7.6 Geschlechtsgebundene Vererbung

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7 Formalgenetik
7.6
7
Geschlechtsgebundene Vererbung
Bei der Vererbung von Merkmalen, deren verantwortlichen Gene auf den
Geschlechtschromosomen lokalisiert sind, sind Abweichungen von Mendels
Zahlenverhltnissen zu beobachten.
Ein von T. H. Morgan im Jahr 1910 durchgefhrtes Experiment fhrte zur Entdeckung der geschlechtsgebundenen Vererbung. Er beobachtete in seinen Kulturen von Drosophila melanogaster eine Fliege mit weißen Augen. Der Wildtyp
besitzt rote Augen. Die Vererbung des Merkmals „weiße Augen“ war ungewhnlich. Wie sich herausstellte, liegt das dafr verantwortliche Allel (w) auf dem
X-Chromosom (Abb. 7.6, Abb. 7.14). Geht man von Weibchen (XX) aus, die
homozygot fr das Allel w sind (w/w), und kreuzt sie mit Wildtyp-Mnnchen
(XY: +/Y), erhlt man abweichend von der ersten Mendel-Regel keine uniforme
F1. Alle Weibchen sind rotugig und alle Mnnchen sind weißugig. Dies lsst
sich nach dem Anlegen eines Punnett-Schemas (Abb. 7.14) verstehen: Die hemizygoten Mnnchen (XY) haben nur das w Allel (w/Y). Das Y-Chromosom besitzt
keinen Locus fr w, und die Mnnchen prgen notwendigerweise den Phnotyp
„weiße Augen“ aus. Die reziproke Kreuzung von homozygoten Wildtyp-Weibchen (+/+) mit weißugigen Mnnchen (w/Y) fhrt zu anderen Ergebnissen:
Alle Nachkommen haben rote Augen, da jetzt die Mnnchen ein X-Chromosom
mit dem Wildtypallel erhalten haben.
Auch in der F2 sind Abweichungen von Mendels Zahlenverhltnissen zu
beobachten. Die Phnotypen bei der aus der oben zuerst besprochenen Kreuzung
resultierenden F2 spalten auf. Man erhlt das Verhltnis von rotugigen Weibchen zu weißugigen Weibchen zu rotugigen Mnnchen zu weißugigen Mnnchen = 1 : 1 : 1 : 1. Bei der F2 aus der oben entwickelten reziproken Kreuzung
beobachtet man folgende Aufspaltung: rotugige Weibchen zu rotugigen
Mnnchen zu weißugigen Mnnchen = 2 : 1 : 1. Auch hier liefern die PunnettSchemata die Erklrung. Weibchen, die heterozygot fr das Allel w sind, haben
rote Augen; hemizygote Mnnchen sind weißugig.
Experimente mit den weißugigen Fliegen, die von C. B. Bridges, einem
Schler Morgans, durchgefhrt wurden, sind auch in einem anderen Zusammenhang wichtig. Sie belegten die heute unumstrittene Tatsache, dass Gene auf den
Chromosomen lokalisiert sind. Bei der Kreuzung zwischen weißugigen Weib-
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Kopplung von Genen: Gemeinsam vererbte Gene desselben Chromosoms,
Crossover kann Kopplungsgruppen aufheben. Je geringer der Genabstand, umso
vollstndiger die Kopplung.
Relative Genkarte: Relativer Abstand der Gene auf dem Chromosom. Erstellt
durch Analyse von Kreuzungen ber gekoppelte Gene. Einheit: Centimorgan (cM).
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7.6 Geschlechtsgebundene Vererbung
+
Kreuzung nach
Non-Disjunction
diplo-X
nullo-X
reziproke
Kreuzung
w
w
+
+
ww
+w
+w
+w
+w
+ww
w
+ od. X0
+
*1
wY
wY
Y
+Y
wwY
+Y
Y
Y
(Ausnahme)
F2
w
Y
+
w
+
w
+w
ww
++
+w
+Y
wY
+Y
wY
+
(Ausnahme)
Y od. Y0
*2
Y
*1 Ÿberleben normalerweise nicht
*2 Ÿberleben nicht
Abb. 7.14 Geschlechtsgebundene Vererbung. Das Merkmal „weiße Augen“ (w) liegt
bei der Taufliege auf dem X-Chromosom. Daher ergeben sich bei reziproken Kreuzungen
unterschiedliche Verhltnisse bei den Phnotypen der F1 und F2. Durch Non-Disjunction in
der Meiose knnen bei der Taufliege diplo-X und nullo-X Eier entstehen. Dabei entscheidet
nicht das Fehlen des Y-Chromosoms ber die weibliche Geschlechtsausprgung, sondern
die Anwesenheit von zwei X-Chromosomen: XXY ist (4), X0 ist (5).
