Marc Aurel Text Es hat Zeiten gegeben, da spielten Kinder mit Ritterburgen, Zinnsoldaten und mit kleinen Figuren, die aus Ton geformt waren. Da waren Burgen ein besonderer Gebäudebestand. Ohne eine Burg konnte man ja gar nicht Ritter kämpfen lassen. Der Burggraben war wichtig, ohne Zugbrücke ging es nicht, und die Mauern, die die Burg umschließen, hatten Schießscharten, und die Burg lag meistens auf einem hohen Berg. Trümmer und Ruinen wirklicher Burgen kann man heute noch besichtigen; und gar manche Burg besteht noch wie etwa die Marienburg des deutschen Ritterordens. Gewaltige Anlagen. Wenn einmal die Zugbrücke eingeholt war, die schweren Tore durch quer liegende Balken fest geschlossen waren, wenn die Bogenschützen ihre Plätze eingenommen hatten, wenn der Türmer Ausschau hielt nach nahenden Angreifern, dann war die Burg gegen die Aggressoren gesichert. Vorräte waren eingelagert, der Brunnen führte sauberes Wasser. Der Viehbestand war gesichert. Die Burg konnte monatelang einer Belagerung standhalten. Und so manches Mal mussten die Belagerer einsehen, dass der Aufwand für eine Eroberung dieser Festung nicht lohnte. Eine nicht nur für Kinder faszinierende Welt. Wasser in den Graben, Tore schließen, Zugbrücke hoch, kochendes Pech auf die Zinnen, Bogenschützen verteilen – und unangreifbar werden die Menschen, die sich in die Festung gerettet haben. Vor nunmehr fast zweitausend Jahren hat ein Mann in einem kleinen Text dieses Bild der Festung bemüht, um zu verdeutlichen, wie ein Mensch leben kann, ohne unablässig im Krieg mit sich selbst und mit anderen zu sein. Er schreibt dort: „Denke daran, dass deine übergeordnete Vernunft (hegemonion), wenn sie, in sich selbst gesammelt, sich selbst genügt und nichts tut, was sie nicht will, unüberwindlich wird, auch wenn sie einmal ohne genügenden Grund Widerstand leistet. Wie viel mehr also dann, wenn sie mit Grund und mit Bedacht über etwas urteilt? Deshalb ist die denkende Seele, von Leidenschaft frei, gleichsam eine Festung. Denn der Mensch hat keine stärkere Schutzwehr, wohin er seine Zuflucht nehmen könnte, um fortan unbezwinglich zu sein. Wer nun diese nicht kennt, ist unwissend; wer sie aber kennt, ohne zu ihr seine Zuflucht zu nehmen, ist unglücklich." (48) Dieses Büchlein, aus dem ich eben vorlas, stammt von Marcus Aurelius Antonius, kurz Marc Aurel, der 121 n. Chr. In Rom geboren wurde; er starb auf einem Feldzug gegen Sarmaten, Markomannen, Quaden und Wenden in einem 1 : Marc Aurel Text Heereslager bei Vindobona (Wien) im Jahr 180. Der Wohlstand seiner Eltern (Ziegeleibesitzer) gestatteten ihm eine umfassende Ausbildung; und schon früh wurde Kaiser Hadrian auf ihn aufmerksam; 138 wird er zum Mitregenten erhoben; und damit setzt ein Leben voller Härte und Unruhe ein. Verheiratet mit der Tochter seines Mitregenten Faustina wird er dreizehn Kinder haben, von denen sechs überleben; deren einer, Commodus, wird später selbst Kaiser des römischen Reichs sein. Die Zeiten waren unruhig; das Reich war geschwächt; der Ansturm der Nordvölker und derer aus dem Osten ermüdeten die Widerstandskraft der römischen Armeen. Im Inneren schafften dem jungen Kaiser aufbegehrende Politiker und Offiziere zu schaffen. Und schließlich wird noch eine Pestepidemie ausbrechen, die die ohnehin geschwächte Lage in Rom verheerend beeinflusst. Dieser Kaiser nun – so die Legende – sitzt oft abends in seinem Zelt nahe bei Wien und schreibt sich sein kleines Handbüchlein, in dem er sich selbst Ratschläge erteilt. Das war damals durchaus üblich; gewissermaßen ein Tagebuch des inneren Lebens. Die Grundlage seiner Überlegungen ist die stoische Philosophie; und es wird manchen erstaunen, dass genau diese philosophische Lebenskunde in einem Ideal weiterlebt, das