Religion und Politik

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Religion und Politik
2.1
2
Religion und Politik – Deutschland als Misch-Typ
im Verhältnis von Religion und Staat
Eine Besonderheit der Entwicklung der Kirchen in Deutschland nach dem Zweiten
Weltkrieg lag darin, dass die Kirche sich als „Retter der Nation“ anpreisen konnte.
Die Kirchen waren einigermaßen unbeschadet durch die totale Niederlage von
1945 hindurch gekommen. Dies führte anfangs freilich zur Überschätzung der
Möglichkeit einer modernen Kirche. Man traute sich die Re-Christianisierung der
Gesellschaft zu und versuchte Christentum und Gesellschaft wieder eins werden
zu lassen. Die Geborgenheit, welche die Bürger suchten, erfuhren sie in der zweiten Phase der Nachkriegszeit jedoch eher durch das Wirtschaftswunder und die
Integration in die westliche Welt (Lück 1976: 193, 198).
Die empirische Politikwissenschaft ist als „Theologie des Politischen“ religiöser Gruppen bezeichnet worden, die sich von den üblichen vagen Begriffen
wie „politische Religion“ und „politische Theologie“ unterscheiden. Die Lösung
theoretischer Fragen bei Glaubensgemeinschaften blieb weitgehend eine Domäne
der Religionssoziologen. Die Politikwissenschaft konzentrierte sich wesentlich bescheidener auf die Beschäftigung mit Zusammenhängen zwischen Religion und
Politik. Die Ergebnisse der abstrakten Forschung über die Funktion von Religionen erleichterte es aber der Politik, auch „ungläubig“ auf die Religionen zuzugehen. Die Umfrageforschung wurde dabei von großer Bedeutung. Sie geht davon
aus, dass sich nur wenige Bürger einen größeren EinÁuss von religiösen Führern
auf Wahlen und politische Entscheidungen wünschen (Pickel 2013: 86). Es kommt
K. von Beyme, Religionsgemeinschaften, Zivilgesellschaft und Staat,
DOI 10.1007/978-3-658-09785-1_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
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2 Religion und Politik
immer wieder zu Oppositionen, wenn Kirchen zu nahe an die politischen Zentren
geraten, wie im Herbst 2012 als Papst Benedikt im Deutschen Bundestag sprach.
Viele Stimmen ertönten: „Kirche gehört nicht ins Parlament“ (Finger 2014: 14).
In jüngster Zeit wurde in der Politikwissenschaft vielfach von einer „neuen
Religionspolitik“ gesprochen. Diese bezieht sich jedoch ganz überwiegend auf
die Migranten und ihre Integration. Vor allem das Verhältnis zum Islam führte zu einer Repolitisierung des Verhältnisses von Staat und Religionen. Vielfach
führte diese Integrationsproblematik zum Ruf nach neuen verfassungsrechtlichen
Regelungen (Kap. 8.4). Auch die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde häuÀger als je
zuvor – mit Ausnahme der 50er Jahre – eingeschaltet.
Deutschland als Misch-Typ im Verhältnis von Staat und Religion ist die Frucht
einer historischen Entwicklung, die im Deutschen Reich die Zentralgewalt erodieren ließ. Die Reformation und der 30jährige Bürgerkrieg 1618-1648 endeten mit
dem Westfälischen Frieden. Die territorialen Gewalten durften nach dem Prinzip
„cuius regio – eius religio“ über die Religion entscheiden. Katholizismus, Lutherische Kirche und in geringerem Maße der Calvinismus konkurrierten auf dem
Territorium des Reiches.
Das konfessionelle Gleichgewicht ging mit dem alten Reich zu Ende. Im
Reichsdeputationshauptschluss 1803 Àelen wichtige linksrheinische Territorien
der enteigneten Kurfürstentümer Köln, Mainz und Trier und einige Reichsfürstbistümer und Reichsabteien an die Territorialfürsten zur Entschädigung für die
Annexionen von Napoleon. Eine Folge war die stärkere Orientierung der katholischen Eliten auf das Papsttum, was zu Spannungen mit dem Nationalismus des
19. Jahrhunderts führen musste (Willems 2001: 139; Zippelius 1997: 128ff). Der
Katholischen Kirche gelang es bis 1848 durch Konkordate mit den Territorialstaaten einige verlorene Positionen wieder zu gewinnen. Das Ende der weltlichen
Herrschaftsfunktionen von kirchlichen Einrichtungen führte auf die Dauer aber
zu größerer Abhängigkeit der Kirchen vom Staat auch in Ànanzieller Hinsicht. Die
relativ fortschrittlichen Regelungen der Paulskirchenverfassung, die nicht rechtlich sondern ideell fortwirkte, hatte EinÁuss auf die Milderung der KonÁikte der
Kirchen in der Zeit eines sich anbahnenden Kirchenkampfes.
