280 7 Formalgenetik 7.6 7 Geschlechtsgebundene Vererbung Bei der Vererbung von Merkmalen, deren verantwortlichen Gene auf den Geschlechtschromosomen lokalisiert sind, sind Abweichungen von Mendels Zahlenverhltnissen zu beobachten. Ein von T. H. Morgan im Jahr 1910 durchgefhrtes Experiment fhrte zur Entdeckung der geschlechtsgebundenen Vererbung. Er beobachtete in seinen Kulturen von Drosophila melanogaster eine Fliege mit weißen Augen. Der Wildtyp besitzt rote Augen. Die Vererbung des Merkmals „weiße Augen“ war ungewhnlich. Wie sich herausstellte, liegt das dafr verantwortliche Allel (w) auf dem X-Chromosom (Abb. 7.6, Abb. 7.14). Geht man von Weibchen (XX) aus, die homozygot fr das Allel w sind (w/w), und kreuzt sie mit Wildtyp-Mnnchen (XY: +/Y), erhlt man abweichend von der ersten Mendel-Regel keine uniforme F1. Alle Weibchen sind rotugig und alle Mnnchen sind weißugig. Dies lsst sich nach dem Anlegen eines Punnett-Schemas (Abb. 7.14) verstehen: Die hemizygoten Mnnchen (XY) haben nur das w Allel (w/Y). Das Y-Chromosom besitzt keinen Locus fr w, und die Mnnchen prgen notwendigerweise den Phnotyp „weiße Augen“ aus. Die reziproke Kreuzung von homozygoten Wildtyp-Weibchen (+/+) mit weißugigen Mnnchen (w/Y) fhrt zu anderen Ergebnissen: Alle Nachkommen haben rote Augen, da jetzt die Mnnchen ein X-Chromosom mit dem Wildtypallel erhalten haben. Auch in der F2 sind Abweichungen von Mendels Zahlenverhltnissen zu beobachten. Die Phnotypen bei der aus der oben zuerst besprochenen Kreuzung resultierenden F2 spalten auf. Man erhlt das Verhltnis von rotugigen Weibchen zu weißugigen Weibchen zu rotugigen Mnnchen zu weißugigen Mnnchen = 1 : 1 : 1 : 1. Bei der F2 aus der oben entwickelten reziproken Kreuzung beobachtet man folgende Aufspaltung: rotugige Weibchen zu rotugigen Mnnchen zu weißugigen Mnnchen = 2 : 1 : 1. Auch hier liefern die PunnettSchemata die Erklrung. Weibchen, die heterozygot fr das Allel w sind, haben rote Augen; hemizygote Mnnchen sind weißugig. Experimente mit den weißugigen Fliegen, die von C. B. Bridges, einem Schler Morgans, durchgefhrt wurden, sind auch in einem anderen Zusammenhang wichtig. Sie belegten die heute unumstrittene Tatsache, dass Gene auf den Chromosomen lokalisiert sind. Bei der Kreuzung zwischen weißugigen Weib- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Kopplung von Genen: Gemeinsam vererbte Gene desselben Chromosoms, Crossover kann Kopplungsgruppen aufheben. Je geringer der Genabstand, umso vollstndiger die Kopplung. Relative Genkarte: Relativer Abstand der Gene auf dem Chromosom. Erstellt durch Analyse von Kreuzungen ber gekoppelte Gene. Einheit: Centimorgan (cM). 281 7.6 Geschlechtsgebundene Vererbung + Kreuzung nach Non-Disjunction diplo-X nullo-X reziproke Kreuzung w w + + ww +w +w +w +w +ww w + od. X0 + *1 wY wY Y +Y wwY +Y Y Y (Ausnahme) F2 w Y + w + w +w ww ++ +w +Y wY +Y wY + (Ausnahme) Y od. Y0 *2 Y *1 berleben normalerweise nicht *2 berleben nicht Abb. 7.14 Geschlechtsgebundene Vererbung. Das Merkmal „weiße Augen“ (w) liegt bei der Taufliege auf dem X-Chromosom. Daher ergeben sich bei reziproken Kreuzungen unterschiedliche Verhltnisse bei den Phnotypen der F1 und F2. Durch Non-Disjunction in der Meiose knnen bei der Taufliege diplo-X und nullo-X Eier entstehen. Dabei entscheidet nicht das Fehlen des Y-Chromosoms ber die weibliche Geschlechtsausprgung, sondern die Anwesenheit von zwei X-Chromosomen: XXY ist (4), X0 ist (5). chen und Wildtyp-Mnnchen traten nmlich ausnahmsweise auch rotugige Mnnchen und weißugige Weibchen auf. Bridges erklrte dies mit dem abnormalen Verhalten der X-Chromosomen in der