unter dem Namen des „gentleman“ bekannt ist. Dass er seine Gedanken in griechischer Sprache verfasst, soll uns nicht wundern, denn auch für die natürlich Latein sprechenden und schreibenden Römer war das Griechische die Sprache der Gebildeten, der Vornehmen, die gern auf Texte griechischer Philosophen zurückgriffen. Was hat es mit der Stoa auf sich? Der Grieche Zenon von Kition (Ort auf Zypern, 336 v.Cr. bis 264 v. Chr.) gilt als Gründer, also als der Mensch, der die Grundsätze der Stoa zusammenfasste; Philosophie sah er nicht als eine Sammlung von Theorien und abstrakten Begriffen, sondern er befand, dass Philosophie Lebenswegbegleitung sein müsse. Und darum verdient er unser Interesse. Er lehrte in einer Säulenhalle in Athen (stoa poikile); die Wirkung dieser stoischen Philosophie war mächtig. Während der Kaiserzeit war die Stoa so etwas wie eine Volksreligion der Römer; auch der Apostel Paulus kannte diese Lehre und zitierte sie, indem er sagt, dass wir in ihm, nämlich dem Kosmos, der Gott gleichgesetzt wird, leben, weben und sind. Und damit ist das Zentrum der Lehre der Stoa erreicht: Wir sind Teil eines Kosmos, einer Allnatur, deren Gesetze in uns wirken, die zu beachten und nach denen zu leben, eine Übung der Klugheit ist. Nichts geht in diesem Kosmos 2 : Marc Aurel Text verloren, alles ist auf Werden und Vergehen, Vergehen und Werden angelegt. Der Mensch ist Teil dieser Gott-Natur; außerhalb der Stofflichen, des Materiellen ist nichts, alles ist Stoff, auch das Feinste, auch das Unsichtbare. Dieser Gott, diese Gott-Natur durchdingt alles und ist eine Art Weltseele für alles Tote und Lebendige. Alles, was irgendwie ist, besteht als Besonderung dieser Weltseele; und in der Folge denken dann die Stoiker, dass nichts aus Zufall, irrational, nicht einsehbar, geschieht. Alles ist notwendig so, wie es ist. Die unmittelbare Folgerung für das Leben der Menschen: Folge den vorgegebenen Gesetzen der Allnatur, sei aus Freiheit klug und versuche, diese Gesetze zu verstehen und sich ihnen anzupassen. Widersetze dich nicht. Gemäß der All-Natur zu leben, heißt vernunftgemäß zu leben. Darauf nun baut das Handbüchlein „Ermahnungen an sich selbst“ auf. Wenn wir nun allerdings eingebunden sind in die Gesetze der Allnatur, wenn also alles mit Notwendigkeit geschieht, dann müssen wir die Stoiker fragen, was es denn mit der Freiheit des Menschen auf sich hat. Die stoischen Philosophen sind Praktiker; sie verirren sich nicht in begrifflichen Spekulationen, sondern sie fragen nach den Möglichkeiten des Menschen, ein Leben zu führen, in dem sich einer nicht unablässig den Kopf blutig schlägt an den Grenzen, die ihm die Allnatur vorgibt. Wie kann man vernünftig verstehen, dass Freiheit und von außen her auf uns eindringende Notwendigkeit (Schicksal) zusammenpassen? Unser eigenes Leben gibt die einfache Antwort. Wir können innerhalb gewisser Rahmenbedingungen alles nur Mögliche tun, uns für oder gegen etwas entscheiden. Wir haben also einen gewissen Spielraum. Den allerdings können wir nicht verlassen. Man zieht hierzu manchmal den Vergleich mit einem Gewehrlauf heran: Soll die Kugel den Lauf schnell, kraftvoll und zielsicher verlassen, so darf sie sich nicht im Lauf verklemmen ; sie braucht eben „Spiel“. Nun zu Marc Aurel. Das kleine Büchlein besteht aus 12 Kapiteln, die jeweils wieder in kleine Abschnitte gegliedert sind. Die etwa 200 Seiten kann man nicht durchgehend lesen. Sie sind auch nicht als logisch fortlaufender Text geschrieben worden, vielmehr ist es ein inneres Tagebuch, gewissermaßen eine geistige Übung, dessen Marc Aurel sich bediente, - je nach Lage seines Nachdenkens. Das heißt aber nicht, dass die Denker der Stoa, auf die sich Marc Aurel bezieht, insbesondere auf