In Deutschland haben Kriege und Zusammenbrüche des Staatssystems das
Verhältnis von Religion und Politik nachhaltig verändert. Nach dem ersten Weltkrieg war die evangelische Kirche stärker vom Zusammenbruch der traditionellen Verfassungsordnung betroffen als die katholische Kirche. Das landesherrliche
Kirchenregiment ging unter. Das Synodalprinzip, das schon in den reformierten
Kirchen herrschte und neben das landesherrliche Kirchenregiment getreten war,
wurde zum tragenden Prinzip (Zippelius 1997: 148).
2.1 Religion und Politik – Deutschland als Misch-Typ im Verhältnis …
35
Im Gegensatz zu anderen Systemen waren drei Prinzipien in der Bundesrepublik nie umstritten:
• Religions- und Glaubensfreiheit,
• Gewissensfreiheit, den Glauben zu bekennen,
• Kultusfreiheit, den Glauben auszuüben.
Gleichwohl gibt es umstrittene Fälle, und KonÁikte zwischen:
• negativer Religionsfreiheit, keinem religiösen Zwang ausgesetzt zu sein und
der
• positiven Religionsfreiheit, der staatlichen Gewährleistung von Religionsausübung.
Seit der Wiedervereinigung Deutschlands kamen religiöse Fragen vermehrt auf
die politische Agenda: Religionsunterricht in den Schulen, staatlich angeordnete Kreuze in bayerischen Schulräumen, das Tragen religiöser Symbole im Schulunterricht, die Anerkennung von neuen Religionen wie der Scientology Church
(vgl. Kap. 2.4). Beim öffentlichen Status von religiösen Symbolen, Praktiken und
der Etablierung von Glaubensgemeinschaften besteht weit weniger Einigkeit in der
Bundesrepublik. Vier Modelle wurden unterschieden (Willems 2001: 138):
• Staatskirchen wie in Skandinavien und Großbritannien,
• strikte Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften, wie in den USA und
in Frankreich,
• pragmatisch-pluralistische Gewährung eines öffentlichen Status für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, wie in den Niederlanden und in
Australien.
• Ein Misch-Typ entstand in der Bundesrepublik Deutschland, weil sich ein gewisser Pluralismus mit Zügen des Staatskirchenmodells verbindet. Dieser
Misch-Typ steht dem Staatskirchenmodell in einigen Elementen nahe, wie:
• die Gewährung eines Status öffentlicher Körperschaften an die Kirchen,
• Religionsunterricht in der Schule,
• und die Dominanz privater Verbände im Sozial- und Gesundheitswesen.
Amerikanische Wissenschaftler haben sich schwer getan, den deutschen Typ von
Staat und Religion in ihrem Verhältnis zu deÀnieren. Der Mischtyp schien Ähnlichkeiten mit dem britischen aber auch mit dem „principled pluralism“ der Niederlande zu haben. Die am meisten pluralistischen Systeme wie die Niederlande
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2 Religion und Politik
und Australien schienen die geringsten KonÁikte zwischen religiösen Gruppen zu
kennen. (Monsma/Soper 1997: 190, 218).