chen und Wildtyp-Mnnchen traten nmlich ausnahmsweise auch rotugige
Mnnchen und weißugige Weibchen auf. Bridges erklrte dies mit dem abnormalen Verhalten der X-Chromosomen in der Meiose der Mtter der Ausnahmetiere. Normalerweise sollten sich die beiden X-Chromosomen in der meiotischen
Anaphase I voneinander trennen (disjoin). Gelegentlich bleibt diese Trennung
aber aus, sodass nach der Meiose Eier mit einer abnormalen Zahl von X-Chromosomen entstehen: Eiern mit zwei X-Chromosomen (diplo-X Eier) stehen Eier
ohne X-Chromosom gegenber (nullo-X Eier). Der Vorgang ist als Non-Disjunction bekannt. Non-Disjunction ist fr eine Vielzahl von numerischen Chromosomenaberrationen verantwortlich (S. 380). Werden Eier mit einer abnormalen Zahl von X-Chromosomen befruchtet, gibt es mehrere Mglichkeiten. Wie die
cytogenetische Analyse der Ausnahmetiere zeigte, besitzen die weißugigen
Weibchen zwei X-Chromosomen und ein Y-Chromosom (XXY). Die ausnahmsweise auftretenden rotugigen Mnnchen haben nur ein X-Chromosom. Um
das Fehlen eines weiteren Sexchromosoms zu verdeutlichen, spricht man in dieser Situation gern von X0-Tieren. Die Anwesenheit oder das Fehlen von X-Chro-
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F1
Kreuzung bei
X-Chromosom
gebundenem Merkmal
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7 Formalgenetik
mosomen mit dem w-Allel fhrt also zu weiß- bzw. rotugigen Tieren. Damit
war eindeutig belegt, dass Gene auf den Chromosomen liegen. Da auch X0-Tiere
Mnnchen sind, zeigt diese Kreuzung außerdem, dass das Y-Chromosom bei der
Geschlechtsbestimmung von Drosophila keine entscheidende Rolle spielt (S. 303).
7.7
Stammbaumanalyse
7
Die Charakteristika einer Reihe definierter Erbgnge beim Menschen (autosomal dominant, autosomal rezessiv und X-Chromosom gebunden) lassen sich
anhand von Stammbumen nachvollziehen.
Fr das Verstndnis der genetischen Hintergrnde von Merkmalen sind kontrollierte Kreuzungen und die Analyse einer grßeren Zahl von Nachkommen bzw.
Generationen ntig. Dies ist beim Menschen naturgemß nicht mglich und
auch bei grßeren Sugetieren technisch schwierig. Einen Ausweg stellen in
diesen Fllen Stammbaumanalysen dar, die gerade in der Humangenetik von
großer Bedeutung sind, denn in vielen Fllen werden erbliche Krankheiten als
Merkmale beobachtet. Dabei werden die lebenden Familienmitglieder untersucht und befragt, um krankheitsbezogene Informationen auch ber verstorbene
Familienmitglieder zu erhalten. Ist der Stammbaum erstellt, analysiert man das
Verhalten eines Merkmals ber mehrere Generationen hinweg und zieht dann
Schlsse ber Dominanz und Rezessivitt von Genen und ihre Lokalisation auf
Autosomen oder Sexchromosomen. Ist die Art des Erbgangs bestimmt, kann
die Hufigkeit abgeschtzt werden, mit der das Merkmal an die Nachkommen
vererbt wird. Der amerikanische Humangenetiker Victor McKusick hat sich
die Aufgabe gestellt, die genetisch bedingten Merkmale des Menschen in
einer Liste zu erfassen. Diese Liste ist mittlerweile als McKusick-Katalog
(http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim/) bekannt und enthielt im Mai 2009 insgesamt fast 20 000 Eintrge zu Genen und phnotypischen Merkmalen.
7.7.1
Autosomal dominanter Erbgang
Autosomal dominant vererbte Merkmale sind beim Menschen recht hufig.
Auch einige Krankheiten wie das Retinoblastom (Tumor der Retina), die Neurofibromatose und die familire Hypercholesterolmie, die hier als Beispiel dienen
soll, zeigen diesen Erbgang.
Die familire Hypercholesterolmie ist die Folge einer Genmutation auf dem
kurzen Arm von Chromosom 19. Das Gen codiert fr ein Rezeptorprotein, das fr
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Geschlechtsgebundene Vererbung: Erbgang von heterosomal codierten Merkmalen, hemizygotes Allel beim heterogameten Geschlecht. Reziproke Kreuzung
liefert andere Zahlenverhltnisse.
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