Epiktet, keine Ordnung in ihren Auffassungen vom Leben der Menschen hatten, schließlich war die Stoa schon mehr als 400 Jahre als Idee 3 : Marc Aurel Text und als Lebensanschauung in der Welt; und sie wollte stets die Frage beantworten, wie ein Mensch in dem Spielraum, den ihm die Gesetze der Allnatur zubilligen, leben kann, letztlich die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben zu befriedigen. Diesen Motor hat sie mit allen antiken Denkgebäuden gemeinsam. Ich schlage nun das VII. Kapitel auf und lese den kleinen Abschnitt 21. Dort steht: Nah ist die Zeit, da du alles vergessen haben wirst, und bald wirst auch du bei allen in Vergessenheit geraten. Das klingt nicht gerade sehr lebensfreundlich und von Lebensglück erfüllt. Diese Auffassung ist eine Täuschung. Marc Aurel nimmt mit diesem Satz die Lebenswirklichkeit der Menschen auf; wir selbst sind in der Illusion, für alles Ewigkeiten wichtig zu sein, erkannt und in der Erinnerung der anderen zu sein. Diese Nüchternheit ist die Basis-Stimmung, aus der heraus Marc Aurel sich, die Welt und die Menschen betrachtet: nüchtern, klar - im Versuch, Selbsttäuschungen zu entgehen. Die Voraussetzung dabei ist, dass es in uns eine innere Instanz gibt, die uns befähigt, nüchtern und klar Möglichkeiten und Grenzen unserer Lebensentwürfe zu beurteilen. Es sind drei Bemühungen, von denen Marc Aurel meint, dass sie unser Leben bestimmen sollten: * Selbsterkenntnis * Selbstbeherrschung * Selbstveredelung. Diese drei Bemühungen führen zu Regeln, die wir im alltäglichen Leben beachten sollen; und sie entsprechen den drei Tätigkeiten der Seele: * Urteilen * Begehren * Handeln. Und wieder sind es drei Bereiche, die für diese Tätigkeiten der Seele in Frage kommen: * Der Bereich des individuellen Urteilsvermögens * die Allnatur, deren Teil die individuelle Seele ist * die menschliche Natur. Diese Aspekte betrachtet Marc Aurel schön der Reihe nach und – wie dies in seinem Büchlein üblich ist – spricht mit sich selbst – eigentlich mit seiner Seele, wobei wir natürlich fragen: Wer ist es, der da mit sich selbst spricht? 4 : Marc Aurel Text Mache den Einbildungen ein Ende. Hemme den Zug der Leidenschaften. Behalte die Gegenwart in deiner Gewalt. Mache dich mit dem, was dir oder anderen begegnet, vertraut. Trenne und zerlege jeden Gegenstand in seine Urkraft und in seinen Stoff. Gedenke der letzten Stunde. Lass die Fehler, die von anderen begangen werden, da, wo sie geschehen sind. (7,29) Das griechische Wort, das Marc Aurel für Einbildungen gebraucht, spricht für sich: Dabei könnten wir lange verweilen: Was ist eine Phantasie? Die Stoa unterscheidet die von außen kommenden von denen, wie wir in unserer Seel selbst herstellen. Die moderne Psychotherapie befasst sich so intensiv mit diesen Phänomenen: Angst, Wahn, Panik, Hektik, Zwangsvorstellungen, eingebildeten Krankheiten. „Mache den Einbildungen ein Ende!“ Das ist leicht gesagt und kann nicht einfach so geschehen. Es bedarf der Übung, auf die der nüchterne Kaiser immer wieder Wert legt. Darum fordert er von seiner Seele auch das Folgende: Konzentriere dich auf dich selbst. (7,28) Anders gesprochen: „Ziehe dich in dich selbst zurück. Liefere dich nicht der Wirrnis undurchschaubaren Geschehens aus!