1986 Januar: Beitritt Spaniens und Portugals zur EG; Dreistufenplan Gorbatschows zum Abbau aller Atomwaffen bis 2000 Februar: Proteste in Jugoslawien gegen die angebliche Gefährdung der Serben im Kosovo; Proklamation radikaler Wirtschaftsreformen in der Sowjetunion April: US-Luftangriffe auf Libyen wegen Terrorismusunterstützung Mai: Kündigung des nichtratifizierten SALT II-Abkommens durch die USA Juli: Ankündigung eines sowjetischen Teilrückzuges aus Afghanistan September: Beschluss zur Freilassung aller politischen Gefangenen in Polen Oktober: Gipfeltreffen zwischen Gorbatschow und Reagan in Reykjavik November: Iran-Contra-Affäre in den USA • 1987 Februar: Distanzierung Honeckers und Ceausescus von Gorbatschows Reformplänen Juni: Befürwortung der doppelten Nulllösung durch die Bundesregierung Oktober: Nationalitätenunruhen im Kosovo Dezember: INF-Abkommen; Beginn der Intifada in den israelisch besetzten Gebieten • 1988 Januar: sowjetisch-afghanische Beratungen über den sowjetischen Truppenabzug; Abkommen zwischen den USA und Spanien über die Schließung des US-Stützpunktes bei Madrid Februar: Forderungen Gorbatschows nach einer Intensivierung der “Perestroika”; Beginn des sowjetischen Mittelstreckenraketen-Abzuges aus der DDR und der CSSR März: Waffenstillstand in Nicaragua April: Abkommen zwischen USA, Sowjetunion, Pakistan und Afghanistan über den sowjetischen Abzug aus Afghanistan Mai: Ablösung Kadars und Beginn der Reformen in Ungarn Juli: Manfred Wörner NATO-Generalsekretär August: Ende des Ersten Golfkrieges; Unabhängigkeitsdemonstrationen im Baltikum Oktober: regimekritische Demonstration in Ostberlin; Gorbatschow Staatspräsident der Sowjetunion November: Wahl George Bushs sen. zum US-Präsidenten Dezember: Ankündigung einseitiger Abrüstungsschritte der Sowjetunion 90 • 1989 Januar: Genehmigung politischer Parteien in Ungarn Februar: Beendigung des sowjetischen Truppenabzugs aus Afghanistan April: Wiederzulassung der Gewerkschaft “Solidarität” Mai: Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze; Vorschlag der Warschauer Pakt-Staaten, die Militärbündnisse aufzulösen Juni: Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking; “Runder Tisch” zwischen Regierung und Opposition in Budapest August: Massendemonstrationen für die Souveränität der baltischen Staaten September: Massenflucht von DDR-Bürgern über Ungarn nach Österreich; Ausreiseerlaubnis für DDR-Botschaftsflüchtlinge in Warschau und Prag; Beendigung des vietnamesischen Abzuges aus Kambodscha Oktober: Massendemonstrationen in der DDR; Rücktritt Honeckers; Anerkennung der Neutralität Finnlands durch die Sowjetunion November: Rücktritt der Führung der Kommunistischen Partei der CSSR; Rücktritt Schiwkows in Bulgarien; Massendemonstrationen in der DDR; Rücktritt der Regierung Stoph; Öffnung der DDR-Grenze; Zehn-Punkte-Plan Kohls zur Wiedervereinigung ohne Konsultation der Verbündeten Dezember: US-Invasion Panamas, Sturz und Hinrichtung Ceausescus; Vaclav Havel Staatspräsident der CSSR; “Runder Tisch” in Ostberlin • 1990 Januar: Selbstauflösung der polnischen KP; Allparteienregierung in der DDR Februar: Freilassung Nelson Mandelas; freie Wahlen in Litauen; Intervention sowjetischer Truppen im Konflikt um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbeidschan; freie Wahlen in Nicaragua März: erste freie Wahlen in der DDR; Zustimmung Gorbatschows zum etappenweisen Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten; Abwendung der italienischen KP vom Kommunismus; Unabhängigkeitserklärung Litauens; Unabhängigkeit Namibias; Ablösung Pinochets in Chile Mai: Beginn der 2+4-Gespräche Juni: Staatsvertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zwischen Bundesrepublik und DDR; freie Wahlen in Bulgarien Juli: Souveränitätserklärung der Ukraine; NATO-Gipfel in London August: irakische Angriff auf Kuwait, Beginn des Zweiten Golfkrieges; Unabhängigkeitserklärung Estlands; Beitrittsbeschluss der Volkskammer zur