Es ist darüber spekuliert worden, ob das deutsche Modell sich an das amerikanische Modell annähere. Aber auch die USA steuern in einigen Elementen
auf ein pluralistisches Modell zu, das in Europa heute verbreitet ist. Selbst in den
USA gibt es Ausnahmen von der strikten Trennung von Staat und Kirchen, etwa,
wenn der Bundesstaat Louisiana der Kreationsbewegung erlaubte, die biblische
Schöpfungslehre gleichgewichtig neben die naturwissenschaftliche Evolutionslehre im Unterricht zu stellen (Langer 1983: 183). Noch gibt es wenig Anzeichen,
dass Deutschland sich der liberalen Haltung strikter Trennung von Staat und Gesellschaft nähert. Viele Amerikaner Ànden das deutsche Modell „puzzling“, weil
Deutschland einerseits Wert auf die Trennung von Kirche und Staat legt, andererseits die Partnerschaft von Kirchen und Staat in Amerika als eine Verletzung der
staatlichen Neutralität empfunden wird (Monsma/Soper 1997: 156; Willems 2001:
138). Die Entwicklung der Religionspolitik in der Bundesrepublik lässt sich in drei
Phasen gliedern:
• Nachkriegszeit bis in Mitte der 60er Jahre,
• 60er Jahre bis zur Wiedervereinigung,
• Entwicklung seit der Wiedervereinigung.
In dieser Entwicklung wurde die Durchsetzung eines „quasi-christlichen Staates“
gewittert. SPD, KPD und FDP vertraten ein radikales Trennungsprogramm, wie
es im SPD-Erfurter Programm formuliert worden war. Die FDP bekämpfte den
politisierten Katholizismus beim Elternrecht und beim Konkordat, war aber kompromissbereit hinsichtlich der Form des Religionsunterrichts und der Einrichtung
von Privatschulen.
2.2
Religionsgemeinschaften als Interessengruppen
Die Wiederbelebung der Religionssoziologie wurde von einigen Kritikern wie
Thomas Luckmann (1991: 53f) durch die Interessen religiöser Organisationen
bestimmt und wurde so zu einer „angewandten Wissenschaft“. Glaubensfragen
wurden als „unwissenschaftlich“ ausgeklammert. Kirche und Religion wurden allzu leichtfertig gleichgesetzt. Es herrschte zudem ein „laienhafter Gebrauch von
Techniken der Meinungsforschung“.
2.2 Religionsgemeinschaften als Interessengruppen
37
Kirchen vertreten im politischen Raum nicht nur organisatorische Interessen
sondern zunehmend auch gesellschaftspolitische Anliegen. Drei Typen von politischen Forderungen wurden identiÀziert (Willems 2007: 321f):
• Interessen zur Erhaltung eines privilegierten Status zur Durchsetzung von
Wertorientierungen und moralische Forderungen.
• Wertorientierungen, wie bei Familie und Sexualität, Werterziehung in Schulen
und bei medizinethischen Fragen wie Sterbehilfe.
• Moralische Forderungen zugunsten unterprivilegierter Gruppen wie Arme, sozial Schwache, Migranten und in Bereichen der Sozial- oder der Umweltpolitik.
Vor allem Typ 2 und 3 sind jedoch nicht immer säuberlich zu trennen. Manche
Forderung kann auch mehreren Zielen dienen. Die Kirchen haben vor allem indirekten EinÁuss durch Appell an die Werte. Sie haben im Gegensatz zu laizistischen
Interessengruppen keine Möglichkeit als „pressure group“ im amerikanischen
Sinne zu dienen, da sie keinen Druck ausüben können und keine direkte Mobilisierung von Wählergruppen mehr anstreben. Die wachsenden Unsicherheiten in
der postmodernen Politik machen das Verhältnis zwischen Religionsgemeinschaft
als Interessengruppe und politischen Organisationen wie den Parteien zunehmend
prekär. Der viel gepriesene „Markt“ ist für die Interaktion und von Interessengruppen und Parteien vor allem im religiösen Bereich ein wenig effektiver Markt
(Warner, 2000: 216f).
Seit Robert Putnam (1993, 2000) hat der Begriff des „religiösen Sozialkapitals“, das auf freiwilligen sozialen Netzwerken in einer Gesellschaft des religiösen
Pluralismus basiert, die Erforschung der religiösen Interessengruppen beÁügelt.
Knapp die Hälfte der westdeutschen Bürger sind Mitglieder in religiösen Vereinen, aber nur 16,9 % beteiligen sich aktiv, in Ostdeutschland sogar nur 9,6 %. Die
repressive Vergangenheit der DDR wird zur Erklärung herangezogen. Die Mitgliedschaft in religiösen Gruppen war gering, aber die Minderheit der Mitglieder
war prozentual gesehen zugleich aktiver als bei den Westdeutschen (Götze u. a.