“ Hier sind wir wieder bei dem anfänglichen Vergleich mit der „inneren Burg“: Bleib bei dir; und kümmere dich nicht um die Fehler, die andere machen, lasse sie dort, wo sie geschehen sind; nimm sie nicht als „Phantasie“ in dich auf. * Selbsterkenntnis * Selbstbeherrschung * Selbstveredelung * sich nicht dem Strom irgendwelchen Geschehens ausliefern * Abstand halten. Und damit: Schmücke dich mit Einfachheit, Zurückhaltung und Gleichgültigkeit gegenüber allem, was zwischen Tugend und Laster in der Mitte liegt. Liebe die Menschen. Folge Gott. (7,31) Gott? Marc Aurel ist in unserem Sinne kein religiöser Mensch; wenn er von „Gott“ spricht, so weist er auf die Allnatur und ihre Gesetze hin. Gott – das ist der ganze Kosmos, - und wir sind ein Teil dieses Kosmos. Wenn wir uns nicht den drei Übungen unterwerfen: * Selbsterkenntnis * Selbstbeherrschung 5 : Marc Aurel Text * Selbstveredelung, dann stören wir die Ordnung, die uns Gott, die Allnatur vorgegeben hat. Praktisch gesprochen: * Ich muss erkennen, welche Möglichkeiten, welche Fähigkeiten, welche Aussichten ich für mich und mein Leben habe. Ich soll mich Träumereien, Illusionen, Phantasien nicht hingeben. * Ich soll in diesen Grenzen meiner Fähigkeiten, Möglichkeiten und Aussichten beharren, mich also unter Kontrolle halten, auch wenn ich noch so von Leidenschaften und Begierden gezerrt werde. * Ich soll mich bemühen, mich immer fester den Gesetzen der Allnatur zu fügen, mich also in einen höheren Zustand des Menschseins bringen. Und was für eine merkwürdige Auffassung: dass ich gleichgültig sein soll allem gegenüber, was zwischen Tugend und Laster liegt? Nun: - Marc Aurel meint damit, dass die unbeeinflussbaren Geschehnisse der physikalischen Welt uns nicht beunruhigen sollen; denn wir können keinen Einfluss auf sie ausüben; wir müssen uns ihnen fügen. Ich finde seine neun „Hauptvorschiften“ (11,18), wie er sie nennt, sehr einleuchtend und recht praktikabel: 1. Überprüfe immer wieder, in welchem Verhältnis du zu den Menschen stehst. Wir sind alle füreinander da. So hat es Gott, die Allnatur eingerichtet. Wenn wir unser Verhältnis zu anderen stören, dann stören wir die harmonische Ordnung der Allnatur; und dies fällt schließlich auf uns zurück. 2. Betrachte, wie die Menschen sich so zeigen: Haben die Grundsätze, nach denen sie leben, Gewalt über sie? Oder ist es so, dass sie sich treiben lassen in ihrem kleinen Reich der Freiheit, in dem sie ein gewisses Spiel haben, in dem sie aber von Leidenschaften, trieben oder blinden Gefühlen getrieben werden? An einigen Stellen hebt Marc Aurel hervor, dass die anderen zu oft einfach nur eine Belästigung sind. Trotzdem sagt er auch (im Sinne der Harmonie der Allnatur), dass wir sie lieben sollen, der Gemeinschaft dienen sollen; - nach dem stoischen Grundsatz: das geht vorüber, ist endlich und irgendwann gar nicht mehr da. 3. Ist das Handeln der Menschen vernünftig? Folgt es den Grundsätzen der Gleichklangs mit den Gesetzen der Natur? Vernunft! Was soll das bedeuten? - : Nach den Regeln der Vernunft leben? In der antiken Philosophie gibt es eine zentrale Idee, - das ist die des LOGOS. Wir erkennen in diesem Begriff den Ursprung unseres Begriffs von der Logik. Wir 6 : Marc Aurel Text sagen ja oft: „Das ist unlogisch!“, oder: „Diese Logik verstehe ich nicht.“ Und wir folgen damit der Einsicht, dass das, was wir tun wollen, stimmig sein muss, es muss mit den Gesetzen der Natur, die uns vorgegeben sind, übereinstimmen, in sie passen. Wenn nicht, dann ist unser Handeln gesperrt. Wir kommen nicht weiter. Und wenn wir dann doch wollen, dann reißt uns die Gewalt unseres Willens fort, wir versuchen, den Logos, der uns das gültige Maß vorgibt, hinweg zu drängen. So entwickelt sich die zerstörerische Spirale der Leidenschaften. Affekten zu folgen, heißt, sich flüchtig in eine Illusion zu verbohren; die Vernunft, der Logos wird ausgesetzt. Und doch drängt er immer wieder in unser Leben; denn schließlich ist er das Wirkende in der Welt. 4. Nimm Einsicht in deine eigenen Vergehen und bekenne dich zu ihnen. Marc Aurel: „Bist du selbst ohne Fehl? Bedenke, was du anderen zu verdanken hast. Die anderen handeln ja auch gar nicht aus der Lust am Bösen… Schaden kann dir der andere ja doch nicht; das tust du nur selbst, wenn du dich durch sein Verhalten zu leidenschaftlicher Erregung und zu falschem Handeln hinreißen lässt. Wenn ein anderer fehlt, so ist das seine Sache; du tue, was in deiner Macht steht – und bewahre dein Inneres vor wilden Affekten. Zorn etwa ist schlimmer als alles, was dir von außen angetan werden kann.