Meiose der Mtter der Ausnahmetiere. Normalerweise sollten sich die beiden X-Chromosomen in der meiotischen Anaphase I voneinander trennen (disjoin). Gelegentlich bleibt diese Trennung aber aus, sodass nach der Meiose Eier mit einer abnormalen Zahl von X-Chromosomen entstehen: Eiern mit zwei X-Chromosomen (diplo-X Eier) stehen Eier ohne X-Chromosom gegenber (nullo-X Eier). Der Vorgang ist als Non-Disjunction bekannt. Non-Disjunction ist fr eine Vielzahl von numerischen Chromosomenaberrationen verantwortlich (S. 380). Werden Eier mit einer abnormalen Zahl von X-Chromosomen befruchtet, gibt es mehrere Mglichkeiten. Wie die cytogenetische Analyse der Ausnahmetiere zeigte, besitzen die weißugigen Weibchen zwei X-Chromosomen und ein Y-Chromosom (XXY). Die ausnahmsweise auftretenden rotugigen Mnnchen haben nur ein X-Chromosom. Um das Fehlen eines weiteren Sexchromosoms zu verdeutlichen, spricht man in dieser Situation gern von X0-Tieren. Die Anwesenheit oder das Fehlen von X-Chro- Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. F1 Kreuzung bei X-Chromosom gebundenem Merkmal 7 282 7 Formalgenetik mosomen mit dem w-Allel fhrt also zu weiß- bzw. rotugigen Tieren. Damit war eindeutig belegt, dass Gene auf den Chromosomen liegen. Da auch X0-Tiere Mnnchen sind, zeigt diese Kreuzung außerdem, dass das Y-Chromosom bei der Geschlechtsbestimmung von Drosophila keine entscheidende Rolle spielt (S. 303). 7.7 Stammbaumanalyse 7 Die Charakteristika einer Reihe definierter Erbgnge beim Menschen (autosomal dominant, autosomal rezessiv und X-Chromosom gebunden) lassen sich anhand von Stammbumen nachvollziehen. Fr das Verstndnis der genetischen Hintergrnde von Merkmalen sind kontrollierte Kreuzungen und die Analyse einer grßeren Zahl von Nachkommen bzw. Generationen ntig. Dies ist beim Menschen naturgemß nicht mglich und auch bei grßeren Sugetieren technisch schwierig. Einen Ausweg stellen in diesen Fllen Stammbaumanalysen dar, die gerade in der Humangenetik von großer Bedeutung sind, denn in vielen Fllen werden erbliche Krankheiten als Merkmale beobachtet. Dabei werden die lebenden Familienmitglieder untersucht und befragt, um krankheitsbezogene Informationen auch ber verstorbene Familienmitglieder zu erhalten. Ist der Stammbaum erstellt, analysiert man das Verhalten eines Merkmals ber mehrere Generationen hinweg und zieht dann Schlsse ber Dominanz und Rezessivitt von Genen und ihre Lokalisation auf Autosomen oder Sexchromosomen. Ist die Art des Erbgangs bestimmt, kann die Hufigkeit abgeschtzt werden, mit der das Merkmal an die Nachkommen vererbt wird. Der amerikanische Humangenetiker Victor McKusick hat sich die Aufgabe gestellt, die genetisch bedingten Merkmale des Menschen in einer Liste zu erfassen. Diese Liste ist mittlerweile als McKusick-Katalog (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim/) bekannt und enthielt im Mai 2009 insgesamt fast 20 000 Eintrge zu Genen und phnotypischen Merkmalen. 7.7.1 Autosomal dominanter Erbgang Autosomal dominant vererbte Merkmale sind beim Menschen recht hufig. Auch einige Krankheiten wie das Retinoblastom (Tumor der Retina), die Neurofibromatose und die familire Hypercholesterolmie, die hier als Beispiel dienen soll, zeigen diesen Erbgang. Die familire Hypercholesterolmie ist die Folge einer Genmutation auf dem kurzen Arm von Chromosom 19. Das Gen codiert fr ein Rezeptorprotein, das fr Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Geschlechtsgebundene Vererbung: Erbgang von heterosomal codierten Merkmalen, hemizygotes Allel beim heterogameten Geschlecht. Reziproke Kreuzung liefert andere Zahlenverhltnisse.