2013: 294f).
Aber es gab durchaus theoretische Innovationen. Ein systemtheoretischer Ansatz fasst Religion unter modernen Bedingungen als eigenständiges gesellschaftliches Subsystem auf, das EinÁuss durch Input in die politische Entscheidung
genießt, und als kollektiver Akteur auch den Output, bestimmte Politikergebnisse, beeinÁusst. In der amerikanischen Diskussion gelten Religionen als LobbyGruppen wie andere organisierte Interessen, während in Deutschland die Religion
häuÀg nicht unter die Lobbyisten eingereiht wird. Der Autor (v. Beyme 1980: 84)
hat sich schon früh gegen den Vorwurf gewehrt, dass die Einreihung der Kirchen
38
2 Religion und Politik
unter die Interessengruppen diesen ein „agnostisches Etikett“ aufdränge, welches
das Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft nicht berücksichtige (so: Breitling 1960: 63). Mein Einwand: vom Selbstverständnis her fühlen sich die meisten
Interessengruppen auch ideell gebunden und lehnen das Epitheton „Lobby oder
Pressure Group“ ab. Kirchen wurden so für große Teile der sozialen Umwelt Weltanschauungsgruppen.
Der amerikanische Ausdruck „promotional groups“ im Gegensatz zu wirtschaftlichen Interessengruppen, ist daher gut zu brauchen. In Amerika hat sich
dank der völligen Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften früh die Einsicht durchgesetzt, da diese bestimmten Interessen der Gesellschaft stark verbunden sind. Auch bekannte Theologen, wie Reinhold Niebuhr (1960: 26) gaben zu,
dass die Aufrechterhaltung der Trennung von Kirchen, die sich in dogmatischen
und kultischen Fragen zum Teil nur geringfügig unterscheiden, auf ökonomische
Schichtung und soziale Differenzen zurückgeht, auch wenn diese Trennung einst
Glaubensgründe gehabt hat. Die amerikanischen Konfessionen haben sich daher
mit besserem Gewissen und wesentlich unverhohlener der Mittel von Interessengruppen zur Durchsetzung ihrer Ziele bedient. Gleichwohl Àelen die Kirchen
nicht unter den „Federal Regulation of Lobbying Act“, der für Individuen und
Organisationen gilt, zu deren Hauptfunktionen der Lobbyismus zählt. Namen und
Ideologien erschweren auch in Amerika die Abgrenzung von vorwiegend materiell
oder nichtmateriell orientierten Gruppen. P. H. Odegard (1928: 266) hat in seiner
bahnbrechenden Studie über die „Anti-Saloon League“ geschildert, wie sich die
Lobbys, welche die materiellen Interessen der Brauereien und Schnapsbrennereien
gegen die zum Teil religiös inspirierte Prohibitionsbewegung organisierten, mit
„sweet sounding names“ tarnten, wie „Civil Liberty League“, „Liberty League“
etc. Hinter manchen dieser idealistischen Beschönigungen verbargen sich handfeste materielle Interessen. Durch Tarnung versuchten sie, den ideologischen Vorteil,
den eine „promotional group“ wie die „Anti-Saloon League“ hatte, nicht einseitig
ihren Gegnern zu überlassen. Der Kampf der Anti-Saloon League“ ist als letzter
Versuch der protestantischen Glaubensgemeinschaften gewertet worden, die alte
Kirchenautorität über die Individuen wieder herzustellen. Der Feldzug der Kirchen gegen „liquor, war and sin“ war in dieser Kombination nicht denkbar ohne
die Verfechtung auch materieller Interessen.