“ 5. Urteile nur dann über einen anderen, wenn du Beweggründe und Umstände verstanden hast. Hören wir, was Marc Aurel hierzu sagt: Es gibt nun einmal viele Menschen ohne sittliches Gefühl. Wahnsinn wäre es, das Unmögliche zu verlangen oder zu erwarten, dass du persönlich von ihrer Schlechtigkeit verschont bleiben sollst. Die Menschen ändern sich nicht, selbst wenn du dich zerreißest. Aber trotzdem bleiben sie deine Mitmenschen, und wir sind wie die Glieder eines Körpers aufeinander angewiesen. Alle Menschen sind dir verwandt, vom selben Fleisch und Blut, ja vom selben Geiste… 6. Mäßige dich in allen deinen Gefühlen, insbesondere, wenn du zornig werden könntest. Bedenke einfach, dass du bald nicht mehr sein wirst. Wir sind angehalten, die Flüchtigkeit unserer Stimmungen und unserer Gefühle stets zu bedenken; das klingt in dieser „Hauptvorschrift“ sehr düster, meint doch aber eine Erfahrung, die wir alle teilen: Gefühle sind nicht zuverlässige Ratgeber: Man halte inneren Abstand zu ihnen. Das meint diese Übung. 7. Unterscheide gut die Handlungen der anderen von ihren Meinungen über sie. Es sind ja nicht die Handlungen selbst, sondern die Meinungen über sie, 7 : Marc Aurel Text die du kennen lernst. Wieder lehrt Marc Aurel, dass wir unterscheiden sollen: das Eine ist, dass etwas geschieht, das Andere ist, dass es beurteilt wird. Tatsachen und Urteile über Tatsachen gehören nicht in denselben Raum des Kosmos. Die sittliche Konsequenz daraus: Verachtet mich jemand? Das ist seine Sache. Meine Sache aber ist es, nichts zu tun oder zu sagen, was Verachtung verdient. Hasst er mich, so ist das wieder seine Sache, die meinige hingegen, liebreich und wohlwollend gegen alle Menschen zu sein …“ (11,12) 8. Unterscheide: Zorn und Kummer über die Handlungen der anderen von den Handlungen selbst; denn diese Empfindungen und Erregungen betreffen uns viel härter als die Handlungen selbst. 9. Und frage dich: Ist dein Wohlwollen anderen gegenüber wirklich echt? Oder ist es bloß vorgetäuscht, geheuchelt und von verdeckten Interessen geleitet? Beachten muss man bei der Betrachtung dieser Hauptvorschriften einen zugrunde liegenden Lehrsatz der stoischen Philosophie: Es gibt in diesem Kosmos keine Dinge, Gegenstände, Menschen, Gedanken, Gefühle, die nicht irgendwie stofflich sind. Alles, was wir, und alles, was die anderen Lebewesen, Gedanken, Gefühle, Steine sind, all dies setzt sich aus mal mehr mal weniger aus Material zusammen, das den Kosmos ausmacht. Daher gibt es im letzten Grund keinen Unterschied, der alles Seiende trennt. Nur die besondere Form, in der alles, was ist, auftritt, ist jeweils anders. Die eine Frage stellen sich die antiken Philosophen immer wieder, so auch Marc Aurel – und als Stoiker in besonderer Weise. Er belehrt uns: „Die Fähigkeit, ein glückliches Leben zu führen, ist in unserer Seele vorhanden, sie darf nur gegen gleichgültige Dinge sich wirklich auch gleichgültig verhalten. Und sie wird sich alsdann so verhalten, wenn sie jedes von ihnen teilweise und im ganzen betrachtet und sich erinnert, dass kein Ding uns zwingen kann, so oder anders davon zu urteilen, dass die Gegenstände nicht zu uns kommen, sondern unbeweglich stehen bleiben, vielmehr WIR es sind, die die Vorstellungen von ihnen erzeugen und uns diese gleichsam fest einprägen, während es uns doch freisteht, dieses Urteil darüber uns nicht zu bilden oder auch, wenn es sich etwa bei uns schon eingeschlichen hat, es sogleich wieder zu tilgen.