BRD; Einigungsvertrag September: 2+4-Vertrag; Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt Oktober: Beitritt der DDR zur Bundesrepublik; Beginn des Bürgerkrieges in Ruanda; Abkommen über den sowjetischen Truppenabzug aus Deutschland 91 • November: Rücktritt Margaret Thatchers; UN-Ultimatum an den Irak zum Rückzug aus Kuwait; Pariser Gipfel, formelle Beendigung des Kalten Krieges und “Charta für ein neues Europa” Dezember: Wahl Walesas zum polnischen Staatspräsidenten; erste gesamtdeutsche Wahlen 1991 Januar: Beginn von “Desert Storm”; sowjetische Intervention in Litauen und Lettland; deutsche Demonstrationen von 200.000 Menschen gegen den Golfkrieg („Kein Blut für Öl!“) Februar: offizielle Auflösung des Warschauer Paktes; Ende des Zweiten Golfkriegs; Massendemonstrationen in Albanien März: Massenflucht aus Albanien April: Beginn des sowjetischen Truppenabzugs aus Polen; Einrichtung der Kurdenschutzzonen im Irak; Souveränitätserklärung Georgiens Juni: Jelzin Präsident der sowjetischen Teilrepublik Russland; Beginn des jugoslawischen Bürgerkrieges durch Einsatz der Bundesarmee gegen Slowenien und Kroatien; deutsch-polnischer Freundschaftsvertrag Juli: Unterzeichnung des START-Vertrages August: Abspaltung Bosnien-Herzegowinas von Jugoslawien; Putschversuch gegen Gorbatschow; Fluchtwelle aus Albanien September: Beginn des Bosnischen Bürgerkrieges Oktober: Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens; Präsentation des deutsch-französischen Eurokorps-Projekts Dezember: Europäischer Rat zur Gründung der Europäischen Union in Maastricht; Rücktritt Gorbatschows, Auflösung der Sowjetunion zum Jahresende 14.2 Ursachen des Systemwandels Χ Die “Totrüstungs”-Hypothese Betonung der Härte der NATO gegenüber der Sowjetunion Grundidee: Hochrüstungspolitik unter Reagan als wirtschaftliche Überforderung der Sowjetunion; daraus resultierend Zwang zu Reformen, die von wirtschaftlichen auf das politische Feld übersprangen, insbesondere durch den wachsenden Widerstand der ausgebeuteten Bevölkerung und der immer schwieriger zu kontollierenden Bündnispartner letztliche Ursache des Systemwandels: wirtschaftliche und gesellschaftlich-politische Unzulänglichkeiten der Sowjetunion (sozialistische Zentralverwaltungswirtschaft, politisches Zwangssystem, Bürokratisierung und Korruption des Partei- und Staatsapparates) d.h. Unfähigkeit, gleichzeitig den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen und massive Rüstung zu betreiben; Verbesserung der Beziehungen mit dem Westen als Folge der Reformansätze 92 Χ Die “Öffnungs”-Hypothese Betonung der Rolle der Entspannung für die Auflösung des Systems Grundidee: Ermöglichung des innenpolitischen Wandels in der Sowjetunion erst durch Abkehr des Westens vom militärischen Druck und Übergang zur Entspannung; westliche Hochrüstungspolitik als Rechtfertigung des sozialistischen Zwangssystems und damit Ursache der Verzögerung des Wandels; Legitimationsverlust der sowjetischen Eliten im Zuge der Entspannungspolitik (Abbau von Feindbildern und Bedrohungsabbau) und Neuanfang durch eine neue Politikergeneration letztliche Ursache des Systemwandels: Befreiung der Sowjetunion vom perzipierten Bedrohungsdruck und Möglichkeit der Durchsetzung latenter Reformkräfte mit dem Ziel eines politischen und wirtschaftlichen Umbaus der Sowjetunion bzw. der Lösung aus dem Ostblock; Verbesserung der Beziehungen mit dem Westen als Voraussetzung der Reformansätze Χ Die “Strukturwandels”-Hypothese Betonung des langfristigen Strukturwandels des internationalen Systems, der die Sowjetunion als erstes eingeholt hat Grundidee: Überdehnung der Sowjetunion durch Konzentration auf Behauptung ihrer internationalen Position durch den Rückgriff auf traditionell-machtpolitische Instrumente (Militärpotential); Vernachlässigung ökonomisch begründeter Macht und relativer Einflussverlust gegenüber der neuen “Handelswelt” (repräsentiert durch Staaten wie Japan oder die Bundesrepublik); prinzipielle