Das deutsche Vereinsrecht konnte lange irreführende Namen von Verbänden
nicht verhindern. Es gibt kein Pendant zu § 18, Abs.2 HGB, der von Organisationen „Firmenwahrheit“ verlangt. Gerade bei strikter Trennung von Staat und
Religion haben etwa in Frankreich ideelle Förderergruppen, wie die „Ligue de
l’enseignement“ und „Ligen für die Republik“ mit Hilfe der Freimaurer EinÁuss
auf die Radikale Partei Frankreichs nehmen können. In Italien haben die militan-
2.2 Religionsgemeinschaften als Interessengruppen
39
ten Kampagnen der „Azione Cattolica“ die Bürger ständig mobilisiert und neben
ihren religiösen auch handfeste materielle Ziele gefördert. Für die neuen Formen
der Interessengruppen setzte sich international der Ausdruck „public interest
groups“ als Untertyp durch. Wenn ein ideeller Fördererverband keine materiellen
Interessen hat, müssen die ideellen Ziele nicht frei von „persönlichem Interesse“
sein. Die Mitglieder religiös inspirierter Institutionen zur Abschaffung der Todesstrafe hatten kein direktes persönliches Interesse als Motivation. Aber schon die
Gesellschaften, die für Reformen des Scheidungsrechts oder für die Reform des
Abtreibungsrechts kämpften, enthielten viele Geschiedene oder Leute, die selbst
eine Abtreibung hinter sich hatten. Die Beispiele zeigten, dass man „persönliche
Interessen“ nicht nur mit materiellen Interessen gleichsetzen darf.
Politik machen nicht die Religionen schlechthin, sondern Bischofskonferenzen,
Laienorganisationen und wichtige Verbandsspitzen wie das „Zentralkomitee der
deutschen Katholiken“ (ZdK), der „Evangelische Kirchentag“ oder der „Zentralrat
der Juden“. Zu unterscheiden sind: „Inside-lobbying“ im Inneren von wichtigen
politischen Institutionen, und Outside-Lobbying, bei dem die Entscheidungsträger durch Mobilisierung der Öffentlichkeit beeinÁusst werden (Weber/Jones 1994:
137ff; Liedhegener 2011: 248f; 2006: 303ff) (vgl. Kap. 6). Im Vergleich zu Amerika sind die religiösen Akteure in Europa meist langfristig orientiert und stark
in bestimmten Parteienfamilien eingebunden. Religiöse Organisationen wie Kirchentage haben lange in Verbindung mit bestimmten politischen Parteien gestanden. Seit dem Katholikentag von Freiburg 1978 sind junge Katholiken erstarkt, die
innerkirchlich eine kontroverse Diskussionskultur forderten und für die eine enge
Beziehung zu den Unionsparteien nicht mehr zur „gottgewollten Ordnung“ zählte.
Damit wurde jedoch keine „Beliebigkeit“ eingeläutet. Der Laienkatholizismus ist
immer noch eine wichtige Kraft der politischen Interessenvermittlung, vor allem
durch die verstärkte Aufmerksamkeit der Medien (Kullmann 2013: 351f).
Beide großen Kirchen in Deutschland wurden schon im 19. Jahrhundert starke
Lobbyisten zur Legitimation der Sozialpolitik. Der Sozialstaat zeigte nicht zuletzt
durch kirchliche EinÁüsse eine duale Struktur. Pietistisch-protestantische Kreise
entwickelten eine enorme Zugkraft. Das katholische Zentrum zur Zeit Bismarcks
war trotz der sonstigen antipreußischen Haltung sozialpolitisch sehr aktiv. Ketteler
und die Sozialenzyklika „Rerum novarum“ von Papst Leo XIII hatten den Weg
der sozialstaatlichen Intervention in der Katholischen Kirche bereitet. Die Träger
der kirchlichen Wohlfahrtsverbände, wie Caritas und das Diakonische Werk haben den Charakter von „Sozialkirchen“ angenommen, zumal der Personalstand
dieser Verbände den der Pastoralkirchen weit übertraf und höher lag als bei Daimler-Benz (Graf 1998: 380).
40
2 Religion und Politik
Das Verbandsproblem wurde in jüngster Zeit vor allem durch den Islam virulent. Versuche der institutionalisierten Dialoge in der „Deutschen Islam Konferenz“ wurden durch eine Vielzahl von islamischen Organisationen erschwert, die
nicht einmal durch den „Koordinationsrat der Muslime in Deutschland“ (KRM)
aus dem Wege geräumt werden konnten (vgl. Kap. 8.2). Aber nicht nur bei den islamischen Verbänden ist der EinÁuss auf die Politik schwer zu ermessen. Das Verhältnis von Religion und Politik teilt hier die Evaluationsprobleme der allgemeinen
Verbände und Interessenforschung (Liedhegener 2011: 210).