“ (11,16) 8 : Marc Aurel Text Darin stecken XXX wichtige Lehren – so wie Marc Aurel das Leben sieht: * Ein glückliches Leben zu führen – das ist der zentrale Willen aller Menschen. * Und die Erfüllung hängt nur von uns selbst ab. * Geschehnisse, die gleichgültig sind, also weder gut noch böse sind, sollen uns nicht berühren. Dabei muss der einzelne Mensch prüfen, was denn „gleichgültige Dinge“ sind. * Unsere Seele ist frei. Sie entscheidet selbst – sozusagen in eigener Verantwortung - , was sie annehmen will oder nicht. Sie urteilt selbst. * Die Übung, die aus diesen Lehren folgt, führt zu einem glücklichen Leben – meint Marc Aurel; denn nichts, was von außen eindringen könnte, kann unsere innere Heiterkeit, Gelassenheit und Ruhe stören. * Das bedeutet natürlich, dass wir unsere Urteilsfähigkeit gründlich ausbilden müssen, damit eben dem Ansturm der täuschenden Wirklichkeit Widerstand geleistet werden kann. Dann sind wir unterwegs zu unserer inneren Burg, in deren sicheren Mauern uns nichts erschüttern kann. Wer der Welt antworten will, braucht eine schöne, klangvolle Stimme. Man kann dies üben, indem man singt. Wer in der Welt eine gute Haltung in einem stabilen Körper haben will, kann das üben indem er die Muskeln, das Skelett, den Atem trainiert. Und wer das denkend in sein Leben einbinden will, kann das üben, indem er klugen Menschen folgt, die das Nötige schon lange vor uns aufgeschrieben haben. Starker Körper Schöne Stimme Klarer Geist Mit einem Wort: BEA-Yoga-Studio. Demnächst mehr. 9 : : Marc Aurel Text Übung (=„Askese“!) 1. Selbsterkenntnis Und was genau? 2. Selbstbeherrschung 10 Wann Wo Wie lange Erfolg Marc Aurel Text Und was genau? 3. Selbstveredelung Und was genau? Marc Aurel 1. Man lebe nach der „Natur“. 2. Alles ist voller Spuren „göttlicher Vorsehung“. 3. All unsere Handlungen sollen so sein, als sollten wir möglicherweise in diesem Augenblick aus dem Leben scheiden. 4. Alles beruht auf „Meinungen“. 5. Unser Leben verzehrt sich täglich selbst – und mit jedem Tag wird der „Rest“ kleiner. 6. Gerechtigkeit, Wahrheit, Mäßigung, Mut sind die höchsten sittlichen Güter, die in unserer Seele wirken sollen. : 11 Marc Aurel Text 7. Keine Handlung soll aufs Geratewohl geschehen, sondern stets nach den Regeln der Lebenskunst und der Vernunft. 8. Man höre auf, sich Sorgen zu machen. 9. Man nehme hin, was man nicht beeinflussen kann. 10. Die Welt ist Verwandlung, - das Leben ist Einbildung („Phantasie“). 11. Unsere Tätigkeiten sollten auf Weniges beschränkt sein; dann erhalten wir uns die innere Ruhe. 12. „Die Zeit ist ein Fluss, ein ungestümer Strom, der alles fortreißt. Jegliches Ding, nachdem es kaum zum Vorschein gekommen, ist auch schon wieder fortgerissen, ein anderes wird herbeigetragen, aber auch das wird bald verschwinden.“ 13. Die Urkraft des Kosmos ist ein gewaltiger Strom, der alles mit sich fortreißt. 14. Sei wie ein Fels, an dem sich ständig die Wellen brechen. 15. Nichts kann uns passieren, was nicht in den Gesetzen der „Allnatur“ vorgesehen ist. – Auch wenn wir ein wenig „Spiel“ dabei haben. 16. „Keinem Menschen widerfährt etwas, was er nicht seiner Natur nach ertragen könnte.“ 17. Was stirbt, ist nicht aus der Welt; - vielmehr löst es sich in seine Urstoffe auf, die es mit der Welt und uns allen gemeinsam hat. 18. „Die Menschen sind füreinander da. Also belehre sie oder erdulde sie.“ 19. Wer Unrechtes tut, versündigt sich an sich selbst; denn begangenes Unrecht fällt auf den Urheber zurück. 20. Die Philosophie der Lebensklugheit lehrt Einfachheit und Bescheidenheit. – und nicht vornehm tuende Aufgeblasenheit. 21. Das Ich ist ein Teil des Ganzen, das unter der Herrschaft der Allnatur steht. : 12