ähnliche Betroffenheit der USA, jedoch aufgrund größeren wirtschaftlichen Potentials bessere Behauptungschancen als die Sowjetunion (z.B. auch durch Nutzung der “Friedensdividende”) letztliche Ursache des Systemwandels: historisch gewachsener, relativer Bedeutungsverlust militärisch-politischer im Vergleich zu ökonomisch-politischer Macht in der Struktur des internationalen Systems; Überholung des Machtstaates durch den Handelsstaat Χ Beurteilung Kritik der Totrüstungshypothese: Versuch einer nachträglichen Rationalisierung der westlichen Politik und Feindbildperzeption, insbesondere der USA unter Reagan; tatsächlich Zweifel an deren langfristigen und systematischen Ausrichtung; Unterschätzung des KSZE-Prozesses, des politischen Lernprozesses auf beiden Seiten und der Rolle des Rüstungswettlaufs für die innenpolitische Stabilisierung der Sowjetunion (Bedeutung der historisch bedingten sowjetischen “Sicherheitsmanie”) Kritik der Öffnungshypothese: Überschätzung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Sowjetunion, auch auf militärischem Gebiet; Übersehen der ursprünglich hauptsächlich wirtschaftlich orientierten Reformen in der Sowjetunion, deren politischen Konsequenzen, insbesondere der Kollaps der realsozialistischen Herrschaft, auch von 93 - - Gorbatschow nicht intendiert waren; Unterschätzung der Durchsetzungsfähigkeit autoritärer Regimes bei noch funktionierender ökonomischer Mindestgrundlage Kritik der Strukturwandelshypothese: Unterschätzung der weiterbestehenden Bedeutung militärischer Macht im internationalen System; Fehleinschätzung der Rolle und des Potentials der USA in der internationalen Politik; Überschätzung von politischen Möglichkeiten und Handlungswillen der Handelsmächte Möglichkeit einer teilweisen Zusammenführung der beiden ersten Thesen durch Hinweis auf das Harmelkonzept der NATO: Stärke und Verständigung 14.3 Offene Fragen nach 1991 Χ Zukunft der Transformationsländer, z.B.: Herstellung und Sicherung demokratischer Regierungssysteme wirtschaftlicher Aufbau nationalistische und ethnische Konflikte Χ Neustrukturierung der NATO, z.B.: Rolle der NATO in Europa und in der Welt Verhältnis der USA zu den europäischen Partnern politische und militärische Reorganisation Erweiterung um die osteuropäischen Staaten Χ Gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen, z.B.: Einbindung Russlands in die europäische Sicherheit Interessendivergenzen zwischen Ost- und Westeuropäern Rolle der KSZE-Nachfolgeorganisationen (OSZE) Verhältnis von OSZE und NATO Χ Europäische Integration, z.B.: Vertiefung oder Abschwächung der politischen Integration Ausgestaltung und Funktionsweise der Institutionen Verhältnis EU – NATO – USA: EU als weltpolitischer Akteur oder Friedenszone (Frage nach der „Finalität“) Realisierung und Bewältigung der Erweiterung nach Osten und Süden nationale Sonderinteressen und europäische (Sicherheits-) Politik (z.B. Frankreich) Χ Rolle Deutschlands, z.B.: nationale Interessen nach der Einheit Einbindung in Europa internationales Engagement für Frieden und Sicherheit Χ Internationale Friedenssicherung und Völkerrecht, z.B.: Reform des UN-Sicherheitsrates Möglichkeiten und Reorganisation der Vereinten Nationen 94 Χ Interventionismus zugunsten von Menschenrechten Neue Sicherheitsrisiken, z.B.: Proliferation von Massenvernichtungswaffen Gefährdung moderner Kommunikationsnetze Umweltrisiken Terrorismus und organisiertes Verbrechen transnationale Migration Energiesicherheit 95 15. Exemplarische (Übersichts-) Literatur Angell, Norman: (1912) Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein? Berlin: Vita Deutsches Verlagshaus. Berber, Friedrich (Hg.): (1983) Völkerrechtliche Verträge. München: Deutscher Taschenbuchverlag (3.). von Beyme, Klaus: (1985) Die Sowjetunion in der Weltpolitik. München, Zürich: Piper (2.). Blumenwitz, Dieter: (1989) Denk ich an Deutschland - Antworten auf die Deutsche Frage. 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