2.3
Organisatorischer Niedergang der Kirchen
In beiden großen Kirchen überwog in der Organisationsstruktur die Kontinuität.
Bistümer und Landeskirchen wurden kaum verändert. Durch die Gründung des
Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR wurde die traditionelle Struktur
aufgebrochen. Neue Konzepte wurden in der EKD entwickelt, wie die Debatte
um die „Zehn Artikel von Freiheit und Dienst der Kirche“ in den 60er Jahren und
das Konzept „Kirche für andere“ in den 70er Jahren. In der Katholischen Kirche
nach dem 2. Vatikanischen Konzil wurde in „Gaudium et Spes“ die Öffnung zur
Welt gefordert. Im Ganzen kamen Wissenschaftler (Heinecke 2003: 227) jedoch
zu dem Schluss, dass in der evangelischen Kirche der Wandel, in der katholischen
Kirche jedoch die Kontinuitäten dominierten. Ein Wissenschaftler, der Theologie und Psychotherapie in seinem Werk verband (Deininger 2014: 167) fand vor
allem in der katholischen Kirche sogar zwei „krankmachende Aspekte“, die auf
die Psyche der Gläubigen wirken: die strenge hierarchische Struktur und die Triebverdrängung. Die Repräsentanten der Kirchen sollten sich dafür einsetzen, das
unverheiratete, homosexuelle, geschiedene, wiederverheiratete und alle anderen
Verbindungen von Gott gewollt sind. Die katholische Kirche sollte vor allem das
Zölibat abschaffen.
Der Niedergang des religiösen Gefühls wurde in der vergleichenden Forschung
am stärksten in Skandinavien, den Niederlanden, Großbritannien und Australien
festgestellt (Norris/Inglehart 2011: 89). Mit Pluralisierung und Individualisierung
entstanden lockerere Beziehungen zu Religionsgemeinschaften, die leichter kündbar erscheinen (Hero 2008: 124f).Die Austrittsbewegung aus den etablierten Bewegungen wurde mit dem angelsächsischen Begriff „deconversion“ seiner negativen Konnotationen beraubt, man kann auch sagen „beschönigt“. Einige Theologen
können sich trösten, dass es aus theologischer Perspektive keinen Austritt aus der
Kirche geben kann. Die Taufe und damit die Eingliederung der Kirche könne nicht
rückgängig gemacht werden (Hild 1974: 284).
2.3 Organisatorischer Niedergang der Kirchen
41
Deconversion war die Folge von Individualisierung und Pluralisierung mit
mehreren Ursachen:
•
•
•
•
•
Verlust speziÀscher religiöser Erfahrungen.
Intellektuelle Zweifel an der Wahrheit des Glaubenssystems.
Moralische Kritik und Ablehnung der Lebensweise religiöser Gruppen.
Emotionale Leiden auf der Basis von Einsamkeit und VerzweiÁung.
Organisatorischer Kontaktverlust zur Gemeinschaft.
Das bedeutet für einige Religionswissenschaftler, dass Deconversion radikal von
der Beendigung einer Mitgliedschaft zu unterscheiden ist (Streib u.a 2009: 22).
Deconversion zeigt etwa bei der neuen Attraktivität des Islam für einen Teil der
deutschen Jugend seine multi-dimensionale Perspektive. Das Verlassen der alten
Kirche ist bei dieser Minderheit gerade nicht die Flucht in die A-religiosität.
Der organisatorische Niedergang wird vielfach als logische Folge einer funktionalen Differenzierung der Sozialstruktur gedeutet, der zu einer Privatisierung
der Religion, als Kernstück einer Privatisierung des Lebens in modernen Gesellschaften führt (Luckmann 1991: 179). Die Kirchen haben sich nicht mit der wissenschaftlichen Analyse begnügt, die vor allem die EKD vorantrieb (vgl. Kap. 3.2).
Die Evangelische Kirche hat im Vergleich zur Katholischen Kirche den Nachteil,
dass die Hälfte sich allenfalls mit der eigenen Pfarrgemeinde und nicht mit der
Gesamtkirche identiÀziert (Hild 1974: 264f).
Die Pluralisierung des religiösen Feldes ist nicht ohne EinÁuss auf das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Glaubensgemeinschaft. Mehrere Varianten wurden in
der Religionsforschung diskutiert:
• Bei einer wachsenden Vielfalt der Angebote, kann die Mitgliedschaft in der
eigenen Glaubensgemeinschaft intensiviert werden.
• Unter Bedingungen der Pluralisierung wird die Religionszugehörigkeit intensiver ausgeübt.
• Gelegentlich kann die Pluralisierung die Unsicherheit und sogar die A-religiosität fördern.
• Unübersichtlichkeit kann aber auch zu Gleichgültigkeit führen. Man hat dies
für die Ballungsgebiete in Nordrhein-Westfalen festgestellt (Krech in: Hero
u. a. 2008: 39f)
• oder es entstehen hybride Formen.
Sogar die etablierten Kirchen in Westdeutschland sind gelegentlich als „Volkskirchen im Übergang“ bezeichnet worden, die erfolgreich Elemente der Sekten inte-
42
2 Religion und Politik
griert hätten (Gabriel 2014: 52). Es zeigte sich jedoch in empirischen Studien, dass
die Entwicklung der fünf möglichen Folgen der Pluralisierung des religiösen Angebots zu unterschiedlichen Alternativen führen kann, je nachdem ob Ballungsgebiete und besondere sinnstiftende Angebote EinÁuss auf die Gläubigen ausüben
können. Religiöse Pluralität führte im Verhältnis zum staatlichen Religionsrecht
zu einer wachsenden Zahl von KonÁikten.
In den großen Kirchen ist unter dem Druck des Mitgliederschwunds vielfach
über organisatorische Reformen nachgedacht worden. In der Katholischen Kirche
wurden diskutiert:
• die mögliche Konkurrenz zwischen der päpstlichen potestas und der Macht des
Bischofs,
• das Feld einer möglichen Spannung zwischen der Universalkirche und den
Ortskirchen,
• das Feld möglicher KonÁikte zwischen der bischöÁichen Vollmacht und der
Verantwortung des ganzen Gottesvolkes einer Diözese.
Durch das Zweite Vatikanische Konzil wurden das Bischofsamt und die Ortskirchen aufgewertet (Bausenhart 2006: 371, 373). Die Evangelische Kirche hat
keine großen KonÁikte mit einer „höchsten potestas“. Aber auch sie diskutierte
zunehmend die Notwendigkeit, die Menge der Landeskirchen zu reduzieren und
die Laien stärker in die kirchliche Willensbildung einzubinden.
Die jüngste Analyse über Kirchenmitgliedschaft der evangelischen Kirche
(Engagement und Indifferenz 2014: 109) hat über die Bereiche des Engagements
kirchliche oder religiöse Organisationen und Gruppen festgestellt (West 28 %,
Ost 32 %), Vereine, zu denen auch Feuerwehren Sport- und Kulturvereine gehörten (18-20 %), aber auch Parteien und Verbände (6-9 %). Das strukturelle Sozialkapital nach Region hat in einer Studie von 2008 eine aktive Mitgliedschaft
in religiösen Vereinen bei 16,9 % im Westen und 9,6 % in Ostdeutschland nachgewiesen. Mitgliedschaft in religiösen Vereinen mit geringer Aktivität lag höher
(49,6 %: 24,9 %). Die generelle Vereinsmitgliedschaft lag bei 78,4 %: 58,8 %. Das
bedeutete, dass die aktive Mitgliedschaft in Ostdeutschland als Anteil zur geringeren Mitgliedschaft sogar über dem Niveau von Westdeutschland lag (Götze u. a.
2013: 294).
Nach dem Statistischen Jahrbuch Deutschland (2014: 64) gab es in Deutschland
2012 14769 evangelische Kirchengemeinden und 11222 katholische Pfarreien und
Seelsorgestellen. 331 000 Angehörige hatten die evangelischen Freikirchen, 1,3
Millionen die orthodoxen Christen und eine halbe Million Christen, die anderen
christlichen Gemeinschaften angehörten. (Gabriel 2014: 47). In einer EKD-Sta-
http://www.springer.com/978-3-658-09784-4
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